Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In den 1960er Jahren vollzog sich in den Künsten unübersehbar eine performative Wende. Anstelle von "Werken" erschaffen Künstler zunehmend Ereignisse, an denen nicht nur sie selbst, sondern auch die Betrachter beteiligt sind. Angesichts dieser radikal veränderten künstlerischen Produktion stellt sich auch die Frage nach dem geistigen Eigentum grundlegend neu. Moritz Johannes Ott, Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht, untersucht die Ästhetik des Performativen in ihren urheberrechtlichen Konsequenzen. Er fragt danach, ob und wie performative Kunst urheberrechtlich geschützt ist und inwieweit vor diesem Hintergrund szenische Aufführungen in ihrer Gesamtheit neu zu bewerten sind: Liegt der Schlüssel zum urheberrechtlichen Schutz aller Bühnenkunst im Urheberrecht des Regisseurs an seiner Inszenierung?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 663
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine von dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin angenommene Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors des Rechts. Das Rigorosum fand am 14. Juli 2022 statt. Für den Druck bzw. die Vervielfältigung wurde sie geringfügig überarbeitet.
Moritz Johannes Ott
Der urheberrechtliche Schutz performativer Kunst
Theater Aktion Performance
Recherchen 168
© 2023 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.tdz.de
Umschlagabbildung: Ulay/Marina Abramović, Relation in Time,
Performance 17 Hours Studio G7, Bologna, Italy, 1977 © Ulay and Marina Abramović.
Courtesy of the Marina Abramović Archives
Satz: Tabea Feuerstein
Umschlaggestaltung: Nicolaus Ott
Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-482-5 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-492-4 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-493-1 (EPUB)
Recherchen 168
Moritz Johannes Ott
Theater Aktion Performance
meinen Eltern
AEinleitung
IThis is so contemporary
IIDie gesetzliche Regelung des Urheberschutzes
IIIPerformative Kunst als urheberrechtliche Herausforderung
IVPhänomenologische Gruppen performativer Kunst
1Bildende Kunst
2Musik
3Theater
VGang der Darstellung
BDer urheberrechtliche Werkbegriff und seine Anwendung auf Aktions- und Performancekunst durch die Rechtsprechung
IAuslegung des gesetzlichen Werkbegriffs
1Der Werkbegriff des Urheberrechtsgesetzes (§ 2 Abs. 2 UrhG)
2Der ursprüngliche Normzweck des § 2 Abs. 2 UrhG als vorrangiger Auslegungsmaßstab
3Historische Begründung und Legitimation des Schöpfungsprinzips
a)Theorie vom geistigen Eigentum – Schutz des Geisteswerkes
b)Theorie vom Immaterialgüterrecht – Form und Inhalt
c)Theorie vom Persönlichkeitsrecht
d)Dualistische Theorie
e)Monistische Theorie – Schutz von Form und Inhalt
f)Zwischenfazit
4Die Tatbestandsmerkmale des Werkbegriffs im Sinne des Schöpfungsprinzips
a)Persönliche Schöpfung
b)Geistiger Gehalt
c)Wahrnehmbare Form
d)Ausdrucksform versus Ausdrucksmittel
e)Individualität
5Individualität als Schutzbegründung und Schutzbegrenzung
a)Rechtsprechung
b)Literatur
c)Fehlende Individualität
aa)Idee
bb)Manier, Stil, Regel, Methode
cc)Gemeingut
dd)Kleine Münze
6Zwischenfazit zu B.I
IIDer Werkcharakter von Aktions- und Performancekunst in der gerichtlichen Beurteilung
1»Happening«-Entscheidung des BGH
a)Sachverhalt
b)Der Weg durch die Instanzen
aa)Vorinstanzliche Entscheidungen des LG Berlin und des Kammergerichts
bb)Urteil des Bundesgerichtshofs
c)Bewertung der Entscheidungen
aa)Persönliche Schöpfung
bb)Wahrnehmbare Formgestaltung
cc)Geistiger Gehalt
dd)Individualität
2»Eva und Adele«-Entscheidung des LG Hamburg
a)Sachverhalt
b)Entscheidungen
aa)Amtsgericht Hamburg
bb)Landgericht Hamburg
c)Bewertung der Entscheidungen
3Entscheidung des BGH zu der Aktion »Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet«
a)Sachverhalt
b)Entscheidungen
aa)Verfügungsverfahren
bb)Klageverfahren
(1)Landgericht Düsseldorf
(2)OLG Düsseldorf
(3)Bundesgerichtshof
c)Bewertung der Entscheidungen
aa)Prüfungsmaßstab von Aktionskunst
(1)Die Ersetzung eines Kunstobjekts durch eine künstlerische Aktion
(2)Räumliche und zeitliche Begrenzung durch präzise Festlegungen im Konzept
bb)Zur Ereignishaftigkeit der Aktionen
4Zwischenfazit zu B.II
CDer Urheberrechtsschutz performativer Kunst – Aufführung als gesetzlich ungeregeltes Ereignis
IVom Gesetzgeber verkannte Performativität von Aufführungen?
