Warum man den Bäcker grüßen sollte - R. Daniel Roth - E-Book

Warum man den Bäcker grüßen sollte E-Book

R. Daniel Roth

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Beschreibung

Gedichte und Geschichten öffnen sich jedem anders. Sie befreien sich aus dem Gitter der sie eingrenzenden Worte. Klingen in verborgene Abgründe hinab. Berühren unbewusst durchlebte Räume, tief eingelagerte Ängste und Sehnsüchte. In jener unwirtlichen Novembernacht habe ich zum ersten Mal gespürt, dass man nicht alles verstehen muss. Und dass das, was uns am meisten bewegt, Augenblicke tiefen Leids und großer Freude, sich nicht im Verstehen offenbart. Vielleicht aber im Erzählen.

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für Kim

Inhalt

Prolog

Teil 1

Die alte Kagereit

Die Wut unserer drei Dörfer

Wie große rollende Steine

Onkel Hans weiß zu viel

Einladung am Meeresgrund

Teil 2

Ein kleiner Junge im U-Bahnhof

Spiesmutti

Litfaßsäule

Lese-Oase

Ich hier drinnen. Ihr da draußen

Teil 3

Immer diese Baustellen

Der Aufzug

Beim Therapeuten

Der davonlaufende Abend

Erkenntnis im Audimax

Teil 4

Ein Kind auf der Leopoldstraße

Aloisi

Ave-Maria

Einmal nach Italien

Roller-Rudi

Autor

Hinweis

Dieser Band enthält auch

überarbeitete Geschichten aus

„Fliegende Mütter“, 2021

und

„Heimat“, 2021

Gleichmäßiges Grau drängt durch das offene Fenster herein. Und breitet sich in mir aus.

Anna beobachtet mich.

„Worum geht es?“ fragt sie tonlos gegen das Grau an.

„Die sich in ihrer Nichtigkeit auf dem Boden der blassen Tage spiegelnden Momente zu bündeln. Und sie zum Leuchten zu bringen,“ sage ich, „darum geht es.“

„Oder zum Lachen,“ sagt Anna.

Prolog

Wie schon öfter, bewegt sich auch heute Abend eine Tatsache auf mich zu. Ich fürchte mich vor Tatsachen. Gehe ihnen, wenn irgend möglich, aus dem Weg. Das ist lächerlich. Ich weiß. Tatsachen kann man nicht aus dem Weg gehen. Tatsachen holen einen immer ein. Ob man sich ihnen nun stellt. Ihnen den Rücken kehrt. Oder gar vor ihnen davonzulaufen versucht. Egal was man tut und wohin man sich wendet. Sie bauen sich vor einem auf. Starren einen an. Sind einfach da.

Auch die Tatsache, die sich mir heute Abend in den Weg stellt, starrt mich an. Bewegt sich dann einmal um mich herum. Schielt aus verschiedenen Winkeln zu mir herüber. Und verschwindet.

Ich schaue misstrauisch in die Richtung, in der sie verschwunden ist. Ich weiß ja, Tatsachen verschwinden nicht. Auch wenn es manchmal so aussieht. Es ist ihr Trick, sich an einen heranzuschleichen. So zu tun, als verschwänden sie. Um sich dann abrupt über einen zu werfen. Und nicht mehr loszulassen.

Am besten ist es, sich mit ihnen zu versöhnen, sie in sich einzulagern. Sie zu einem Teil von sich werden zu lassen.

Ach, und da kommt schon die nächste Tatsache auf mich zu. Dahinter gleich die nächste. Und weiter hinten noch eine.

Vielleicht komme ich ihnen ja zuvor, wenn ich so tue, als sei das, was noch auf mich zukommt, schon gewesen. Denke ich. Und grinse ihnen entgegen.

Teil 1

Die alte Kagereit

(aus „Heimat“ Roman 2021)

Für meine Omi bin ich ein Königskind. Sie weiß natürlich, dass mein Vater nur Gutsverwalter und kein König ist. Aber das kümmert sie nicht. Mein Vater ist ihr so egal, wie sie ihm ist. Immer wieder erzählt sie mir, wie ich an jenem folgenschweren Sonntag tot auf die Welt gekommen sei. Und sie es war, die mich mit beherzten Klapsen auf den Po ins Leben gerufen hat. Während mein Vater von all dem nichts begriffen und nur belämmert dreingeschaut habe.

