Der unausweichliche Tag - Rose Tremain - E-Book

Der unausweichliche Tag E-Book

Rose Tremain

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Beschreibung

Anthony Verey, Mitte 60, früher der bekannteste Antiquitätenhändler Londons, spürt, dass es vorbei ist, sein glamouröses Leben. In Frankreich, wo seine Schwester Veronica mit ihrer Geliebten Kitty lebt, möchte er ein Haus kaufen, »bevor es zu spät ist«. Als sich Anthony für das einsame, heruntergekommene Anwesen der Geschwister Lunel interessiert, kommt all das, was in diesem Haus geschah, ans Licht – mit schrecklichen Folgen. Der Roman der Bestsellerautorin Rose Tremain ist eine mitreißende Geschichte über Geschwisterliebe, Rache – und die Frage, wie man seinem Leben noch einen Sinn geben kann, wenn man weiß, dass einem nicht mehr viel Zeit bleibt.

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Seitenzahl: 444

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Anthony Verey, Mitte 60, früher der bekannteste Antiquitätenhändler Londons, spürt, dass es vorbei ist, sein glamouröses Leben. In Frankreich, wo seine Schwester Veronica mit ihrer Geliebten Kitty lebt, möchte er ein Haus kaufen, »bevor es zu spät ist«. Als sich Anthony für das einsame, heruntergekommene Anwesen der Geschwister Lunel interessiert, kommt all das, was in diesem Haus geschah, ans Licht – mit schrecklichen Folgen.

Der Roman der Bestsellerautorin Rose Tremain ist eine mitreißende Geschichte über Geschwisterliebe, Rache – und die Frage, wie man seinem Leben noch einen Sinn geben kann, wenn man weiß, dass einem nicht mehr viel Zeit bleibt.

Rose Tremain ist eine erfolgreiche und vielfach preisgekrönte Schriftstellerin. Sie lebt in London und Norwich. Der weite Weg nach Hause (st 4120) wurde 2008 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane Die Farbe der Träume (it 4148) und Zeit der Sinnlichkeit (it 4200). Im Januar 2013 erscheint im Insel Verlag ihr neuer Roman Adieu, Sir Merivel.

Rose Tremain

Der unausweichliche Tag

Roman

Aus dem Englischen vonChristel Dormagen

Suhrkamp

Die englische Originalausgabe

Tresspass

erschien 2010 bei Chatto & Windus, London.

Copyright © Rose Tremain 2010

Umschlagfoto: Eberhard Grames

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74110-8

www.suhrkamp.de

Für Richard, in Liebe

Das Mädchen heißt Mélodie.

Es ist lange her, Mélodie war noch gar nicht geboren, da hatte ihre hübsche Mutter sich als Komponistin versucht.

Mélodie ist zehn Jahre alt, und sie will ein Sandwich essen. Sie klappt die beiden Hälften auseinander und starrt auf den feuchten rosa Schinken dazwischen und auf den ekligen graugrünen Schimmer auf dem Schinken. Überall um sie herum, im vertrockneten Gras und in den verdorrten Bäumen, machen Grillen und Grashüpfer jenes Geräusch, das sie nicht mit ihrer Stimme (sie haben keine Stimme, hat man Mélodie erklärt), sondern mit ihren Körpern machen, ein Körperteil schwingt dabei gegen einen anderen. Hier ist alles lebendig, flattert und schwirrt von einer Stelle zur anderen, denkt Mélodie, und sie hat Angst, dass plötzlich eines dieser Insekten auf ihrem Sandwich landet oder auf ihrer Wade oder sich mit den Beinen in ihren Haaren verheddert.

Mélodies Haar ist schwarz und seidig. Während sie auf den glitschigen Schinken schaut, spürt sie, wie Schweiß aus ihrer Kopfhaut kommt. Schweiß ist eine kalte Hand, die einen streicheln will, denkt sie. Schweiß ist etwas Seltsames in einem drin, das von einer Stelle zur anderen kriechen will …

Mélodie legt das Sandwich in das staubige Gras. Sie weiß, im Nu werden Ameisen da sein, um das Brot herumwimmeln und es wegzutragen versuchen. In Paris, wo sie früher wohnte, gab es keine Ameisen, aber hier, wo ihre neue Heimat ist, gibt es mehr Ameisen, als man überhaupt zählen kann. Sie kommen aus der Erde und gehen wieder dahin zurück. Man findet sie, wenn man gräbt: eine kompakte Masse, schwarz und rot. Der Spaten würde da mitten hindurchstechen. Wahrscheinlich müsste man noch nicht einmal sehr tief graben.

Mélodie hebt den Kopf und blickt hoch zu den Blättern der Eiche.

Diese Blätter färben sich schon gelb, als wäre es längst Herbst. Der Wind, der Mistral heißt, bläst durch den Baum, und die Sonne wandert immer weiter und durchlöchert den Schatten, und immer ist hier etwas in Bewegung, nie kehrt Ruhe ein.

»Mélodie«, sagt eine Stimme. »Ist alles in Ordnung? Magst du dein Sandwich nicht?«

Mélodie dreht sich um zu Mademoiselle Jeanne Viala, ihrer Lehrerin, die wenige Schritte entfernt auf einer Decke im Gras sitzt. Einige der kleineren Kinder hocken in ihrer Nähe, und alle futtern brav ihre Baguettes.

»Ich habe keinen Hunger«, sagt Mélodie.

»Wir hatten einen langen Vormittag«, sagt Mademoiselle Viala. »Versuch wenigstens ein paar Bissen.«

Mélodie schüttelt den Kopf. Manchmal ist es schwierig zu sprechen. Manchmal ist man wie ein Insekt, das keine Stimme hat, sondern Körperteile aneinanderreiben muss. Und um einen herum bläst immerzu der Mistral, und immerzu fallen Herbstblätter, obwohl es doch Hochsommer ist.

»Komm und setz dich zu uns«, sagt Mademoiselle Viala. »Wir trinken jetzt alle etwas Wasser.«

Die Lehrerin befiehlt einem der Jungen, Jo-Jo (er gehört zu denen, die Mélodie ärgern und hänseln und ihren schicken Pariser Akzent nachäffen), ihr die Picknicktasche zu reichen. Mélodie steht auf und lässt ihr Sandwich im Gras liegen, und Mademoiselle Viala zeigt mit der Hand neben sich, und Mélodie setzt sich dort neben die Lehrerin, die sie eigentlich mag, die aber heute Morgen Mélodie verraten hat … ja, verraten, … weil sie Mélodie gezwungen hat, Dinge zu sehen, die sie gar nicht sehen wollte …

Mademoiselle Viala trägt eine weiße Leinenbluse, Jeans und weiße Segelschuhe. Ihre Arme sind weich und braungebrannt, und ihr Lippenstift ist leuchtend rot. Sie hätte gut aus Paris sein können. Sie holt eine kleine Flasche Evian aus der unhandlichen Tasche und reicht sie Mélodie.

»Hier«, sagt sie. »Für dich.«

Mélodie presst die kühle Flasche gegen ihre Wange. Sie sieht, dass Jo-Jo sie anstarrt. Diese gemeinen Jungen können völlig unschuldig gucken, so unschuldig, als wüssten sie ihren eigenen Namen nicht.

»So«, sagte Jeanne Viala mit ihrer Lehrerinnenstimme, »ich bin mal gespannt, wer mir sagen kann, wie Seide hergestellt wird, nachdem wir nun alle die Ausstellung im Museum gesehen haben.«

Mélodie schaut weg, nach oben, zur Seite, in die Ferne zum hüpfenden Licht, zum unsichtbaren Wind … Um sie herum heben die Kinder ihre Arme, ganz wild darauf, Mademoiselle Viala zu erzählen, was sie wissen oder was sie, wie Mélodie argwöhnt, schon immer gewusst haben, weil sie ein Teil dieser Landschaft sind und hier geboren wurden.

Jo-Jo sagt: »Seide wird von Raupen gemacht.«

Wie die anderen hat er es schon immer gewusst. Jeder hier weiß es von seinen Großeltern oder den Urgroßeltern, und nur sie, Mélodie Hartmann aus Paris, hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht … bis heute nicht, bis Jeanne Viala mit den Kindern das Museum der Cévenoler Seidenproduktion in Ruasse besucht hat …

»Gut«, sagt Mademoiselle Viala. »Schreit nicht alle durcheinander. Jetzt du, Mélodie. Stell dir vor, du wolltest gesunde Seidenraupen züchten, was müsstest du als Erstes tun, nachdem du die Eier gekauft hast?«

Als Erstes. Sie blickt auf ihre Hände, die schmutzig sind, von Schweiß und Staub – von menschlichem Dreck.

