Der Trinker - Hans Fallada - E-Book

Der Trinker E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Ein Kleinbürger säuft sich ins Verderben. In nur knapp zwei Wochen schrieb Fallada seinen – wie viele meinen – persönlichsten Roman nieder, während er wieder einmal im Gefängnis einsaß, weil er seine Frau im Suff misshandelt hatte. Im Lichte des unbarmherzigen Nazi-Regimes und der sich abzeichnenden Kriegsniederlage zeichnet der Autor hier leicht erkennbar seine eigene Geschichte auf. Der schwer alkoholabhängige, kleine Unternehmer Erwin Sommer befindet sich auf dem absteigenden Ast: Der Teufelskreis aus Suff, wirtschaftlichem Niedergang und permanenter Existenzangst hat ihn erfasst. Als er für unzurechnungsfähig erklärt und schließlich in eine "Heilanstalt" eingewiesen wird, erkennt er, dass die Schrecken draußen nichts sind gegen die Tyrannei der Ärzte, Paragrafen und Pfleger. "Solange ich schreibe, vergesse ich die Gitter vor dem Fenster" [Fallada] Keiner konnte die Abgründe des Menschen so beschreiben wie Fallada in seiner schnörkellosen Prosa. Ungekürzte und kommentierte Ausgabe Null Papier Verlag

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Hans Fallada

Der Trinker

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Der Trinker

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Aufbau-Verlag, Berlin, 1944/50 (312 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-20-8

null-papier.de/568

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

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1

Ich habe na­tür­lich nicht im­mer ge­trun­ken, es ist so­gar nicht sehr lan­ge her, dass ich mit Trin­ken an­ge­fan­gen habe. Frü­her ekel­te ich mich vor Al­ko­hol; al­len­falls trank ich mal ein Glas Bier; Wein schmeck­te mir sau­er, und der Ge­ruch von Schnaps mach­te mich krank. Aber dann kam eine Zeit, da es mir schlecht zu ge­hen an­fing. Mei­ne Ge­schäf­te lie­fen nicht so, wie sie soll­ten, und mit den Men­schen hat­te ich auch man­cher­lei Miss­ge­schick. Ich bin im­mer ein wei­cher Mensch ge­we­sen, ich brauch­te die Sym­pa­thie und Aner­ken­nung mei­ner Um­welt, wenn ich mir das auch nicht mer­ken ließ und stets sehr selbst­be­wusst und si­cher auf­trat. Das Schlim­me­re war, dass ich das Ge­fühl be­kam, auch mei­ne Frau wen­de sich von mir ab.

Es wa­ren zu­erst un­merk­li­che Zei­chen, Din­ge, die ein an­de­rer ganz über­se­hen hät­te. Zum Bei­spiel ver­gaß sie, mir bei ei­nem Ge­burts­tag in un­se­rem Hau­se Ku­chen an­zu­bie­ten; ich esse zwar nie Ku­chen, aber frü­her bot sie mir trotz­dem stets wel­chen an. Und dann war ein­mal drei Tage lang ein Spinn­web in mei­nem Zim­mer über dem Ofen. Ich ging alle Zim­mer ab, aber in kei­nem gab es ein Spinn­web, nur in mei­nem. Ich woll­te ei­gent­lich ab­war­ten, wie lan­ge sie es so trei­ben wür­de mir zum Är­ger, aber am vier­ten Tage hielt ich es nicht mehr aus und sag­te es ihr. Da­rauf wur­de das Spinn­web ent­fernt. Ich sag­te es ihr na­tür­lich ziem­lich scharf. Ich woll­te mir um kei­nen Preis mer­ken las­sen, wie sehr ich un­ter die­sen Krän­kun­gen und mei­ner Ver­ein­sa­mung litt.

Aber es blieb nicht da­bei. Bald kam die Sa­che mit dem Fuß­ab­tre­ter. An je­nem Tage hat­te ich Schwie­rig­kei­ten auf mei­ner Bank ge­habt, zum ers­ten Male hat­ten sie mir eine Geld­aus­zah­lung ver­wei­gert; es hat­te sich wohl her­um­ge­spro­chen, dass ich Ver­lus­te er­lit­ten hat­te. Der Bank­vor­ste­her, ein Herr Alf, tat sehr lie­bens­wür­dig, sprach von vor­über­ge­hen­den Schwie­rig­kei­ten und er­bot sich so­gar, mit sei­ner Zen­tra­le we­gen ei­nes Son­der­kre­dits für mich zu te­le­fo­nie­ren. Ich lehn­te das na­tür­lich ab, ich war lä­chelnd und si­cher wie im­mer ge­we­sen. Aber ich hat­te gut ge­merkt, dass er mir die­ses Mal nicht wie sonst meist eine Zi­gar­re an­ge­bo­ten hat­te, die­ser Kun­de lohn­te ihm das wohl nicht mehr.

Sehr nie­der­ge­drückt ging ich durch einen schwer her­ab­rau­schen­den Herbst­re­gen nach Hau­se. Ich war noch gar nicht in ei­gent­li­chen Schwie­rig­kei­ten; es war nur eine ge­wis­se Sta­gna­ti­on in mei­nen Ge­schäf­ten ein­ge­tre­ten, die zu je­nem Zeit­punkt mit ei­ni­gem Elan si­cher noch zu über­win­den ge­we­sen wäre. Aber ge­ra­de die­sen Elan ver­moch­te ich nicht auf­zu­brin­gen, ich war zu nie­der­ge­drückt von all dem stum­men Miss­fal­len, dem ich be­geg­ne­te.

Als ich nach Hau­se kam (wir woh­nen et­was vor der Stadt in ei­ge­ner Vil­la, und die Stra­ße dort­hin ist noch nicht aus­ge­baut), woll­te ich vor der Tür mei­ne schmut­zi­gen Schu­he rei­ni­gen, doch ge­ra­de heu­te fehl­te der Fuß­ab­tre­ter. Är­ger­lich schloss ich auf und rief ins Haus nach mei­ner Frau. Es dun­kel­te schon, aber nir­gends sah ich Licht, und Mag­da kam auch nicht. Ich rief wie­der und wie­der, aber nichts er­folg­te. Ich be­fand mich in ei­ner höchst fa­ta­len Si­tua­ti­on: Ich stand im Re­gen vor der Tür mei­ner ei­ge­nen Vil­la und konn­te nicht ins Haus, woll­te ich nicht Vor­platz und Die­le är­ger­lich be­schmut­zen, und das al­les, weil mei­ne Frau ver­ges­sen hat­te, den Fuß­ab­tre­ter hin­aus­zu­le­gen, und zu ei­ner Zeit nicht zur Stel­le war, wo ich, wie sie ge­nau wuss­te, von der Ar­beit heim­kam.

Schließ­lich muss­te ich mich über­win­den: Ich ging vor­sich­tig auf Ze­hen­spit­zen ins Haus. Als ich mich auf einen Stuhl in der Die­le setz­te, um die Schu­he aus­zu­zie­hen, und da­für Licht mach­te, sah ich, dass all mei­ne Vor­sicht nichts genützt hat­te: Auf dem zart­grü­nen Dielen­tep­pich wa­ren die häss­lichs­ten Fle­cke ent­stan­den. Ich habe Mag­da im­mer ge­sagt, dass solch ein emp­find­li­ches Re­se­dagrün nichts für die Die­le sei, aber sie hat­te ja ge­meint, wir bei­de sei­en ja wohl alt ge­nug, ein biss­chen auf­zu­pas­sen, und die Else (un­ser Dienst­mäd­chen) be­nüt­ze ja so­wie­so den Hin­ter­ein­gang und sei ge­wohnt, im Hau­se auf Pan­tof­feln zu ge­hen. Ich zog sehr är­ger­lich mei­ne Schu­he aus, und ge­ra­de als ich den zwei­ten aus­zog, sah ich Mag­da, die eben aus der Tür kam, die die Kel­ler­trep­pe ver­deckt. Der Schuh ent­glitt mir und fiel mit Pol­tern auf den Tep­pich, einen wei­te­ren ab­scheu­li­chen Fleck ma­chend.

»Pass doch ein biss­chen auf, Er­win!«, rief Mag­da sehr är­ger­lich. »Wie der schö­ne Tep­pich wie­der aus­sieht. Kannst du dir nicht an­ge­wöh­nen, die Füße or­dent­lich ab­zu­tre­ten?!«

Die of­fe­ne Un­ge­rech­tig­keit in die­sem Vor­wurf em­pör­te mich, aber noch hielt ich an mich. »Wo in al­ler Welt hast du bloß ge­steckt?«, frag­te ich, sie noch im­mer an­star­rend. »Ich habe min­des­tens zehn­mal nach dir ge­ru­fen!«

»Ich war bei der Zen­tral­hei­zung im Kel­ler«, sag­te Mag­da kühl. »Aber was hat das mit mei­nem Tep­pich zu tun?«

»Es ist eben­so gut mein Tep­pich wie der dei­ne«, ant­wor­te­te ich er­regt. »Ich habe ihn wirk­lich nicht ger­ne be­schmutzt. Aber wenn kein Ab­tre­ter vor der Tür liegt …!«

»Es liegt kein Ab­tre­ter vor der Tür? Na­tür­lich liegt er vor der Tür!«

»Es liegt kei­ner da­vor!«, rief ich mit Nach­druck. »Bit­te, über­zeu­ge dich selbst!«

Aber sie dach­te gar nicht dar­an, vor die Tür zu ge­hen. »Wenn Else eben ver­ges­sen hat, ihn hin­zu­le­gen, so hät­test du die Schu­he gut auf dem Vor­platz aus­zie­hen kön­nen! Je­den­falls hät­test du nicht den einen Schuh hier mit sol­chem Plumps auf den Tep­pich zu wer­fen brau­chen!«

Ich sah sie, stumm vor Är­ger, nur em­pört an. »Ja«, sag­te sie, »da schweigst du. Wenn man dir Vor­wür­fe macht, schweigst du. Aber mir machst du stän­dig Vor­wür­fe …«

Ich fand kei­nen rech­ten Sinn in die­sen Wor­ten, aber ich sag­te doch: »Wann habe ich dir Vor­wür­fe ge­macht?«

»Eben erst«, ant­wor­te­te sie rasch. »Ein­mal, weil ich auf dein Ru­fen nicht ge­kom­men bin, und ich muss­te doch nach der Hei­zung se­hen, weil Else heu­te ih­ren frei­en Nach­mit­tag hat. Und dann, weil der Ab­tre­ter nicht vor der Tür liegt. Aber ich kann doch un­mög­lich bei all mei­ner Ar­beit auch noch jede Klei­nig­keit, die Else zu tun hat, kon­trol­lie­ren.«

Ich nahm mich zu­sam­men. Ich fand im stil­len, Mag­da hat­te in al­len Punk­ten un­recht, aber laut sag­te ich: »Wir wol­len uns nicht strei­ten, Mag­da. Ich bit­te dich, mir zu glau­ben, dass ich die Fle­cke nicht mit Ab­sicht ge­macht habe.«

»Und du glau­be mir«, ant­wor­te­te sie, noch im­mer ziem­lich scharf, »dass ich dich we­der mit Ab­sicht habe ru­fen noch mit Ab­sicht habe war­ten las­sen.«

Ich schwieg dazu. Bis zum Abendes­sen hat­ten wir uns bei­de wie­der ziem­lich in der Ge­walt, eine ganz ver­nünf­ti­ge Un­ter­hal­tung kam so­gar zu­stan­de, und plötz­lich hat­te ich den Ein­fall, eine Fla­sche Rot­wein, die mir ir­gend­je­mand mal ge­schenkt hat­te und die seit Jah­ren im Kel­ler stand, her­auf­zu­ho­len. Ich weiß wirk­lich nicht, wie­so ich auf die­se Idee kam. Vi­el­leicht lös­te das Ge­fühl un­se­rer Aussöh­nung bei mir den Ge­dan­ken an et­was Fest­li­ches wie Trau­ung oder Tau­fe aus. Mag­da war auch ganz über­rascht, lä­chel­te aber bei­fäl­lig.

