Der Überseekoffer - Jürgen Gottfriedsen - E-Book

Der Überseekoffer E-Book

Jürgen Gottfriedsen

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Beschreibung

Der Roman beginnt um 1850 nach der Niederschlagung der Schleswigschen Erhebung durch Dänemark. Als Julius 17 Jahre alt ist, entschließt er sich, auszuwandern, da er im schleswigschem Hadersleben keine Möglichkeit sieht, sich beruflich zu entwickeln. Die achtjährige Louise verlässt mit ihrer Familie ebenfalls Hadersleben, nachdem ihr Vater als Amtmann von den Dänen entlassen wurde, nach Lübeck. Über Südafrika landet Julius schließlich in Australien und schürft nach Gold. Nach zehn Jahren kehrt er enttäuscht nach Deutschland zurück. Er lernt Louise kennen und beide verlieben sich ineinander. Doch Julius wirtschaftliche Lage erlaubt es ihm nicht eine Familie zu gründen. Er zieht also weiter nach Brasilien, wo sein Bruder als Kaufmann tätig ist. Doch auch dort hält es ihn nicht und er zieht weiter. In Kanada schließlich kauft er Land und baut unter Rückschlägen eine kleine Farm auf. Louise führt inzwischen den Haushalt ihrer Großmutter in Kopenhagen, als endlich Julius um ihre Hand anhält. Nach Kämpfen mit ihrem Vater, der seine Tochter nicht in die kanadische Wildnis entlassen will, fährt Louise nach Kanada. Dieses Geschehen wird in eine Rahmenerzählung gepackt, um so einen Bezug zur Gegenwart herzustellen. Die Hauptfigur besucht seine Enkeltochter Hannah, die in Marburg studiert und kurz vor ihrem Master steht. Ihr Freund Cengiz promoviert in Geschichte und ist Kurde. Aufgrund politischer Aktivitäten hat er in der Türkei keine beruflichen Möglichkeiten. Seien Lage ähnelt der von Julius. Die Verbindung der beiden Geschichten stellt der große Überseekoffer dar, den Louise vor 150 Jahren auf ihrer Reise nach Kanada nutzte. Dieser steht nun in Hannahs Studentenbude und dient dort als Tisch. Der Koffer erzählt der Hauptfigur die Geschichte von Louise und Julius. Am Ende werden Hannah und Cengiz nach Kanada ziehen und den Überseekoffer mitnehmen. Diese Handlung wird parallel in einigen Kapiteln erzählt.

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Über dieses Buch:

Inspiriert über das wechselhafte Leben seiner Urgroßeltern führt der Autor in die Zeit Mitte des 19.Jahrhunderts. Er beschreibt wie Julius, durch die Folgen der 1848er Revolution aus der Bahn geworfen wird und auswandert. Er reist über mehre Kontinente bis er schließlich einen Platz findet, wo er sich eine Existenz aufbauen kann um dann um die Hand von Louise anhalten kann.

Louise, in gutsituierte Familie aufgewachsen, hinterfragt die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert. Sie wartet auf ihn, bis sie ihm schließlich nachfolgt.

Inhaltsverzeichnis

1. Marburg

2. Hadersleben

3. Auf großer Fahrt

4. Kapstadt

5. Lübeck

6. Im ‚Bona’me

7. Im Pazifik

8. Ballerat

9. Broome’s Farm

10. Caroline

11. Im Park

12. Im Dorfpastorat

13. Am Palmer-River

14. Wiedersehen mit Frauke

15. Rückkehr

16. Wieder in Hamburg

17. Diernæs

18. Demonstration

19. Brasilien

20. Schweden

21. Durch die USA

22. Ardoch

23. Streit

24. Kopenhagen

25. Entscheidung

26. Louise kämpft

27. Der Antrag

28. Dem Ziel entgegen

29. Toronto

Marburg

Oben auf dem Treppenabsatz wartet bereits Hanna. Bevor wir uns begrüßen, muss ich erst kurz verschnaufen. Drei Stockwerke sind in meinem Alter bei dieser spätsommerlichen Hitze schon eine Herausforderung. Hanna lächelt, für sie als junge Frau ist das nur eine tägliche Übung, um fit zu bleiben.

Ich besuche das erste Mal meine Enkeltochter in ihrer neuen Studentenbude. Neugierig trete ich in ein Zimmer in einer kleinen Dachgeschosswohnung mit schrägen Wänden. Durch eine Gaube hat man einen Blick auf die malerischen Dächer der Altstadt. Der Schreibtisch mit den vielen herumliegenden Notizen verrät, dass Hanna mitten in ihrer Masterarbeit steckt.

„Setz dich doch“, sagt sie und bietet mir den Korbsessel mit den bunten Kissen an, den sie wohl in einem Secondhandladen erworben hat. „Ich mach uns schnell einen Ostfriesentee“, ruft sie kurz und verschwindet in der Küche.

Da sehe ich ihn, den großen alten Überseekoffer. Nun hat er doch noch eine Bestimmung gefunden als Tisch in dieser kleinen Wohnung. Hanna hatte auf ihm bereits das ostfriesische Teegeschirr mit dem blauweißen Muster gedeckt, dazu eine Schale mit selbstgebackenen Keksen und eine Vase mit blauen Astern. Trotzdem war auf ihm noch Platz genug für einige abgelegte Skripte.

Die Sonne, die durch das Fenster hereinscheint, lässt seine rotbraune Farbe in einem warmen Licht erscheinen. Die fast verblichenen schwarzen Ornamente an seinen beiden Seiten treten so hervor und kommen wieder zur Geltung.

Was könntest du uns alles berichten, wenn du sprechen könntest? Mein Vater sagte mir, du stammst von meinen Urgroßeltern und warst im vorletzten Jahrhundert in Kanada. Du bist also schon weit herumgekommen in der Welt. Was könntest du alles erzählen von deinen Reisen? Zwei Gepäckträger waren nötig, um dich zu schleppen. An den abgewetzten Griffen sieht man, wie viel Gewicht in dir getragen wurde, was du alles geschleppt hast.

Ich streiche mit der Hand über die brüchige Oberfläche der Bastpappe. Damals leuchteten bestimmt die Holzbereifungen aus frischer Buche noch, die dafür sorgten, dass du deine kostbare Fracht zusammenhalten konntest. Die Jahre haben sie dunkel werden lassen und haben sich der Farbe angepasst. Die Metallbeschläge sind mit dunklem Braun frisch lackiert, aber man kann Kratzer noch gut erahnen. Wo hast du die erhalten? Vielleicht im Bauch eines Schiffs oder auf einem Fuhrwerk irgendwo in der Wildnis? Wofür wurdest du dort all die Jahre genutzt?

Ich sah dich das erste Mal als kleines Kind. Es waren die schweren Jahre nach dem furchtbaren Krieg. Du kamst aus Stockholm von meiner Tante. Und du enthieltest viele Jacken, Hosen, Pullover und Schuhe von unseren Cousinen und Cousins. Zwar war alles schon getragen, aber ohne Flicken und gestopfte Löcher, und immer noch in bunten Farben. Dazwischen lagen auch einige Lebensmittel und sogar ein paar Süßigkeiten. Wen wundert es da, wenn ich mich nicht für diesen monströsen Kasten interessierte, sondern ich mich von diesen schönen Dingen blenden ließ.

Damals konnte man dich noch verschließen, heute hängen die ausgeleierten Klappen lose herunter. Der Schlüssel steckt noch schief im Schloss. Ich versuche ihn zurechtzurücken, aber er hat sich verkantet und lässt sich kaum bewegen.