»Sie warmhalten …«, flüstert sie, mit einer Stimme, dünner als die irgendeines winzigen Tiers, das zwischen zwei Getreidehalmen wohnt oder unter einer Baumwurzel.

»Ja«, sagt Jeanne Viala. »Gut. Und wie würdest du das machen?«

Mélodie würde gern sagen: Ich habe schon geantwortet. Das habe ich doch. Mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aber sie blickt einfach weiter auf ihre schmutzigen Hände, die die Evian-Flasche halten.

»Ich weiß es!«, sagt Jo-Jo.

»Wir wissen es!«, sagen zwei Mädchen, zwei unzertrennliche Freundinnen, Stéphanie und Magali.

»Na, dann erzähl du es uns, Magali«, sagt Jeanne Viala.

Magalis Gesicht ist puterrot, ganz heiß vor Stolz und Verlegenheit. »Das hat meine Oma mir erzählt!«, platzt sie heraus. »Man tut sie in einen Beutel, und den steckt man dann in die Unterhose!«

Als alle um sie herum in Lachen ausbrechen, steht Mélodie auf. Ihre Beine fühlen sich wackelig an, aber sie entfernt sich, so schnell sie kann, von all den lauten Kindern.

Rotrückige Grillen springen und flitzen vor ihr her. Sie bricht sich einen Zweig mit einer spröden Samenkapsel an der Spitze und versucht, die Insekten damit zu vertreiben. Sie hört die Lehrerin nach ihr rufen, aber sie dreht sich nicht um. Bestimmt weiß Jeanne Viala … ganz bestimmt tut sie das … dass man Heimweh nach Paris hat, wenn man sein Leben lang dort gewohnt hat – zehn ganze Jahre –, Heimweh nach der Stadt, nach einem hübschen, sauberen Zimmer mit Teppichboden in einer hübschen Wohnung, und dass man nicht über Raupen reden möchte, die in einem Beutel unter dem Rock wimmeln. Denn natürlich ist Paris ja nicht einfach verschwunden. Es ist immer noch da. Die Straße ist da. Die Wohnung ist da. Das Zimmer, das einem gehört hat. Und nur man selber wird nie mehr dahin zurückkehren. Nie mehr. Weil Papa etwas »Großartiges« in Aussicht gestellt worden war. Weil ihm eine Beförderung angeboten worden war. Man hatte Papa zum Leiter des Labors für medizinische Analyse in Ruasse ernannt. Leiter. »Das ist fantastisch«, sagt Maman. »Du musst begreifen, dass das eine einmalige Chance ist.« Aber dann bedeutete es einfach nur, dass … es Paris nicht mehr gibt. Jetzt gibt es ein Haus aus dicken Steinen, irgendwo ganz allein in einem schattigen Tal. Stechmücken sirren durch die dunklen, heißen Nächte. Das Haus ist ein mas, was »Mass« ausgesprochen wird. In den Ritzen zwischen den Steinen, wo der Mörtel bröckelt oder schon herausgefallen ist, verstecken sich Skorpione vor der Sonne. Und manchmal sitzt einer, schwarz und tödlich, an der Wand im Zimmer, und Papa muss kommen, und …

… er bringt einen Holzklopfer oder einen Hammer. Blut steigt ihm ins Gesicht.

Der Schlag mit dem Hammer hinterlässt einen Abdruck auf der verputzten Wand.

»So«, sagt er, »alles wieder in Ordnung. Da ist nichts mehr.«

Nichts mehr.

Kein Heimweg mehr von der Schule, vorbei am Optikergeschäft, dem Blumenladen und der Pâtisserie an der Ecke. Keine Winterabende mehr, wenn der Pariser Himmel über den Häusern in einem elektrischen Blau leuchtet.

Kein Ballettunterricht mehr, kein Schwimmtraining, keine Geigenstunden. Nichts mehr.

Mit ihrem Samenkapselstock wedelt Mélodie sich ihren Weg zwischen den Grashüpfern frei.

Sie öffnet ein rostiges Eisentor und betritt eine Weide mit hohem Gras, strebt in den Schatten, zu den gelb werdenden jungen Eschen, einem Ort, wo sie allein sein und ihr Wasser trinken kann. Die Lehrerin ruft nicht mehr nach ihr. Vielleicht ist Mélodie weiter gelaufen, als sie gemerkt hat. Es ist windstill und ruhig. Als wäre der Mistral gestorben.

Mélodie öffnet die Wasserflasche. Sie kühlt nicht mehr, ist dafür schmutzig von ihren Händen und riecht nach Plastik. So sollte sie eigentlich nicht riechen, aber hier, wo die Natur so … bestimmend … so … überall ist, riecht sie nach menschengemachtem Plastik. Nur hier, wo die Natur die Erde und die Luft und den Himmel erfüllt. Wo die Augen voll von ihr sind. Wo man sie im Mund schmecken kann …

Mélodie hat das Wasser schon halb ausgetrunken, da hört sie ein neues Geräusch.

Menschen, die im Radio reden? Eine von diesen Diskussionen, irgendwo weit weg, über Politik oder über das Leben von irgendwelchen berühmten Menschen? Eine Unterhaltung, die eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt ist?

Sie hört auf zu trinken und horcht. Nein. Keine Menschen. Etwas, das plappert wie Menschen, aber doch keine Menschen … außer, sie sprechen in einer Sprache, die Mélodie noch nie gehört hat …

Sie schaut über die Weide hinweg, bis dorthin, wo sie in einem Streifen aus nesselgrünem Unkraut mit fedrigen Blättern endet. Das Unkraut wächst in so dichten Büscheln, dass es fast unmöglich scheint, da durchzukommen. Aber Mélodie ist fest entschlossen, die Ursache dieses neuen Geräuschs zu entdecken, und so läuft sie darauf zu. Sie hat immer noch ihren Stock. Sie fängt an, das Unkraut plattzuprügeln. Sie denkt: So muss man diesen Ort behandeln, dieses Land der Cevennen. Man muss es prügeln! Aber da schlägt es zurück. Der Stock bricht. Und so beginnt Mélodie, sich mit ihren weißen Turnschuhen einen Weg durch das Unkraut frei zu trampeln und zu treten. Die Schuhe sind in Paris gekauft und nicht mehr weiß. Sie macht große Schritte. Sie merkt, dass sich der Boden unter ihren Füßen allmählich senkt. Eine der Eschen zittert zwischen ihr und der Sonne wie ein sehr dünner Vorhang, der um ihren Kopf gezogen ist.

Jetzt ist sie unsichtbar. Weder die Lehrerin noch die anderen Kinder können sie sehen. Sie, die anderen – jeder Einzelne von ihnen –, haben das mit den alten Frauen gewusst, die unter ihren schweren Röcken Würmer ausbrüten, weiße Würmer am weißen Fleisch ihrer Bäuche, ihrer Schenkel, aber keiner ist bis hierher vorgedrungen, hat gewagt, hierherzukommen und das Unkraut zu prügeln, es niederzutrampeln und sich einen Weg zu bahnen bis …

… zu einem kurvigen Strand mit grauen Steinen und feinem Kies. Und dort, noch hinter dem Kies, gleitet strudelnd ein schmaler Bach an großen Felsblöcken vorbei. Kein Fluss. Tut aber wie ein Fluss, spricht mit sich selber in der Sprache eines Flusses, ist aber von der Hitze zu einem Bächlein geschrumpft. Libellen flitzen über die hohen Steine. Eschenblätter fallen von den Bäumen und schwimmen auf dem Wasser.

Mélodie läuft über den Kies bis zum Bachrand. Sie bückt sich und taucht ihre Hände ein, wäscht den Dreck ab, herrlich, wie kühl, wie kalt, wie fast eisig das Wasser ist. Was für ein aufregendes Gefühl mit einem Mal. Da steht sie nun, unsichtbar im hübschen Baumschatten, unsichtbar und geschützt, als hätte sich das dunkelgrüne Unkraut hinter ihr wieder aufgerichtet und ihr den Rückweg versperrt.

