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Hans Schreiber beobachtet die Welt unter seinem Fenster. Er nimmt nicht an ihr teil. Sein Leben steht unter dem manischen Diktat seiner Schreibmaschine, die mit ihm spricht. Sie warnt ihn eindringlich, sich von der ihn umgebenden Außenwelt fernzuhalten, in deren unkalkulierbaren Turbulenzen er sich verlöre. Nur von seinem Beobachterposten aus erhalte er sich die Souveränität über die Abläufe unter seinem Fenster. Schaffe die notwendige Distanz zu der von ihm abgetrennten Wirklichkeit und gewinne dadurch Macht über sie. Sein Blick fällt auf eine junge Frau, die vor der Filiale der Dresdner Bank auf und ab schlendert, immer wieder innehält und in einen kleinen Block kritzelt. - Ein Überfall! - ruft ihm seine Schreibmaschine zu, - da findet ein Überfall statt. Beobachte und schreib alles auf! - Am Tag des Überfalls bewegen sich alle Personen von unterschiedlichen Motiven geleitet, ins Zentrum des Geschehens. Doch es scheint, als würden sie an unsichtbaren Fäden aneinander vorbei geführt. Ein hanebüchener Überfall. Die Befreiung von einer Obsession. Und eine Liebesgeschichte.
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Seitenzahl: 175
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Für Frieder
„Wer allzu lange sind ist, Ob arm, geht sich bei dem, Das einmal es oft lieber sein, Drum wird ja ohnedem, Mitsammen, ja denn so kann, Bei deinen nicht schon sein, Sobald man kann es bleiben soll, Zusammen fein zu sein.“
(Karl Valentin)
Prolog
Die Augen am Fenster
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Der Plan
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Zweifel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Der Überfall
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Flucht
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Epilog
Während der Regen auf die Kräne plinkerte, saß eine Gruppe Menschen um eine Betonmischmaschine und beratschlagte, wie sie die neu entstehende Straße gestalten sollte.
Da gab es allerlei Vorschläge und Einwände.
Einer, der Sepp Ruf hieß, meinte, zuerst müsse ein Wohnhaus gebaut werden. Mit vielen Balkons und sturzlosen Fenstern. Ein anderer fand, hier fehle zunächst mal ein Heizkraftwerk. Und einer, der Kaiser hieß, bestand vordringlich auf einer grünstreifigen Bankfiliale. Einer, zu der man Vertrauen haben könne.
Und so ging es weiter.
Sie wurden sich einig und stellten Obststände auf. Errichteten zwei italienische Schuhläden. Einen für Signore. Und einen für Signori. Bald folgten ein Hotel, ein Kino. Noch ein Kino. Schließlich Kneipen, Cafés, Antiquitätenläden.
„Die Straße ist noch zu leer,“ sagte einer aus der Gruppe, und sie stopften eine Unmenge Autos darauf. Die sogleich mehrreihig die Straße säumten.
Hierauf wurden natürlich Parkverbote notwendig. Halteverbotsschilder, Feuerwehranfahrtszonen. Polizisten und Politessen. Einfahrten, Ausfahrten und Durchfahrten, die unbedingt freigehalten werden sollten.
Es wurden Drogerien eingerichtet. Ein Kurzwarenladen. Elektrogeschäfte. Ein großes Haushaltswarengeschäft. Eine Druckerei. Die Baumaschinen, die Kräne, die Betonmischmaschine arbeiteten auf Hochtouren.
Natürlich musste jetzt auch eine Dixie-Kneipe her. Andere Bankfilialen, die um Vertrauen warben. Buchhandlungen, normale und eine kommunistische. Die Straße füllte sich zusehends.
Es folgten Farbengeschäfte und Fotogeschäfte. Die Bäckerei „Wild“ und die Bäckerei ‚Hölzl‘. Plattenläden. Ein Holzverarbeitungsbetrieb und Musikgeschäfte. Eine Apotheke. Und der ‘Tengelmann‘, natürlich.
Ach ja, jetzt fehlten noch Telefonzellen, Zebrastreifen, Ampeln, Fernsehantennen, Nasenreklamen, Leuchtreklamen, Außen- und Innenreklamen, Reklamen aller Art. Straßenbeleuchtung.