Ich trank nur an­dert­halb Glas, ob­gleich mir an die­sem Abend der Wein nicht sau­er schmeck­te. Ich kam so­gar in eine hei­te­re Stim­mung und brach­te es fer­tig, Mag­da al­ler­lei vom Ge­schäft, das mir so viel Sor­gen mach­te, zu er­zäh­len. Na­tür­lich sprach ich kein Wort von die­sen Sor­gen, son­dern ich log im Ge­gen­teil mei­ne Mis­ser­fol­ge in Er­fol­ge um. Mag­da hör­te mir so in­ter­es­siert wie schon lan­ge nicht zu. Ich hat­te das Ge­fühl, dass die Ent­frem­dung zwi­schen uns völ­lig ge­schwun­den war, und in der Freu­de dar­über schenk­te ich Mag­da hun­dert Mark, da­mit sie sich et­was recht Hüb­sches kau­fen könn­te: ein Kleid oder einen Ring oder wo­nach sonst ihr Herz stand.

2

Ich habe mich spä­ter oft ge­fragt, ob ich an die­sem Abend wohl völ­lig be­trun­ken ge­we­sen bin. Na­tür­lich bin ich das nicht ge­we­sen, da­von hät­ten so­wohl Mag­da als auch ich et­was ge­merkt, und doch habe ich an die­sem Abend den ers­ten Rausch mei­nes Le­bens ge­habt. Ich schwank­te nicht, ich lall­te nicht. Das hat­ten die­se an­dert­halb Glas muf­fi­gen Rot­weins selbst bei ei­nem so nüch­ter­nen Men­schen wie mir nicht be­wir­ken kön­nen, aber doch hat­te mir der Al­ko­hol die gan­ze Welt ver­wan­delt. Er spie­gel­te mir vor, dass es kei­ne Ent­frem­dung und kei­nen Streit zwi­schen Mag­da und mir ge­ge­ben hät­te, er ver­wan­del­te mei­ne ge­schäft­li­chen Sor­gen in Er­fol­ge, in sol­che Er­fol­ge, dass ich so­gar hun­dert Mark zu ver­schen­ken hat­te, kei­ne be­trächt­li­che Sum­me ge­wiss, aber in mei­ner Lage war schließ­lich kei­ne Sum­me ganz un­be­trächt­lich.

Als ich am nächs­ten Mor­gen er­wacht war und alle Ge­scheh­nis­se von dem ver­ges­se­nen Fuß­ab­tre­ter bis zum ver­schenk­ten Hun­dert­mark­schein an mei­nem geis­ti­gen Auge vor­über­zie­hen ließ, da wur­de mir erst klar, wie schmäh­lich ich an Mag­da ge­han­delt hat­te. Ich hat­te sie nicht nur über mei­ne ge­schäft­li­che Lage ge­täuscht, nein, ich hat­te die­se Täu­schung auch noch durch ein Geld­ge­schenk un­ter­mau­ert, um sie noch glaub­haf­ter zu ma­chen, et­was, das ju­ris­tisch wohl »Be­trug« ge­nannt wer­den wür­de. Aber das Ju­ris­ti­sche war ganz gleich­gül­tig, das Men­sch­li­che al­lein war wich­tig, und das Men­sch­li­che an die­ser Sa­che war ein­fach furcht­bar. Ich hat­te zum ers­ten Mal in un­se­rer Ehe Mag­da wis­sent­lich be­tro­gen – und warum? Wa­rum in al­ler Welt?! Für gar nichts – ich hät­te ja von all die­sen Din­gen wun­der­bar schwei­gen kön­nen, wie ich bis­her von ih­nen ge­schwie­gen hat­te. Nie­mand zwang mich zum Spre­chen. Nie­mand? Doch ja, der Al­ko­hol hat­te mich dazu ge­bracht.

Als ich das erst ein­mal er­kannt hat­te, als ich in vol­lem Um­fan­ge er­fasst hat­te, welch Lüg­ner der Al­ko­hol ist und wie er dazu aus ehr­li­chen Men­schen Lüg­ner macht, schwor ich mir zu, nie wie­der einen Trop­fen Al­ko­hol zu trin­ken und auch auf das ab und zu bis­her ge­nos­se­ne Glas Bier zu ver­zich­ten.

Aber was sind Vor­sät­ze, was sind Ent­wür­fe? Ich hat­te mir ja auch an die­sem Mor­gen der Er­nüch­te­rung zu­ge­schwo­ren, we­nigs­tens die ges­tern Abend zwi­schen Mag­da und mir auf­ge­kom­me­ne wär­me­re Stim­mung zu nüt­zen und es nicht wie­der zu ei­ner Ent­frem­dung oder gar zu ei­nem Streit kom­men zu las­sen. Und doch ver­gin­gen nicht vie­le Tage, und wir strit­ten uns schon wie­der. Es war ei­gent­lich völ­lig un­be­greif­lich: Vier­zehn Jah­re un­se­rer Ehe wa­ren prak­tisch ohne je­den Streit ver­gan­gen, und jetzt im Fünf­zehn­ten war es, dass wir nicht mehr ohne Strei­ten le­ben konn­ten. Manch­mal schi­en es mir ge­ra­de­zu lä­cher­lich, über was für Din­ge al­les wir mit­ein­an­der in Streit ge­rie­ten. Es schi­en, als müss­ten wir uns zu be­stimm­ten Zei­ten strei­ten, ganz gleich warum. Auch das Strei­ten scheint wie ein Gift zu sein, an das man sich rasch ge­wöhnt und ohne das man bald nicht mehr le­ben kann. Zu­erst be­wahr­ten wir na­tür­lich ängst­lich die Form, wir such­ten mög­lichst sach­lich beim Streit­ge­gen­stand zu blei­ben und al­les per­sön­lich Krän­ken­de zu ver­mei­den.

Auch leg­te uns die An­we­sen­heit un­se­res klei­nen Haus­mäd­chens Else Hem­mun­gen auf. Wir wuss­ten, sie war neu­gie­rig und trug al­les wei­ter, was sie er­fuhr. Da­mals wäre es mir noch un­aus­sprech­bar schreck­lich ge­we­sen, wenn ir­gend­je­mand in der Stadt von mei­nen Sor­gen und un­se­ren Strei­te­rei­en er­fah­ren hät­te. Nicht sehr viel spä­ter frei­lich war es mir voll­kom­men gleich­gül­tig ge­wor­den, was die Men­schen von mir dach­ten und spra­chen, und, was das Schlim­me­re war, ich hat­te auch alle Scham vor mir selbst ver­lo­ren.

Ich habe ge­sagt, dass Mag­da und ich uns an fast täg­li­chen Streit ge­wöhn­ten. Frei­lich wa­ren das ei­gent­lich nur Quen­ge­lei­en, klei­ne Sti­che­lei­en um ein Gar­nichts, et­was, das die zwi­schen uns im­mer wie­der auf­tau­chen­den Span­nun­gen ein we­nig er­leich­ter­te. Auch das war ei­gent­lich ein Wun­der, aber kein schö­nes: Vie­le Jah­re hat­ten Mag­da und ich eine aus­ge­spro­chen gute Ehe ge­führt. Wir hat­ten uns aus Lie­be ge­hei­ra­tet, da­mals wa­ren wir alle bei­de sehr klei­ne An­ge­stell­te ge­we­sen, je­der mit ei­nem Hand­köf­fer­chen, so wa­ren wir zu­sam­men­ge­lau­fen. Ach, die herr­li­che ent­beh­rungs­rei­che Zeit un­se­rer ers­ten Ehe­jah­re – wenn ich heu­te dar­an zu­rück­den­ke! Mag­da war eine wah­re Haus­halts­künst­le­rin, man­che Wo­che ka­men wir mit zehn Mark aus, und es kam uns vor, als leb­ten wir da­bei wie die Fürs­ten.

Dann kam die wa­ge­mu­ti­ge, von im­mer­wäh­ren­der An­span­nung er­füll­te Zeit, da ich mich selbst­stän­dig mach­te, da ich mit Mag­das Hil­fe mein ei­ge­nes Ge­schäft auf­bau­te. Es glück­te – o du lie­ber Him­mel, wie uns da­mals al­les glück­te! Wir brauch­ten nur et­was an­zu­fas­sen, un­se­ren Fleiß und un­se­ren Ei­fer ei­ner Sa­che zu­zu­wen­den, und schon ge­lang sie, blüh­te auf wie eine gut ge­pfleg­te Blu­me, trug uns Früch­te … Kin­der blie­ben uns ver­sagt, so­sehr wir uns nach ih­nen auch sehn­ten. Mag­da hat­te ein­mal einen Um­schlag,1 von da an war es mit al­len Aus­sich­ten auf Kin­der vor­bei. Aber wir lieb­ten uns dar­um nicht we­ni­ger. Vie­le Jah­re un­se­rer Ehe wa­ren wir im­mer wie­der frisch ver­liebt in­ein­an­der. Ich habe nie eine an­de­re Frau als Mag­da be­gehrt. Sie mach­te mich voll­kom­men glück­lich, und mit mir ist es ihr wohl auch nicht an­ders ge­gan­gen.

Als dann das Ge­schäft lief, als es je­nen Um­fang er­reicht hat­te, der ihm durch die Grö­ße un­se­rer Stadt und un­se­res Land­krei­ses ge­ge­ben war, einen Um­fang, über den hin­aus eine Er­wei­te­rung nur durch völ­li­ge Än­de­rung all un­se­rer Le­ben­sum­stän­de und durch Weg­zug von un­se­rer Va­ter­stadt mög­lich war, als also das bren­nen­de In­ter­es­se et­was zu er­lah­men be­gann, kam als Er­satz der Er­werb des ei­ge­nen Grund­stücks vor der Stadt, der Bau un­se­rer Vil­la, die An­la­ge un­se­res Gar­tens, die Ein­rich­tung, die uns nun für den Rest un­se­res Le­bens be­glei­ten soll­te – al­les Din­ge, die uns wie­der eng an­ein­an­der­ban­den und uns die Ab­küh­lung, die in un­se­rer Ehe­be­zie­hung ein­ge­tre­ten war, nicht merk­lich wer­den lie­ßen. Wenn wir uns nicht mehr so wie frü­her lieb­ten, wenn wir nicht mehr so oft und heiß nach­ein­an­der be­gehr­ten, so emp­fan­den wir das nicht als einen Ver­lust, son­dern als et­was Selbst­ver­ständ­li­ches: Wir wa­ren eben all­ge­mach alte Ehe­leu­te ge­wor­den, was uns ge­sch­ah, ge­sch­ah al­len, war et­was Na­tür­li­ches. Und, wie ge­sagt, die Ka­me­rad­schaft beim Pla­nen, Bau­en, Ein­rich­ten er­setz­te uns das Ver­lo­re­ne voll­kom­men, aus Lie­bes­leu­ten wa­ren wir Ka­me­ra­den ge­wor­den, wir ent­behr­ten nichts.