Fast glücklich läuft sie am schmalen Strand entlang, folgt dem Bach bis zur Biegung. Und sie läuft um die Biegung und sieht, dass das Wasser völlig überraschend in einen tiefen, seegrünen Weiher fließt. Sie starrt auf den Weiher. Ein Bach, der wieder ein Fluss zu sein versucht! Also kann auch die Natur ein Gedächtnis haben – kann sie das wirklich? –, genau wie sie, Mélodie, ein Gedächtnis hat und sich an das erinnert, was eigentlich aus ihr hätte werden sollen und wo. Denn so kommt es ihr vor, es ist, als ob der Bach sich nach dem Weiher gesehnt hätte. Es war ihm peinlich, nur ein Bächlein, ein Rinnsal zu sein. Er war vielleicht sogar traurig, bedrückt, genau wie sie selbst, das »Herz war ihm schwer«, wie Maman es nennen würde. Aber jetzt, wo er mit dem großartigen, tiefen Weiher vereint ist, weiß er, dass er nach Hause gekommen ist.

Eine ganze Weile steht Mélodie da und schaut. Dann überkommt sie plötzlich eine große Lust, ihren juckenden, sonnenverbrannten Körper im Wasser zu baden. Sie schaut sich um, halb darauf gefasst, dass die Lehrerin durch den Vorhang der jungen Bäume tritt. Aber da ist niemand.

Schuhe. Jeans. T-Shirt. Sie zieht alles aus, bis auf eine kleine rot-weiße Unterhose, die aus dem Monoprix auf den Champs-Elysées stammt. Dann klettert sie auf den ersten der Felsblöcke, die sie vom Weiher trennen. Und nun hüpft sie geschickt von Felsblock zu Felsblock bis zu dem höchsten, der mitten im Bach steht, und ihr fällt ein, wie ihr Trainer im Schwimmclub zu den anderen Kindern sagte: »Seht euch Mélodie an. So möchte ich, dass ihr alle ausseht, wenn ihr taucht: wie ein Vogel, anmutig und leicht.«

Und also wird sie jetzt tauchen. Sie setzt ihren nackten Fuß an die Kante des hellen Steins. Sie will gerade zu einem sauberen Kopfsprung ansetzen, will gerade in die belebende Kühle des Weihers eintauchen, als sie … im äußersten Augenwinkel etwas sieht, das dort nicht sein sollte. Auf den ersten Blick erkennt sie nicht, was es ist. Sie muss noch einmal hinsehen. Sie muss hinstarren.

Und dann beginnt sie zu schreien.

Der Wandteppich (»Französisch, ländliche Szene, spätes Louis XV, Aubusson«) zeigte eine Gruppe elegant gekleideter Aristokraten, die im Schatten breitblättriger Bäume im Gras saßen. Zwei Bedienstete, ein älterer Mann und eine junge Frau, näherten sich der Gruppe mit Fleisch, Brot, Wein und Früchten.

Ein Hund lag schlafend in der Sonne. Im Hintergrund (»Partielle Abnutzungen, Webstruktur leicht verhärtet«) war eine Wiese voller Blumen zu erkennen. Der Rand war aufwendig gestaltet (»Herkömmliche Randmusterung: Wappen, Rosen, Eichenblätter«), die Farben (»Rot, Blau und Grün auf neutralem Grund«) wirkten dezent und ansprechend.

An einem kalten Frühlingsmorgen stand Anthony Verey in seinem Londoner Laden, Anthony Verey Antiquitäten, wärmte sich die Hände an einem Becher mit Kaffee und schaute zu seinem Wandteppich hoch. Der Teppich war schon lange in seinem Besitz. Vier Jahre? Fünf ? Ersteigert auf einer Privatauktion in Suffolk. Er hatte ihn so unbedingt haben wollen, dass er mehr als tausend Pfund über den Mindestpreis von sechstausend Pfund gegangen war, und als er im Laden angeliefert wurde, ließ erihn ganz hinten an die Wand hängen, gegenüber vom Schreibtisch, an dem er in letzter Zeit ständig saß und so tat, als hätte er irgendwelche Arbeiten zu erledigen. In Wirklichkeit aber bewachte er in einem Zustand leichter Tagträumerei seine herrlichen Besitztümer – seine Lieblinge, wie er sie nannte –, und manchmal schaute er an ihnen vorbei zum Fenster und beobachtete die Fußgänger auf der Pimlico Road.

Als der Wandteppich erst einmal aufgehängt war, fand Anthony die Vorstellung, das Stück zu verkaufen, zunehmend beunruhigend. Der angesetzte Verkaufspreis – 14 000 Pfund – sollte mögliche Käufer abschrecken, tatsächlich existierte dieser Preis allerdings nur in Anthonys Kopf, er stand nirgendwo. Manchmal behauptete er, nach dem Wandteppich gefragt, er besitze ihn gar nicht, habe ihn nur in Verwahrung. Manchmal verkündete er, der Verkaufspreis bewege sich »in der Gegend von 19 000 Pfund«, und wartete gespannt auf das Zusammenzucken der Interessenten. Und manchmal erklärte er geradeheraus, der Teppich stehe nicht zum Verkauf. Er war sein: sein eigener Louis XV Aubusson. In seinem tiefsten Herzen wusste Anthony, dass er sich nie von ihm trennen würde.

Anthony war ein Mann von vierundsechzig Jahren, mittelgroß und mit dichtem grauen, welligen Haar. Heute trug er einen roten Rollkragenpullover aus Kaschmir unter einem weichen braunen Tweedjackett. Es war nie sehr warm im Laden, denn bei Temperaturen über fünfzehn Grad neigten die Lieblinge dazu, abzuplatzen, sich zu verziehen, auszubleichen oder zu reißen. Anthony selbst fürchtete jedoch die Kälte, hager wie er war. Er hatte an seinem Schreibtisch einen schweren alten Ölradiator stehen, der an Winternachmittagen kameradschaftlich knackte. Er trank eine Menge sehr heißen, gelegentlich mit Kognak gewürzten Kaffee. Er trug Thermosocken. Manchmal sogar einen Schal und wollene Handschuhe.

Er wusste, dass dieses umständliche Theater um die Lieblinge exzentrisch war, doch das kümmerte ihn nicht. Anthony Verey hatte keine Ehefrau, weder männliche noch weibliche Geliebte, keine Kinder, Hunde oder Katzen. Im Laufe seines Lebens hatte er all das in unterschiedlichen Paarungen und Kombinationen besessen – alles außer einem Kind. Doch jetzt war er allein. Er war zu einem Mann geworden, der Einrichtungsgegenstände liebte und sonst nichts.

Anthony trank den Kaffee in kleinen Schlucken. Sein Blick ruhte noch immer auf dem Wandteppich mit den Aristokraten, die rechts, vor den Bäumen, saßen, während die Bediensteten sich von links näherten. Der schlafende Hund und die fröhlichen, erwartungsvollen Gesichter der Menschen sprachen von einem Augenblick ungestörter, genussvoller Zufriedenheit. Gerade wurde das Mittagessen gebracht. Die Sonne brannte vom Himmel.

Aber da war noch etwas. Ganz am Rand der Szene, in der äußersten rechten Ecke, fast zwischen Laubwerk verborgen, war ein finsteres Gesicht zu erkennen, das Gesicht einer alten Frau. Auf ihrem Kopf saß eine schwarze Mütze. Sie richtete einen außerordentlich bösen Blick auf die Menschen im Gras. Aber niemand schenkte ihr auch nur die geringste Beachtung. Es war, als nähmen sie die Frau einfach nicht wahr.

Immer wieder ertappte Anthony sich dabei, wie er das Gesicht dieser alten Frau ausgiebig studierte. War sie Teil des ursprünglichen Entwurfs? Sie schien unwirklich zu sein: ein körperloses Gesicht, eine knotige Hand am Kinn, der ganze übrige Körper von Bäumen verborgen. Hatten die Tapisserieweber (»Wahrscheinlich aus der Werkstatt des Pierre Dumonteil, 1732-1787«) sich ihre monotone Arbeit dadurch angenehmer gemacht, dass sie dieses kleine, aber aufschlussreiche Detail aus eigenem Entschluss hinzugefügt hatten?

Anthony trank den letzten Rest Kaffee und wollte gerade an seinen Schreibtisch gehen, um eher halbherzig die wöchentlichen Abrechnungen zu erledigen, als ihm etwas Besonderes ins Auge fiel. Ein loser Faden im Gewebe.