Später standest du auf dem Dachboden meiner Eltern. Du bewahrtest alte Dinge auf, die nicht mehr gebraucht wurden, für die sich aber auch niemand die Mühe machte sie fortzuschmeißen. Ein tristes Dasein oben unter dem Dach zwischen all den abgestellten, meist ungenutzten Dingen. Da sahst du traurig aus, verstaubt, dein Leder trocken und brüchig, eben einfach vergessen.

Aber Hanna hat dich geputzt, poliert und wieder ansehnlich gemacht. Die Lederkanten glänzen wie neu. Und welchen Geschichten hörst du heute zu? Lauschst du, wenn die Nachkommen von Louise und Julius schwatzend um dich sitzen?

Hanna kommt aus der Küche zurück und setzt die Teekanne auf das Stövchen. „Wie gefällt dir mein Tisch, toll, oder? Ich fand ihn bei Papa im Keller in seiner Hobbywerkstatt.“

Hanna hatte mir ein Bett auf der Couch in ihrem Arbeitszimmer hergerichtet. Ich schaue aus dem Dachfenster auf das nächtliche Marburg. Es ist einer der letzten warmen Sommerabende. Ein sanfter Wind streicht durch die Bäume, deren Zweige sich leicht im Licht der Laternen wiegen. Studierende bevölkern die kleinen Gassen mit den vielen gemütlichen Kneipen. Musik und Wortfetzen dringen bis hier nach oben.

„Was siehst du da?“, fragt eine Stimme aus dem Hintergrund.

Ich drehe mich um, ich bin alleine im Zimmer und sehe niemanden.

„Hallo?“, rufe ich in den dämmrigen Raum.

„Schildere mir doch, was da draußen los ist. Ich stehe hier mitten im Zimmer und kann immer nur die Wolken und die Sterne durch das Fenster sehen“, ertönt es aus dem Überseekoffer.

„Wie, du kannst sprechen?“, frage ich erstaunt.

„Ich bin kein alter wurmstichige Holzkasten, der nur noch als Ablage von Tassen und Tellern dient. Ich habe auch eine Seele. Das hast du doch schon erkannt, als du mich heute Nachmittag so viel gefragt hast.“

„Warum hast du da nicht geantwortet?“, erwidere ich.

„Ich hätte Hanna nur erschreckt. Wenn sie wüsste, dass ich hören und sehen kann, würde sie mich vielleicht sogar wieder auf irgendeinen verstaubten Dachboden verbannen. Du verrätst mich doch nicht?“

„Nein, aber ich kann sie verstehen, wer will schon belauscht werden“, werfe ich ein.

„Nein, nein, nein“, entgegnet der Koffer, „ich lausche doch nicht, ich habe in den 180 Jahren meines Daseins gelernt, diskret zu sein und weiß, wann ich Augen und Ohren zu verschließen habe. Aber ein wenig möchte ich am Leben meiner Mitbewohner teilhaben.“

„Und woran nimmst du dann teil?“, forsche ich nach.

„Naja, zum Beispiel neulich an Hannas Geburtstagsfete. Man glaubt gar nicht, wie viele Leute in so eine kleine Wohnung passen. Da war ich nicht nur Tisch, sondern später auch Sitzgelegenheit. Alle waren fröhlich, aßen, tranken und schnatterten durcheinander, bis einer der Studierenden die Gitarre von der Wand nahm und zu spielen begann. Hanna nahm sich zwei Bongos und trommelte dazu. Dann sangen sie spontan zusammen Lieder. Sie waren die Stars der Fete. Und sie schauten sich so verliebt an. Genauso wie damals.“

„Was meinst du mit damals?“, frage ich neugierig.

„Du hast mich doch heute Nachmittag nach deinen Urgroßeltern Louise und Julius gefragt. Die haben auch gemeinsam Musik gemacht, als sie sich kennenlernten.“

„Warst du da auch dabei?“

„Nein, aber Louise ließ mal einen Brief an ihre Schwester auf mir liegen, den konnte ich dann lesen. Da schilderte sie, wie sie Julius auf einer Einladung ihres Onkels begegnete. Ich habe ihn heute noch genau im Kopf.“

„Los, lass hören!“

Der Koffer zitiert wörtlich Louises Brief:

„Es wurde nach dem Kaffee eine Tour ins nahe Holz gemacht, das an der Harderslebener Förde liegt. Dort waren auf grünen Matten schöne Körbe platziert, gefüllt mit den köstlichsten eigengebackenen Kuchen und Brot. Dazu kamen die verschiedenen dienstbaren Geister, die geschickt über Steine hüpften, um Teetassen zu präsentieren. Abends bei Tisch waren alle so recht harmlos munter, es wurden viele Toaste ausgebracht und denke Dir, sogar einen auf mich.

Es war auch Mariens Bruder Julius da, es ist der ‚Australier‘, den sie zwölf Jahre nicht gesehen hat. Ihre Freude war unendlich groß. Er ist ein unterhaltender Mensch und sehr gutmütig. Er ist musikalisch und fand viel Vergnügen daran, mit mir vierhändig auf dem Piano zu spielen.“

„So stand es im Brief.“

„Mann, ganz schön steif und gesittet damals. Da war bei Hannas Geburtstag bestimmt mehr los.“

„Ach, ich glaube, die wussten damals auch zu feiern, aber in einem Brief klingt das dann ganz brav. Schließlich war Louise die Tochter eines angesehenen Bürgers von Hadersleben, früher war er sogar Amtmann, bis er zurücktreten musste.“

„Ach, warum das? Hat er etwa in die Stadtkasse gelangt?“, frage ich erstaunt.

„Nein, das war in den 1840er Jahren, als Dänemark sich Schleswig vollends einverleiben wollte“, klärt der Koffer mich auf. „Louises Vater engagierte sich auf der deutschen Seite, und als die Dänen die Oberhand gewannen, musste er seinen Hut nehmen.“

„Und weißt du, warum sie Julius ‚den Australier‘ nannte?“, frage ich neugierig.

„Ja, obwohl das vor meiner Zeit war. Sein alter Ledermantel, der Julius all die Jahre begleitete, erzählte es mir. Ich stand im Haus in Clarendon neben der Tür und über mir waren ein paar Haken für die Garderobe. Da hing er immer. In den langen kanadischen Winternächten unterhielten wir uns viel und so erfuhr ich Julius‘ Geschichte. Sie ist lang. Willst du sie wirklich hören?“

„Ja, ich bin gespannt.“

„Aber vorher erzählst du mir, was da unten auf der Straße los ist.“

Ich schaue wieder zum Fenster hinaus. „Da sitzt eine Gruppe junger Leute auf dem Rasen in dem kleinen Park gegenüber. Einer spielt Gitarre und singt. Sie trinken Wein, essen Weißbrot, lachen und sind fröhlich.“

„Ja, jetzt höre ich es auch. Ist das nicht der Song ‚The times they are a-changing‘ von Bob Dylan?“

„Ändern sich die Zeiten tatsächlich?“, frage ich.

„Dann hör dir meine Geschichte an. Setz dich neben mich und schließe die Augen.“

*****

Hadersleben

Es war ein trüber Tag im November des Jahres 1853. An den Bäumen hingen nur noch vereinzelte Blätter, die der letzte Herbststurm vergessen hatte. Das Laub lag durchnässt auf dem Rasen und auf den Wegen, von Fußgängern in den Matsch getreten. Ein Nebel lag in der Luft und man konnte die Umrisse der Häuser der Stadt nur undeutlich erkennen.