„Vergiss nie, du bist ein Sonntagskind!“ sagt sie und lässt mich an ihrer Kaffeetasse nippen.

Bei meiner Omi darf ich all das, was ich in Lapping nicht darf. Und sie nimmt mich überallhin mit.

Ihr Stübchen ist das Paradies für mich. Auch wenn ich mir das Paradies etwas größer vorgestellt habe. Es gibt weder eine Küche, noch ein Bad. Sie holt Wasser aus einer Flügelhandpumpe, die auf dem Hof steht. Wäscht sich in einer emaillierten Schüssel. Muss sie mal aufs Klo, zieht sie einen Eimer unter der Spüle hervor. Legt einen Wäschestock darüber. Und sagt:

„Sieh wech, mein Junge!“

Aber ich blinzele zwischen den Fingern durch. Sehe wie sie ihren Kittel hochhebt. Und sich über den Wäschestock setzt. Dabei redet sie laut auf mich ein. Damit ich das Platschen nicht höre. Ich höre es trotzdem. Und ich rieche, wie sich der Inhalt des Eimers mit dem Kaffeeduft und dem scharfen Geruch ihres kleinen Spirituskochers mischt. Hinterher trägt sie den Eimer nach unten. Ich habe nie herausgefunden, wo sie den Inhalt hinschüttet.

Es gibt auch ein altes Radio in Omis Zimmer. Man kann es jedoch nur am frühen Morgen hören. Bevor die Kreissägen anfangen. Denn durch das einzige Fenster ihres Zimmers sieht man direkt in die Schreinerei, die unterhalb liegt. Dort wird schon ab sieben Uhr früh gesägt und gehämmert. Das Piepen des Zeitzeichens ist das letzte, was man aus Omis Radio vernehmen kann. Dann heult die Säge los. Ich darf noch einmal an ihrer Kaffeetasse nippen. Dann gehen wir zusammen einkaufen.

Auch meine Mutter nimmt mich zum Einkaufen mit.

'Kolonialwarenhandlung' stand angeblich mal in rostigen Eisenbuchstaben über der Ladentür. Inzwischen sind immer mehr Buchstaben heruntergefallen. Und man kann nur noch ‚onialwa..nhand….‘ lesen. Aber das macht nichts. Meine Mutter weiß ja, wo der Krämerladen ist.

Als ich meine Mutter frage, was denn ein Kolonialwaren sei, bettet sie meinen Kopf in ihre Achselhöhle und seufzt. Das seien Waren, die von weit herkämen, sagt sie nur. Und ich spüre, dass sie mir nicht alles sagt, was sie darüber weiß.

Das ist ein ganz anderes Einkaufen mit meiner Mutter, als das mit meiner Omi in Holzing.

Meine Mutter schlüpft mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf durch die klingelnde Ladentür. Sieht unterwürfig zur Krämerin hoch. Die sich mit angewinkelten Armen vor ihr aufbaut. Und sie fragend mustert.

Meine Omi betritt den Krämerladen von Holzing wie eine Königin. Und ich bin sehr stolz auf sie, wenn sie mit gewichtiger Stimme dieses und jenes bestellt. Ist irgendetwas nicht vorrätig, streckt sie ihren dünnen Hals in die Länge. Schaut auf den Krämer herunter. Lässt ihren Blick über die kärglich bestückten Regale wandern. Um ihm anzudeuten, dass er sie nicht angemessen auffüllt. Und schimpft auf ihn ein. Bis der Krämer in sich zusammenschrumpft.

Meine Mutter dagegen kramt nach jedem Einkauf in ihrem Geldbeutel herum. Bis sie einen zerknüllten Schein herausgepuhlt und ein paar zusätzliche Münzen auf dem Ladentisch abgezählt hat. Schiebt sich, mich und ihre kümmerlich gefüllte Einkaufstasche so geduckt, wie sie hereingekommen ist, wieder durch die Ladentür ins Freie. Als schäme sie sich, den Krämerladen überhaupt betreten zu haben. Und geht eilig auf unseren Hof zu.

Meine Omi zahlt nie. Obwohl sie stets mit randvoller Tasche aus dem Laden schreitet. Es kommt vor, dass der Krämer versucht, sie vorsichtig daran zu erinnern, dass sie nun schon seit Jahren bei ihm anschreibe.