Eine der Halogenlampen schien direkt auf die Stelle. Der schwarze Faden hing über der Stirn der Frau, als handelte es sich um eine Haarsträhne des alten Weibs. Anthony setzte seinen Becher ab. Er streckte die Hand aus und nahm den feinen, seidenen Faden zwischen Daumen und Zeigefinger.

Der Faden war kaum einen Zentimeter lang. Er fühlte sich außerordentlich weich an, und Anthony ließ seine Hand dort oben, rieb den Faden eine Weile, vielleicht eine Minute, es hätten aber auch drei Minuten oder vier oder sogar sieben sein können, auf jeden Fall so lange, dass ihm die schockierende und unumstößliche Tatsache, die das Leben ihm da ganz plötzlich offenbart hatte, voll ins Bewusstsein dringen konnte: Wenn er starb, würde er nicht das kleinste Fragment, keine einzige Scherbe von auch nur einem seiner Lieblinge mit ins Grab nehmen können. Und falls sich herausstellen sollte, dass es irgendein Jenseits gab, was er bezweifelte, hätte er gar nichts dabei, das ihn dort trösten könnte, nicht einmal diesen schwarzen Seidenfaden, der keinen Zentimeter lang war.

Die Türglocke ertönte und weckte Anthony aus diesem Trancezustand, den er, in all den kommenden Tagen und Wochen, im Nachhinein für überaus bedeutsam halten sollte. Ein Mann im Nadelstreifenanzug und mit rosafarbener Krawatte betrat das Geschäft. Er blickte sich um. Kein Händler, entschied Anthony sofort, nicht einmal ein privater Sammler, nur einer der reichen Ahnungslosen, die erst dieses und dann jenes anschauen und gar nicht wissen, was sie da sehen …

Anthony wartete, bis der Ignorant beim teuersten Objekt des Ladens angelangt war, einem Konsoltischchen aus vergoldetem Holz mit Marmorplatte (»Platte mit Marmoreinlagen und Umrandungen im verde-antico-Dekor, erstes Viertel 19. Jh., italienisch. Das vergoldete Gestell und die stützenden stehenden Atlasfiguren drittes Viertel 18. Jh. Ebenfalls italienisch.«), und näherte sich ihm dann langsam.

»Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«

»Ja«, sagte der Mann, »wahrscheinlich. Ich suche nach einem Hochzeitsgeschenk für meine Schwester. Sie kaufen sich ein Haus in Fulham. Ich würde ihnen gern etwas … ich weiß nicht … vielleicht für die Diele schenken. Etwas, das allen … ähm … auffällt.«

»So«, sagte Anthony. »Für die Diele. Nun …«

Er registrierte, wie der Mann mit großen Augen die vergoldeten Atlasfiguren anstaunte, weshalb er direkt zu dem Konsoltischchen ging und liebevoll über die Marmorplatte strich. »Das ist ein Prachtexemplar«, sagte Anthony, und seine Stimme hatte noch immer diesen nicht ganz feinen Akzent, nur hatte er es inzwischen aufgegeben, ihn zu unterdrücken. »Ein absolutes Traumschiff. Aber es braucht Raum für einen angemessenen Auftritt. Wie groß ist denn die Diele Ihrer Schwester?«

»Keine Ahnung«, sagte der Mann. »Hab sie noch nicht gesehen. Aber die goldenen Cherubim oder was das da sein soll, die gefallen mir. Machen ordentlich was her! Und … ähm … der Preis?«

Anthony setzte seine Brille auf, bückte sich und suchte eine ganze Weile nach dem Schildchen, das an dem marmornen Sockel mit den stehenden Atlasfiguren klebte. Er richtete sich wieder auf und sagte ohne jedes Lächeln: »Achtundzwanzigtausend.«

»Okay«, sagte der Mann und befingerte die rosafarbene Seidenkrawatte mit seiner fleischigen Hand. »Ich werde noch mal drüber nachdenken. Ich hatte wohl eher auf ein Schnäppchen gehofft.«

»Ein Schnäppchen?«, sagte Anthony. »Vergessen Sie bitte nicht, wir sind hier in Pimlico.«

Pimlico.

Nein, nicht direkt Pimlico. Immer noch Chelsea. Das westliche Ende der Pimlico Road, London SW 3, Anthonys Zuhause, seine Wohngegend, sein Leben seit nunmehr vierzig Jahren, der Ort, wo ihn sein Wissen, seine Schlauheit, sein Charme einmal hatten reich werden lassen. Nicht nur reich. Hier war er zum Star der Antiquitätenwelt geworden. Händler sprachen seinen Namen mit Ehrfurcht aus: Anthony Verey; der Anthony Verey. Keine wichtige Auktion, kein Privatverkauf, keine Vernissage einer Galerie hätte stattfinden können, ohne dass er eingeladen worden wäre. Er kannte sie alle: kannte ihren Platz in der Hierarchie der Händler und Besitzer, ihre Schwachstellen, ihre Misserfolge, ihre unerträglichen Triumphe. In diesem kleinen, aber opulenten Reich agierte er wie ein verwöhnter Prinz, der Invidia den Hof machte.

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms hatte er sich einst allein durch die Aufzählung all der Menschen, die ihn beneideten – ein Name köstlicher als der andere –, in den Schlaf zaubern können.

Und jetzt, an diesem kalten Frühlingsmorgen, hatte er plötzlich gesehen … ja, was eigentlich? Er hatte gesehen, wie einsam alles war. Nicht nur der Mann, der einst ein Prinz, einst der Anthony Verey gewesen war. Sondern auch all die Lieblinge, all diese Wunder, die mit solcher Sorgfalt, solcher Hingabe erschaffen worden waren … diese Dinge, die schon so lange existierten, schon so vieles überdauert hatten … selbst sie hatten etwas Tragisches in ihrer Vereinzelung, ihrer Einsamkeit. Sicher, er wusste durchaus, dass dies ein sentimentaler Gedanke war. Möbel konnten nicht fühlen. Aber man konnte für sie fühlen. Man konnte ängstlich dem Tag entgegensehen, an dem man das Objekt gehen lassen, es der Ignoranz und Nachlässigkeit anderer Menschen ausliefern musste. Ganz besonders heute, in Zeiten wie diesen, da solche Objekte generell nicht mehr wertgeschätzt, sondern einer alten, längst irrelevanten Welt zugerechnet wurden. Was erwartete sie? Was wartete da?

Anthony saß jetzt an seinem Schreibtisch auf einem harten Windsor-Stuhl, den immer noch schmalen Hintern allerdings sorgfältig auf ein grünes Seidenkissen platziert. Dieses bei Peter Jones gekaufte Kissen hatte sich seinem Hinterteil inzwischen so perfekt angepasst, dass er es nur noch selten aufzuschütteln oder abzustauben wagte. Niemand kam mehr in den Laden. Draußen der Tag war lichtlos.

Anthony holte sein Hauptbuch mit den Einnahmen und Ausgaben aus dem Regal, setzte seine Brille auf und starrte auf die Zahlenreihen. Das Hauptbuch war alt und dick und abgegriffen, eines von sieben, die alles an von ihm dokumentierter Geschichte enthielten: jede Erwerbung, jeden Verkauf, jede Steuerzahlung, jede Ausgabe. In den Hauptbüchern 2 bis 5 standen all die atemberaubenden Zahlen. In Buch 6 begannen die Preise ebenso wie die Anzahl der Verkäufe in beängstigend steiler Kurve zu sinken. Und nun, in Hauptbuch 7 … tja, alles, was ihm zu tun blieb, war schlicht und einfach, nicht auf die untersten Zeilen zu schauen.

Er blickte auf die Verkäufe im Monat März: ein mittelmäßiges Porträt (»Englische Schule, frühes 18. Jh. Sir Comus Delapole, Kronanwalt, und Lady Delapole. Pastell, mit Aquarelleinschüben«), ein Majolikakrug (»Oval, 17. Jh., italienisch, mit dichtem Rankenblattwerk verziert«), eine silberne George-III-Teekanne, (»Runder Korpus mit graviertem Anthemienband und Zickzackmuster«) und – das einzige Stück von wirklichem Wert – ein kleiner Regency-Mahagonitisch, von dem er sich nicht besonders gern getrennt hatte. Alle Objekte zusammen hatten ihm etwas weniger als 4 000 Pfund eingebracht; kaum genug, um die monatliche Miete und die Unterhaltskosten für den Laden zu zahlen.

Jämmerlich.