Es hatten sich nicht viele Menschen zur Beerdigung von Julius‘ Mutter auf dem Haderslebener Friedhof versammelt, nur die Freunde der Familie. Vor drei Jahren, als Julius seinen Vater zu Grabe tragen musste, war der Friedhof überfüllt. Der alte Landgerichtsadvokat war ein angesehener Mann von stattlicher Figur, mit vollem Haar und festem Blick. Man achtete ihn in Hadersleben, weil er auch dem einfachen Bürger vor Gericht zur Seite stand und nicht auf den Stand der Person schaute. So verhalf er dem Tischlergesellen Sven Jörnsen ebenso zu seinem Recht wie er den Streit zwischen den Kaufmannsfamilien Hansen und Andresen schlichtete. Er war von den Bürgern als Deputierter in die Schleswigsche Landesversammlung gewählt worden. Doch das Blatt hatte sich gewendet. Die Schleswiger Erhebung von 1848 wurde von Dänemark niedergeschlagen.

Julius stand zwischen seinen Geschwistern und nahm die Beileidsbekundungen entgegen. Aber in seinem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander. Wie geht es weiter mit der Familie? Für die beiden Kleinen, Otto und Eduard ist gesorgt, die nimmt Senator Petersen, ein Freund der Eltern, auf. Marie wird wohl bald heiraten. Neulich schwärmte sie von dem Gutsbesitzer Johannsen in Diernæs, das wäre keine schlechte Partie. Die drei großen Brüder können sich schon selbst helfen und sind dabei, sich eine eigene Existenz aufzubauen.

„Julius, wie geht es mit dir weiter? Kannst du dein Studium in Kopenhagen fortsetzen?“, riss der ehemalige Bürgermeister Klier, ein alter Freund seines Vaters, ihn aus seinen Gedanken.

„Ach, ich weiß gar nicht so recht, wie es werden soll. Mein Primarlinearexamen habe ich gerade erfolgreich abgeschlossen, aber als Schleswiger haben ich im dänischen Königreich keine Zukunft. Ich habe die letzten beiden Jahre oft erlebt, wie die dänischen Professoren uns Schleswigern Steine in den Weg gelegt haben und wenn einer von uns darüber stolperte, kam ein höhnisches Lachen hinterher“, antwortete Julius. „Auch unsere Kommilitonen waren nicht besser. Sie schlossen uns von vielen Veranstaltungen aus und wenn wir untereinander in unserer Muttersprache redeten, drohten sie uns Prügel an.“

„Ja, wenn der König wenigstens eine demokratische Verfassung für Schleswig und Holstein zuließe, dann könnten wir unsere Interessen selbst vertreten“, klagte der alte Bürgermeister.

„Möglicherweise werde ich sogar in die dänische Armee eingezogen, muss gegen die eigenen Landsleute kämpfen und falle im Krieg wie mein Bruder Emil. Nein, das will ich nicht, vielleicht wandere ich aus“, entgegnete Julius.

„Das wäre ein mutiger Schritt. Viele zieht es in die weite Welt. Da soll ja jeder fleißige Mann es zu etwas bringen können. Du bist jung, zieh in die Welt, verlass das zerstrittene und rückständige Europa. Besuch mich in den nächsten Tagen, vielleicht kann ich dir helfen.“

Am nächsten Morgen verließ Julius sein Elternhaus in der Nørregade und lief durch seine Heimatstadt, in der er aufgewachsen war. Der wolkenverhangene Himmel, aus dem ein leiser Nieselregen fiel, verstärkte seine Niedergeschlagenheit und die Angst vor der Ungewissheit seiner Zukunft. Er war so in Gedanken an das bevorstehende Gespräch mit Klier versunken, dass er die zwei kleinen Mädchen, die vor ihm über die Pfützen sprangen, gar nicht bemerkte. Erst als die Kleinere mitten in einer großen Lache landete und seine Hose vollspritzte, nahm er sie erschrocken wahr. Er wollte schimpfen, doch die ältere Schwester entschuldigte sich sofort. „Verzeihen Sie, mein Herr. Meine Schwester ist immer so übermütig. Es war bestimmt keine Absicht.“ Er sah, wie die andere den unschuldigsten Blick aufsetzte, den sie konnte. Aber er fand auch etwas Schelmisches in ihren Augen, als sie fragte: „Sind Sie nicht auch als Kind gerne über Pfützen gesprungen und manchmal mitten drin gelandet?“

Julius musste lachen. „Ja, natürlich, und zu Hause schimpfte mich meine Mutter wegen der nassen Füße.“

Als er weiterging, hörte er noch die beiden reden: „Louise, du musst nicht immer so vorlaut sein, nicht alle Erwachsenen reagieren so freundlich.“

„Ach Ida, der war doch ganz nett, das habe ich ihm gleich angemerkt.“

In der Apothekegade läutete er am Haus des Altbürgermeisters. Der Hausdiener öffnete und führte ihn in den Salon, wo Klier ihn bereits erwartete. Sie nahmen Platz an einem kleinen Tisch, abseits des großen Schreibtisches. Das Hausmädchen servierte Tee mit Keksen. Klier erzählte aus der Zeit, als er sich mit Julius‘ Vater für eine Verfassung in Schleswig einsetzte. „Er war ein großartiger Anwalt und kämpfte für unsere Sache“ schwärmte er. Auch von den Rededuellen in der Schleswigschen Landesversammlung berichtete er mit strahlenden Augen.

„Ein früherer Studienkommilitone zog vor vielen Jahren nach Afrika in die Kapprovinz“, setzte Klier das Gespräch fort. „Er führt dort ein Weingut in der Nähe von Kapstadt. Er schrieb im letzten Brief darüber, dass er gerne einen jungen Deutschen im Weinanbau anlernen würde. Er hat keine eigenen Kinder, die das Gut später mal übernehmen könnten. Ich könnte dir ein Empfehlungsschreiben geben und dich dort ankündigen. Vielleicht hat er für dich Arbeit oder empfiehlt dich weiter. Er ist dort ein einflussreicher Mann.“

„Das wäre eine gute Aussicht. Ich lasse mir das Angebot durch den Kopf gehen“, bedankte sich Julius.

Auf dem Nachhauseweg malte er sich ein Leben in Kapstadt aus und als sich ein zaghafter Sonnenstrahl durch die Wolken zwängte, dachte er: In Südafrika scheint bestimmt immer die Sonne.

*****

Ein paar Tage später und ein paar Straßen weiter.

Auf der obersten Stufe der Treppe saß die achtjährige Louise im Nachthemd und lugte durch das Geländer. Die Tür zum Salon war einen Spalt weit offen. Sie wollte sehen, wer alles zu Vaters Einladung gekommen war. Fast alle Freunde der Familie hatten sich versammelt und man unterhielt sich in geselliger Stimmung. Ein klingender leichter Schlag an ein Sektglas war zu hören. Es wurde ruhig. Es ertönte die Stimme des früheren Bürgermeisters:

„Lieber, sehr verehrter Herr Bruhn, der Anlass, zu dem wir uns heute treffen, ist ein fröhlicher, aber auch ein beschämender. Es war schändlich, wie die Dänen Sie aus Ihrer Position als Amtmann verdrängt haben und nun alle Posten unter sich verteilen. Umso mehr freut es uns, dass man Ihnen nun eine so verantwortungsvolle Aufgabe in Lübeck überträgt. Dort weiß man Ihre Ehrenhaftigkeit zu würdigen und …“

Ida, Louises drei Jahre ältere Schwester, setzte sich neben sie auf die Stufen.

„Sind viele gekommen, um sich von Papa zu verabschieden?“, fragte Ida.

„Ja, der ganze Raum ist voll. Endlich mal wieder ein fröhlicher Tag“, antwortete Louise und ergänzte dann traurig: „Ich will aber nicht weg aus Hadersleben und von meiner Freundin Svenja. Ich will viel lieber hier mit ihr am Wasser am Dampark spielen.“

„Mutter sagte, Lübeck ist eine ganz große und schöne Stadt. Viel bedeutender als Hadersleben. Auch dort gibt es viel Wasser.“

„Aber auf das Gut von Onkel Fritz in Diernæs können wir dann auch nicht mehr. Weißt du noch, letzten Sommer, als wir mit Papa auf der Förde Boot gefahren sind und die Möwen gefüttert haben?“, klagte Louise.