Was noch? Na, auf alle Fälle noch Vorderhöfe, Hinterhöfe und Zweite Hinterhöfe. Jede Menge Fenster, Einheitsfenster und Einheitsfensterbretter. Gehwege, Fußgänger, Radfahrer. Wohnungsbewohner und -besetzer. Obdachlose, Bettler, Kunden, Einkäufer und Interessenten. Alarmanlagen. Verkehr. Kaugummi- und andere Gummiautomaten. Zigarettenautomaten. Klingelschilder. Eine Spielstraße.
Jetzt fehlte noch das Namensschild für die neuentstandene Straße. Und hier kam es plötzlich zu Unstimmigkeiten bei der kleinen Gruppe, die sich nunmehr der Straßenpflege angenommen hatte.
Nach wie vor tröpfelte der Regen, Münchner Regen, auf sie herunter. Völlig durchnässt standen sie auf ihrer Straße. Beratschlagten. Und wägten ab. Doch sie konnten sich einfach auf keinen Namen einigen.
So blieb sie eine Zeitlang, und das wissen nur wenige, die einzige Straße in München, die keinen Namen hatte.
Die Gruppe war freilich nicht zufrieden mit ihrer unbenannten Straße. Sie wollten keine Straße, die nur irgendwo herum, nirgendwo hinein und nirgendwo herausführte.
„Man muss die Dinge benennen können, sonst verflüchtigen sie sich.“ Die anderen nickten heftig. Sie wollten nicht, dass sich ihre Straße verflüchtige.
Da es die Menschen in großen Städten immer sehr eilig haben, bemerkte kaum jemand, dass er durch eine namenlose Straße hetzte. Nur die Ortsunkundigen hielten verunsichert inne, spähten zu den Häuserecken und suchten die Orientierung wiederzugewinnen. Die kleine Gruppe kauerte in einem Durchgang und musste beschämt mitansehen, wie sich Fremde in ihrer Straße verirrten.
Schließlich wurde es ihnen zu dumm und sie veranlassten, dass an allen Ecken ortsübliche blaue Schilder aufgestellt wurden, worauf man den Namen ihrer Straße deutlich lesen könne.
‚Türkenstraße‘ benannten sie ihre Straße. Obwohl niemand von ihnen so recht wusste warum.
Die Türkenstraße beginnt am Oscar-von-Miller-Ring als Einbahnstraße, läuft in nördlicher Richtung über die Theresienstraße, verengt sich in Richtung Schelling- und Adalbertstraße, führt an der Rückseite der Ludwig-Maximilian-Universität vorbei, streift dann rechterhand den westlichen Flügel der Kunstakademie und mündet schließlich in die Georgenstraße. Einige behaupten, sie führe von dort aus weiter bis zur Galaterbrücke, überquere schließlich den Bosporus und verliere sich im Hochland von Anatolien…
Ein diesiger Frühsommertag.
Hans Schreiber sitzt missmutig an seiner Schreibmaschine, eine alte ‘Continental’. Die Türkenstraße katapultiert Verkehrslärm durch das offene Fenster. Hans verlässt das eingespannte leere Blatt und schickt seine Augen in die produzierende Welt auf der Straße.
Zwischen Dresdner Bank und ‚Tengelmann‘ parken wie immer Autos in mehreren Reihen. Lastwägen rangieren durch den an- und abfahrenden Verkehr. Fußgänger wieseln in alle Richtungen.
Hans Schreiber beobachtet teilnahmslos.
Durch die Schwingtür vom ‚Tengelmann‘ kommen mehr Leute heraus als hineingehen. Ein paar Meter weiter wird ein Mann mit Hut, mittleren Alters, aus der Dresdner-Bank-Filiale hofiert. Hans erkennt Herrn Kaiser, den Zweigstellenleiter. Den Mann mit Hut kennt er nicht.
Dann kehrt er zu seinem Blatt Papier zurück. Tippt wahllos ein paar Buchstaben in die Maschine. Drei Metallfinger verkanten sich ineinander. Hans muss jeden einzeln in das Halbrund ihres gemeinsamen Bettes zurückführen, um sie wieder für sich gefügig zu machen.