Mit leichtem Bedauern überlegte Anthony, ob er sich nicht doch mehr Mühe hätte geben und das elegante italienische Konsoltischchen dem Mann mit der rosa Krawatte verkaufen sollen, der am Ende gar nichts erworben und, wie ihm nicht entgangen war, schleunigst David Linleys Geschäft auf der anderen Straßenseite aufgesucht hatte. Er wusste, dass nicht nur der Preis des Tischchens, sondern auch seine eigene unverhohlene Verachtung diesen Menschen vertrieben hatte, genau wie so viele andere Kunden zuvor. Doch daran war nichts zu ändern. Tatsache war, dass Anthony seine Verachtung genoss. Diese Verachtung – die einem Spezialistenwissen oder, wie er es für sich nannte, einer Geheimwissenschaft entsprang – hatte er in vierzig Jahren perfektioniert, und jetzt bildete sie eines der wenigen Vergnügen, die ihm geblieben waren.

Anthony stützte den Kopf in die Hände. Er griff sich ins Haar. Immerhin, das besaß er noch: Er besaß noch sein Haar. Er mochte ja vierundsechzig sein, aber seine Haarpracht war fantastisch. Und was ihm am meisten daran gefiel, war natürlich der Neid, den das volle Haar unter seinen Freunden weckte – den wenigen, die er noch besaß –, die die Scham über ihre blanken, rosigen Schädel tagein, tagaus ertragen mussten. Und jetzt überraschte er sich bei dem heimlichen Eingeständnis, das er allerdings schon viel früher hätte machen können: Der Neid der anderen – diese verflixte Invidia, zu der die Menschheit auf so zerstörerische Weise neigte – war wirklich und wahrhaftig das gewesen, was ihn am Leben gehalten hatte. Diese Erkenntnis war zwar nicht weltbewegend, aber sie traf zu. Geliebte beiderlei Geschlechts und kurzfristig sogar eine Ehefrau namens Caroline, sie alle waren gekommen und gegangen, nur die Bewunderung und der Neid anderer Menschen waren geblieben, hatten ihn bei der Arbeit und in den Ruhepausen begleitet, ihn genährt und gestreichelt, ihm das Gefühl gegeben, dass sein Leben einen Sinn und einen Zweck hatte. Und jetzt war auch das vorbei.

Mitleid war an seine Stelle getreten. Alle wussten, wie er strampelte und dass er womöglich unterging. Sicherlich diskutierten sie es bei ihren feinen Soupers: »Wer will denn noch braune Möbel? Inneneinrichtungen sehen doch heute völlig anders aus. Anthony Verey muss in ernsthaften Schwierigkeiten sein …« Und natürlich gab es viele, die ihn stürzen sehen wollten. Hunderte. Schlösse das Geschäft, wie würde da manch einer triumphieren …

Bittere Gedanken. Anthony wusste, dass er auf irgendeine Weise standhalten, weiterkämpfen musste. Aber wer oder was würde ihm helfen? Wo sollte er noch einen Sinn entdecken? Ihm schien, dass da draußen, jenseits der Grenzen seines Geschäfts, in dem die Lieblinge sich um ihn drängten und ihn beschützten, heutzutage nichts als herzlose Wüste war.

Sein Telefon klingelte.

»Anthony«, sagte eine forsche, aber freundliche und vertraute Stimme, »ich bin’s, V.«

Wie nach einer Adrenalininjektion schoss blitzartig ein Gefühl dankbarer Erleichterung durch Anthonys Adern. Seine Schwester Veronica war die einzige Person auf der Welt, für die Anthony Verey so etwas wie echte Zuneigung empfand.

Im selben kalten Frühling lief Audrun Lunel, eine Frau, die ihr Cevennen-Dorf La Callune in vierundsechzig Jahren nie verlassen hatte, ganz allein durch einen Wald aus Eichen und Kastanien.

Nach den Anweisungen ihres Vaters (»Meiner Tochter, LUNEL, Audrun Bernadette, vermache ich in seiner Gesamtheit das Waldstück, das mit Salvis 547 gekennzeichnet ist … )« gehörte der Wald, dieses atmende, wunderschöne Etwas, ausschließlich ihr, und Audrun kam oft allein hierher, um unter ihren Gummistiefeln den Waldboden mit seinem Teppich aus Blättern, Eichel-und Kastanienschalen zu spüren, um die Bäume zu berühren, durch die Äste in den Himmel zu schauen und um sich zu vergewissern, dass dieser Ort »in seiner Gesamtheit« der Ihre war. Audruns Erinnerungen an diesen Wald schienen weit hinter alle Zeit zurückzureichen oder über alle Zeit hinaus, jedenfalls über das hinaus, was die Leute »Zeit« nannten – Zeit in ihrer Linearität, mit ihren aufgereihten Jahren, ihren Zwängen. Für Audrun hatte es diese Erinnerungen schon immer gegeben.

Sie wusste, dass sie oftmals verwirrt war. Die Leute sagten es ihr. Freunde, Ärzte, sogar der Priester, sie alle sagten es: »Du bist manchmal verwirrt, Audrun.« Und sie hatten Recht. Es gab Augenblicke, in denen das Bewusstsein oder die Existenz oder was auch immer das Lebendigsein ausmachte, Augenblicke, in denen es … stockte. Manchmal fiel sie um – wie einst ihre Mutter Bernadette, die in Ohnmacht fiel, wenn der Wind aus Norden blies. Zu anderen Zeiten sah und hörte sie die Dinge, die da waren, durchaus, aber so, als würde sie alles aus einer seltsam beängstigenden Entfernung wie durch Glas hören und sehen, und dann, nur einen Augenblick später, wusste sie nicht mehr genau, was sie gerade gesehen oder gehört hatte. Sie hatte danach das Gefühl, ganz woanders gewesen zu sein.

Episoden nannte der Arzt das. Kurze Episoden des Gehirns. Und der Arzt – oder die Ärzte, denn es war nicht immer derselbe – gab ihr Tabletten, und sie nahm sie. Sie lag in ihrem Bett und schluckte Tabletten. Die legte sie sich auf die Zunge wie eine Kommunionsoblate. Sie versuchte sich vorzustellen, dass sie nun verklärt würde. Sie lag in der Cévenoler Nacht, horchte auf die Zwergohreule, auf das Atmen der Erde und versuchte, ein Bild für die Chemie in ihrem Blut zu finden. Für sie war es ein Fluss, ein marmorierter Wirbel aus Purpur, Scharlach und Weiß; die Farben trieben in Strängen, dehnten sich, wie Wolken, zu fast-erkennbaren Gestalten. Manchmal fragte sie sich, ob diese bildhaften Vorstellungen vielleicht unangebracht waren. Man hatte ihr gesagt, ihr Verstand neige dazu, »unangebrachte Ideen« zu fabrizieren. Und er konnte sich tatsächlich furchtbare Dinge vorstellen. Er konnte sich, zum Beispiel, Folter vorstellen. Er konnte ihre Feinde, an den Füßen mit Draht zusammengebunden, verkehrt herum in den nicht mehr benutzten alten Brunnen von La Callune hängen sehen. Dieser Draht schnitt ihnen ins Fleisch. Blut tropfte aus ihren Augen. Das Wasser in dem Brunnen stieg und stieg …

»Feinde, Audrun? Du hast doch keine Feinde«, sagten die Leute von La Callune.

Aber sie hatte Feinde. Ihre engste Freundin, Marianne Viala, kannte ihre Namen. Die Tatsache, dass einer dieser Feinde längst auf dem Friedhof begraben lag, befreite seine verhasste Gestalt nicht von dem Etikett Feind. Oft schien es Audrun, dass die Toten, wenn sie ihre feste Form verloren, sehr beweglich wurden und nicht nur in die eigenen Träume, sondern sogar in die Luft, die man atmete, einsickern konnten. Man konnte sie schmecken und riechen. Manchmal konnte man ihre widerliche Hitze spüren.

Audrun lief weiter. Ihre Augen waren immer noch scharf, sie ließen nicht nach, außer wenn eine Episode heraufzog und die Gegenstände und Gesichter sich zu dehnen und zu verziehen begannen. Heute konnte sie Vorboten des Frühlings ausmachen, klar und deutlich und hell: fast durchsichtige Blättchen an den Kastanien, Hundszahnlilien am Fuß der Baumstämme, Kätzchen an einem Haselnussstrauch. Auch ihre Ohren hörten noch gut. Sie konnte den Ruf des Fitislaubsängers erkennen, sich vom Quietschen ihrer Gummistiefel gestört fühlen. Und jetzt blieb sie mitten im Wald stehen und blickte auf die Erde.