“Wir werden sie bestimmt im Sommer besuchen. Und wir können in Lübeck eine richtige Schule, ein Lyceum, besuchen mit anderen Kindern zusammen“, warf Ida ein. „Und dort ist auch kein Krieg, sagt Vater. Als vorgestern wieder die endlosen Schlangen von dänischen Soldaten durch Hadersleben marschierten, hat es mich richtig geschaudert. Ich freue mich auf Lübeck.“

Unten im Salon herrschte jetzt fröhliches Treiben, Stimmengewirr, Lachen und Gläserklirren. Die Tür ging auf und Emilia, das Kindermädchen, eilte mit einem leeren Tablett in die Küche, um frische Häppchen für die Gäste zu holen. Sie sah die beiden: „Ida, Louise, seht zu, dass ihr ins Bett kommt, wenn eure Mutter euch hier sieht“ schimpfte sie.

Die beiden huschten schnell in ihr Zimmer und kuschelten sich in ihre Betten.

„Es ist schön, dass Emilia und der Hausdiener Jakob mit nach Lübeck kommen“, flüsterte Louise vor dem Einschlafen Ida zu. „Klar, die gehören doch eigentlich zur Familie, was sollten wir denn ohne die tun“, entgegnete Ida. „Gute Nacht!“

Am nächsten Morgen fuhr der Vater mit der Kutsche nach Lübeck ab, um alles für den Umzug der Familie zu planen. Als neuer Direktor der Lübeckschen Feuerversicherung stellte man ihm eine repräsentative Wohnung zur Verfügung, mit viel Platz für die große Familie.

Zwei Monate später kam der Abschied. Die Möbel und der größte Teil des Hausrates waren schon vorausgeschickt, trotzdem blieben noch einige große Koffer. Viele Freunde waren gekommen, um sich zu verabschieden. Selbst Louises Freundin Svenja war mit ihrem Kindermädchen erschienen. „Du musst mir versprechen zu schreiben. Ich muss wissen, wie es dir in Lübeck gefällt“, rief sie ihrer Kameradin hinterher, als die Kutsche nach Åbenrå abfuhr. Von dort fuhren sie mit dem Schiff nach Lübeck.

Louise war sehr aufgeregt. Es war ihre erste Schifffahrt. Nur mit einem Ruderboot schipperte sie manchmal mit ihrem Vater auf der Haderslebener Förde.

Am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang stand Louise mit ihren älteren Geschwistern auf dem Oberdeck. Jeder wollte der Erste sein, der Lübeck entdeckte. Endlich tauchten im Morgennebel die sieben Türme der Hansestadt auf. Langsam fuhren sie in den Stadthafen ein. Sie sahen die großen Backsteinhäuser, in denen die Kontore der Handelsleute waren. Oben ragten Kräne aus den Häusern, um die Güter in die Speicher zu hieven. Louise war beeindruckt von der großen Stadt. Am Kai herrschte emsiges Treiben. Stauer beluden Schiffe oder brachten Waren an Bord. Rufe und Kommandos durchdrangen den Lärm. Dazwischen die Möwen, die versuchten, irgendwo einen Fisch zu ergattern. Endlich legte das Schiff an.

Ida sah als erstes den Vater, der an der Anlegestelle wartete und winkte. Nach herzlicher Begrüßung ging es mit der Kutsche durch das Holstentor, eine kleine Anhöhe hoch zum Marktplatz mit dem prächtigen Rathaus, vorbei an der mächtigen Marienkirche und den prunkvollen Patrizierhäusern in die Königsstraße. Louise wurde vor Staunen ganz ruhig. Hier war nun ihn neues Zuhause.

*****

Auf großer Fahrt im Atlantik

Ein paar Wochen später in Hamburg. Julius öffnete die Tür zum Wirtsraum. Ein rauchiger, von Alkohol geschwängerter Luftschwall schwappte ihm entgegen. Am großen Tisch in der Mitte des Raumes lagerte laut singend eine Gruppe Matrosen. Er ging zum Wirt, bestellte einen Eintopf mit einem Brotkanten und setzte sich in eine Ecke des verwinkelten Gastraums.

An der Stirnseite des Tisches stand ein kräftiger Bursche, der am lautesten mit tiefer Stimme den Ton angab. Er sang mit solcher Inbrunst, dass die blonden Locken durch sein wettergebräuntes Gesicht fielen. Den Takt gab er mit seinem halb vollen Bierkrug an.

Als das Lied mit einem von allen gerufenen Prost zu Ende ging, bemerkte er Julius und ging zwei Schritte auf ihn zu: „Was sitzt du da alleine? Komm rüber an unseren Tisch. Wir sind heute den letzten Abend an Land, da brauchen wir noch Gesellschaft. Die nächsten Wochen sehen wir immer nur die gleichen Gesichter. Ich bin Hannes Kröger, der Bootsmann dieser Horde.“

Julius freute sich, Gesellschaft zu finden, nahm sein Teller und setzte sich zu den anderen. „Wohin fährt euer Schiff?“

„Erst mal ans Kap nach Südafrika. Wo es dann hingeht, weiß keiner, wahrscheinlich nicht mal der Kapitän. Hängt davon ab welche Ladung wir bekommen.“

„Südafrika?“ fragte Julius erstaunt, „Wie heißt euer Schiff?“

„Pegasus, wieso fragst du?“

„Ich fahre auch mit der Pegasus nach Kapstadt, ich werde dort auf einem Weingut arbeiten“, antwortete Julius. Im Hintergrund hörte er, wie einer der Matrosen lachte: „Der feine Pinkel und arbeiten, das passt doch nicht.“ Einige johlten. Julius wollte empört etwas erwidern, aber Hannes drückte ihn auf den Stuhl zurück. „Lass mal, das sind raue Burschen, die sind so. Das muss du nicht so ernst nehmen“, und zu dem Matrosen gewandt: „Du behandelst unseren Passagier mit entsprechender Höflichkeit, sonst wirst du die nächsten Monate nur noch das Deck schrubben, verstanden!“ Die anderen lachten. „Wirt, noch ein Bier für unseren Herrn Passagier.“

Auch wenn die Witze für Julius‘ Geschmack etwas zu derb waren und die Lieder nicht weniger zotig, zu laut und zu schräg gegrölt wurden, war er doch froh, nicht alleine zu sein an diesem letzten Abend in Europa.

Am nächsten Morgen stieg Julius einen wackeligen Steg, die Stelling, zu dem mächtigen Schoner Pegasus hinauf, in der Hand einen Koffer mit dem Nötigsten. Um die Schultern hing sein langer Mantel, den ihm seine Mutter nähen ließ, als er letztes Jahr nach Kopenhagen fuhr. Mehr hatte er nicht. Ein großer Teil des Geldes aus der Erbschaft ging für die Passage nach Kapstadt drauf.

Julius dröhnte noch der Kopf. Es war gestern Abend nicht bei einem Bier geblieben und Julius war Alkohol nicht gewohnt. An Bord wurde er mit einem Grinsen von Hannes Kröger empfangen, der ihm seine Kajüte zeigte. Ein sehr kleiner Raum mit Bett, einem Waschtisch und einem kleinen Schränkchen. Dies würde nun für die nächsten Monate sein Heim sein.