Die schwarze schwere Maschine donnert rhythmisch auf die Schreibtischplatte. Nach einer Weile stehen fünf Zeilen unentzifferbarer Worte auf dem in der Walze eingespannten weißen Blatt. Hans zieht das Blatt heraus, zerknüllt es und wirft es unter seinen Schreibtisch. Er spannt ein neues Blatt ein und hämmert vier Worte in die rumpelnde Maschine:
‘Ich bin ein Nichts.’
Immerhin ein Anfang. Allerdings ein Anfang ohne Perspektive. Ein Anfang, der eigentlich schon das Ende ist. Ein Subjekt, das es nicht gibt, kann auch nichts niederschreiben.
Hans lehnt sich in seinem Stuhl zurück und streckt seine Arme.
Er ist ein Versager. Und er weiß das. Es ist diese Maschine, diese boshafte alte ‚Continental‘, die ihn beherrscht, ihm Ideen zuflüstert, um sie ihm im nächsten Augenblick hämisch wieder zu entreißen. Von Anfang an ist sie es gewesen, die ihn dazu verführt hat, seinen Namen als Omen zu missdeuten. Mit verschwommenen Zusicherungen luzider Geistesblitze ruft sie ihn zu sich. Winkt ihn mit ihren unduldsam wippenden Metallfingern heran. Und lässt ihn ins Bodenlose fallen.
Vergeblich versucht er sich diesem trügerischen Drängen zu erwehren.
Warum hat er sie nicht längst entsorgt? Auf den Müll geworfen? Um sich für immer ihrem Bann zu entziehen.
Altehrwürdig, wie ein Altar thront die ‘Continental‘ im Zentrum seines Lebens. Nötigt ihn unentwegt, sein überfälliges Schreibopfer darzubringen. Doch stets enden diese Wallfahrten in der dumpfen Erkenntnis: das Ungeheuer lockt ihn ins Ungewisse. Er selbst hat nichts mitzuteilen. Nichts anzuvertrauen. Nichts zu sagen. Seine Hoffnung auf ein Zwiegespräch mit dem Ungeheuer wird immer wieder neu enttäuscht. Kaum beugt er sich über die Tastatur, verflüchtigen sich seine Ideen. Das weiße Blatt spiegelt höhnisch die Leere in seinem Kopf wider. Der Opfergang ist umsonst, das Opfer unerwünscht. Das Ungeheuer, eben noch drängend, die Finger nach ihm streckend, antwortet nicht.
Einige seltene Male gelingt es Hans eine Seite zu füllen. Schon nach erster Durchsicht zerreißt er sie, wirft sie unter seinen Schreibtisch, verschanzt sich hinter der unumstößlichen Gewissheit seiner vier Worte:
Ich bin ein Nichts.
Hans Schreiber hält sich weder für einen Propheten, noch für ein verkanntes Genie. Er fühlt sich an dieses lackabblätternde Ungetüm gekettet, das ihn mit großer Dringlichkeit zu sich ruft, um ihn mit spöttischem Schweigen zu strafen. Unaufhörlich zitiert ihn die Maschine zu sich. Dann sitzt Hans gedemütigt vor ihr, starrt abwechselnd auf die Tasten und das leere eingespannte Blatt. Das Ungeheuer scheint dies Ritual zu genießen. Es interessiert sich nicht für ihn. Ignoriert ihn.
Hans streckt sich noch einmal.
Plötzlich mischt sich schrilles Quietschen in das Verkehrswabern unter seinem Fenster. Klappern und Krachen antwortet. Ohne auch nur einen Blick aus dem Fenster zu werfen, tippt Hans:
‚Der Verkehrsunfall. Auf der Türkenstraße, das ist die Straße unter meinem Fenster, findet ungefähr alle zehn Minuten ein Verkehrsunfall statt. Ich höre diese Unfälle. Aber ich sehe sie nicht. Dazu müsste ich meinen Kopf aus dem Fenster lehnen. Warum sollte ich das tun? Die meisten dieser Unfälle sind kurzlebig und bedeutungslos. Es bumst, kracht und knirscht. Das ist alles. Das allgemeine Verkehrsrauschen fließt darüber hinweg. Die Verkehrsopfer sind wohlauf. Oder tot. Leichenwägen fahren bekanntlich ohne Martinshorn...‘
Ärgerlich reißt er das Blatt aus der Maschine und schleudert es aus dem Fenster.
Unsinn! Ob Tote oder Verletzte, es kommt immer erst die Polizei. Und Polizeiautos fahren mit Tatütata.