Was die Erde anging, da konnte man sie nicht täuschen, das wusste sie. Über die Erde ihrer geliebten Cevennen produzierte sie nie unangebrachte Gedanken. Die Dinge entstanden nach einem festen Muster, und sie – Audrun Lunel, ein Kind des Dorfes La Callune – kannte dieses Muster sehr genau. Feuersbrünste oder Wasserfluten konnten kommen (und taten es oft) und alles hinwegfegen. Und doch fiel weiter Regen und wehte der Wind. In den Spalten und an den Wänden von nacktem Felsgestein sammelten sich winzige Partikel von Materie: Fasern toter Blätter, Reste von verkohltem Ginster. Und in der Luft schwebten, fast unsichtbar, Staubflöckchen und Sandkörner, und die sanken zwischen das Geröll und bildeten ein Nest für die Sporen von Flechten und Moosen.

Innerhalb einer einzigen Jahreszeit konnte der abgebrannte oder kahl gewaschene Kalkstein wieder grün werden. Und dann, während der Herbststürme, fielen mit den Regengüssen, die am Mont Aigoual niedergingen, Beeren und Samen auf die Flechten und schlugen Wurzel. Buchsbaum und Farn begannen dort zu wachsen und bald auch Holzbirnen, Weißdorn, Kiefern und Buchen. Und so ging es immer weiter: vom nackten Stein zum Wald, in einer einzigen Generation. Immer weiter und weiter.

Aber auch Verstöße gegen das Gesetz waren möglich.

»Die Menschen können kommen und dich bestehlen, Audrun«, hatte ihre Mutter Bernadette vor langer Zeit geflüstert. »Fremde können kommen. Und andere, die vielleicht keine Fremden sind. Alles, was existiert, kann gestohlen oder zerstört werden. Und darum musst du wachsam sein.«

Sie hatte sich bemüht, niemals in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Seit sie fünfzehn war – damals war Bernadette gestorben –, hatte Audrun Lunel die Anweisung ihrer Mutter befolgt. Selbst im Schlaf noch hatte sie die große Erschöpfung der wachsamen Beobachterin gespürt. Aber es hatte nicht gereicht, um sie zu retten.

Die Sonne schien warm. Es war ein Frühlingstag wie einst in ihrer Kindheit, wenn sie auf der Treppe saß, die zu der schweren Haustür führte, und auf den Brotwagen wartete.

Hunger.

Allein mit ihrem Willen konnte sie sich seine Macht vergegenwärtigen. Sie war vier oder fünf Jahre alt. Sie brachte die beiden Brotlaibe vom Lieferwagen in die Küche, in der es kühl und still war. Aber sie konnte sich nicht von dem Brot trennen. Sie brach einen Laib durch und begann, sich das knusprige weiße Brot in den Mund zu stopfen.

Solch ein herrliches Brot! Aber dann hatte ihr älterer Bruder Aramon sie entdeckt, hatte sie geschnappt und ihr gesagt, sein Vater Serge werde sie mit dem Gürtel verprügeln. Sie schob das angebrochene Brot weg. Wünschte verzweifelt, es würde wieder ganz werden. War erschrocken, weil es sie in Versuchung geführt hatte. Und dann hatte Aramon sie auf einen Stuhl gesetzt und ihr etwas Furchtbares erzählt: dass sie gar nicht zu dieser Familie gehörte und nicht einmal das Recht auf ein Stück Brot hatte, das sie so teuer kaufen mussten. Weil sie das Kind von einem anderen war.

1945, als sie erst wenige Tage alt war – »ein stinkendes Baby«, sagte er –, sei sie von ihrer Mutter in Lumpen gewickelt auf den Stufen des Karmeliterklosters in Ruasse ausgesetzt worden. Ihre Mutter sei eine Kollaborateurin gewesen. Und die Nonnen hätten sie nicht behalten wollen. Ein Kind der Sünde sei sie gewesen. Die Nonnen seien von Dorf zu Dorf gezogen und hätten gefragt, ob jemand ein Baby wolle, ein Mädchen. Ob irgendjemand bereit sei, für ein hässliches Baby mit einem Bauchnabel wie ein Schweineschwänzchen zu sorgen. Aber niemand habe sie gewollt. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, habe das Baby einer Kollaborateurin mit einem Bauchnabel wie ein Schweineschwänzchen gewollt – außer Bernadette.

Bernadette sei ein Engel gewesen, prahlte Aramon, seine Mutter, dieser Engel. Und sie habe Serge dazu gebracht, dass er ihr erlaubte, das Baby zu adoptieren. Adoptieren war das Wort, das Aramon benutzt hatte, als er diese Geschichte erzählte. Er sagte, Serge habe geschrien und nein gebrüllt, er habe schon ein Kind – seinen Sohn, Aramon –, und das allein zähle für ihn, und was um Himmels willen sie bloß mit einem quengelnden Mädchen wolle?

Aber Bernadette habe ihn – Gott weiß, warum – Tag und Nacht angefleht. Sie habe das vor dem Tor der Karmeliterinnen ausgesetzte Baby unbedingt zu sich nehmen wollen. Und am Ende habe sie gewonnen. Gott weiß, warum. Und so seien sie dann alle zu Fuß nach Ruasse gelaufen und hätten das bitterkalte Kloster betreten und gehört, wie das Babygeschrei von den bitterkalten Wänden widerhallte, und hätten sie mit nach Hause genommen, und sie habe den Namen der Äbtissin des Karmeliterinnenklosters bekommen: Audrun.

»Und das warst du«, schloss Aramon seine Geschichte. »Adoptiert. Hast du verstanden? Und jetzt wird dir mein Vater den Hintern versohlen, weil du unser Brot gegessen hast. Weil er mit Dingen, die nicht sein sind, kein Erbarmen hat.«

Lange Zeit glaubte Audrun diese Geschichte, und ihr Bruder Aramon sorgte dafür, dass sie sie nicht vergaß.

»Du hast dich doch bestimmt gefragt, wer dein Vater ist, Audrun. Oder?«

Ja, das hatte sie. Sie wusste, dass Babys zwei Personen als Eltern haben mussten, nicht nur eine. Jeder in La Callune hatte zwei Eltern, außer denen, die ihre tapferen Väter im Krieg »verloren« hatten. Also fragte sie Aramon: »War mein Vater einer von den ›verlorenen‹ Männern?«

»O ja«, lachte er, »verloren an das Böse! Und jetzt verloren an die Hölle! Er war ein Deutscher. Ein SS-Mann. Und deine Mutter war eine putain de collabo. Deswegen hast du einen Bauchnabel wie ein Schweineschwänzchen.«

Sie begriff nicht, was all das zu bedeuten hatte, nur, dass sie sich offenbar schämen sollte. Aramon sagte, die Leute von Ruasse hätten ihrer Mutter das Haar abrasiert (nicht das Haar ihrer Mutter Bernadette, sondern das Haar dieser anderen Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, der Kollaborateurin), hätten ihr die langen blonden Haare abrasiert und sie nackt über den Markt getrieben, und die Markthändler hätten ihre Brüste mit Fischabfällen beworfen, denn so machte man das mit Frauen, die mit deutschen Soldaten »gingen«, das war ihre Strafe, das und die Geburt von verstümmelten Kindern mit Schweineschwänzen, die aus ihren Bäuchen wuchsen.

Hunger.

Nach Brot an jenem Tag damals. Und nach Nähe.

Klein-Audrun saß im Staub des Hühnergeheges, wo die Bantams scharrten. Sie versuchte, das kleinste Huhn in ihre mageren Arme zu nehmen. Sie konnte sein verängstigtes Herz klopfen fühlen und sah, wie es mit seinen runzeligen Krallen, die wie junge Maiskolben aussahen, in der Luft ruderte. Nicht einmal das Zwerghuhn wollte ihr nahe sein. Sie war die Tochter einer putain de collabo und eines deutschen Soldaten der SS. Im benachbarten Pont Perdu waren neunundzwanzig Menschen von deutschen Infanteristen in einer »Vergeltungsoperation« getötet worden, und ihre Namen waren in ein Denkmal aus Stein eingraviert, einen Bildstock hinter dem Fluss, und es wurden dort Blumen hingelegt, Blumen, die nicht echt waren und nie starben.