Nicht, dass er ihr misstraue! Sagt er. Und wirft die Hände nach oben. Gott bewahre! Er wisse, sie sei eine Dame. Er meine ja nur. Ob sie nicht vielleicht doch wenigstens einen kleinen Teil…nun, er habe durchaus Verständnis für ihre Lage... Aber schließlich müsse er all die Waren erst beschaffen, die sie, Frau Kagereit, freundlicherweise bei ihm kauft. Worauf er stolz und wofür er dankbar sei....

Weiter kommt der Krämer nicht.

Meine Omi funkelt ihn mit zornigen Augen an. Klatscht mit beiden Händen auf den abgewetzten Ladentisch und donnert:

„Jaaah, was erlauuben Sie sich? Glauuben Sie denn, ich wolle sie betrüügen? Ich habe bei Graaafen und Füüürsten gekooocht, bevor mich der Krieg in dieses trooostlose Kaff verschlagen hat! Ich habe genuug Geld, um ihren ganzen mickrigen Laden zu kaufen! Wenn ich woollte. Sie scheinen vergessen zu haben, wer ich bin!“

Der Krämer hat es nicht vergessen. Er hat es wohl oft genug zu hören bekommen. Er weiß, dass es Frau Kagereit ist, die sich vor ihm aufplustert. Frau Kagereit, die Grafen und Fürsten bekocht hat. Und von der er seit Jahren keinen Pfennig gesehen hat. Er weicht mit eingezogenen Schultern hinter seinen Ladentisch zurück. Verbeugt und entschuldigt sich. Während meine Omi entrüstet und mit fahrigen Bewegungen alles in ihre ausladende Tasche stopft. Und erhobenen Hauptes aus dem Laden rauscht.

Dann bin ich stolz auf meine Omi. Die es dem Krämer gezeigt hat. Wünschte mir, meine Mutter würde es ebenso tun. Und die Krämerin von Lapping daran erinnern, dass sie die Frau Hofer, die Frau vom gräflichen Gutsverwalter Hofer ist. Der den größten Hof von Lapping bewirtschaftet. Auch wenn es nicht sein eigener ist.

.

An ihrem sechzigsten Geburtstag verkündet meine Omi mit ihrer Donnerstimme:

„Du wirst sehen, mein Junge, das ist der letzte Winter, den ich erleben werde.“

Von da an sagt sie es jeden Herbst wieder.

Und nachdem mehrere Winter verstrichen sind, und ihre Prophezeiung noch immer nicht eingetreten ist, hängt sie sich mit einem Nylonstrumpf an einen Haken, den ihr der Schreiner, natürlich für andere Zwecke, in die Zimmerdecke gedübelt hat. Der Nylonstrumpf hält ihrem Gewicht nicht stand. Reißt. Meine Omi stürzt über den Stuhl, den sie unter sich weggestoßen hat. Und bricht sich an seiner Lehne ein Schlüsselbein.

Das komme davon, wenn man Nylonstrümpfe von geringer Qualität einkaufe. Kommentiert mein Vater.

Nachdem ihr Schlüsselbein wieder geheilt ist, versucht es meine Omi gleich noch einmal. Diesmal hält der Strumpf. Doch der Haken rutscht aus dem Dübel in der Zimmerdecke. Wieder fällt sie. Diesmal neben den Stuhl. Ohne sich etwas zu brechen. Und träg nur leichte Prellungen davon.

Doch nun schaltet sich die Behörde ein. Mein Vater sagt nur „die alte Kagereit kommt mir nicht ins Haus.“ Worauf meine Omi ins Irrenhaus von Schlagling eingeliefert wird. Und ich frage den Dr. Vilber beim nächsten Arztbesuch, warum sich in unserer Gegend so viele Frauen aufhängten. Oder aufzuhängen versuchten.

Das komme von den Hormonen, sagt der Dr. Vilber.

„Es liegt doch wohl eher an den Ehemännern,“ brummt mein Vater dazwischen.

Die Hormone geraten bei Frauen in einem bestimmten Alter durcheinander, fährt der Dr. Vilber fort, ohne auf die Bemerkungen meines Vaters einzugehen. Beugt sich dann zu mir herunter. Das führe zu Depressionen, sagt er und schaut mir tief in die Augen. Und bevor ich ihn fragen kann, was denn Hormone und Depressionen seien, redet er schon weiter. Es sei lediglich eine Frage der Umstände, ob die lebensmüden Frauen wortlos mit einem Strick auf dem Speicher verschwänden, oder sich, in Ermangelung eines solchen, mit Nylonstrümpfen an Zimmerdecken hängten. Ob sie ihr Vorhaben ankündigten oder forsch zur Tat schritten, sei mehr oder weniger Temperamentsache. Behauptet der Dr. Vilber.