1Der Begriff der bühnenmäßigen Aufführung im Urheberrechtsgesetz (§ 19 Abs. 2 UrhG)
2Der Aufführungsbegriff in den Theaterwissenschaften
3Urheberrechtlicher Schutz bühnenmäßiger Aufführungen als Werk?
IIBühnenaufführung als persönliche Schöpfung des Autors?
1Die Medialität der bühnenmäßigen Aufführung aus Sicht der Theaterwissenschaft
2Die Medialität der bühnenmäßigen Aufführung und der urheberrechtliche Werkbegriff
3Bühnenmäßige Aufführung als leibliche Ko-Präsenz
a)Rollenwechsel als extreme Form der Wechselwirkung zwischen Darstellern und Zuschauern
aa)»Dionysus in 69«
bb)»Commune«
cc)»Two Amerindians«
b)Gemeinschaft
c)Zwischenfazit zur leiblichen Ko-Präsenz
4Zwischenfazit zu C.II
IIIWahrnehmbare Form des Sprachwerkes in Gestalt des ausübenden Künstlers?
1Der Rechtsschutz des ausübenden Künstlers einer bühnenmäßigen Aufführung im historischen Rückblick
a)Die erste gesetzliche Regelung (§ 2 Abs. 2 LUG)
b)Historische Standpunkte
aa)Der Streit in der Rechtslehre um das Schöpfungsniveau des ausübenden Künstlers
(1)Der ausübende Künstler als »reproduzierender Künstler«?
(2)Der ausübende Künstler als »nachschaffender Künstler«?
(3)Gestaltung durch den ausübenden Künstler?
bb)Die historische Rechtsansicht des BGH zum Literatururhebergesetz
(1)Körper-Haben des ausübenden Künstlers
(2)Leib-Sein des ausübenden Künstlers
c)Der Einfluss der historischen Debatte und der BGH-Rechtsprechung auf den Gesetzgeber des Urheberrechtsgesetzes
2Theaterwissenschaftliche Erkenntnisse zur Bühnendarstellung durch ausübende Künstler
a)Theaterwissenschaftliche Untersuchungen zum Begriff der Verkörperung
aa)Umkehrung des Verhältnisses von Darsteller und Rolle
bb)Individualität des Darstellerkörpers
cc)Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit und Unzulänglichkeit des Darstellerkörpers
dd)Cross Casting
b)Schlussfolgerungen: embodiment-Konzept
3Subsumtion des embodiment-Konzepts unter das Tatbestandsmerkmal der wahrnehmbaren Form
4Exkurs: das Recht des ausübenden Künstlers, § 73 UrhG
a)Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal »künstlerisch«
b)Verkörperung des Leib-Seins?