Zu je­ner Zeit hat­te sich Mag­da schon ganz von der tä­ti­gen Mit­hil­fe in mei­nem Ge­schäft frei­ge­macht, ein Schritt, den wir bei­de da­mals als selbst­ver­ständ­lich an­sa­hen. Sie hat­te jetzt eine grö­ße­re ei­ge­ne Haus­hal­tung; der Gar­ten und ein biss­chen Fe­der­vieh er­for­der­ten auch Pfle­ge, und der Um­fang des Ge­schäf­tes ge­stat­te­te ohne Wei­te­res die Ein­stel­lung ei­ner neu­en Hilfs­kraft.

Spä­ter soll­te sich zei­gen, wie ver­häng­nis­voll sich das Aus­schei­den Mag­das aus mei­nem Be­trieb aus­wir­ken soll­te. Nicht nur, dass wir da­durch wie­der­um ein gut Teil un­se­rer ge­mein­sa­men In­ter­es­sen ver­lo­ren, auch stell­te sich her­aus, dass ihre Mit­hil­fe ei­gent­lich un­er­setz­lich war. Sie war bei Wei­tem ak­ti­ver als ich, un­ter­neh­mungs­lus­ti­ger, auch war sie viel ge­schick­ter als ich im Um­gang mit den Men­schen und ver­moch­te sie auf eine leich­te, scherz­haf­te Wei­se ge­ra­de da­hin zu be­kom­men, wo sie die Leu­te ha­ben woll­te.

Ich war das vor­sich­ti­ge Ele­ment in un­se­rer Ge­mein­schaft, die Brem­se ge­wis­ser­ma­ßen, die eine zu ge­wag­te Fahrt hemm­te und si­cher­te. Im Ge­schäfts­ver­kehr selbst hat­te ich die Nei­gung, mich mög­lichst zu­rück­zu­hal­ten, mich nie­man­dem auf­zu­drän­gen und nie um et­was zu bit­ten. Es war dem­nach un­ver­meid­lich, dass nach Mag­das Aus­schei­den die Ge­schäf­te erst ein­mal im al­ten Gleis wei­ter­gin­gen, dass we­nig Neu­es da­zu­kam und dass dann all­mäh­lich, ganz lang­sam, Jahr um Jahr, ihr Um­fang zu­rück­ging.

Über alle die­se Din­ge bin ich mir frei­lich erst viel spä­ter klar ge­wor­den, zu spät, als es schon nichts mehr zu ret­ten gab. Da­mals, als Mag­da aus­schied, war ich eher et­was er­leich­tert: Ein Mann, der sei­ne Fir­ma al­lein ver­tritt, ge­nießt bei den Men­schen ein grö­ße­res An­se­hen als der, dem die Frau in al­les hin­ein­re­den kann.

Fehl­ge­burt  <<<

3

Erst, als un­se­re Strei­te­rei­en be­gan­nen, merk­te ich, wie fremd Mag­da und ich uns in den Jah­ren ge­wor­den wa­ren, da sie ihre Haus­wirt­schaft be­sorg­te und ich den Ge­schäf­ten vor­stand. Die ers­ten Male emp­fand ich wohl noch et­was wie Scham über un­ser Sich­ge­hen­las­sen, und wenn ich merk­te, dass ich Mag­da ver­letzt hat­te, dass sie gar mit ver­wein­ten Au­gen um­her­ging, schmerz­te mich das fast so sehr wie sie selbst, und ich ge­lob­te mir Bes­se­rung. Aber der Mensch ge­wöhnt sich an al­les, und ich fürch­te bei­na­he, er ge­wöhnt sich am ra­sche­s­ten, in ei­nem Zu­stand von Er­nied­ri­gung zu le­ben.

Es kam der Tag, da ich beim An­blick von Mag­das ver­wein­ten Au­gen mir nicht mehr Bes­se­rung ge­lob­te, son­dern mit ei­ner von er­schro­cke­nem Stau­nen un­ter­misch­ten Be­frie­di­gung mir sag­te: ›Dies­mal habe ich es dir aber or­dent­lich ge­ge­ben! Im­mer ge­winnst du mit dei­ner ra­schen Zun­ge doch nicht die Ober­hand über mich!‹ Ich fand es schreck­lich, dass ich so emp­fand, und doch fand ich es rich­tig, es be­frie­dig­te mich, so zu emp­fin­den, so pa­ra­dox dies auch klin­gen mag. Von da an war es nur ein klei­ner Schritt bis da­hin, wo ich sie be­wusst zu ver­let­zen such­te.

In je­nem äu­ßerst kri­ti­schen Zeit­punkt un­se­rer Be­zie­hun­gen wa­ren die Le­bens­mit­tel­lie­fe­run­gen für die Ge­fäng­nis­ver­wal­tung wie alle drei Jah­re neu aus­ge­schrie­ben. Wir ha­ben in un­se­rem Ort – ge­ra­de nicht zum Ent­zücken sei­ner Ein­woh­ner – das Zen­tral­ge­fäng­nis der Pro­vinz lie­gen, das stän­dig etwa fünf­zehn­hun­dert Häft­lin­ge in sei­nen Mau­ern birgt. Seit neun Jah­ren hat­ten wir die­se Lie­fe­run­gen schon, Mag­da hat­te sich sei­ner­zeit sehr dar­um be­müht, sie zu er­hal­ten. Bei den bei­den spä­te­ren Ver­ge­bun­gen hat­te sie im­mer nur einen kur­z­en Höf­lich­keits­be­such bei dem ent­schei­den­den Obe­rin­spek­tor der Ver­wal­tung ge­macht, und der Zu­schlag war uns ohne Wei­te­res zu­ge­fal­len.

Ich sah die­se Lie­fe­rung für einen so selbst­ver­ständ­li­chen Teil mei­nes Ge­schäf­tes an, dass ich auch dies­mal kein wei­te­res Auf­he­ben von der Sa­che mach­te: Ich ließ das alte An­ge­bot, des­sen Preis­ge­stal­tung sich nun schon seit neun Jah­ren be­währt hat­te, ab­schrei­ben und ein­rei­chen. Ich über­leg­te auch einen Be­such bei dem ent­schei­den­den Obe­rin­spek­tor, aber al­les lief ja in sei­nen ein­ge­lau­fe­nen Bah­nen; ich woll­te nicht auf­dring­lich er­schei­nen, ich wuss­te, der Mann war mit Ar­beit über­las­tet – kurz, ich hat­te min­des­tens zehn gute Grün­de, den Be­such zu un­ter­las­sen.

Da­nach traf es mich wie ein Blitz aus hei­te­rem Him­mel, als mich ein Schrei­ben der Ge­fäng­nis­ver­wal­tung mit we­ni­gen dür­ren Wor­ten da­hin un­ter­rich­te­te, dass mein An­ge­bot ab­ge­lehnt und dass die Lie­fe­run­gen ei­ner an­de­ren Fir­ma zu­ge­schla­gen wor­den sei­en. Mein ers­ter Ge­dan­ke war der: dass nur Mag­da nichts da­von er­fährt! Dann nahm ich mei­nen Hut und eil­te zu dem Obe­rin­spek­tor, jetzt den Be­such zu ma­chen, der drei Wo­chen frü­her sinn­voll ge­we­sen wäre.

Ich wur­de höf­lich, aber kühl auf­ge­nom­men. Der Obe­rin­spek­tor be­dau­er­te, dass die alte Ge­schäfts­ver­bin­dung nun un­ter­bro­chen sei. Er habe aber gar nicht an­ders han­deln kön­nen, da ein Teil der von mir ge­nann­ten Prei­se längst über­holt ge­we­sen sei, mal nach der hö­he­ren, mal nach der nied­ri­ge­ren Sei­te hin. Im Gan­zen glei­che es sich wohl etwa aus, aber mein An­ge­bot habe nun eben auf die maß­ge­ben­den Her­ren – ich möge sei­ne Of­fen­heit ver­zei­hen – ein­fach einen schlech­ten Ein­druck ge­macht, als sei es mei­ner Fir­ma ganz gleich­gül­tig, ob sie den Zu­schlag er­hal­te oder nicht. Ich er­fuhr wei­ter, dass eine ganz jun­ge, mit al­len Mit­teln auf­stre­ben­de Fir­ma, die mir schon ei­ni­ge Male Är­ger be­rei­tet hat­te, auch die­ses Mal wie­der als Sie­ger aus dem Ren­nen her­vor­ge­gan­gen war. Zum Schluss drück­te der Obe­rin­spek­tor noch in al­ler Höf­lich­keit die Hoff­nung aus, in drei Jah­ren wie­der mit mei­ner Fir­ma in die alte Ver­bin­dung tre­ten zu kön­nen, und ich war ent­las­sen.

Ich wuss­te, ich hat­te mir in dem Ge­fäng­nis­bü­ro nichts von mei­ner Be­stür­zung, ja mei­ner Verzweif­lung über die­sen Fehl­schlag an­mer­ken las­sen; ich hat­te mei­ne Er­kun­di­gung halb mit Höf­lich­keit, halb mit Neu­gier nach dem Na­men des glück­li­chen Ge­win­ners fri­siert. Als ich aber wie­der drau­ßen vor den schwe­ren Ei­sen­to­ren des Ge­fäng­nis­ses stand, als der letz­te Rie­gel ras­selnd hin­ter mir zu­ge­scho­ben war, sah ich in den hel­len Son­nen­schein die­ses wun­der­ba­ren Früh­lings­ta­ges wie je­mand, der so­eben aus ei­nem schwe­ren Traum er­wacht ist und noch nicht weiß, ob er nun wirk­lich wach ist oder ob er noch im­mer un­ter dem Alb­druck des Trau­mes seufzt. Ich seufz­te noch un­ter ihm, um­sonst hat­te das ei­ser­ne Git­ter­tor mich zur Frei­heit ent­las­sen, ich blieb ge­fan­gen in mei­nen Sor­gen und Mis­ser­fol­gen.