Hans betrachtet seine ‚Continental‘. Sie hüllt sich in Schweigen. Er beschließt, sich zum Fenster hinauszulehnen.
Einige Autos stehen ineinander verkeilt. Die Türkenstraße ist voll Blech. Überall züngeln Rauchfähnchen unter den Autos hervor. Aus dem Seitenfenster eines eingepferchten Taxis windet sich ein Kopf. Das zugehörige Gesicht ist pflaumenrot. Neben dem Kopf erscheint ein Arm. Dann ein zweiter. Beide gestikulieren heftig. Auf der Straße herrscht weiterhin Stillstand.
Wozu aus dem Fenster schauen? Ich wusste bereits zuvor, was ich hier draußen sehen würde.
Hans hält inne.
Eine junge Frau beobachtet von schräg gegenüber die Dresdner-Bank-Filiale. Sie macht sich Notizen. Sie trägt einen kobaltblauen Overall, der die Linie ihres Körpers betont. Hin und wieder verlagert sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Hans sieht, wie sich ihre Muskeln unter dem Stoff spannen. Sie schaut immer wieder misstrauisch um sich.
Plötzlich sieht sie zu ihm hoch, und ihm ist als stürze er einige Stockwerke tief in ihre Augen. Ohne sich selbst weiter wahrzunehmen.
Was war denn das?
Während Karla mit hastigen Schritten die Türkenstraße in Richtung Georgenstraße läuft, wandern ihre Gedanken zurück zu den Augen am Fenster.
Ein merkwürdiger Kraftstrom sog sekundenlang ihre Blicke zueinander. Ihre Augen waren miteinander in Verbindung. Das hat sie deutlich gespürt. Sie wehrt sich gegen diesen Blick, der immer noch in ihr brennt. Ihre Gedanken und Gefühle purzeln durcheinander. Sie kann sie weder ordnen, noch voneinander trennen.
Sie erinnert sich nicht, so was schon einmal erlebt zu haben.
In diesem Blick lag Befremdliches. Wie eine Botschaft, die ihr die Augen zuzuflüstern versuchten. Ja, Karla ist sich sicher. Ein Austausch hat stattgefunden.
Aber was wollten ihr diese Augen mitteilen?
Karla streift mit beiden Händen ihre kurzen braunen Haare nach hinten.
Blödsinn! Das bilde ich mir alles nur ein! Was soll der Kerl schon bemerkt haben? Was kann er mir mitteilen wollen?
Ich kenne ihn nicht. Hab ihn nie zuvor gesehen.
Als Hans wieder bei sich ankommt, ist die Frau verschwunden.
Er schließt die Augen. Vergebens. Diese Augen haben mich in sich hinein gesaugt! Und ich sehe nun aus ihren Augen heraus.
Hans ist außer sich. Er hat Kontakt mit der Außenwelt aufgenommen! Äußerlich gesehen, ein fragwürdiger, eher spärlicher, zugegeben. Ein Blickkontakt, nicht mehr.
Dennoch hat er ein Feuerwerk in ihm entfacht. Auf so eine Begegnung mit der Außenwelt war er nicht vorbereitet.
Es gibt eine Welt unter seinem Fenster.
Oder war es gar nicht die Außenwelt, von der er sich wie von einem Feuerstrahl getroffen fühlte? Der Blick in einen Abgrund aus einer nie gewagten Perspektive? Ein Verschmelzen abgetrennter Teile in sich selbst?
Sekundenlang spannte sich ein Tau zwischen ihm und ihr.
Ihre Blicke verhakten sich ineinander. Wie war es möglich, dass sich über diese Entfernung hinweg, zwei Augenpaare so sehr miteinander verbanden?
„Bleib auf deinem Posten!“ ermahnt ihn jetzt die Maschine. „Du brauchst dabei nicht mehr zu tun, als hier an deinem Fenster zu sitzen, zu beobachten und deine Beobachtungen aufzuschreiben!“
Eine dumpfe Erregung legt sich wie ein Teppich auf ihn.
Feuchtschwere Hitze drückt auf die Dächer der Stadt. Die Geschäftigkeit der Türkenstraße pulsiert zu ihm herauf.
„Mach mit! Beteilige dich!“ ruft ihm das brodelnde Leben dort unten zu.