5Zwischenfazit zu C.III
IVGeistiger Gehalt der bühnenmäßigen Aufführung
1Materialität, Form und Inhalt
a)Selbstreferenzialität
b)Assoziationen
2Präsenz und Repräsentation
3Zwischenfazit zu C.IV
VZwischenergebnis zu C
DWertungsplan der Rechtsordnung: Kunstfreiheitsgarantie als Schutzmaßstab performativer Kunst(ereignisse)
IDie Kunstfreiheit als Wertungsmaßstab
IIVerfassungsrechtliche Kunstbegriffsdefinitionen
1Kunst als Ausdruck der subjektiven Wirklichkeit (materieller Kunstbegriff)
2Kunst nach typologischen Gattungsanforderungen (formeller Kunstbegriff)
3Kunst als Herstellung einer eigenen Wirklichkeit (offener Kunstbegriff)
4Sozial »engagierte Kunst«
5Kunstfreiheit am Maßstab des offenen Kunstbegriffs
IIIDer offene Kunstbegriff als Maßstab zur Fortbildung des Urheberrechtsschutzes
1Der Werkbegriff nach Max Kummer (Rezeptionsprinzip)
a)Individualität als statistische Einmaligkeit
b)Präsentation als Kunstwerk
c)Zweckfreiheit und Betrachterperspektive
aa)Zweckfreiheit
bb)Präsentation als Kunstwerk aus Betrachtersicht
d)Art und Weise des Darstellens
aa)Gedankliche Vorstellung
bb)Gedankliche Vorstellung an sich
2Schlussfolgerung aus Kummers Rezeptionstheorie: das desemantisierte Werk
3Zwischenfazit zu D.III
IVZwischenergebnis zu D
EDer Schutz von Ereignissen als Kunst im Sinne des offenen Kunstbegriffs
IPräsentation eines statistisch einmaligen Gebildes
IIGeäußerte und als Geäußertes von Auge und Ohr aufzunehmende Form
IIIGedankliche Vorstellung und Art und Weise des Darstellens
1Aktions- und Performancekunst (Ballett)
2Bühnenmäßige Darbietung als Wiederholung des sprachwerklichen Inhalts (Schutz der Fabel)
a)Äquivalenz als maßgebliches Kriterium der Wiederholung
b)Analytische Theaterwissenschaft
aa)Werktreue in der Kritik Raschèrs
(1)Das Werk als ästhetisches Objekt
(2)Aufbau- und Gliederungsprinzipen des Stückes
(3)Zum Begriff der Äquivalenz
(4)Zwischenfazit
bb)Äquivalenz der Inszenierung
(1)Die Aufführung als eigenständiges Kunstwerk
(2)Die Aufführung als »Interpretant« des dramatischen Textes
c)Zwischenfazit zu III.2
IVZwischenergebnis zu E
FDer Schutz von Kunstereignissen als Schwellenerfahrung im Sinne des offenen Kunstbegriffs
IEinführung
IIAutonomie der Kunst
IIIÄsthetische Erfahrung
1Ästhetische Erfahrung aus der Perspektive des offenen Kunstbegriffs
2Ästhetische Erfahrung aus der Perspektive des Performativen (engagierter Kunstbegriff)
3Wirkung und Bedeutung
4Das Verhältnis von körperlichem Zustand und Umstrukturierung der Bedeutung
IVZwischenergebnis zu F
GRechtsfortbildung: der Schutz des Urheberrechts an der Inszenierung
ISchutzbereiche der Kunstfreiheitsgarantie
1Werkbereich von Aufführungen
2Wirkbereich von Aufführungen
IIAusstrahlung des Werkbereichs der Kunstfreiheitsgarantie: das Urheberrecht an der Inszenierung
1Der Inszenierungsbegriff im Geltungszeitraum des LUG
2Meinungsstreit um die Rechtsstellung des Bühnenregisseurs nach dem LUG
a)Rechtsprechung
b)Literatur
aa)Befürworter
(1)Textregie
(2)Rahmenregie
bb)Gegner
c)Zwischenfazit
3Begriff der Inszenierung im Geltungsbereich des UrhG
a)Der Inszenierungsbegriff in der Literatur
b)Der Inszenierungsbegriff in der Rechtsprechung
aa)»Maske in Blau«
bb)»Biografie: ein Spiel«
cc)»Götterdämmerung«
dd)»Die Csárdásfürstin«
c)Zwischenfazit
4Das Urheberrecht des Theaterregisseurs nach der Lehre von Max Kummer
a)Bühnenmäßige Wiedergabe der Wortfolge
b)Bühnenmäßige Aufführung als Werk sui generis
c)Werk sui generis und zugleich Transformation?