Es war mir jetzt un­mög­lich, in die Stadt und auf mein Kon­tor zu ge­hen, vor al­lem aber muss­te ich mich erst sam­meln, ehe ich vor Mag­da trat – ich ging fort von der Stadt und den Men­schen, ich ging in die Fel­der und Wie­sen hin­aus, im­mer wei­ter fort, als könn­te ich mir und mei­nen Sor­gen ent­lau­fen. Ich habe aber an die­sem Tage nichts von dem fri­schen Sma­ragd­grün der jun­gen Saa­ten ge­se­hen, nicht habe ich das ei­li­ge Gluck­sen der Bä­che und die Trom­mel­wir­bel der Ler­chen in der blau­gol­de­nen Luft ge­hört: Ich war gren­zen­los al­lein mit mir und mei­nem Miss­ge­schick. Mein Herz war so über­voll da­von, dass nichts an­de­res mehr hin­ein­konn­te.

Ich war mir ganz klar dar­über, dass dies für mein Ge­schäft nicht mehr ein klei­ner Fehl­schlag war, der mit ei­nem ach­sel­zu­cken­den Be­dau­ern hin­ge­nom­men wer­den konn­te: Die Lie­fe­rung der Nah­rungs­mit­tel für fünf­zehn­hun­dert Men­schen war selbst bei be­schei­de­nem Nut­zen ein so we­sent­li­cher Teil mei­nes Um­sat­zes, dass es nicht ohne ein­schnei­den­de Ver­än­de­run­gen mei­nes gan­zen Be­trie­bes hin­ge­nom­men wer­den konn­te. An einen Er­satz für die­sen Aus­fall war bei dem Man­gel ähn­li­cher Ge­le­gen­hei­ten in un­se­rer be­schei­de­nen Pro­vinz­stadt nicht zu den­ken. Äu­ßers­te Tat­kraft hät­te die Zahl der Ein­zel­ge­schäf­te um ei­ni­ge Dut­zend stei­gern kön­nen, aber ganz ab­ge­se­hen da­von, dass dies noch lan­ge kei­nen Er­satz für den Aus­fall be­deu­te­te, fühl­te ich mich ge­ra­de jetzt zu die­ser äu­ßers­ten Tat­kraft ganz un­fä­hig. Aus ir­gend­wel­chen Grün­den war ich schon seit fast ei­nem Jahr un­frisch. Im­mer mehr neig­te ich dazu, den Din­gen ih­ren Lauf zu las­sen und mich nicht zu sehr zu er­re­gen. Ich war ru­he­be­dürf­tig – warum, weiß ich nicht. Vi­el­leicht wur­de ich früh alt.

Es war mir klar, dass ich min­des­tens zwei An­ge­stell­te wür­de ent­las­sen müs­sen, aber auch das be­rühr­te mich nicht ein­mal so sehr, ob­wohl ich wuss­te, wie sehr dar­über ge­schwätzt wer­den wür­de. Nicht das Ge­schäft be­küm­mer­te mich im Au­gen­blick, son­dern Mag­da. Im­mer wie­der war mein Haupt­ge­dan­ke, mei­ne Haupt­sor­ge: dass bloß Mag­da nichts da­von er­fährt! Wohl sag­te ich mir, dass ich auf die Dau­er die Ent­las­sung von zwei An­ge­stell­ten und den Ver­lust der Lie­fe­run­gen über­haupt nicht vor ihr ver­ber­gen konn­te. Aber ich log mir vor, dass al­les dar­auf an­kom­me, dass sie nicht ge­ra­de jetzt da­von er­füh­re, dass ich in ei­ni­gen Wo­chen viel­leicht doch den einen oder an­de­ren Er­satz ge­fun­den ha­ben könn­te.

Dann hat­te ich wie­der einen hel­len Au­gen­blick. Ich blieb ste­hen, stieß mit dem Fuß ener­gisch ge­gen einen Stein im Stau­be des We­ges und sag­te zu mir: ›Da Mag­da doch da­von er­fah­ren wird, ist es bes­ser, sie er­fährt es durch mich als durch an­de­rer Leu­te Mund, und es ist wie­der­um bes­ser, sie er­fährt es heu­te als ir­gend­wann. Mit je­dem Tag, den du dies auf­schiebst, wird das Ge­ständ­nis schwe­rer. Schließ­lich habe ich kein Ver­bre­chen be­gan­gen, son­dern nur eine Nach­läs­sig­keit.‹ Wie­der stieß ich mit dem Fuß ge­gen den Stein: ›Ich wer­de Mag­da ein­fach bit­ten, mir wie­der im Ge­schäft zu hel­fen. Das ver­söhnt sie mit mei­nem Mis­ser­folg und bringt mir und dem Be­trieb nur Nut­zen. Ich bin wirk­lich nicht sehr frisch und kann eine Hilfs­kraft gut ge­brau­chen …‹

Aber die­se hel­len Au­gen­bli­cke gin­gen schnell vor­über. Ich hat­te stets so viel auf die Ach­tung der Leu­te und vor al­lem auf die Mag­das ge­ge­ben. Ich hat­te stets pein­lich dar­auf ge­se­hen, dass ich als der Chef re­spek­tiert wur­de. Ich konn­te es auch jetzt, ge­ra­de jetzt, nicht übers Herz brin­gen, von die­ser Wür­de ein Jota ab­zu­las­sen und mich ge­ra­de vor Mag­da zu de­mü­ti­gen. Nein, ich war ent­schlos­sen, die Lage selbst zu meis­tern, kom­me, was wol­le. Ich moch­te mir auch nicht von ei­ner Frau hel­fen las­sen, mit der ich mich fast täg­lich zank­te. Es war klar vor­aus­zu­se­hen, dass sich die­se Zän­ke­rei­en bis ins Kon­tor fort­set­zen wür­den – sie wür­de dort auf ih­rem Wil­len be­har­ren, ich wür­de wi­der­spre­chen, sie wür­de mir mei­ne Mis­ser­fol­ge vor­wer­fen – o nein, un­mög­lich!

Wie­der stampf­te ich mit dem Fuß auf, aber dies­mal in den Staub des We­ges. Ich sah hoch. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, wo­hin mich mei­ne Füße ge­tra­gen hat­ten, so sehr war ich in mei­ne Sor­gen ver­spon­nen ge­we­sen. Ich stand in ei­nem Dorf, nicht über­mä­ßig weit von mei­ner Va­ter­stadt ent­fernt, ei­nem Dorf, das we­gen ei­ni­ger rei­zen­der Bir­ken­wäld­chen und ei­nes Sees ein be­lieb­ter Früh­lings­aus­flugs­ort mei­ner Mit­bür­ger ist. Aber an die­sem Wo­chen­tag­vor­mit­tag gab es hier noch kei­ne Aus­flüg­ler, da­für ist man bei uns da­heim zu flei­ßig. Ich stand ge­ra­de vor dem Gast­hof, und ich spür­te, dass ich Durst hat­te.

Ich trat in die nied­ri­ge, wei­te, aber dunkle Schank­stu­be ein. Ich hat­te sie im­mer nur er­füllt von vie­len Städ­tern ge­se­hen, die früh­lings­haft hel­len Klei­der der Frau­en hat­ten den Raum hel­ler ge­macht und ihm trotz sei­ner Nied­rig­keit et­was Be­schwing­tes ge­ge­ben. Denn wenn die Städ­ter hier wa­ren, hat­ten die Fens­ter of­fen­ge­stan­den, auf den Ti­schen la­gen dann bun­te De­cken, und über­all gab es in ho­hen Va­sen hel­le Sträu­ße von Bir­ken. Jetzt war der Raum dun­kel, auf den Ti­schen lag gelb­lich-bräun­li­ches Wachs­tuch, es roch sti­ckig, denn die Fens­ter wa­ren fest ver­schlos­sen.

Hin­ter der The­ke stand ein jun­ges Mäd­chen, des­sen Haar schlecht zu­recht­ge­macht und des­sen Schür­ze schmut­zig war, es flüs­ter­te eif­rig mit ei­nem jun­gen Kerl, der nach sei­ner kalk­be­spritz­ten wei­ßen Klei­dung ein Mau­rer zu sein schi­en.

Mein ers­ter Im­puls war der, um­zu­keh­ren. Aber mein Durst und mehr noch das Ge­fühl, so­fort wie­der mei­nen Sor­gen aus­ge­lie­fert zu sein, lie­ßen mich statt­des­sen an die The­ke tre­ten. »Ge­ben Sie mir was zu trin­ken, ir­gend­was, das den Durst löscht«, sag­te ich.

Ohne auf­zu­se­hen, ließ das Mäd­chen Bier in ein Glas lau­fen, ich sah zu, wie der Schaum über den Rand troff. Das Mäd­chen schloss den Bier­hahn, war­te­te einen Au­gen­blick, bis der Schaum sich ge­setzt hat­te, und ließ noch einen Schuss Bier nach­lau­fen. Dann schob es mir, wie­der­um ohne ein Wort, das Glas über den stump­fen Zink zu. Es mach­te sich wie­der an sein Flüs­tern mit dem Mau­rer­bur­schen, bis­her hat­te es mich noch nicht mit ei­nem Blick an­ge­se­hen.

Ich hob das Glas zum Mun­de und trank es be­däch­tig, Schluck für Schluck, ohne ein­mal ab­zu­set­zen, leer. Es schmeck­te frisch, pri­ckelnd und leicht bit­ter, und in­dem es mei­nen Mund pas­sier­te, schi­en es in ihm et­was von ei­ner Hel­le und Leich­tig­keit zu hin­ter­las­sen, die vor­her nicht in ihm ge­we­sen war.

›Ge­ben Sie mir noch ein­mal von dem‹, woll­te ich sa­gen, be­sann mich aber an­ders. Ich hat­te vor dem jun­gen Men­schen ein hel­les, kur­z­es, ge­drun­ge­nes Glas ste­hen se­hen, das man bei uns eine »Stan­ge« nennt und in dem ge­wöhn­lich Korn aus­ge­schenkt wird. »Ich möch­te auch solch eine Stan­ge«, sag­te ich plötz­lich. Wie ich, der ich mein Leb­tag kei­nen Schnaps ge­trun­ken, der ich im­mer eine tie­fe Ab­nei­gung ge­gen den Ge­ruch von Schnaps ge­habt habe, dazu kam, weiß ich nicht zu sa­gen. In je­nen Ta­gen än­der­ten sich alle Ge­wohn­hei­ten mei­nes Le­bens, ge­heim­nis­vol­len Ein­flüs­sen war ich aus­ge­lie­fert, und ge­nom­men war mir die Kraft, ih­nen zu wi­der­ste­hen.

Zum ers­ten Male sah mich jetzt das Mäd­chen an. Lang­sam hob es die et­was kör­ni­gen Li­der und blick­te mich mit hel­len, wis­sen­den Au­gen an. »Mit Schnaps?«, frag­te es.

»Mit Schnaps«, sag­te ich. Das Mäd­chen griff nach ei­ner Fla­sche, und ich über­leg­te mir, ob mich je in mei­nem Le­ben ein weib­li­ches We­sen schon ein­mal so scham­los wis­send an­ge­schaut hät­te. Die­ser Blick schi­en bis auf den Grund mei­nes Man­nes­tums drin­gen zu wol­len, als möch­te er er­fah­ren, was ich als Mann gel­te; ich emp­fand ihn wie et­was Kör­per­li­ches, et­was schmerz­lich süß Be­lei­di­gen­des, als sei ich nackt aus­ge­zo­gen wor­den von die­sen Au­gen.