„Das hat er sich fein ausgedacht, der famose Dr. Vilber,“ sagt mein Vater spöttisch, „diese Hormon- und Depressionsgeschichte passt ihm gut in den Kram. Weil ja auch seine Frau, wie jeder weiß, schon mehrmals versucht hat, ihr Leben an den Haken zu hängen.“

Ich kann mir komplizierte und lange Sätze gut merken. Aber ich verstehe weder, was der Dr. Vilber noch was mein Vater sagt. Und frage meine Mutter: „Aber warum ins Irrenhaus?“

„Das sieht das Gesetz so vor, wenn Leute sich umbringen wollen. Und das heißt nicht Irrenhaus, sondern Nervenheilanstalt, mein Junge.“

„Ja und? Was ist der Unterschied?“

„Eigentlich keiner,“ sagt meine Mutter.

Dann kann ich genauso gut Irrenhaus sagen, so wie alle anderen auch, denke ich.

Kurz nach Omis Einweisung ins Irrenhaus von Schlagling steht der Krämer von Holzing bei uns vor der Tür. Und drückt meinem Vater einen Packen Papierbögen in die Hand. Das seien die noch offenen Rechnungen, für all das, was die unglückliche Frau Kagereit im Lauf der Jahre bei ihm erworben, angeschrieben und leider nie bezahlt habe. Und da sie nun wohl nicht mehr in der Lage sei, die offenen Posten zu begleichen, erlaube er sich, diese bei den Hinterbliebenen einzufordern.

Er stellt sich breitbeinig vor meinen Vater hin. Und verbeugt sich.

„Was heißt hier Hinterbliebenen?“ raunzt ihn mein Vater an. Worauf der Krämer verlegen zur Seite schaut. Er weiß natürlich, dass meine Omi nicht tot ist. Weiß aber auch, dass sie von dort, wo sie jetzt ist, nicht mehr zurückkommen würde, um ihre Schulden bei ihm zu begleichen. Und er verbeugte sich ein weiteres Mal.

Zum einen habe er mit den Schulden seiner Schwiegermutter nichts zu schaffen, sagt mein Vater. Und wer garantiere ihm, dass die aufgelisteten Summen dem entsprechen, was sie tatsächlich in seinem Laden eingekauft habe.

Nachdem nun nichts mehr überprüfbar ist, sei es doch für den Krämer ein Leichtes, die Rechnungssummen zusammenzuaddieren, fügt meine Mutter hinzu.

Natürlich habe er die hier vorliegenden Summen zusammenaddiert. Wer denn sonst? Entgegnet der Krämer aufgebracht. Aber sie entsprächen eben genau dem, was Frau Kagereit in all den Jahren bei ihm eingekauft und niemals abgegolten habe.

Das sei dann wohl seine eigene Schuld, wenn er den falschen Leuten vertraute. Gibt mein Vater zurück.

Worauf der Krämer erbost erwidert, was das denn für eine Welt sei, in der Gutgläubige und Barmherzige bestraft würden.

Er habe diese Welt nicht geschaffen, knurrt mein Vater. Und der Krämer von Holzing stapft wutentbrannt aus unserer Küche. Während mein Vater ihm, voreilig triumphierend, hinterherschaut. Denn knapp zwei Wochen später drückt ihm der Briefträger ein Anwaltsschreiben in die Hand.

Mein Vater flucht. Meine Mutter wirft einen entschuldigenden Blick zum Kruzifix über der Küchentür.

Omis Schulden müssen sie trotzdem bezahlen.

Die Wut unserer drei Dörfer

(aus „Heimat“ Roman 2021)

Lapping ist die größte von drei gottverlassenen niederbayrischen Ortschaften, die sich an eine ausladende Donauschleife schmiegen. Eine schmale Straße durchschneidet riesige Weizenfelder, führt westlich nach Wimling und östlich nach Niederkattlhofen, dem Gemeindesitz der drei Dörfer.

In unsere drei Dörfer hineinzufinden ist einfach. Wieder herauszukommen beinahe unmöglich.