d)Urheberrechtliche Trennung zwischen Inszenierung und Aufführung
5Das Recht des ausübenden Künstlers
IIIZwischenergebnis zu G
IVKunst und Leben
HGesamtergebnis
Endnoten
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Der Autor
»Aller Platonismus aber,alle Spekulation neigt zur Mißachtungdes tatsächlich Gegebenen.«Dessoir I.c, S. 10
Auf der 51. Internationalen Kunstausstellung der Biennale von Venedig fand ein originelles und eigentümliches Ereignis statt. Der Berliner Künstler und Diplom-Volkswirt Tino Sehgal präsentierte im deutschen Pavillon seine Arbeit »This is so contemporary«: Die Arbeit bestand darin, dass, sobald ein Besucher1 den leeren Pavillon betrat, drei uniformierte Museumswärter den Besucher tanzend umkreisten und rhythmisch immer wieder den Titelsatz riefen, »This is so contemporary, contemporary, contemporary! Tino Sehgal«.2
Mit dieser Arbeit schuf Sehgal eine Situation, die weder unter die urheberrechtlich geschützte Werkkategorie der bildenden Kunst noch unter die der Literatur im Sinne von § 2 Abs. 1 UrhG zu subsumieren gewesen wäre. Sehgal stellte mit »This is so contemporary« kein Artefakt her, dessen körperlicher Gegenstand den Besuch des deutschen Pavillons überdauern würde. Der Vollzug der Anweisungen von Sehgal diente aber auch nicht der Darstellung einer fiktiven Welt. Vielmehr entwickelte Sehgal mit seiner Arbeit »This is so contemporary« eine Form von Kunst, die allein in dem Moment Gestalt annimmt, in der man ihr hic et nunc begegnet.
Da der Urheberrechtsschutz nicht von der Einordnung unter eine konkrete Werkgattung abhängig ist,3 stellt sich gleichwohl die Frage, ob Tino Sehgal für »This is so contemporary« die Urheberschaft beanspruchen kann. Schutz nach Maßgabe des Urheberrechtsgesetzes genießen gemäß § 1 UrhG die Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst. Das Gesetz knüpft hierzu an das Ergebnis der schöpferischen Tätigkeit des Urhebers an: Gegenstand des Urheberrechtsgesetzes ist das Werk, Urheber ist der Schöpfer des Werkes, § 7 UrhG. Im Zentrum des Urheberrechts steht demzufolge das Werk – und zugleich sein Urheber, der durch ein geistiges Band in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk und bei der Nutzung des Werkes geschützt ist, § 11 UrhG.4
Das Wesen des urheberrechtlichen Werks, das durch die Legaldefinition bestimmt wird, wird durch zwei Relationen geprägt: 1) durch eine Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt, Urheber und Werk bzw. Betrachter und Betrachtetem, und 2) durch eine grundlegende Trennung zwischen dem singulären materiellen Werkstück und dem durch dieses verkörperten Geisteswerk, also zwischen dem Ausdrucksmittel auf der einen Seite sowie der wahrnehmbaren Form und dem geistigen Gehalt auf der anderen Seite. Durch die Synthese dieser Beziehungen wird das Werk zu einem von seinem Urheber ablösbaren, ubiquitären Immaterialgut, dessen Rechtsgegenstand der wiederholten Nutzbarkeit durch Dritte zugänglich wird. Dies wird zwar meist nicht ausdrücklich erwähnt. Die Wiederholbarkeit ist aber die grundlegende Voraussetzung aller Immaterialgüterrechte.5
Eine derartige Ausdifferenzierung in Subjekt und Objekt, Urheber und Werk bzw. Betrachter und Betrachtetem wurde in Sehgals Arbeit »This is so contemporary« nicht ermöglicht. Denn Sehgal ersetzte die Schöpfung und Nutzung eines Werkes durch die Herstellung einer räumlich und zeitlich begrenzten Situation, der die Museumsbesucher des deutschen Pavillons nicht unbeteiligt gegenüberstanden, sondern sie bewegten sich in ihr.6 Die Situation existierte also nie unabhängig von den jeweiligen Besuchern des deutschen Pavillons, sondern die Subjekte nahmen hieran aktiv teil. Damit ersetzte Sehgal das Objekt durch die Realerfahrung von Körper, Raum und Zeit, in die er die Aufseher und Zuschauer durch seine Anweisungen stellte.