Mit der abfließenden Flut um die Mittagszeit verließen sie den Hafen. Die Segel wurden gehisst und die Matrosen sangen ein Shanty, um im gleichen Rhythmus die Segel zu setzen. Der Wind stand gut und blähte sie auf. Julius stand an der Reling und schaute zurück. Die Häuser von Hamburg wurden immer kleiner. Es ging die Elbe hinunter, die immer breiter wurde. Möwen begleiteten schreiend das Schiff, die Gischt schlug an die Planken und kleine Tropfen wehten ihm ins Gesicht. Auf dem Deich bei Othmarschen standen die Eltern von Jannik, dem Schiffsjungen, der mit seinen vierzehn Jahren das erste Mal auf große Fahrt ging. Sie winkten ihm. Stolz grüßte er zurück.

Hannes trat an ihn heran. „Mit dem Wind und der auslaufenden Flut kommen wir gut voran. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“

„Das ist auch gut so“, erwiderte Julius, „mich hält hier nichts mehr. In Afrika kann man noch was werden, da gibt es keinen dänischen König, der einen hindert voranzukommen.“

„Das mag wohl so sein, aber wenn du dort keine reiche Familie oder Beziehungen hast, kann es schon ganz schön hart sein.“

„Ach was, ich bin jung und kann was leisten. Und wenn ich irgendwann nach Europa zurückkomme, dann fahre ich nicht mit einem Frachtschiff, sondern auf einem Passagierschiff in einer Kajüte erster Klasse.“

Hannes lachte, klopfte ihm leicht auf die Schulter und meinte, „Denn man tau, min Jung“, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Julius mochte den zehn Jahre älteren Bootsmann. Der hatte kein Problem mit einem ‚feinen Pinkel‘, wie er genannt wurde, er war gerade heraus und unkompliziert, ohne unhöflich zu sein.

Julius blieb noch eine Weile. Die Sonne färbte die Wolken rot, bevor sie am Horizont verschwand. Er dachte zurück an seine Kindheit, als er mit den Geschwistern im Haus in der Nørregade aufgewachsen war, und wo sie im großen Garten toben konnten. Es war eine unbeschwerte Zeit.

Beim Abschied hatte seine Schwester Marie Tränen in den Augen und er musste ihr versprechen so oft wie möglich zu schreiben. Von den großen Brüdern kamen die letzten Ratschläge, aber auch Mahnungen auf sich aufzupassen und nichts Unüberlegtes zu tun. Jetzt aber begann das Leben. Da draußen in der Welt steht mir alles offen, da kann ich was bewegen, sinnierte er.

Als es dunkel wurde, ging Julius in die Messe. Dort wurde das gemeinsame Abendessen vom Steward serviert. Kapitän Fritz Schäfer war ein großer, kräftiger Mann mit vollem Haar und einer breiten Narbe über der Stirn. An der Wand hing ein gerahmter Brief der Reederei Möhlmann & Petersen. In ihm wurde Schäfer ein besonderer Dank dafür ausgesprochen, dass er unter Einsatz seines Lebens die Pegasus und ihre Mannschaft in einem Orkan durch Mut und seemännisches Können gerettet hatte. Das gab Julius Vertrauen und Sicherheit.

An dem großen Tisch saßen schon der zweite Steuermann und Julius‘ Mitreisende. Das Pastorenehepaar Lornsen aus Breklum, sie wollten in das Hereroland fahren und dort in einer Missionsstation tätig werden. Er kannte Pastor Simonsen aus der Nachbargemeinde Joldelund, bei dem Julius nach dem Tod seines Vaters gelebt und der ihn konfirmiert hatte. Sie kamen schnell ins Gespräch und stritten freundschaftlich in den nächsten Monaten über manches Thema, über die Schleswig-Holsteinische Frage und den Krieg mit Dänemark, aber auch über die Gedichte von Heinrich Heine. Julius mochte den viel Ruhe ausstrahlenden Mann. Während der Fahrt kümmerte sich Frau Lornsen wie eine Mutter um ihn. Sie meinte, Julius sei mit seinen 17 Jahren noch viel zu jung, um alleine in die weite Welt zu fahren. So ermahnte sie ihn, sich warm anzuziehen oder auch genug zu essen. Ebenso meinte sie, er solle sich von den Matrosen und ihrer ordinären Art fernhalten, das wäre kein Umgang für ihn. Schließlich sei er ein gebildeter junger Herr.

Julius aß mit Appetit. Das Essen war besser als der Eintopf gestern Abend und er lobte den Smutje. Der Steuermann winkte ab: „In ein paar Wochen werden Sie über ihn schimpfen, wenn es immer nur Pökelfleisch gibt. Aber manchmal fangen wir auch ein paar leckere Fische. Den Adlerfisch versteht er gut zuzubereiten.“

Schon in der Nacht rebellierte der Magen, und er konnte das gute Essen nicht halten. Der Steward brachte ihm am nächsten Tag Zwieback und Tee mit etwas Ingwer. Das ist gut gegen Seekrankheit.

Nach ein paar Tagen traute er sich erstmals wieder an Deck. Es war ein sonniger Spätherbsttag. Die Sonne schien vom wolkenfreien Himmel, hatte aber nicht mehr die Kraft zu wärmen. Die klare Meeresluft tat nach den letzten Tagen gut. Hannes hatte Wache. „Wieder von den Halbtoten auferstanden?“, fragte er mit seinem breiten Grinsen. „Nun hast du es überstanden. Dein Magen hat sich dem Meer untergeordnet“, ergänzte er lachend. Julius hatte Mühe, gerade zu gehen, da hier draußen das Schiff stärker schwankte als in der Elbe. „Jetzt musst du nur noch laufen lernen“, spottete Hannes.

„Hör auf, dich über mich lustig zu machen, bei deiner ersten Fahrt ging es dir bestimmt auch nicht besser“, gab Julius zurück.

Sie kamen gut durch den Kanal, vorbei an der französischen Küste. Es war bitter kalt in diesen Dezembertagen und Julius ging nur fest eingehüllt in seinem dicken Mantel an Deck, um frische Luft zu tanken.

Der Kapitän vertröstete seine Passagiere mit der Aussicht, dass sie in zwei Wochen vor Spanien sein würden. „Dann wird es zunehmend wärmer und vor Afrika ist es so heiß, dass Sie sich noch zurücksehnen werden an das schöne kühle Wetter in Europa.“ Frau Lornsen, die selbst beim Essen zwei dicke Jacken trug, brachte nur ein gequältes Lächeln hervor.

Julius gewöhnte sich schnell an das Leben an Bord. Als es langsam wärmer wurde, verbrachte er viel Zeit an Deck und erkundete das Schiff. Er unterhielt sich mit den Matrosen, die sich über die Ablenkung freuten, und ließ sich viel erklären. Wozu dient der Klüver oder wie heißen die verschiedenen Taue und wozu sind sie nötig, oder wo ist das Bram- oder Besansegel. Manchmal versuchte er bei leichten Dingen zu helfen, was aber meist misslang. Die Matrosen lachten, hatten aber immer ein paar aufmunternde Worte für ihn. Hannes mahnte zwar: „Halt mir nicht die Leute von der Arbeit ab!“, war selbst aber auch immer für ein Schwätzchen zu haben.

Pastor Lornsen war damit beschäftigt, sich wenigstens die wichtigsten Worte in Otjiherero, der Sprache der Herero, anzueignen, was ihm aber sichtlich schwerfiel. Seine Frau saß meist neben ihm und strickte. Für sie als Frau schickte es sich nicht, sich unnötig an Deck aufzuhalten.

Mit dem Schiffsjungen Jannik plauderte Julius immer, wenn dieser die Kajüte reinigte. Jannik war der jüngste von drei Bauernsöhnen aus Dithmarschen. Der Hof seiner Eltern war aber nicht groß genug, dass er in Zukunft drei Familien ernähren könnte. Also musste er als der kleinste sich entweder auf einem anderen Hof als Knecht verdingen oder in Hamburg in einer der neu entstehenden Fabriken arbeiten. Zur See zu fahren schien ihm eine bessere Alternative zu sein. Die Familie fehlte ihm zwar manchmal, aber diese Gedanken versuchte er mit Träumen von Abenteuern in der weiten Welt zu verjagen.