In unregelmäßigen Abständen fallen die Jugendlichen der Dörfer übereinander her. Verprügeln sich so lange, bis ein Dorf die Oberhand gewinnt. Der so entstandene Burgfriede ist jedoch trügerisch. Schon nach kurzer Zeit fängt es in den unterdrückten Dörfern wieder zu gären an. Und sie fallen neuerlich übereinander her.

Das war immer so. Und wird immer so bleiben.

Da jedes unserer drei Dörfer einen anderen Dialekt spricht, gibt es keine wirkliche Verständigung zwischen den Wimlingern, Niederkattlhofenern und Lappingern. Auch als die Dörfer längst zu einem großen Dorf zusammengewachsen und ihre Dialekte ineinander verschmolzen sind, tun sie weiter so, als verstünden sie sich nicht.

Die Leute unserer drei Dörfer haben sich ohnehin nichts zu sagen. Gehen einander aus dem Weg. Nur sonntags, in der Kirche von Niederkattlhofen, stehen sie einmütig dem Altar zugewandt. Starren auf den Mund vom Pfarrer Wandlinger. Aus dem Worte kommen, die sie nicht verstehen. Und auch gar nicht verstehen wollen.

Die Leute in unserem Dorf mögen meinen Vater nicht. Weil er ein Ausländer ist. Für sie ist jeder ein Ausländer, der nicht in Lapping geboren wurde. Ein Zugereister. Einer, der nicht dazugehört. Ein Fremdkörper. Sie verstehen nicht, was er sagt. Und begreifen nicht, was er tut.

Es scheint Orte zu geben, in denen sich die Wut der ganzen Menschheit verdichtet. Und niemand, der an einem solchen Ort lebt, kann sich dieser Wut entziehen. Sie ist wie eine ansteckende Krankheit, eine Seuche. Die jeden erfasst, der mit ihr in Berührung kommt. Sie kriecht tief in einen hinein. Und lässt einen nie wieder los.

Lapping ist so ein Ort.

Hier hatte mein Vater von Anfang an keine Chance. Und ich auch nicht.

Die in Lapping schwelende Wut erfasst auch die Dorfbewohner von Wimling. Geht dann auf Niederkattlhofen über. Bis schließlich alle unsere drei Dörfer mit Wut angefüllt sind. Sie entlädt sich vom Stärkeren, zum weniger Starken, bis zu den Schwächeren hin. Nur die Allerschwächsten, die niemanden mehr finden, an denen sie ihre Wut auslassen könnten, fressen sie in sich hinein. Wo sie dann weiterkocht.

Die Wut kocht im Kindergarten in der Mater Graziana. Sie kocht im Hauptlehrer Kager, der zu geeigneter Zeit die Erziehungsmaßnahmen meines Vaters vertiefen sollte. Sie kocht in unserem Stier. In unserem Eber. Und ganz besonders in unserem Hofhund Wampo.

Die Wut, die über unseren drei Dörfern schwebt, steckte sogar in den Gewittern. Die mit unheimlichem Donnergrollen heranrollen. So tun als entfernten sie sich. Dann krachend wieder zurückkehren. Und stundenlang über unseren Dörfern toben.

Am schlimmsten ist es nachts. Wenn die Blitze direkt auf mein Bett zielen. Und es so hell in unserem Schlafzimmer wird, als würde der Spengler Hösl mit seinem Schweißbrenner unter der Bettdecke arbeiten. Ich weiß natürlich, dass der Spengler Hösl nicht mitten in der Nacht in unserem Schlafzimmer schweißt. Und verkrieche mich unter der zentnerschweren Decke. Bis sie mich zu ersticken droht.

„Hab’ keine Angst, mein Junge!“ sagt meine Mutter, „das Gewitter ist erst dann direkt über uns, wenn Blitz und Donner zusammenfallen. Du musst zählen, nach dem Blitz. Wenn du bis zehn zählen kannst, bis es donnert, ist das Gewitter noch zehn Kilometer weit weg.“

Aber das beruhigt mich nicht. Auch nicht, wenn ich nach einem Blitz bis fünfundzwanzig zählen kann, bevor der Donner loskracht. Das Gewitter also erst im fernen Drebelsberg tobt. Ich verkriech mich auch dann unter der Bettdecke. Damit mich nicht womöglich doch ein verirrter Blitz erreicht.

Schon wenn riesige Wolkenballen über dem Vierfichtenbuckel rumoren, fange ich an zu zittern. Da kann meine Mutter noch so lange behaupten, dass der Donner nicht gefährlich sei. Sondern die Blitze. Und auch die nur, wenn es keinen Abstand zwischen Blitz und Donner gibt.