Diese Veränderung der Subjekt-Objekt-Beziehung ist eng auf die Veränderungen der Nutzungsmöglichkeit bezogen, wie sie das Werk als ablösbares, ubiquitäres Immaterialgut eigentlich voraussetzt. Denn wenn die uniformierten Museumswärter über Monate hinweg während der ganzen Öffnungszeit der Biennale von Venedig immer wieder zu den Besuchern rhythmisch den Satz äußern, »This is so contemporary, contemporary, contemporary! Tino Sehgal«, wird mit diesen Äußerungen kein Immaterialgut wiederholt, sondern der Tatbestand von »This is so contemporary« jeweils neu geschaffen: »Das ist so gegenwärtig!« Das Aussprechen dieses Titelsatzes hat die Wirklichkeit verändert. Der Titelsatz sagt nicht nur einfach etwas, sondern er realisiert genau die Handlung, über die er spricht. Das heißt, das Aussprechen des Titelsatzes ist selbstreferenziell insofern als er das bedeutet, was er tut, und er ist insofern wirklichkeitskonstituierend, als er die soziale Wirklichkeit allererst erzeugt, von der er spricht.7 Es sind diese beiden eigentümlichen Merkmale, welche performative Äußerungen kennzeichnen.8 Dann ist »This is so contemporary« aber nicht als Wiederholung eines vorgegebenen geistigen Gehalts zu begreifen, den die Museumswärter durch Darstellung zur Anschauung bringen. Jener feste und stabile geistige Gehalt, den sie ausdrücken könnten, existiert nicht.
Damit sind zwei der entscheidenden Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit von einem Werk und insofern von urheberrechtlichem Schutz überhaupt gesprochen werden kann, bei Sehgals Arbeit »This is so contemporary« nicht erfüllt: zum einen der grundlegende Gegensatz von Urheber und Rezipient, den er relativierte, wenn nicht gar zum Einsturz brachte, zum anderen das Werk, an dessen Stelle Sehgal flüchtige, einmalige und unwiederholbare Geschehnisse setzte. Auf diesen Voraussetzungen beruht jedoch das geltende Urheberrecht.
Gleichwohl hat Sehgal längst bewiesen, dass sich seine konstruierten Situationen wie Artefakte verkaufen lassen. So konnte etwa das Museum of Modern Art in New York die Arbeit »The Kiss«9 käuflich erwerben. Der Kaufvertrag hierfür wird mündlich vor einem Notar ausgehandelt. Der Käufer erwirbt das Nutzungsrecht. Dieses kann auf die gleiche Weise ausgewertet werden wie ein ganz »normales« Werk: Sobald Sehgal die Handlungsanweisungen mit den Akteuren vor Ort einstudiert hat, darf der Käufer die Arbeit für immer behalten und auch nach Belieben zeigen oder weiterverkaufen. Zudem erhält er die Lizenz, das »Werk« auszuleihen, wie etwa »The Kiss« an das New Yorker Guggenheim Museum, an die Londoner Tate Modern oder an den Martin-Gropius-Bau in Berlin.10 Auf diese Weise wurde auch Sehgals Arbeit »This is Propaganda« an die Haubrok Foundation verkauft, »übergeben und übereignet« und den Staatlichen Museen zu Berlin als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt.