Julius kam bei seinen Rundgängen an Deck auch zur Kombüse. Als er mit dem alten Smutje ein Gespräch anfangen wollte, brummelte der nur mürrisch: „Hier hat keiner was zu suchen, der hier nicht arbeitet, also wenn du bleiben willst, dort steht ein Eimer Kartoffeln, der geschält werden muss!“ Ohne zu zögern setzte sich Julius, nahm den Eimer zwischen die Knie und begann zu schälen. Dem Smutje fiel fast die Pfeife aus dem Mund. „Der macht das wirklich!“, und fügte gleich hinzu, „dafür gibt es aber keine extra Portion.“

Wenn es Julius an Bord zu langweilig wurde, ging er nun öfter in die Kombüse und half. Jannik freute sich und der Smutje duldete es irgendwann. Dabei musste er manche Rüge hinnehmen, so auch, wenn die Kartoffelschalen zu dick waren. „Wir müssen die Leute an Bord füttern, nicht die Fische.“

Mit dieser Hilfe handelte er sich aber auch Spott ein. Bei einem Mittagessen merkte der Kapitän an: „Meine Dame, meine Herren, genießen Sie dieses Essen besonders. Die Kartoffeln hat Julius geschält, er will wohl unserem alten Smutje nacheifern.“ Alle lachten, nur Frau Lornsen schüttelte den Kopf. „Als Mann müssen Sie doch nicht kochen können. Sie wollen doch Winzer werden. Da haben Sie doch genügend Bedienstete.“

In der Biskaya wurde es langsam wärmer und meistens schien die Sonne. Plötzlich stellte Julius eine Unruhe und ungewohnte Aktivitäten in der Mannschaft fest. Er fragte, was denn los sei.

„Ein Sturm kommt auf.“

„Bei dem schönen Wetter, es ist strahlender Sonnenschein.“

„Aber dahinten am Horizont ziehen Wolken auf.“

Julius sah ganz weit weg ein paar kleine weiße Wölkchen, aber er bemerkte auch, wie der Kapitän sorgenvoll zum Flögel am Mast hinaufschaute. Der Windsack flatterte bereits im Wind.

„Geh in deine Kabine und räume alle losen Gegenstände weg oder befestige sie, sonst hast du morgen nur noch Scherben.“

Julius packte alles weg. Er merkte schon, wie das Schiff stärker schwankte. Er ging noch mal auf Deck und sah, wie die Wellen immer steiler und höher wurden. Die ersten Brecher schlugen schon über die Verschanzung und spülten alles. was nicht fest war. ins Meer.

„Schau, dass du in die Kajüte kommst, leg dich in die Koje und halte Dich mit Händen und Füßen fest. Hier kannst du ins Meer gerissen werden“ schrie Hannes durch das Tosen der See, „und helfen kannst du hier auch nicht.“

Ein weiterer Schwall Wasser traf ihn und warf ihn zurück in die Kajüte.

Er hatte Mühe, sich in der Koje zu halten und glaubte manchmal, das Schiff torkelte in der Luft und schlug wieder auf dem Wasser auf, dann legte es sich fast waagrecht auf die eine Seite, dann auf die andere. Sein Koffer schlitterte auf dem Boden hin und her. Dazu kam das gewaltige Tosen der Wellen und das Heulen des Sturms. Julius hatte Angst. Er kauerte in der Ecke und klammerte sich mit aller Kraft an das Bett. Leise murmelte er Gebete, an die er sich aus dem Konfirmandenunterricht erinnerte.

Erst am Morgen beruhigte sich die See und Julius war froh, noch zu leben. Als es hell wurde, wagte er sich langsam heraus und sah auf eine noch bewegte, aber doch friedlichere See. Nur eins der vielen Segel war gerissen. Die Männer hatten es schon vom Mast geholt und der Segelmacher war dabei, es zu nähen.

Hannes stand an der Reling und rauchte seine Pfeife. „Warum bist du so blass, Julius?“, spottete er.

„Ich befürchtete, wir würden untergehen“, gestand Julius kleinlaut.

„Naja, es war schon ganz schön stürmisch, aber wir haben einen guten Käpt´n und ich bin ein guter Bootsmann“, gab er schon wieder lachend zurück.

Pastor Lornsen, der hinzugekommen war, meinte: „Gott hat uns beschützt, er hat wohl noch einiges mit mir vor in Afrika“, und fügte dann noch schnell hinzu, „und mit euch natürlich auch.“

Ein paar Tage später sah Julius, wie die Mannschaft um Jannik herumstand und lauthals über ihn lachte.

„Was ist los, was hat Jannik getan?“, fragte er.

„Er soll das Bilgenschwein füttern und kann es nicht finden“, prustete einer der Matrosen. „Willst du ihm nicht beim Suchen helfen?“

Zum Glück kannte Julius die Geschichte von dem Schwein, das es nicht gibt. Die Seeleute nannten das Glucksen des hin- und herschwappenden Wassers unten in der Bilge so, da es sich anhört wie das Schmatzen eines Schweines.

„Ihr wisst doch, das Fleisch vom Bilgenschwein ist viel zu wässrig, um es zu schlachten. Also wozu dann füttern?“, nun hatte Julius die Lacher auf seiner Seite.

Er war beliebt bei der Mannschaft und keiner sprach mehr vom feinen Pinkel. Aber er gehörte nicht zu ihr, er war Passagier und damit etwas, was die Matrosen nie waren und nie sein würden.

Als Julius sich an einem klaren Abend den Sternenhimmel ansah, kam Hannes auf ihn zu. „Ist das nicht gewaltig? So klar sieht man die Sterne nur auf dem Meer oder in der Wüste.“ Beide schauten in den Himmel. Nach einer Weile fragte Hannes: „Kennst du die Sternbilder?“

Julius zeigte zum Himmel. „Den Großen Wagen habe ich gefunden und dann ist dort der Polarstern, und das große W, da drüben, ist die Kassiopeia, aber alles andere sind nur leuchtende Punkte für mich.“

„Das ist doch schon was. Gehe nun zum Polarstern zurück, er ist das Ende der Deichsel vom kleinen Wagen“, erklärt Hannes.

In den nächsten Nächten führte Hannes, wenn er Zeit hatte, Julius in die Welt des Sternenhimmels ein. „Schau dort dieses Dreieck, da sind noch rechts und links Flügel dran, das ist der Schwan, dort drüben ist der Pegasus, nach dem unser Schiff benannt ist.“ Es folgte ein Sternbild nach dem anderen, später, nachdem sie den Äquator überquert hatten, zeigte er ihm auch das ‚Kreuz des Südens‘. Auch ein bisschen Navigation versuchte er ihm beizubringen, aber da hatte er selbst noch große Wissenslücken.

Manchmal saß Julius an Deck und las ein Buch über Weinbau, das er sich noch kurz vor der Abfahrt in Hamburg gekauft hatte. Er wollte in Kapstadt nicht völlig unwissend ankommen. Hannes sah ihn und fragte:

„Was liest du da?“

„Wie man durch Züchtung neuer Reben besseren Wein erzeugen kann.“

„Und das kannst du?“

„Nein, noch nicht, aber ich werde es lernen und dann stelle ich den besten Wein her.“

„Der wird dann sogar in Königshäusern getrunken“, spottete Hannes.