Das Glas war ge­füllt, es wur­de zu mir über den Zink ge­scho­ben, die Li­der hat­ten sich wie­der ge­senkt, das Mäd­chen wand­te sich an den Bur­schen; mein Ur­teil war ge­spro­chen. Ich hob das Glas, zö­ger­te – und schüt­te­te den In­halt in ei­nem plötz­li­chen Ent­schluss in die Mund­höh­le. Es brann­te atem­rau­bend, dann ver­schluck­te ich mich, zwang die Flüs­sig­keit aber doch die Keh­le hin­un­ter. Ich fühl­te sie bren­nend und bei­zend hin­un­ter­rin­nen – und in mei­nem Ma­gen ent­stand ein plötz­li­ches Ge­fühl von Wär­me, ei­ner wohl­tu­en­den, hei­te­ren Wär­me.

Dann muss­te ich mich am gan­zen Lei­be schüt­teln. Der Mau­rer sag­te halb­laut: »Die sich so schüt­teln, das sind die Schlimms­ten«, und das Mäd­chen lach­te kurz. Ich leg­te eine Mark auf den Zink und ver­ließ ohne ein wei­te­res Wort die Gast­stät­te.

Der Früh­lings­tag emp­fing mich mit son­ni­ger Wär­me und leich­tem, sei­den­fei­nem Wind, aber als ein Ver­wan­del­ter kehr­te ich in ihn zu­rück. Aus der Wär­me in mei­nem Ma­gen war eine Hel­lig­keit in mei­nen Kopf em­por­ge­stie­gen, mein Herz poch­te frei und stark. Jetzt sah ich das Sma­ragd­grün der jun­gen Saa­ten, jetzt hör­te ich die Ler­chen­wir­bel im Blau. Mei­ne Sor­gen wa­ren von mir ab­ge­fal­len. ›Es wird sich al­les schon ein­mal re­geln‹, sag­te ich mir hei­ter und schlug den Weg heim­wärts ein. ›Wa­rum sich jetzt schon drum pla­gen?‹ Ehe ich in die Stadt kam, kehr­te ich noch in zwei wei­te­ren Gast­häu­sern ein und trank in je­dem noch solch ein Stäng­chen, um die rasch ver­flie­gen­de Wir­kung wie­der­zu­ho­len und zu ver­stär­ken. Mit ei­nem leich­ten, aber nicht un­an­ge­neh­men Be­nom­men­heits­ge­fühl lang­te ich zu Hau­se ge­ra­de zur rech­ten Zeit für das Mit­ta­ges­sen an.

4

Ich war mir klar dar­über, dass ich vor mei­ner Frau nun nicht nur den Fehl­schlag in den Le­bens­mit­tel­lie­fe­run­gen, son­dern auch mein Trin­ken ver­heim­li­chen muss­te. Aber ich fühl­te mich im Au­gen­blick der gan­zen Welt so über­le­gen, dass ich über­zeugt war, dies wür­de mir nicht die ge­rings­te Schwie­rig­keit ma­chen. Ich ver­weil­te län­ger als sonst im Ba­de­zim­mer und wusch mich nicht nur be­son­ders sorg­fäl­tig, son­dern putz­te mir auch lan­ge und gründ­lich die Zäh­ne, um je­den Al­ko­hol­ge­ruch zu ver­trei­ben. Ich wuss­te noch nicht, wel­che Hal­tung ich Mag­da ge­gen­über ein­neh­men soll­te, aber ein dunkles Ge­fühl warn­te mich da­vor, zu ge­sprä­chig zu sein – wo­für ich eine star­ke Nei­gung ver­spür­te –, bes­ser wür­de viel­leicht eine ru­hi­ge Pose ge­hal­te­nen Erns­tes sein.

Die Sup­pe war schon auf­ge­füllt, und Mag­da er­war­te­te mich be­reits, als ich ein­trat. Ich gab ihr flüch­tig die Hand und mach­te ein paar Be­mer­kun­gen über das herr­li­che Früh­lings­wet­ter. Sie stimm­te mir zu und er­zähl­te ei­ni­ges von den jetzt drin­gen­den Be­stel­l­ar­bei­ten im Gar­ten, auch bat sie mich, ihr heu­te Abend eine be­stimm­te Ge­mü­se­sä­me­rei, de­ren Feh­len sie eben erst be­merkt habe, aus der Stadt mit­zu­brin­gen. Ich sag­te ihr promp­tes­te Er­le­di­gung zu, und so ka­men wir ohne jede Fähr­nis über die Sup­pe. Ich merk­te wohl, dass mich Mag­da ab und zu prü­fend, bei­na­he mit stum­mer Fra­ge von der Sei­te an­sah, aber in dem Ge­fühl, dass mir un­mög­lich et­was an­ge­merkt wer­den konn­te und dass al­les vor­züg­lich ging, be­ach­te­te ich die­se Bli­cke nicht. Üb­ri­gens er­in­ne­re ich mich, dass ich an die­sem Mit­tag die Sup­pe mit be­son­de­rem Ap­pe­tit aß.

Else räum­te die Tel­ler ab und flüs­ter­te da­bei mei­ner Frau ir­gend­ei­ne Kü­chen­fra­ge zu, durch die Mag­da ver­an­lasst wur­de, auf­zu­ste­hen und mit Else in die Kü­che zu ge­hen, wohl um ir­gen­det­was ab­zu­schme­cken oder zu tran­chie­ren. Ich blieb al­lein im Spei­se­zim­mer, auf den Fleisch­gang war­tend. Ich dach­te an nichts Be­son­de­res, ich war von ei­ner hei­te­ren Zufrie­den­heit er­füllt, das Le­ben ge­fiel mir. Kei­ne Ah­nung hat­te ich von dem, was ich nun so­fort tun wür­de.

Plötz­lich – mir selbst über­ra­schend – stand ich auf, schlich ei­lig auf den Ze­hen­spit­zen zur An­rich­te, öff­ne­te die un­te­re Tür, und rich­tig – da stand noch die Rot­wein­fla­sche, die wir an je­nem ver­häng­nis­vol­len No­vem­be­r­abend, als un­se­re Strei­te­rei­en be­gan­nen, an­ge­trun­ken hat­ten! Ich hob sie ge­gen das Licht: Sie war, wie ich es nicht an­ders er­war­tet hat­te, noch halb ge­füllt. Ich hat­te kei­ne Zeit zu ver­lie­ren, je­den Au­gen­blick konn­te Mag­da zu­rück­kom­men. Mit den Nä­geln zog ich den ziem­lich weit in den Hals ge­trie­be­nen Kor­ken her­aus, setz­te die Fla­sche an den Mund und trank, trank aus der Fla­sche wie ein al­ter Säu­fer! (Aber was soll­te ich tun? Für die Be­nut­zung ei­nes Gla­ses war kei­ne Zeit, ganz ab­ge­se­hen da­von, dass ein be­nutz­tes Glas eine ver­rä­te­rische Spur ge­we­sen wäre.) Ich nahm drei, vier sehr kräf­ti­ge Schlu­cke, hielt die Fla­sche wie­der ge­gen das Licht und sah, dass in ihr nur ein schä­bi­ger Rest war. Ich trank auch ihn aus, ver­kork­te die Fla­sche wie­der, schloss die An­rich­ten­tür ab und schlich an mei­nen Platz zu­rück.

In mir wog­te es, mein Ma­gen, ge­reizt durch die plötz­li­che star­ke Al­ko­hol­zu­fuhr, mach­te ei­ni­ge krampf­haf­te Be­we­gun­gen, vor mei­nen Au­gen lag eine Art feu­ri­ger Ne­bel, und Stirn und Hän­de wa­ren schweiß­nass. Ich hat­te ge­wal­tig zu tun, bis zur Rück­kehr Mag­das ei­ni­ger­ma­ßen wie­der mei­ner Herr zu wer­den. Dann saß ich mit ei­nem Ge­fühl an­ge­neh­mer Hin­ge­ge­ben­heit an mei­nen Rausch zu Tisch, und nur die Not­wen­dig­keit, we­nigs­tens pro for­ma et­was zu es­sen, mach­te mir Schwie­rig­kei­ten. Mein Ma­gen schi­en ein sehr zer­brech­li­ches Ding, da­bei je­der­zeit be­reit, sich zu em­pö­ren; je­den ein­zel­nen Bis­sen muss­te ich ihm mit äu­ßers­ter Vor­sicht zu­füh­ren und be­dau­er­te da­bei, durch die­se aus äu­ße­ren Rück­sich­ten ge­bo­te­ne Nah­rungs­zu­fuhr den still wir­ken wol­len­den Rausch zu stö­ren.

Da­ran, dass es viel­leicht gut wäre, ein paar Wor­te mit Mag­da zu wech­seln, dach­te ich über­haupt nicht. Da­für be­schäf­tig­te mich ein an­de­res Pro­blem, das mir plötz­lich schwe­re Sor­gen be­rei­te­te. Wohl stand die Rot­wein­fla­sche wie­der ver­korkt in der An­rich­te, aber bei der Ge­nau­ig­keit, mit der Mag­da ih­ren Haus­halt führ­te, muss­te sie bin­nen Kur­zem ihre Lee­re mer­ken. Un­mög­lich konn­te ich das zu­las­sen, ich muss­te recht­zei­tig da­ge­gen Vor­keh­run­gen tref­fen. Aber wie un­glaub­lich schwie­rig das war!

Die bes­te Lö­sung wür­de sein, gleich heu­te Nach­mit­tag eine an­de­re Fla­sche Rot­wein zu kau­fen, etwa die Hälf­te fort­zu­schüt­ten und sie an die Stel­le der aus­ge­trun­ke­nen zu stel­len. Aber wann soll­te ich das tun, wie kam ich an das Bü­fett, da ich doch den Nach­mit­tag über im Ge­schäft sein muss­te, und da Mag­da und ich den Abend stets ge­mein­sam ver­brach­ten, sie mit ei­ner Hand­ar­beit, ich mit mei­nen Zei­tun­gen be­schäf­tigt – wann? Und wo blieb ich mit der lee­ren Fla­sche? Wür­de ich denn über­haupt einen Wein glei­cher Mar­ke zu kau­fen be­kom­men? Erin­ner­te sich Mag­da der Sor­te, der Art des Eti­ketts? Am bes­ten wür­de es sein, etwa um Mit­ter­nacht heim­lich auf­zu­ste­hen, das Eti­kett der al­ten Fla­sche vor­sich­tig ab­zu­lö­sen und auf die vol­le auf­zu­kle­ben! Aber wenn mich Mag­da da­bei über­rasch­te! Und hat­ten wir über­haupt Leim im Hau­se? Ich wür­de in mei­ner Ak­ten­ta­sche wel­chen aus dem Büro ein­schmug­geln müs­sen!