In diesem Sinne funktionieren Sehgals Arbeiten, wie z. B. »This is so contemporary«, in Ausstellungen, musealen Sammlungen und auf dem Kunstmarkt wie ein urheberrechtliches Werk, es ist aber höchst zweifelhaft, ob sie es in der rechtlichen Bewertung auch sind. »This is so contemporary« existiert nur als einmalige und unwiederholbare Situation.11 Unterstrichen wird dies dadurch, dass Sehgal filmische oder fotografische Dokumentationen seiner Arbeiten untersagt. Anstelle deren materieller Festlegung oder Vervielfältigung gibt Sehgal – vorzugsweise im Museumsshop – Interviews.12 In diesem Sinne verweist etwa der Katalog zur XI. Documenta auf eine Leerstelle, die eindrücklich auf die Immaterialität seiner Arbeit hinweist.
Wenn man es aber nicht mehr mit einem Werk zu tun hat, das als autonomes Objekt vorhanden ist, sondern einer zeitlich und räumlich begrenzten Situation, der die Anwesenden nicht unbeteiligt gegenüberstehen, sondern aktiv daran beteiligt sind, Schöpfung und Nutzung also gleichzeitig stattfinden, erscheint es problematisch, Sehgals Arbeit »This is so contemporary« unter Tatbestandsmerkmale zu subsumieren, die für das geltende Schöpfungsprinzip des Urheberrechtsgesetzes entwickelt wurden. Zumindest fordert die moderne Kunst zu einer Untersuchung heraus. Die urheberrechtliche Problematik dieser Untersuchung ist damit benannt.
Eine solche Untersuchung erscheint umso dringlicher, als »This is so contemporary« nicht das einzige Kunstereignis darstellt, welches das Urheberrecht auf die Probe stellt. In der urheberrechtlichen Literatur wird seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur immer wieder eine Entgrenzung der Künste vom Leben proklamiert oder beobachtet,13 sodass oftmals eine eindeutige Zuordnung der Lebenssachverhalte zu den anerkannten Werkkategorien des § 2 Abs. 1 UrhG nicht mehr möglich ist,14 sondern auch die Rechtswissenschaft und Rechtspraxis haben längst zur Kenntnis genommen, dass in der Literatur- und Kunstwissenschaft von einer »Auflösung des Kunstbegriffs«15 oder »Krise des Werkbegriffs«16 die Rede ist, sodass in bestimmten Bereichen der modernen Kunst oftmals fraglich ist, ob überhaupt ein Sachverhalt des Urheberrechts vorliegt.17 An den im Folgenden vorgestellten phänomenalen Gruppen entzündet sich die urheberrechtliche Diskussion insbesondere. Dabei ist auffällig, dass zeitgenössisches Kunstschaffen sich sehr häufig in Aufführungen realisiert.18 Besonders im Fokus steht hierbei eine relativ neue Kunstgattung, die sogenannte Aktions- und Performancekunst.19
Die bildende Kunst wurde schon beim action painting,20 bei body art,21landscape art wie dem »Verhüllten Reichstag«22 von Christo und Jeanne-Claude (Abb. 1) oder zuletzt ihren »Floating Piers« (Abb. 2), beim »Denkloch«23 von Walter de Maria, aber auch in seinen Lichtskulpturen24 wie dem »Lightning Field«25 und ähnlicher Konzeptkunst26 seit den 1960er Jahren vom Aufführungscharakter dominiert.27 Der Aufführungscharakter tritt hier durch die künstlerische Aktion und nicht in der Präsentation eines fertigen Werkes zutage. Zur urheberrechtlichen Berühmtheit haben es insbesondere die Anthropometrien28 von Yves Klein (Abb. 3) gebracht, bei denen nackte Frauen in ultramarinblaue Farbe getränkt werden und, wie es der Kommentar Fromm/Nordemann seit mehr als 50 Jahren konnotiert, »durch