„Nur an den dänischen König liefere ich nicht. Der ist es nicht wert.“

Hannes lachte. „Aber die Weinstöcke wachsen nicht aus Büchern. Das muss man praktisch ausprobieren, indem man Pflanzen in der Erde steckt!“

„Ja, aber hier steht, worauf man achten muss.“

„Ach, lesen, das ist mir viel zu mühsam, das ist nicht mein Ding. Ich brauch was Handfestes. Du hattest es gut, du konntest zur Schule gehen und was lernen.“

„Warst du nicht in der Schule?“, fragte Julius neugierig.

„Doch, aber nur drei Jahre. Dann wurde mein Vater beim Entladen eines Schiffes im Hamburger Hafen von einer herunterfallenden Tonne erschlagen. Nun musste ich Mutter helfen, Geld für die Familie zu verdienen. Sie wusch die Wäsche für die reichen Leute und ich trug sie aus. Mit vierzehn Jahren habe ich dann auf einem Schiff angeheuert als Schiffsjunge. Dann musste meine kleine Schwester Erna helfen.“

„Dann hast du es aber schon weit gebracht. Du bist jetzt Bootsmann. Vielleicht wirst du irgendwann mal Kapitän.“

Hannes lachte. „Das wäre es. Nein, nein, unsereins wird nie Kapitän. Da brauchst du Geld und einflussreiche Unterstützer.“

„Und du musst lesen können“, ergänzte Julius. Beide lachten. Dann fügte Hannes hinzu: „Aber Steuermann, das wäre prima.“

„Gib den Traum vom Kapitän nicht auf. Mein Großvater war Sohn von Tagelöhnern, genau wie du und schaffte es vom Schiffsjungen zum Kapitän. Es ist möglich.“

Hannes winkte ab: „Alles Träume.“

„Ich habe in der Bibliothek des Kapitäns ein kleines Buch mit kurzen Geschichten gesehen. Da kannst du lesen üben, sonst kannst du irgendwann gar nicht mehr lesen“, hatte Julius beschlossen. „Ich hole es dir.“

Nach einigem Wehren und Zögern ließ sich Hannes überreden. Nach kurzer Zeit fand er sogar Gefallen daran. So lernte Julius den Sternenhimmel kennen und Hannes begann zu lesen. Endlich überschritten Sie den Äquator. Lornsen und Julius mussten die Äquatortaufe über sich ergehen lassen. Einer der Matrosen hatte sich als Neptun verkleidet mit einer Perücke aus Tauen und einem selbst gezimmerten Dreizack. Ein anderer trat als dessen Frau Amphitrite auf, eingehüllt in Segeltuch. Ein weiterer musste in den Mast klettern, um die Linie, wie der Äquator unter Seeleuten genannt wird, hoch zu halten, damit das Schiff darunter durchfahren konnte. Nach einer kurzen Rede Neptuns wurden Lornsen und Julius unter dem Gejohle der Mannschaft mit dem Kopf in ein Fass getaucht. Dann gab es einen Schluck Rum. Frau Lornsen ersparte man das Ritual, sie bekam ein Glas Wein. Die Taufe von Jannik, der ebenfalls das erste Mal den Äquator überquerte, fiel etwas deftiger aus. Er musste ganz in die Tonne springen, wurde immer wieder untergetaucht und musste sich manchen derben Scherz gefallen lassen.

Nach weiteren Wochen lief die Pegasus den Hafen von Jamestown auf der Insel Sankt Helena an, um Nahrung und frisches Wasser an Bord zu nehmen. Hier erreichte Julius ein Brief von Herrn Kuhlmann, dem Eigentümer des Weingutes.

Er schrieb, Julius solle in Kapstadt im Hotel ‚Admiral Nelson‘ absteigen. Er werde ihm dort ein Zimmer für mehrere Tage reservieren. Sobald Herr Kuhlmann von der Ankunft der Pegasus erfahre, hole er ihn mit einer Pferdekutsche ab. Das Weingut liege in der Nähe von Caledon eine Tagesfahrt von Kapstadt entfernt in den Bergen. Er freue sich auf seine Ankunft.

Julius war froh, dass sein Kommen vorbereitet und für alles gesorgt sei. Stolz zeigte er Hannes den Brief. „Dat is gut, min Jung, da muss ich mir also keine Sorgen machen, wenn du alleine im fremden Land bist.“

Nach drei Monaten erreichten sie Kapstadt. Von weitem sah Julius den Tafelberg aus dem Meer ragen als wollte er die Stadt in der Bucht beschützen. Endlich am Ziel. Was werden die nächsten Monate und Jahre bringen? Julius hatte allen Widrigkeiten getrotzt, von der Seekrankheit und Sturm, Hitze und Flauten. Er hatte die Fahrt als Abenteuer genossen. Trotzdem war er froh nun wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Für die nächsten Jahre wollte er keine Seefahrt mehr unternehmen.

*****

Kapstadt

Die Pegasus ankerte zwischen einer Reihe anderer Schiffe vor Kapstadt. Das Wasser im Hafen war nicht tief genug für einen großen Schoner wie diesen.

Hannes setzte die fünf Passagiere im Ruderboot selbst über. Mit kräftigen Ruderschlägen führte er das kleine Schiff zum Kai. Er sollte am Festland Arbeiter zum Entladen organisieren.

Als Julius die ersten Schritte auf festem Boden machte, war es ihm, als würde die Erde wanken. Er stolperte und verlor fast das Gleichgewicht. Er konnte sich gerade noch an einer Mauer festhalten. Er hörte Hannes aus dem Boot lachen. „Jetzt bist so lange auf dem Meer gewesen, dass du ohne das Schwanken des Schiffes gar nicht mehr laufen kannst.“ Die Lernsens waren gewarnt und begaben sich sehr vorsichtig an Land.

„Naja, einen Seemann konnte ich nicht aus dir machen, aber bestimmt hast du als Weinbauer mehr Geschick. Wenn ich das nächste Mal hier am Kap bin, trinken wir eine Flasche von deinem besten Wein, den du dann anbaust“, verabschiedete sich Hannes von Julius.

„Ist versprochen. Komm vorbei und besuch mich“, erwiderte dieser lachend. Sie waren Freunde geworden in den letzten Monaten.

Julius schaute auf die dreckigen Gassen des Hafenviertels. Überall standen schwarze Tagelöhner, die darauf warteten, für ein paar Pennies eine Schiffsladung löschen zu können. Dazwischen gab es nur wenige Weiße, die die Arbeiter beaufsichtigten oder gut gekleidete Kaufleute, die Angst hatten, ihre gekauften Waren könnten beschädigt werden. Herrenlose Hunde durchwühlten Abfallhaufen nach Nahrung und schreckten dabei manche Ratte auf. War dies das Land, in dem er eine bessere Zukunft zu haben hoffte? Lornsen nahm ihn am Arm und sagte: „Lass uns gehen, oben in der Stadt wird es sauberer und schöner sein. Kapstadt gilt als eine wohlhabende, aufstrebende Stadt.“

Wenig später kamen sie in die breite Longstreet mit prächtigen Häusern, Handelskontoren und dem Gebäude der Kolonialverwaltung, dazwischen prunkvolle Villen. Hier sprudelte das Leben. Kutschen fuhren entlang und Männer eilten geschäftig vorbei. Frauen promenierten über den Boulevard. Es war März, hier im Süden Afrikas ein schöner sonniger Herbsttag. Schon waren die Bilder aus dem Hafen vergessen und Julius war beeindruckt von der großen Stadt. Dann verabschiedete sich das Ehepaar, das einen anderen Weg einschlagen musste. Frau Lornsen umarmte Julius wie einen Sohn, und der Pastor mahnte zu Aufrichtigkeit und Fleiß. Nun war er auf sich gestellt.

Nach mehrmaligen Nachfragen, hier kamen ihm seine guten Englischkenntnisse zugute, fand er das Hotel ‚Admiral Nelson‘.