Je län­ger ich dar­über nach­dach­te, um so kom­pli­zier­ter wur­de die gan­ze An­ge­le­gen­heit, ei­gent­lich war sie schon ganz un­lös­bar. Es war eine sehr ein­fa­che Sa­che ge­we­sen, die Fla­sche leer zu trin­ken, aber ich hät­te vor­her dar­an den­ken sol­len, wie schwie­rig es sein wür­de, den Zu­stand wie vor­her her­zu­stel­len. Wenn ich die Fla­sche ein­fach zer­brä­che und vor­gä­be, ich hät­te sie beim Su­chen nach ir­gend­was um­ge­sto­ßen? Aber es war kein Wein mehr in ihr, der hät­te aus­flie­ßen kön­nen! Oder konn­te ich es wa­gen, sie ein­fach halb mit Was­ser zu fül­len, und die ei­gent­li­che Nach­fül­lung auf einen spä­te­ren Tag ver­schie­ben?

Es ging im­mer wir­rer in mei­nem Kopf zu, nicht nur das Es­sen, auch Mag­da hat­te ich ganz und gar über mei­nen Ge­dan­ken ver­ges­sen. So schrak ich völ­lig zu­sam­men, als sie mich mit ech­ter Be­sorg­nis in der Stim­me frag­te: »Was ist mit dir, Er­win? Bist du krank? Hast du Fie­ber – du siehst so rot aus?«

Ich griff gie­rig nach die­sem Ret­tungs­an­ker und sag­te ru­hig: »Ja, ich glau­be wirk­lich, ich bin nicht ganz in Ord­nung. Ich glau­be, ich lege mich am bes­ten einen Au­gen­blick hin. Ich habe – ich habe sol­chen Blu­tandrang im Kopf …«

»Ja, Er­win, das tu. Lege dich gleich ins Bett. Soll ich Dr. Mans­feld an­ru­fen?«

»Ach, Un­sinn!«, rief ich är­ger­lich. »Ich will mich nur eine Vier­tel­stun­de auf das Sofa le­gen, ich wer­de gleich wie­der in Ord­nung sein. Ich muss dann auch so­fort ins Ge­schäft.«

Sie ge­lei­te­te mich wie einen Schwer­kran­ken zum Sofa, half mir, mich hin­zu­le­gen, und leg­te eine De­cke über mich. »Hast du Är­ger im Ge­schäft ge­habt?«, frag­te sie ängst­lich. »Sage mir doch, was dich be­drückt, Er­win. Du bist ganz ver­än­dert!«

»Nichts, nichts«, sag­te ich, plötz­lich är­ger­lich. »Ich weiß nicht, was du willst. Ein biss­chen Schwin­del oder Blu­tandrang – und gleich soll et­was mit dem Ge­schäft sein! Pri­ma geht es mit dem Ge­schäft, ein­fach pri­ma!«

Sie seufz­te lei­se. »Also dann schlaf gut, Er­win!«, sag­te sie. »Soll ich dich we­cken?«

»Nein, nein, nicht nö­tig. Ich wa­che von selbst auf – in ei­ner Vier­tel­stun­de oder so …«

Da­mit war ich end­lich al­lein; ich leg­te den Kopf zu­rück, und der Al­ko­hol floss nun in un­ge­hemm­ter frei­er Wel­le ganz durch mich hin­durch, mit ei­ner sam­te­nen Schwin­ge be­deck­te er alle mei­ne Sor­gen und Küm­mer­nis­se, selbst den klei­nen, ganz fri­schen Är­ger, dass ich Mag­da so un­nö­tig einen »pri­ma« Gang der Ge­schäf­te vor­ge­lo­gen hat­te, schwemm­te er fort. Ich schlief … Ich schlief? Nein, ich war aus­ge­löscht. Ich war nicht mehr …

5

Es fängt schon an zu däm­mern, als ich er­wa­che. Ich wer­fe einen er­schro­cke­nen Blick auf die Uhr: Es ist zwi­schen sie­ben und acht Uhr abends. Ich lau­sche in das Haus, nichts rührt sich. Ich rufe erst lei­se, dann lau­ter: »Mag­da!« Aber sie kommt nicht. Ich ste­he müh­sam auf. Ich füh­le mich am gan­zen Kör­per zer­schla­gen, mein Kopf ist dumpf und mei­ne Mund­höh­le tro­cken und pel­zig. Ei­nen Blick wer­fe ich in das Spei­se­zim­mer ne­ben­an: Kein Abend­brot­tisch ist ge­deckt, und dies ist die Stun­de, zu der wir sonst nacht­mah­len. Was ist los? Was ist ge­sche­hen, wäh­rend ich schlief? Wo ist Mag­da?

Nach ei­ni­gem Über­le­gen tas­te ich mich nach der Kü­che hin; das Ge­hen fällt mir schwer, es ist, als sei­en alle mei­ne Glie­der steif und ver­bo­gen, sie be­we­gen sich so schwer in ih­ren Ge­len­ken.

Ich habe halb er­war­tet, auch die Kü­che leer und halb­dun­kel zu fin­den, aber in ihr brennt das Licht, und am Tisch steht Else, mit ir­gend­ei­ner Plät­te­rei be­schäf­tigt. Sie sieht er­schro­cken auf, als ich her­ein­kom­me, und ihr Ge­sichts­aus­druck wird auch nicht zu­trau­li­cher, als sie sieht, dass ich es bin. Ich kann mir wohl den­ken, dass ich et­was wüst aus­se­he. Plötz­lich habe ich das Ge­fühl, am gan­zen Kör­per schmie­rig zu sein. Ich hät­te zu­erst ins Ba­de­zim­mer ge­hen müs­sen, frü­her hät­te ich mich nie so ge­hen las­sen.

»Wo ist mei­ne Frau, Else?«, fra­ge ich.

»Die gnä­di­ge Frau ist in die Stadt ge­gan­gen«, ant­wor­tet Else, mit ei­nem kur­z­en, fast ängst­li­chen Auf­bli­cken zu mir.

»Aber es ist Abend­brot­zeit, Else!«, sage ich vor­wurfs­voll, ob­wohl ich nicht die ge­rings­te Nei­gung habe, jetzt ein Abendes­sen ein­zu­neh­men.

Else zuckt erst die Ach­seln, dann sagt sie, wie­der mit ei­nem ra­schen Auf­blick: »Es ist vom Ge­schäft an­ge­ru­fen wor­den; ich glau­be, Ihre Frau ist ins Ge­schäft ge­gan­gen …«

Ich schlu­cke müh­sam, ich füh­le, wie mein Mund tro­cken ge­wor­den ist. »Ins Ge­schäft?«, mur­me­le ich. »O du lie­ber Gott! Was will denn mei­ne Frau im Ge­schäft, Else?«

Sie zuckt die Ach­seln. »Ich weiß doch nicht, Herr Som­mer«, sagt sie, »die gnä­di­ge Frau hat mir nichts ge­sagt.« Sie be­sinnt sich, dann setzt sie hin­zu: »Die ha­ben gleich nach drei an­ge­ru­fen, und seit­dem ist Ihre Frau fort …«

Über vier Stun­den ist Mag­da also schon im Ge­schäft – ich bin ver­lo­ren. Wie­so ich ver­lo­ren bin, weiß ich nicht, aber dass ich’s bin, das weiß ich. Ich wer­de schwach in den Kni­en, ich stol­pe­re ein paar Schrit­te vor­wärts und las­se mich schwer auf einen Kü­chen­stuhl fal­len. Den Kopf wer­fe ich auf den Kü­chen­tisch. »Es ist aus und vor­bei, Else«, stöh­ne ich, »ich bin ver­lo­ren. Ach, Else …«

Ich höre, wie sie mit ei­nem er­schro­cke­nen Laut das Plätt­ei­sen auf­setzt, dann kommt sie zu mir ge­gan­gen und legt die Hand auf mei­ne Schul­ter. »Was ist denn, Herr Som­mer?«, fragt sie. »Ist Ih­nen nicht gut?«

Ich sehe sie nicht, ich hebe das Ge­sicht nicht aus dem Schutz mei­nes Ar­mes, ich schä­me mich vor die­sem jun­gen Ding mei­ner her­vor­quel­len­den Trä­nen. Es ist ja al­les aus und vor­bei, al­les ver­lo­ren, Fir­ma, Ehe, Mag­da – ach, hät­te ich nur heu­te Mit­tag nicht auch noch den Rot­wein aus­ge­trun­ken, da­von ist erst al­les so schlimm ge­wor­den, ohne das wäre Mag­da nie ins Ge­schäft ge­gan­gen. (Flüch­ti­ger Ne­ben­ge­dan­ke: Das mit der lee­ren Rot­wein­fla­sche muss ich auch noch in Ord­nung brin­gen!)

Else schüt­telt mich leicht an der Schul­ter. »Herr Som­mer«, sagt sie, »las­sen Sie sich doch nicht so ge­hen! Le­gen Sie sich noch einen Au­gen­blick hin, und ich ma­che Ih­nen un­ter­des so­fort Abendes­sen.«

Ich schüt­te­le den Kopf. »Ich will kein Abendes­sen, Else! Mei­ne Frau müss­te jetzt hier sein, es ist doch Zeit …«

»Oder«, sagt Else über­re­dend, »wol­len Sie hier bei mir in der Kü­che ein biss­chen es­sen, Herr Som­mer?« Selbst et­was be­denk­lich: »Wo Ihre Frau doch fort ist …«

Die­ser ganz un­er­hör­te Vor­schlag hat ge­ra­de durch sei­ne Neu­heit et­was Be­ste­chen­des. Hier in der Kü­che bei Else es­sen – was Mag­da wohl dazu sa­gen wür­de? Ich hebe den Kopf und sehe Else zum ers­ten Mal rich­tig an. Ich habe sie noch nie so an­ge­se­hen, für mich war sie im­mer nur ein dunk­ler Schat­ten mei­ner Frau in den hin­te­ren Re­gio­nen des Hau­ses. Jetzt sehe ich, dass Else ein recht net­tes dun­kel­haa­ri­ges Mäd­chen von etwa sieb­zehn Jah­ren und et­was ro­bus­ter Schön­heit ist. Sie hat un­ter ei­ner hel­len Blu­se eine vol­le Brust, und bei dem Ge­dan­ken, wie jung die­se Brust ist, füh­le ich eine Wel­le von Hit­ze über mich lau­fen.

Aber dann be­sin­ne ich mich. All dies ist un­mög­lich, schon mein Sich-vor-Else-Ge­hen­las­sen eben war ganz un­mög­lich. »Nein, Else«, sage ich und ste­he auf. »Es ist sehr nett von dir, dass du mich ein we­nig trös­ten willst, aber ich gehe jetzt bes­ser auch ins Ge­schäft. Soll­te ich mei­ne Frau ver­feh­len, sage ihr bit­te, ich sei auch ins Ge­schäft ge­gan­gen.« Ich wen­de mich zum Ge­hen.