„Beobachte! Halt Abstand! Schreib‘s auf!“ fordert die ‘Continental’.
Zwei Feuer haben sich in ihm entzündet.
Hans kann nicht erkennen, welches ihn zu wärmen verspricht und welches ihn zu verbrennen droht.
„Schreib endlich! Du musst dich nur über dein Fenstersims lehnen und abschreiben, was dir die Vorlage dort unten liefert!“ zischt es ihm aus dem einen entgegen.
„Komm ins Leben!“ lodern die Flammen des anderen.
Elf dumpfe Glockenschläge wummern über den Verkehr in der Türkenstraße, der sich entquirlt und schleppend wieder in Bewegung kommt. Der Taxifahrer mit dem pflaumenroten Gesicht hämmert auf den Hupring am Steuerrad seines Wagens. Eine Autoschlange gleitet an ihm vorbei. Sie bietet ihm keine Lücke einzuscheren. Gegenüber der Dresdner Bank steht ein Streifenwagen mit kreiselndem Blaulicht. Anzeichen eines Unfalls kann Hans Schreiber nicht erkennen.
Er setzt sich zurück und tippt auf das leere Blatt:
„Es ist knapp elf Uhr vorbei. Stickige Luft füllt mein Zimmer. Ich strecke meinen Kopf aus dem Fenster.
Schwere Hitze drückt ihn nach unten. Ich treffe auf zwei saugende Augen, die mich vom Fenstersims zu zerren drohen. Über zwei Stockwerke hinweg spannt sich ein verbindendes Seil zwischen unseren Augenpaaren. Ich kenne die Frau nicht, der diese Augen gehören. Ich kann kaum ihre Gesichtszüge entziffern. Dennoch zieht mich eine unsichtbare Macht in ihre Augen…...“
Hans reißt das beschriebene Blatt wieder aus der Maschine.
Da ist er wieder!
Wieder lehnt er am Fenster und schaut zu ihr herunter.
Noch scheint er sie nicht wahrzunehmen. Karla versucht sich auf den Bankeingang zu konzentrieren. Doch ihr Blick schweift unruhig hin und her. Ein älterer Mann in der Boutique vor ihr mustert sie aufmerksam. Karla schaut in die Auslage. Der Mann aus der Boutique kommt auf sie zu.
„Kann ich Ihnen helfen? Hier im Fenster haben wir nur eine ganz kleine Auswahl. Kommen Sie doch rein und schauen sich drinnen um!“
„Nein, nein, ich - ich schaue nur,“ wehrt Karla ab.
Der Verkäufer erkennt „seine“ Sandalen an ihren Füßen und lächelt gegen ihren Busen.
„Signora, wirr haben ihre Größe wieder da, serr schöne Modelle!“
„Ich trage keine Bhs.“
„Oh, Signora, ich meinte ihre Sandaletten.“
„Die sind doch praktisch noch neu.“
„Sie haben Recht, Signora! Aber ist das nicht wennig? Nurr ein paar Sandalen fürr so schöne Füße?“
Karla geht ärgerlich weiter.
Ich stelle mich stümperhaft an! Wenn ich so weitermache, weiß es in Kürze die ganze Türkenstraße, dass ich die Bank dort drüben im Auge habe.
Noch einmal hebt sie ihren Blick zum Fenster im zweiten Stock.
Jetzt hat er sie entdeckt.
Wieder verhaken sich ihre Blicke ineinander. Wieder meint sie eine Botschaft in seinen Augen zu lesen. Eine Botschaft von großer Dringlichkeit. Die sie nicht deuten kann. Unruhe erfasst ihren Körper. Hastig versucht sie den Code zu entziffern. Dann bricht die Verbindung abrupt ab, als habe jemand den Stecker herausgezogen.
Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Beobachter dort oben.
Karla schüttelt sich.
Was passiert mit mir?
Hans Schreiber müht sich vergeblich ab, seine Gedanken in Fragen, Aussagen und Entschlüsse zu ordnen. Aufgewühlt von den Bränden, die ihn entfachen, streift sein Blick durch sein Appartement, nach einem Fluchtpunkt.
Die Feuer flackern immer wieder auf, zischeln und schwelen vor sich hin.
Es gibt keinen Ruhepol.