In dem kleinen, sauberen Hotel meldete er sich an der Rezeption. Der Portier empfing ihn und führte ihn in das reservierte Zimmer. Julius richtete sich ein und nahm zunächst ein Bad. Nach den langen Monaten auf dem Schiff genoss er es, im warmen Wasser zu liegen und sich zu entspannen. Er schloss die Augen und malte sich aus, wie er durch die Weinberge ritt und die Reifung der Trauben begutachtete, wie er hier und da vom Pferd abstieg, ein paar Trauben probierte und weiterritt. Später trat er ans Fenster und sah zufrieden auf das Meer. Er war kurz vor dem Ziel. Bald würde er bei dem freundlichen Herrn Kuhlmann arbeiten und viel lernen.

Der Portier klopfte an der Tür. „Hier ist jemand mit einer Nachricht von Frau Kuhlmann für Sie.“ Ein junger Inder trat ein und begann, ganz aufgeregt in Pidgin-Englisch zu reden.

„Mister, es ist was Schreckliches passiert! Dieser verfluchte Krieg mit den Xhosa. Krieger überfallen immer wieder Farmen und brennen sie nieder. Sie wollen ihr Land gegen die Buren und die Briten verteidigen, aber sie können doch nicht Farmen abbrennen und friedliche Menschen töten.“

„Beruhige dich, erzähl von Anfang an. Was ist passiert?“, forderte Julius ihn auf. „Das Land war durch die sehr trockenen Sommermonate ausgedörrt, trotzdem versprach es, eine gute Weinernte zu werden. Wir waren alle zur Lese in den Weinbergen, als wir eine Rauchsäule aufsteigen sahen, dort, wo das Farmhaus stand. Wir rannten alle hin, aber es brannte bereits lichterloh. Auch die Bäume um das Haus standen in Flammen und das Feuer fraß sich immer weiter in die Weinberge. Wir versuchten zu löschen, aber das Wasser reichte nicht. Der Master wollte aus dem Haus noch wichtige Papiere holen. Er kam nicht mehr raus. Es war furchtbar“, sprudelte es aus dem Mund des Boten. „Die Kuhlmanns waren gute Menschen, sie haben uns immer gut behandelt, uns Inder und auch die Schwarzen, haben immer bezahlt und uns gutes Essen gegeben. Warum trifft es gerade die Kuhlmanns? Hier habe ich einen Brief von der Missus.“

Erschrocken nahm Julius den Brief entgegen und öffnete ihn mit zittrigen Händen. Er las:

„Werter Herr Gottfriedsen,

Balendra hat Ihnen sicherlich von der Katastrophe bereits erzählt. Das Weingut Summerset gibt es nicht mehr und mein treuer Mann ist mit ihm begraben. Nach diesem schmerzlichen Unglück kann ich hier nicht mehr bleiben. Alles würde mich immer an dieses Unheil erinnern.

Ich habe das Land verkauft und kehre nach Kiel zurück.

Vor meiner Abreise sprach ich noch mit meinem alten Freund Admiral Sir Alfred Hinxley über Sie. Gehen Sie zu ihm. Er erwartet Sie und wird Ihnen weiterhelfen. Seine Residenz ist in der Hudsonstreet 58.

Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit in Afrika, so wie wir sie lange Jahre hatten, bis zu diesem Unglück.“

Julius setzte sich auf den Bettrand. Er brauchte eine Weile, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. „Wo finde ich die Hudson Street? Weißt du wo das ist?“, fragte Julius.

„Ja, Mister, ich kann Sie morgen früh hinbringen.“

Diese Nacht fand Julius keine Ruhe. Das Zerplatzen des Traums vom Weinberg lähmte ihn, und die Ungewissheit, wie es weiter gehen sollte, ließ ihn lange nicht einschlafen. Immer wieder stand er auf, ging zum Fenster und schaute auf das Meer. Wie gerne hätte er jetzt mit seinen Brüdern gesprochen und sie um Rat gefragt. Aber die waren Tausende Meilen entfernt. Am liebsten wäre er mit dem nächsten Schiff zurück nach Hadersleben gefahren. Doch dazu fehlte ihm das Geld.

Am nächsten Morgen klopfte Balendra pünktlich an die Tür, um Julius abzuholen. Er führte ihn durch das Straßengewirr in die feine Hudsonstreet. Er zeigte ans Ende der Straße und sagte: “Sehen Sie das große Haus in dem Park, dort wohnt Admiral Hinxley. Es ist nicht gut für Inder, dem Haus zu nahe zu kommen, wenn man dort nicht arbeitet.“

Als Julius nach dem Grund fragen wollte, war bereits Balendra bereits umgekehrt und lief zurück.

Julius ging durch das große schmiedeeiserne Tor den Weg hinauf zu dem mächtigen klassizistischen Gebäude. An dem Eingang zwischen den beiden dorischen Säulen läutete er.

Ein schwarzer Diener in feiner Livree-Uniform öffnete ihm und führte ihn in das Arbeitszimmer des Admirals. In der Mitte des großen Raums stand ein massiger Schreibtisch, an den Wänden hingen eine Reihe von Gemälden mit Portraits von Offizieren, Kapitänen und natürlich von Queen Victoria. Die Tür zum Balkon stand offen und ermöglichte einen Blick hinunter auf den Hafen und das Meer.

Hinxley begrüßte ihn mit den Worten: „Nehmen Sie Platz, junger Mann. Meine gute Freundin Lady Kuhlmann kündigte Sie an und bat mich, ihnen weiter zu helfen. Es war ein fürchterliches Unglück, das über sie hereinbrach und ihr den Gemahl raubte. Der Gouverneur wird mit aller Härte gegen diese Wilden vorgehen. Ich kann verstehen, dass Lady Kuhlmann nach alldem zurück zu ihrer Familie nach Deutschland will. Aber hier geht das Leben weiter. Mit dem Arbeiten auf einem Weinberg wird nun es wohl nichts. Aber wir wollen sehen, wie ich Ihnen weiterhelfen kann“, begann der Admiral das Gespräch.

„Ich brauche eine Beschäftigung, da der größte Teil meines Geldes für die Reisekosten aufgebraucht wurde. Aber ich kann arbeiten und bin bereit, noch vieles dazu zu lernen“, erwiderte Julius.

Es klopfte an der Tür. Ein schwarzer Diener brachte eine Karaffe und goss Saft in Gläser. Der Admiral nahm eins und stellte es gleich wieder zurück. „Das ist viel zu warm, wie soll dieser Saft erfrischen“, brüllte er den Mann an, „seid ihr auch dafür nicht zu gebrauchen!“ Der Diener nahm sofort die Karaffe, verbeugte sich demütig und verließ schnell den Raum. Der Admiral wandte sich wieder Julius zu und sah dessen erstauntes Gesicht.

„Wir sind nicht in Europa, das waren hier vor zwanzig Jahren alles noch Sklaven, bis dieses unselige Verbot kam. Die muss man so behandeln, sonst werden sie nachlässig“, erklärte er in ruhigem Ton mit einem freundlichen Lächeln

Dann fuhr er fort. „Natürlich sind Sie erst mal Gast in meinem Haus, bis wir etwas Passendes für Sie gefunden haben.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, wie kann ich mich nützlich machen?“

„Sie sprechen sehr gut Englisch, das wird Ihnen hier sehr helfen. Fremdsprachen sind wichtig. Sie könnten die Zeit nutzen, meinen beiden Kindern die deutsche Sprache etwas näher zu bringen. Sie haben zwar einen Hauslehrer, aber der spricht nur Englisch und Französisch.“

„Das würde ich gerne tun, ich habe auch manchmal mit meinen kleinen Geschwistern gelernt.“