In diesem Abend umkreisen schon seit Stunden blauorangene Wolkenwände unsere drei Dörfer. Die Luft ist stickig und spannungsgeladen. Meine Mutter stöhnt. Sehnt sich erlösenden Regen herbei. Mein Vater bangt, wie jedes Jahr, wieder um seine Ernte. Und vom Bayrischen Wald hallt unaufhörlich dumpfer Donner zu uns herüber.

„Es wird Hagel geben. Und die ganze Ernte verwüsten,“ unkt mein Vater.

Doch die Sonne brennt sich weiterhin durch den schlierigen Himmel. Und ich bin froh, dass die Gewitter ihre Wut an den Drebelsberger Bergen auszulassen scheinen. Nur meine Mutter klagt weiterhin über die unerträgliche Schwüle. Schließt sich im Badezimmer ein. Und nutzt die Gelegenheit, um dort heimlich zu rauchen.

Doch auf einmal macht das Gewitter doch noch einen unerwarteten Schlenker auf unsere Dörfer zu.

Am helllichten Tag wird es schwarz. Die Luft blieb stehen. Und knistert. Die Bäume vor unserem Küchenfenster erstarren. Schwer und düster drückt der Himmel auf Lapping herunter. Angespannte Stille füllt unsere Küche. Sogar mein Vater vergisst, seine mittägliche Moralpredigt anzustimmen. Wir rühren lustlos in unseren Suppen herum. Selbst die Schmeißfliegen haben ihr Gesumme eingestellt. Kleben träge an den Tellerrändern.

Dann geschieht alles gleichzeitig.

Eine Flammensäule schießt aus dem dunklen Himmel auf uns zu. Ein Knall zerreißt die Stille. Es kracht und poltert. Als löse sich der Himmel über uns auf. Und falle in seinen einzelnen Bestandteilen auf Lapping und unseren Hof herab.

Der Himmel fällt nicht herunter. Stattdessen kehrt die bewegungslose Stille wieder zurück. Und noch immer ist kein Tropfen Regen gefallen.

Plötzlich ein weiterer Knall. Diesmal ist es die zuschlagende Küchentür.

„Wie sollen die Kinder begreifen, dass sie die Tür vorsichtig zuzumachen haben, wenn. du sie -“ schimpft meine Mutter meinem Vater hinterher.

Und bricht mitten im Satz ab.

Eine gewaltige Lichtkugel platzt vor unserem Küchenfenster. Gleichzeitig geht ein Beben durch unser Haus. Die Teller vor uns machen ein Hüpfer. Und in ihnen die Suppenlöffel. Die Suppenspritzer auf den Küchentisch katapultieren. Meine Schwester, mein Bruder und ich rennen auf die Mutter zu. Verstecken uns unter ihrer Schürze. Von dort aus vernehme ich gedämpft das schauerliche Quieken der Schweine.

„Jetzt hat‘s eingeschlagen,“ stellt meine Mutter fest.

„Ein Nachzügler,“ sagt meine Omi, die sich geweigert hat, sich bei dem herannahenden Unwetter noch nach Holzing zurückfahren zu lassen.

„In ihnen ballt sich nochmal die gesamte Kraft, die seine Vorgänger nicht loswerden konnten,“ fügt sie gewichtig hinzu.

Und während ich noch über diesen Nachzügler sinniere, schießt ein weiterer Nachzügler auf unseren Hof herunter. Und bringt das gesamte Geschirr in unserem Küchenschrank zum Scheppern.

Die Schweine fangen wieder an zu quieken. Und als ich unter der Schürze meiner Mutter hervorkrieche, sehe ich, dass ihr Gesicht weiß ist.

„Der Schweinestall brennt!“ kreischt sie.

Und nun kommt auch noch Wind auf. Böen reißen kleine Flämmchen von den Flammen. Und schleudern sie auf das Hühnerhaus zu. Das ebenfalls Feuer fängt. Und lichterloh zu brennen beginnt. Aufgeregtes Gackern gesellt sich zum Quieken der Schweine. Immer heftiger zerren und schieben die Windböen an den Flammen. Bis sie sich riesengroß vor unserem Fenster auftürmen. Und immer weiter schießen Blitze auf uns herunter. Krachender Donner rollt hinter ihnen her.

Das Gewitter kann gar nicht genug kriegen.