Sein Appartement gleicht einer Kammer, in die man kurz vor einem bevorstehenden Umzug noch schnell alles hineingestapelt hat. Ohne aufstehen zu müssen gelangt er mit ausgestreckten Armen an seine Bücherregale. Es gibt ein Abstellniveau, das gleichzeitig Schreibtisch, Esstisch und multifunktionale Ablage ist. Darauf türmen sich Zettel und Stifte in allen Größen, leere Blätter, sowie Marmeladengläser und diverses zum Teil ungewaschenes Geschirr. Und immer wieder Zettel.
Inmitten dieses unabsichtlichen Arrangements dräut die schwarze ‘Continental’- Schreibmaschine. Darum herum ranken sich notdürftig zusammengeschraubte Ikea-Regale, vollgepfropft mit Büchern. Von seinem Schreibtischstuhl aus kann sich Hans ohne Mühe auf die dort heruntergelassene Klappcouch rollen lassen. Dahinter gibt es dann noch ein Miniwaschbecken, einen Elektrokocher auf einer schmalen Kommode, in der Hans seine Schuhe aufbewahrt. Und nur durch eine Sperrholzwand getrennt, eine Duschkabine für Gartenzwerge. Um zur Dusche zu kommen, muss Hans über seine Schlafcouch steigen.
Das Ganze trägt die Bezeichnung Appartement und kostet den Preis eines nämlichen. Es gab eine Zeit, da waren Hühnerställe größer.
Hans Schreiber betrachtet das Sammelsurium an Zetteln, das sich bis auf seine Couch ausgeweitet hat. Kurz entschlossen sammelt er alle ein, zerknüllt sie, stopft sie in eine Plastiktüte. Dann nimmt er eine zweite Tüte und leert den überquellenden Inhalt seines Papierkorbs hinein.
Er glaubt, einen Sieg errungen zu haben.
Dann schiebt er ein Glas Aprikosenmarmelade beiseite und zieht die ‘Continental’ zu sich heran.
Die Maschine kichert.
Hans Schreiber lässt sein festgeklebtes T-Shirt auf seiner Bauchdecke auf- und ab fluppen. Er legt zwei Bögen mit Durchschlagpapier in die Walze.
„Der Überfall in der Türkenstraße von Hans Schreiber.“
Er zögert.
Nicht auf der Türkenstraße - nein, der Überfall findet in den engen Häuserschluchten, tief in den Eingeweiden der Straße statt.
„Der Überfall in der Türkenstraße. Es beginnt am 14. Juli 1981 um 10 Uhr 45. Ein Mann. Eine Frau. Zwei Augenpaare verketten sich...“
Verketten sich? Augen verketten sich nicht.
„Zwei Augenpaare treffen sich…“
Treffen sich, treffen sich… mein Gott! Wie banal!
„Zwei Augenpaare versinken ineinander…“
Nein, nein, nein. So nicht.
Er unterbricht.
Da ist es wieder, dieses brennende Verlangen, das sich in ihm ausbreitet. Er sieht die wippenden Schultern. Er spürt ihre Bewegungen. Er sieht ihre Augen vor sich, die wie schillernde Teiche seinen Blick ansaugen. Diese Augen zerren ihn aus sich heraus. Noch nie hat Hans derartiges gespürt.
Er nickt ihr zu.
Es ist ein Ja ohne irgendetwas gefragt worden zu sein.
Hans wendet sich wieder der Tastatur zu. Die ‘Continental’ lächelt zufrieden.
„Du musst alles aufschreiben! „flüstert sie ihm zu, „ohne Rücksicht auf irgendjemand oder irgendetwas. Erspür, was von da unten zu dir hoch drängt! Aber vergiss nicht: du bist der Beobachter, der Berichterstatter! Lässt du dich hineinziehen, bist du Sklave der Abläufe unter deinem Fenster! Hältst du sie auf Distanz, beherrscht du sie!“
Die Metallfinger krümmen sich über die Walze und hämmern Buchstaben auf die leere Seite. Der Papierkorb füllt sich und schon bald verteilen sich wieder zahllose Blätter um ihn herum.
Er hat mir zugenickt? Kein Zweifel. Er hat mir von seinem Fenstersims aus deutlich sichtbar zugenickt.
Aber auch diese Botschaft kann Karla nicht enträtseln.