Plötz­lich wird es mir schwer, aus der Kü­che und von die­sem freund­li­chen Mäd­chen fort­zu­ge­hen. Ich ste­he da noch einen Au­gen­blick un­ter der Tür und sehe sie an. Es fällt mir auf, wie blass ihr Ge­sicht ist und wie gut die dunklen, hoch­ge­schwun­ge­nen Au­gen­brau­en dazu pas­sen. »Ich habe vie­le Sor­gen, Else«, sage ich un­ver­mit­telt, »und ich habe kei­nen, Else, der mir bei­steht.« Ich wie­der­ho­le mit Nach­druck: »Kei­nen und kei­ne, Else, du ver­stehst mich?!«

»Ja, Herr Som­mer«, ant­wor­tet sie lei­se.

»Ich dan­ke dir, Else, dass du so nett zu mir warst«, sage ich noch und gehe. Erst als ich mich im Ba­de­zim­mer zu­recht­ma­che, fällt mir ein, dass ich so­eben Mag­da ver­ra­ten habe. Ver­ra­ten und be­tro­gen. Be­tro­gen und be­lo­gen. Aber gleich zu­cke ich die Ach­seln: Recht so! Im­mer tiefer hin­ab. Im­mer schnel­ler hin­ein. Nun gibt es doch kein Hal­ten mehr!

6

Vor­sich­tig ging ich den Weg zu mei­nem Ge­schäft, vor­sich­tig, denn ich woll­te es um je­den Preis ver­mei­den, Mag­da auf der Stra­ße zu tref­fen. Dann stand ich auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te im Schat­ten ei­ner Ein­fahrt und sah zu den fünf Par­ter­re­fens­tern mei­ner Fir­ma hin­über. Zwei, mein Chef­bü­ro, wa­ren er­leuch­tet, und manch­mal sah ich auf den Milchglas­schei­ben die Schat­ten­ris­se zwei­er Ge­stal­ten: Mag­das und die mei­nes Buch­hal­ters Hinz­pe­ter. ›Sie ma­chen Bilanz!‹, sag­te ich mir mit ei­nem tie­fen Er­schre­cken, und doch war die­sem Er­schre­cken ein Ge­fühl der Er­leich­te­rung bei­ge­mischt, weil ich nun die Füh­rung des Ge­schäf­tes in den tat­kräf­ti­gen Hän­den Mag­das wuss­te. Das sah ihr so recht ähn­lich, so­fort nach dem Er­fah­ren der schlim­men Nach­rich­ten sich vol­le Klar­heit zu ver­schaf­fen, die Bilanz zu zie­hen!

Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer wand­te ich mich ab und ging durch die Stadt hin­durch, aus ihr hin­aus, aber nicht mei­nem Heim zu. Was soll­te ich auf dem Büro, was in mei­nem Heim? Die Vor­wür­fe noch auf­su­chen, die mir not­wen­dig ge­macht wer­den muss­ten, eine Recht­fer­ti­gung ver­su­chen, dort, wo nichts zu recht­fer­ti­gen war? Nichts von al­le­dem – und in­dem ich wie­der in das lang­sam im­mer dunk­ler wer­den­de Land hin­aus­wan­der­te, wur­de mir mit schmerz­haf­ter Ge­wiss­heit klar, dass ich aus­ge­spielt hat­te. Ich hat­te, end­gül­tig, mei­ne Stel­lung und mei­nen Sinn im Le­ben ver­lo­ren, und ich fühl­te nicht die Kraft in mir, eine neue zu su­chen oder gar um die ver­lo­re­ne zu kämp­fen. Was soll­te ich noch? Wozu leb­te ich noch? Da ging ich da­hin, wan­der­te fort von Kon­tor, Frau, Va­ter­stadt, ließ das al­les hin­ter mir – aber ich muss­te doch ein­mal wie­der heim­keh­ren, nicht wahr? Ich muss­te mich Mag­da ge­gen­über­stel­len, ihre Vor­wür­fe an­hö­ren, mich mit Recht Lüg­ner und Be­trü­ger schel­ten las­sen, muss­te zu­ge­ben, dass ich ver­sagt hat­te, auf eine schmäh­li­che und fei­ge Art ver­sagt!

Uner­träg­lich war die­ser Ge­dan­ke, und ich fing an, mit dem Ge­dan­ken zu spie­len, gar nicht wie­der heim­zu­keh­ren, in die wei­te Welt hin­aus­zu­ge­hen, ir­gend­wo im Dun­kel un­ter­zut­au­chen, in ei­nem Dun­kel, in dem man auch un­ter­ge­hen konn­te – ohne Nach­richt, ohne letz­ten Ruf. Und wäh­rend ich mir das al­les – in leich­ter Rüh­rung über mich selbst – aus­mal­te, wuss­te ich doch, dass ich mir et­was vor­log, nie wür­de ich den Mut ha­ben, ohne Zu­re­den, ohne die Ge­bor­gen­heit des hei­mi­schen Her­des zu le­ben. Nie wür­de ich auf das ge­wohn­te wei­che Bett ver­zich­ten kön­nen, die Ord­nung des Heims, die pünkt­li­chen nahr­haf­ten Mahl­zei­ten! Ich wür­de heim­keh­ren zu Mag­da, all mei­nen Ängs­ten zum Trotz, die­se Nacht noch wür­de ich heim­keh­ren, in mein ge­wohn­tes Bett – nichts da von ei­nem Le­ben drau­ßen im Dun­kel, von ei­nem Le­ben und ei­nem Ster­ben in der Gos­se!

›A­ber‹, sag­te ich mir dann wie­der und be­schleu­nig­te mei­nen ei­li­gen Schritt noch, ›a­ber was ist denn ei­gent­lich los mit mir? Ich bin doch frü­her ein leid­lich tat­kräf­ti­ger und un­ter­neh­mungs­lus­ti­ger Mensch ge­we­sen. Ein we­nig schwach war ich stets, aber das habe ich so gut zu ver­ber­gen ge­wusst, dass es bis heu­te wohl nicht ein­mal Mag­da ge­merkt hat. Wo­her kommt die Schlaff­heit, die mich seit ei­nem Jahr im­mer stär­ker be­fällt, die mir Glie­der und Hirn lähmt, die aus mir, ei­nem im­mer leid­lich an­stän­di­gen Men­schen, einen Be­trü­ger an sei­ner Frau macht, der den Bu­sen sei­nes Haus­mäd­chens mit be­frie­dig­ter Lüs­tern­heit be­trach­tet! Der Al­ko­hol kann es nicht sein, ich trin­ke ja erst seit heu­te Schnaps, und die Schlaff­heit liegt schon so lan­ge über mir. Was ist es nur?‹

Ich riet hin und her. Ich dach­te dar­an, dass ich so­eben die Vier­zig über­schrit­ten hat­te; ich hat­te ein­mal et­was von den »Wech­sel­jah­ren des Man­nes« re­den hö­ren – aber ich wuss­te von kei­nem Mann mei­ner Be­kannt­schaft, der beim Über­schrei­ten der Vier­zig sich so ver­än­dert hat­te wie ich mich. Dann fiel mir mein lieb­lo­ses Da­sein ein. Ich hat­te im­mer nach Aner­ken­nung und Lie­be ge­dürs­tet, in al­ler ge­bo­te­nen Heim­lich­keit na­tür­lich, und ich hat­te sie in ei­nem rei­chen Maße ge­fun­den, so­wohl bei Mag­da wie bei mei­nen Mit­bür­gern. Und nun hat­te ich sie all­mäh­lich ver­lo­ren. Ich wuss­te selbst nicht, wie das al­les ge­kom­men war. Hat­te ich die­se Lie­be und die­se Aner­ken­nung ver­lo­ren, weil ich schlaff ge­wor­den war, oder war ich schlaff ge­wor­den, weil mir die­se Auf­mun­te­run­gen ge­fehlt hat­ten? Ich fand auf alle die­se Fra­gen kei­ne Ant­wort: Ich war es nicht ge­wohnt, über mich nach­zu­den­ken.

Ich ging im­mer schnel­ler, ich woll­te end­lich dort­hin kom­men, wo es Frie­den vor die­sen quä­len­den Fra­gen gab. End­lich stand ich wie­der vor mei­nem Ziel, vor dem­sel­ben Dorf­gast­haus, das ich auch an die­sem ver­häng­nis­vol­len Vor­mit­tag auf­ge­sucht hat­te; ich sah durch die Fens­ter der Wirts­stu­be nach je­nem Mäd­chen mit den blas­sen Au­gen aus, das mein Man­nes­tum nach ei­nem scham­lo­sen Blick so ge­ring ein­ge­schätzt hat­te. Ich sah es sit­zen un­ter dem trü­ben Schein ei­ner ein­zi­gen klei­nen Glüh­bir­ne, mit ir­gend­ei­ner Nä­he­rei be­schäf­tigt. Ich sah es lan­ge an, ich zö­ger­te, und ich frag­te mich, warum ich ge­ra­de es auf­ge­sucht hat­te, in ei­nem Ge­fühl schmer­zen­der, wol­lus­t­er­füll­ter Selbs­t­er­nied­ri­gung. Und auch auf die­se Fra­ge fand ich kei­ne Ant­wort.

Aber ich war all die­ses Fra­gens müde, ich lief fast den Plat­ten­weg zum Gast­hof hin­auf, tas­te­te im dunklen Flur nach der Klin­ke, trat rasch ein, rief mit ver­stell­ter Mun­ter­keit: »Da bin ich, mein schö­nes Kind!« und warf mich in einen Korb­ses­sel ne­ben sie. All das, was ich eben ge­tan hat­te, glich so we­nig dem, was ich sonst zu tun pfleg­te, wich so sehr von mei­ner frü­he­ren Ge­setzt­heit, mei­nem ge­mes­se­nen Be­neh­men ab, dass ich mir selbst mit ei­nem un­ver­hoh­le­nen Stau­nen zu­schau­te, ja mit ei­ner fast ängst­li­chen Be­tre­ten­heit, wie man viel­leicht ei­nem Schau­spie­ler zu­schaut, der eine sehr ge­wag­te Rol­le über­nom­men hat, von der ganz und gar nicht si­cher ist, dass er sie auch über­zeu­gend zu Ende spie­len kann.

Das Mäd­chen sah von sei­ner Nä­he­rei auf, einen Au­gen­blick wa­ren die hel­len Au­gen auf mich ge­rich­tet, die Spit­ze ih­rer Zun­ge er­schi­en rasch im Mund­win­kel. »Ach, Sie sind es!«, sag­te es dann bloß, und in die­sen vier Wört­chen lag wie­der­um ihr Ur­teil über mei­ne Per­son.