Audrun zog die alte, ausgefranste Strickjacke fester zusammen und schlenderte, das Gesicht in die wärmende Sonne gereckt, weiter durch den Wald. Noch einen Monat, und die Schwalben würden da sein. In der Stunde vorm Dunkelwerden würden sie ihre Kreise ziehen, nicht über ihrer Kate mit dem niedrigen Wellblechdach, sondern über Mas Lunel, wo Aramon immer noch wohnte. Sie würden nach Nistplätzen unter den Ziegeln und in den rissigen Steinwänden Ausschau halten, und Audrun würde am Fenster ihrer Wohnbaracke stehen oder in ihrem kleinen potager das Bohnenbeet aufhacken, dabei den Vögeln zuschauen und beobachten, wie die Sonne am Ende eines Tages abermals unterging.

Sie würde sehen, wie das Neonlicht – diese alte grünliche Leuchtröhre – in der Küche anging, und sich ausmalen, wie ihr Bruder vor seinem elektrischen Herd hin und her stolperte und lardons zu braten versuchte, dabei große Schlucke aus seinem Rotweinglas nahm, die Asche seiner Zigarette ins Fett der Bratpfanne fallen ließ, dann direkt aus der Flasche trank, wobei sein stoppeliges Gesicht jenes einfältige Grinsen zeigte, das immer dann erschien, wenn der Wein seine Sinne berauschte. Er würde mit zitternder Hand die angebrannten lardons und ein verkohltes Spiegelei zu essen versuchen, alles in sich hineinschaufeln, während eine weitere Zigarette auf der Untertasse verglimmte und die Hunde draußen in ihrem Drahtverhau die Nacht anheulten, weil er vergessen hätte, sie zu füttern …

Im oberen Stock lebte er im Dreck. Trug seine Kleider, bis sie stanken, hängte sie dann vors Fenster, damit der Regen sie wusch, die Sonne sie lüftete. Und er war stolz darauf. Stolz auf seine »Findigkeit«. Stolz auf die abstrusesten Dinge. Stolz, dass sein Vater Serge ihm den Namen einer Traubensorte gegeben hatte.

Was für ein Bruder!

Wer war deine Mutter, Audrun?

Putain de collabo.

Wer war dein Vater?

Ein SS-Arschloch.

Sie war zu ihrer anderen Mutter Bernadette gegangen, hatte eine Schere mitgenommen und Bernadette gebeten, den Schweineschwanz abzuschneiden. Und die Mutter nahm sie in die Arme, küsste sie auf den Kopf und sagte, ja, da werde sie sich drum kümmern. Sie würden ins Krankenhaus von Ruasse gehen, und die Ärzte würden alles »sauber und ordentlich« machen. Aber Ärzte seien teuer, und das Leben hier in La Callune sei hart, und sie würde Geduld haben müssen.

Also fragte Audrun geduldig: »Wer war meine andere Mutter, die collabo? Ist sie gestorben? Wurde sie verkehrt herum in einem Brunnen aufgehängt, die Füße mit Draht zusammengebunden?«

Bernadette begann zu lachen und zu weinen, beides gleichzeitig, und setzte Audrun auf ihre Knie und schmiegte Audruns Kopf an ihre Schulter. Dann schob sie die Träger ihrer Schürze herunter, öffnete ihre Bluse und zeigte Audrun eine weiße Brust mit der bräunlichen Brustwarze. »Ich bin deine Mutter«, sagte sie. »Ich habe dich gestillt, hier an meiner Brust. Was soll dieser Unsinn mit collabos? Die gab es nicht in La Callune, und du darfst das Wort nicht benutzen. Ich bin deine Mutter, und hier, da hast du genuckelt. Fühl mal.«

Audrun legte ihre kleine Hand auf die Brust, die sich weich und warm anfühlte. Nur zu gern hätte sie den Worten ihrer Mutter geglaubt, die tröstlich waren wie Brot, aber Aramon hatte sie gewarnt: »Bernadette wird dich anlügen. Alle Frauen lügen. Sie stammen von Hexen ab. Sogar Nonnen haben Hexen als Mütter. Nonnen lügen über sich selbst, über ihre Keuschheit …«

Also nahm sie ihre Hand wieder weg, kletterte von Bernadettes Schoß und lief fort.

Doch das ärgerte Bernadette. Sie folgte ihr, nahm sie hoch und sagte: »Du gehörst mir, Audrun. Mein Mädchen, mein kleiner Schatz. Das schwöre ich bei meinem Leben. Du wurdest an einem frühen Morgen geboren, und ich hielt dich in meinen Armen, und die Sonne schien durchs Schlafzimmerfenster und in meine Augen.«

Audrun stand jetzt vor einem Esskastanienbaum, und, wie in jedem Frühling, rührte sie der Anblick der neuen Blätter. Als sie klein war, hatte ihre Familie die Schweine mit Kastanien gefüttert, und die Haut vom Schweinefleisch bildete immer eine herrlich dunkle, blasige Kruste, und sie schmeckte köstlich, ohne irgendeinen komischen Beigeschmack.

Aber jetzt war eine Krankheit gekommen. Endothia hieß sie. Die Rinde der Kastanienbäume riss und rötete sich und fiel ab, und die Äste über den geröteten Wunden verdorrten. Überall in den Cevennen starben die Kastanienwälder. Selbst hier, in Audruns Wald, waren die Anzeichen von Endothia nicht zu übersehen. Und die Leute sagten, man könne nichts dagegen tun, es gebe keinen Zauberer, keinen Retter, so wie damals vor langer Zeit, als Louis Pasteur in den Süden nach Alès gereist war und eine Heilmethode für die schreckliche Seidenraupenkrankheit gefunden hatte. Inzwischen war Endothia ein Teil des Lebens, jener Teil, der sich unwiderruflich verändert hatte, jener Teil, der alt und krank und von der Zeit verwittert war. Bald würden die Bäume in diesem Wald sterben. Man konnte nichts dagegen tun, außer sie fällen und das Holz im Kamin verbrennen.

Audruns Kate hatte keinen Kamin. Es gab vier »Nachtspeicher«-Heizungen, schwer wie Monolithen. Im Laufe langer Winternachmittage wurden die Heizkörper kühler, wurde die Luft kühler, und Audrun saß einfach nur so da, in ihrem Sessel, eine gehäkelte Decke über den Knien. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. Und manchmal spürte sie in dieser tiefen, kühlen Stille das Nahen einer Episode. Sie näherte sich wie ein Schatten, der sich über sie legte, ein Schatten, der zu keinem Gegenstand gehörte, aber die Farben aller Dinge im Zimmer annahm. In ihrem Kopf wurde es dann weiß, und die Möbel dehnten und verzogen sich hinter einer Wand aus Glas …

Audrun untersuchte den Stamm der Kastanie. Kein Anzeichen der Krankheit an diesem hier, aber stumm formte sie mit ihren Lippen das gefürchtete Wort: Endothia, Kastanienrindenkrebs. Die Luft war so regungslos, dass Audrun ihre eigene tonlose Stimme zu hören glaubte. Dann, im nächsten Moment, bemerkte sie, dass sie nicht allein war, drehte sich um und sah ihn durch den Wald stolpern, so wie er in letzter Zeit immer lief – er, der als Junge so schnell und wendig wie ein indianischer Krieger gewesen war. Er sammelte Holz für den Kamin, packte die heruntergefallenen Äste in eine Art Schlinge auf seinem Rücken, eine Schlinge, die er aus einer alten mottenzerfressenen Decke zusammengeknüpft hatte.

»Aramon.«

Er hob den Arm, als wollte er sie daran hindern, näher zu kommen. »Nur ein bisschen Holz«, sagte er. »Nur ein bisschen Holz für den Kamin.«

Er besaß selbst Bäume, ein dichtes Steineichenwäldchen hinter dem Hundezwinger. Aber er war zu faul, um sich mit der Säge dorthin zu begeben, oder er wusste, dass er seinem Umgang mit der Säge nicht mehr trauen konnte; die Säge würde seine Hand erwischen.

»Nur ein oder zwei Äste, Audrun.«

Sein Haar war schmuddelig und zerzaust, sein unrasiertes Gesicht bleich, fast grau in der hellen Sonne. »Und ich wollte dich fragen –«

»Was fragen?«, sagte sie.