Wollte er mich anmachen? Und ist zu feige seinen sicheren Fensterplatz zu verlassen? Aber was stellt er sich vor? Dass ich zu ihm hochkomme?
Gewöhnlich lächeln Männer in derlei Situationen. Er hat nicht gelächelt.
Nicht einmal die Farbe seiner Augen war zu erkennen.
Nur, dass sie seltsam dunkel wirkten, erinnert sich Karla.
Dunkel und erloschen. Verlorene Augen.
Was wollten sie mir sagen?
Karla lehnt sich an ein Verkehrsschild.
Verblüfft muss sie sich eingestehen, dass sie die Augen am Fenster mehr beschäftigen als der geplante Überfall.
Plötzlich glaubt Karla zu wissen, warum er ihr zugenickt hat. Es war ein Zeichen schweigenden Verstehens. Ich weiß alles, aber ich sage nichts.
Inzwischen ist Karla vor ihrer Haustür in der Blütenstraße angekommen.
Das ist ja absurd! Ich bin total überspannt! Was reime ich mir da zusammen?
Hans räumt seine beschriebenen Blätter beiseite.
Von der Türkenstraße dringt Sirren und Brummen durch sein offenes Fenster. Er schaut auf seine Armbanduhr.
Halb elf.
Noch einmal stemmt er sich hoch und stiert mit leeren Augen auf das Treiben unter ihm. Sein Blick gleitet über die Menschen und Autos die sich ineinander knäueln. Alle scheinen auf irgendeine Weise miteinander verbunden. Er kauert gefangen in seinem Elfenbeinturm. Die Welt nimmt keine Notiz von ihm. Die Menschen dort drunten gehen ihre eigenen vorgezeichneten Wege. Oder Abwege. Sie kümmern sich nicht um ihn. Bemerken ihn nicht einmal.
Außer einem.
Hans Schreiber erkennt die Beobachterin sofort wieder.
Ihre Augen sind graue Schächte. Saugen ihn in sich hinein.
Ziehen ihn fort von seinem tristen Fenster. Heraus aus seiner Verbannung. Und einen Augenblick lang vergisst er sein Abgetrenntsein von der Welt unter ihm. Er fühlt sich an diese Augen gefesselt. Doch er genießt diese neue Gefangenschaft. Wie eine Erlösung aus langem Herumirren.
Plötzlich reißt das Tau, das ihre Blicke zueinander zog.
Hans schnellt benommen auf sein Fenstersims zurück.
Dann folgt er ihrem Blick.
Ein gepanzerter Kastenwagen rangiert vor der Dresdner-Bank-Filiale hin und her. Schließlich findet er eine Lücke in zweiter Reihe und fädelt ein.
Als sich Hans wieder der Beobachterin zuwendet, prallt sein Blick gegen eine bläulich verspiegelte Sonnenbrille und verwehrt ihm den Zugang zu ihren Augen. Die Beobachterin sieht prüfend auf ihre Armbanduhr und kritzelt in einen kleinen Block, den sie schützend in der linken Handfläche hält.
Zwei bewaffnete Wachmänner klettern aus der Kabine.
Beide aus der Beifahrertür. Einer baut sich vor dem Heck des Wagens auf. Der andere öffnet die Klappe und kriecht hinein. Gleich darauf erscheint er wieder. Er hat jetzt einen Metallkoffer in der Hand. Der andere Wachmann lässt die Heckklappe zuschnappen. Beide gehen zügig auf den Bankeingang zu und verschwinden im Innern der Filiale.
Die Warnblinkanlage des Transporters sputzt rhythmisch gelbe Lichttupfen in den vorbeiquellenden Verkehr.
Hans Schreiber reckt seinen Kopf weiter aus dem Fenster.
Die Scheiben des Fahrzeugs sind stark getönt. Hans kann nicht erkennen, ob noch ein Dritter in der Fahrkabine wartet.
Er wundert sich, warum ihn das interessiert.
Die Beobachterin scheint sich nicht mehr um ihn zu kümmern. Sie ist mit ihren Aufzeichnungen beschäftigt.
Dabei schlendert sie betont unauffällig auf und ab. Dreht sich auf dem Absatz ihrer Sandalen.
Hans verliert sich in den fließenden Bewegungen ihres Körpers.
Wieder folgt er ihrem Blick.