»Ja, ich bin es, mei­ne Hol­de!«, sag­te ich ei­lig mit je­ner mir so frem­den Zun­gen­ge­läu­fig­keit und An­ma­ßung. »Und ich möch­te ger­ne wie­der eins oder zwei oder auch fünf Ih­rer so vor­züg­li­chen Stäng­chen trin­ken, und wenn Sie es mö­gen, trin­ken Sie mit mir.«

»Ich trin­ke nie Schnaps«, sag­te das Mäd­chen mit küh­ler Ab­wehr, stand aber auf, ging an die The­ke, hol­te ein klei­nes Glas und eine Fla­sche und schenk­te mir am Tisch ein. Sie setz­te sich und stell­te die Fla­sche auf den Bo­den ne­ben sich. »Üb­ri­gens«, sag­te sie dann, ihre Nä­he­rei wie­der auf­neh­mend, »schlie­ßen wir in ei­ner Vier­tel­stun­de.«

»Umso schnel­ler wer­de ich trin­ken«, sag­te ich, setz­te das Glas an und trank es aus. »Wenn Sie aber kei­nen Schnaps trin­ken«, fuhr ich fort, »so will ich auch gern eine Fla­sche Wein oder auch Sekt, wenn es so et­was hier gibt, für Sie be­zah­len. Es soll mir nicht dar­auf an­kom­men.«

Sie hat­te un­ter­des mein Glas wie­der ge­füllt, und wie­der leer­te ich es auf einen Zug. Schon hat­te ich al­les Ver­gan­ge­ne und vor mir Lie­gen­de ver­ges­sen, ich leb­te nur die­ser Mi­nu­te, die­sem sprö­den und doch wis­sen­den Mäd­chen, das mich mit so of­fen­kun­di­ger Ver­ach­tung be­han­del­te.

»Sekt ha­ben wir schon«, sag­te sie, »und ich trin­ke ihn auch ger­ne. Ich ma­che Sie aber dar­auf auf­merk­sam, dass ich mich we­der be­trin­ken wer­de noch we­gen ei­ner Fla­sche Sekt ins Bett brin­gen las­se.« Jetzt sah sie mich wie­der an, mit ei­nem vol­len scham­lo­sen Blick be­glei­te­te sie ihre scham­lo­sen Wor­te.

Ich muss­te mei­ne Rol­le wei­ter­spie­len. »Wer denkt an so et­was, mei­ne Hüb­sche?«, rief ich un­be­küm­mert. »Ho­len Sie sich Ihren Sekt. Sie sol­len ihn un­be­läs­tigt in mei­ner Ge­gen­wart aus­trin­ken dür­fen. Sie sind«, sag­te ich stär­ker, nach­dem ich wie­der ge­trun­ken hat­te, »für mich wie ein En­gel von ei­nem an­de­ren Stern, ein bö­ser En­gel, den mir mein Schick­sal in den Weg ge­sandt hat. Es ge­nügt mir, Sie an­zu­schau­en.«

»An­schau­en kos­tet nichts«, sag­te sie mit ei­nem kur­z­en Auf­la­chen, das böse klang. »Sie sind mir ein selt­sa­mer Hei­li­ger, aber ich den­ke, ich er­fah­re noch heu­te Abend, warum Sie so – auf­ge­regt sind.« Da­mit schenk­te sie mir wie­der ein und stand auf, den Sekt zu ho­len.

Dies­mal blieb sie län­ger fort. Sie zog die Vor­hän­ge vor die Fens­ter, dann ging sie aus dem Haus, und ich hör­te sie die Lä­den, dann die Haus­tür schlie­ßen. Wäh­rend sie wie­der durch die Gast­stu­be ging, sag­te sie im Vor­über­ge­hen zu mir: »Ich habe schon ge­schlos­sen, es kommt doch kei­ner mehr. Und die Wirts­leu­te lie­gen auch schon im Bett.« Dies sag­te sie im Vor­über­ge­hen, blieb dann ste­hen und sag­te mit spöt­ti­scher Be­to­nung: »Aber des­we­gen brau­chen Sie sich kei­ne Hoff­nun­gen zu ma­chen!«

Ehe ich noch ant­wor­ten konn­te, war sie wie­der ge­gan­gen. Ich nutz­te die Zeit ih­rer Ab­we­sen­heit, mir ganz schnell zwei, drei Glä­ser hin­ter­ein­an­der aus der Fla­sche ein­zu­schen­ken.

Dann kam sie zu­rück, mit ei­ner gold­ge­köpf­ten Fla­sche in der Hand. Sie stell­te ein Spitz­glas vor sich auf den Tisch, lös­te den Draht ge­schickt mit ei­ni­gen Bie­gun­gen und dreh­te den Kor­ken aus der Fla­sche, ohne es knal­len zu las­sen. Der wei­ße Schaum troff über den Rand, sie goss rasch ein, war­te­te einen Au­gen­blick und goss wie­der ein. Dann hob sie das Glas zum Mund. »Ich trin­ke nicht auf Ihr Wohl«, sag­te sie, »denn dann möch­ten Sie mit mir an­sto­ßen, und für den Au­gen­blick ha­ben Sie ge­nug ge­trun­ken.«

Ich wi­der­sprach ihr nicht. Mein gan­zer Kör­per war tat­säch­lich so von Trun­ken­heit er­füllt, dass sie wie ein schwär­me­n­des Bie­nen­volk in ihm zu sum­men schi­en: Kei­ne Stel­le war frei von ihr.

Sie setz­te das Glas ab, sah mich mit ein­ge­knif­fe­nen Au­gen an und frag­te spöt­tisch: »Nun, wie viel Schnäp­se ha­ben Sie sich in mei­ner Ab­we­sen­heit ein­ge­schenkt? Fünf? Sechs?«

»Nur drei!«, ant­wor­te­te ich und lach­te. Ich kam über­haupt nicht auf die Idee, mich zu schä­men, vor die­sem Mäd­chen ver­gin­gen ei­nem sol­che Ge­füh­le voll­stän­dig. »Wie heißt du üb­ri­gens?«

»Willst du öf­ter kom­men?«, frag­te sie da­ge­gen.

»Vi­el­leicht«, ant­wor­te­te ich et­was ver­wirrt. »Wie­so?«

»Wozu willst du sonst mei­nen Na­men wis­sen? Für die hal­be Stun­de, die wir hier noch sit­zen, reicht ›klei­ne Hüb­sche‹ oder wie du sonst sagst, voll­kom­men …«

»Also sag dei­nen Na­men nicht«, rief ich, plötz­lich ge­reizt. »Wie egal mir das ist!«

Ich griff zur Fla­sche und schenk­te mir wie­der ein. Schon jetzt war mir klar, dass ich völ­lig be­trun­ken war und dass ich nicht mehr wei­ter­trin­ken durf­te. Den­noch blieb der Hang wei­ter­zu­trin­ken stär­ker. Das far­bi­ge Ge­spinst in mei­nem Hirn ver­lock­te mich, die nie be­tre­te­nen dunklen Dickich­te in mei­nem In­nern reiz­ten mei­nen Fuß; fer­ne rief lei­se nach mir eine Stim­me, ich wuss­te nicht, was, je­den­falls Lo­ckung …

»Ich weiß nicht, ob ich öf­ter hier­her­kom­men wer­de«, sag­te ich has­tig. »Ich kann dich nicht aus­ste­hen, ich has­se dich, und trotz­dem bin ich heu­te Abend zu dir zu­rück­ge­kehrt. Heu­te früh habe ich den ers­ten Schnaps mei­nes Le­bens ge­trun­ken, du hast ihn mir ein­ge­schenkt, du hast dich mit ihm ein­ge­schli­chen in mein Blut, ver­gif­tet hast du mich! Du bist wie der Geist des Schnap­ses: schwe­bend, trun­ken ma­chend, feil …« Ich sah sie an, atem­los, selbst am meis­ten über­rascht von die­sen Wor­ten, die aus mir sich hin­aus­schleu­der­ten, ich wuss­te nicht wo­her …

Sie saß mir ge­gen­über. Ihre Nä­he­rei hat­te sie nicht wie­der auf­ge­nom­men. Die Bei­ne ohne St­rümp­fe in ro­ten Schu­hen hat­te sie über­ge­schla­gen, und den Rock ein we­nig von den Kni­en zu­rück­ge­scho­ben. Die Bei­ne wa­ren et­was derb, aber lang und schön ge­fes­selt. An der rech­ten Wade sah ich ein fast pfen­nig­großes, brau­nes Mut­ter­mal – das schi­en mir schön. In der Hand hielt sie eine Zi­ga­ret­te, sie blies den Rauch breit durch die fest ge­schlos­se­nen Lip­pen, ohne Zwin­kern sah sie mich an. »Nur wei­ter, Vä­ter­chen«, sag­te sie, »du ent­wi­ckelst dich … nur wei­ter …«

Ich ver­such­te, nach­zu­den­ken. Wo­von hat­te ich eben noch ge­re­det? Das Ver­lan­gen, sie zu um­ar­men, sie zu be­tas­ten, wur­de fast über­mäch­tig in mir. Aber ich lehn­te mich fest in mei­nen Korb­ses­sel zu­rück, ich klam­mer­te mich mit mei­nen Hän­den an die Leh­nen. Plötz­lich hör­te ich mich dann wie­der spre­chen. Ich sprach ganz lang­sam und sehr deut­lich, und doch war ich atem­los vor Er­re­gung. »Ich bin ein Kauf­mann«, hör­te ich mich sa­gen. »Ich hat­te ein recht gu­tes Ge­schäft, aber jetzt ste­he ich vor dem Bank­rott. Sie wer­den mich aus­la­chen, alle, alle, mei­ne Frau zu­erst … Ich habe vie­le Feh­ler ge­macht, Mag­da wird sie mir alle vor­hal­ten. Du weißt doch, Mag­da ist mei­ne Frau …?«

Sie sah mich un­ver­wandt an, mit ih­rem sehr wei­ßen, wie ge­pu­der­ten Ge­sicht, das et­was Ge­dun­se­nes hat­te; hoch und ge­wölbt stan­den in ihm über den fast farb­lo­sen Au­gen die dunklen Brau­en.

»Aber ich kann noch Geld her­aus­zie­hen, aus dem Ge­schäft, ein paar Tau­send Mark. Ich täte es schon, um Mag­da zu är­gern. Mag­da will das Ge­schäft ret­ten. Ist sie mehr als ich? Ich könn­te das Ge­schäft ver­kau­fen, ich weiß auch schon, an wen, es ist eine jun­ge Fir­ma. Er wür­de mir zehn-, viel­leicht auch zwölf­tau­send Mark da­für ge­ben, wir wür­den auf Rei­sen ge­hen … Warst du schon ein­mal in Pa­ris?«

Sie sah mich an, kei­ne Zu­stim­mung oder Ver­nei­nung war auf ih­rem Ge­sicht zu le­sen.

Ich re­de­te wei­ter, schnel­ler, atem­lo­ser. »Ich war auch noch nicht dort«, fuhr ich fort, »aber ich habe da­von ge­le­sen. Es ist die Stadt der baum­be­stan­de­nen Bou­le­vards, der wei­ten Plät­ze, der lau­bi­gen Parks … Als Jun­ge habe ich ein biss­chen Fran­zö­sisch ge­lernt, aber ich kam zu früh von der Schu­le, die El­tern hat­ten nicht Geld ge­nug. Weißt du, was das heißt: ›Don­nez-moi un bai­ser, ma­de­moi­sel­le‹?«

Kein Zei­chen von ihr, nicht ja, nicht nein.