»Ich habe da ein heilloses Durcheinander, oben im Mas. Ich finde gar nichts mehr. Meine carte d ’identité, meine Brille …«

Sie betrat das Haus kaum noch – jenes Haus, das ihre geliebte Bernadette einst so sauber und ordentlich gehalten hatte. Jetzt stank es derart, dass sie würgen musste. Selbst der Anblick seiner alten Hemden, die vor dem Fenster hingen, um vom Regen gewaschen zu werden … sie musste sich abwenden, wenn sie das sah. Und sie dachte an Bernadettes Wäschekommode und an all die Laken, Hemden und Unterhemden, weiß wie Zuckerguss und ordentlich Kante auf Kante gefaltet und duftend wie frisch geröstetes Brot.

»Aramon«, sagte sie. »Geh nach Hause. Nimm nur das Anmachholz. Was du gesammelt hast, kannst du behalten, auch wenn du weißt, dass es nicht dir gehört.«

Er lockerte seine provisorische Schlinge, und die Holzstücke fielen ihm vor die Füße, und er starrte sie hilflos an. »Du musst mir helfen«, sagte er. »Es ist kompliziert da oben. Weißt du das?«

»Was meinst du mit ›kompliziert‹?«

»Alles ist total durcheinander geraten. Ich weiß nicht mehr, was was ist. Irgendjemand muss das auseinandersortieren. Bitte …«

Ihr Blick war hart wie Stein. Sie spürte das Gift, das von ihm ausging, es lag ihr wie eine bittere Beere im Mund.

»Ich gebe dir auch zwei Bantamhühner«, bot er an. »Ich drehe ihnen für dich den Hals um, rupfe sie, nehme sie aus. Du kannst Marianne Viala einladen. Feierst ein nettes kleines Fest. Lässt dir den Klatsch erzählen. Pardi! Ich weiß doch, dass ihr Frauen Klatsch liebt.«

»Zwei Bantamhühner für was?«

Er ruckte mit den Füßen, kratzte sich am Hals. Seine Augen, früher so schön, waren immer noch braun und tief. »Hilf mir einfach. Bitte, Audrun. Denn ich habe jetzt Angst. Ich gebe es zu.«

»Angst wovor?«

»Ich weiß nicht. Da ist dieses schreckliche Durcheinander, in dem ich lebe. Ich weiß nicht, wo ich die Dinge suchen soll, die ich brauche.«

Knaben.

Es waren junge Männer Anfang zwanzig, aber im Geiste hatte Anthony Verey sie stets »die Knaben« oder »meine Knaben« genannt. Das hatte ihm Macht über sie verliehen und geholfen, das in Schach zu halten, was ihn, bis vor kurzem noch, zu überwältigen drohte: ihre Schönheit.

Seine Knaben waren meist arm, auf Sozialhilfe oder in unterbezahlten Jobs, versuchten in London zu überleben, versuchten erwachsen zu werden. Er nahm sie mit in seine exquisit eingerichtete Wohnung über dem Laden in der Pimlico Road. Er liebte das Aufregende daran – ein armer Fremder in seinem Bett. Dann brachte er sie nach unten und zeigte ihnen im Schummerlicht seine Lieblinge. Ließ sie die Lieblinge spüren, anfassen, riechen. Ließ sie Wissen, Sicherheit, Behaglichkeit, Status, Geld riechen. Bleiben ließ er sie jedoch nie. Er bezahlte sie anständig, schickte sie aber stets ohne irgendein Versprechen auf weitere Besuche weg, denn die Vorstellung, sie könnten sich, nur weil er älter, weil er beinahe alt war, einbilden, er würde sich zum Sklaven ihrer Männlichkeit und Jugend machen, ertrug er nicht.

Doch es gab nun schon seit langer Zeit keine »Knaben« mehr in Anthonys Bett. Das Verlangen nach ihnen hatte sich klammheimlich verflüchtigt. Der einzige Knabe, der Anthony noch besuchte – in seinen Träumen und in jenen leeren Zeiten, wenn er hinten in seinem Laden saß und keine Kunden kamen –, war der Knabe, der er einst selbst gewesen war.

Er wusste, dass das erbärmlich war, eine sentimentale Niederlage, aber er konnte es nicht ändern. Er wäre einfach schrecklich gerne wieder jener kleine Junge gewesen, der mit seiner Mutter Lal zusammen die Regenbogenfarben bestaunt, die die Sonne in die Bonbonniere auf dem Esszimmertisch in ihrem Haus im Hampshire zaubert, während sie beide hingebungsvoll Silber putzen und draußen im Garten ein weiterer langer, ungetrübter Sommer der 1950er Jahre langsam vorübergeht.

Es war mehr als erbärmlich. Anthony verriet niemandem, nicht einmal seiner Schwester Veronica (oder »V«, wie er sie stets nannte), etwas von seiner Sehnsucht, wieder das Kind von damals zu sein. Denn allem Anschein nach kam V – drei Jahre älter als er – hervorragend mit ihrem Leben zurecht, bewegte sich noch immer unbeirrt vorwärts, steckte voller Pläne und Projekte und hing kaum alten Erinnerungen nach. Wenn er gestanden hätte, dass er davon träumte, wieder im alten Esszimmer in Hampshire zu sitzen und mit Lal Silber zu putzen, wäre V ihm streng gekommen. »Um Gottes willen, Anthony. Ausgerechnet Silber putzen! So eine sinnlose Arbeit! Hast du vergessen, wie schnell es wieder anläuft?«

Lal und ihn selbst hatte das nie gestört. Wenn es wieder schwarz wurde, putzten sie es einfach von neuem. Manchmal sangen sie dabei, Lal und er, in vollkommener Harmonie. Während V entweder auf ihrer Fuchsstute Susan souverän über die Felder galoppierte oder in ihrem Zimmer hockte und, mit der Nase in ihrem Lieblingskunstbuch Wie man Bäume zeichnet, Bleistiftskizzen anfertigte, sangen sie Schlagermelodien.

»The boat’s in! What’s the boat brought in?

A vio-lin and lay-ay-dy!«

Der silberne Gegenstand, den Anthony damals am allermeisten bewunderte, war eines von Lals Sahnekännchen. Vorsichtig ertasteten seine Finger die komplizierten Schnörkel des Henkels, die eingravierten zarten Blattranken am Kannenbauch. »O ja, das ist ein Schätzchen«, hatte Lal gegurrt. »Georgianisch. Um 1760, glaube ich. Reizende kleine Hufe als Standfüße. Hochzeitsgeschenk für Pa und mich. Du kannst es haben, wenn ich tot bin.«

Damals, in jenem Haus, hatte es noch hundert andere Gegenstände gegeben, die den Jungen begeisterten. Schön war es, einen durchbrochenen silbernen Tortenheber an die Wange zu pressen, die raffinierte silberne Spargelzange zu öffnen und zu schließen. O ja, und die Großvateruhr in der Diele schlagen zu hören (»William Muncaster, Whitehaven, 1871). Ihre Gongschläge verband er für immer mit seinen Schulferien – entweder mit einem weißen Weihnachtsbaum im Dezember oder mit einer Vase voller Wicken im Juli und einer langen, seligen Zeit ohne Latein und Rugby. Lal beobachtete ihn immer, wenn er die Uhr schlagen hörte, betrachtete ihn mit ihren himmelblauen Augen und berührte sein Gesicht mit der Hand, die im Silberputzhandschuh steckte. »Ich finde es so entzückend«, sagte sie oft, »wie du die Muncaster liebst.«

Dann lächelte er und schlug ein weiteres Lied vor, damit sie nicht merkte, dass er gleich würde kichern müssen, weil sie, die aus Südafrika nach England gekommen war und immer noch mit einem Akzent sprach, der die Vokale flach klingen ließ und zahlreiche Wörter eigenartig, fast peinlich verzerrte, das Wort »entzückend« benutzte.

Anthony glaubte, dass Lal seine Sehnsucht, wieder ein Kind zu sein, verstanden hätte. Denn er erinnerte sich, wie sie in den letzten fünfzehn Jahren ihres Lebens mit den Gedanken ziemlich häufig nach Hermanus zurückgekehrt war, wo ihre Eltern eine Villa mit Blick aufs Meer besessen hatten und wo die Mahlzeiten im südafrikanischen Sommer auf einer riesigen Veranda von schwarzen Dienern (»houseboys«) serviert worden waren. Sie hatte Anthony anvertraut, inzwischen habe sie England, ihre Adoptivheimat, zwar auch lieben gelernt, »aber ein Teil von mir ist in Südafrika geblieben. Ich kann mich noch an die afrikanischen Sterne erinnern. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich kleiner war als eine Cannalilie.«