Drehbewegungen mit dem Hosenboden ein kreisrundes Farbmischmasch«29 auf der Leinwand erzeugt wird. Neben der Ersetzung eines Objekts durch die künstlerische Aktion war der Zuschauer oftmals aufgefordert, sich um Readymades30 oder Objets trouvés31 herumzubewegen, während andere Zuschauer ihn dabei beobachteten. Entsprechend waren die Zuschauer in die künstlerischen Prozesse mit eingebunden,32 sodass der Besuch einer Ausstellung häufig den Charakter einer Aufführung hatte. Besonders herausgestellt wird dieser Aufführungscharakter für die in dieser Untersuchung relevanten Aktionen der bildenden Künstler Joseph Beuys33 (Abb. 4), Wolf Vostell,34Bazon Brock und der Wiener Aktionisten. So führte Hermann Nitsch bis zu seinem Lebensende (2022) »Lammzerreißungsaktionen«35 (Abb. 5) durch, bei denen die Zuschauer die Möglichkeit erhalten, selbst das Lamm aufzubrechen, es auszunehmen und zu verspeisen.36
Die sogenannte performative Wende begann in der Musik bereits in den frühen 1950er Jahren mit den »Events« und »Pieces« von John Cage.37 Exemplarisch38 hierfür ist das in zahllosen Lehrbüchern immer wieder erwähnte Stück »4'33"« (Abb. 6), in dem bei der Uraufführung am 29. April 1952 in der Maverick Hall Woodstock der Pianist David Tudor den Klavierdeckel beim jeweiligen Satzbeginn öffnete, ihn bei Satzende wieder schloss, sonst aber keinen einzigen Ton spielte.39 Dennoch war die Stille bei Cage alles andere als geräuschlos. Es schwiegen nur die Instrumentalstimmen, die ganz gewöhnlichen Außengeräusche außerhalb der musikalischen Prozesse, wie etwa der Wind oder der auf das Dach niederprasselnde Regen oder gerade die von den Zuschauern selbst verursachten Geräusche, wurden besonders auffällig und in der Wahrnehmung der Zuschauer zu einem Klangereignis. Damit hatte Cage einen Hör-Raum erschaffen, in dem die eigentümliche Atmosphäre der »Stille« spürbar wurde.40
Abb. 1: Christo und Jeanne-Claude »Verhüllter Reichstag« (1971–1995, Berlin. Foto: Wolfgang Volz/laif)
Abb. 2: Christo und Jeanne-Claude »The Floating Piers« (2014–2016, Lake Iseo, Italien. Foto: Wolfgang Volz/laif)
Abb. 3: Performance »Anthropometries of the Blue Epoch« (9.3.1960, bpk Berlin, Foto: Charles Wilp / Art Resource, NY / Klein)
Abb. 4: Joseph Beuys »Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überwertet« (1964, Foto: Manfred Tischer)
Abb. 5: Hermann Nitsch »Orgien-Mysterien-Theater« (1962, »Lammzerreißungsaktion«)
Abb. 6: John Cage »4'33"« (Uraufführung am 29.8.1952 in der Maverick Concert Hall bei Woodstock, New York)
Auch im Theater wird zunehmend das Mittel der Performance eingesetzt: Am 27. Oktober 2007 wurde im Solomon R. Guggenheim Museum in New York das Theaterstück »Right you are (if you think so)« des Literaturnobelpreisträgers Luigi Pirandello von 1917 in einer Inszenierung des italienischen Künstlers Francesco Vezzoli aufgeführt.41Vezzoli hatte zuvor seine Gäste mit dem Versprechen eingeladen, ihnen die größten Weltstars auf der Bühne zu präsentieren. Als Bühne diente die Rotunde in der Mitte des Guggenheim-Museums, umgeben von der spiralförmigen Rampe. Den Logenplatz unter den anwesenden Celebrities besetzte die 76-jährige Anita Ekberg; sie saß in der ersten Reihe auf einem rosa Lippensofa von Mae West. Die ausübenden Künstler, darunter Oscar-Gewinner wie Natalie Portman, Anita Ekberg und Dianne Wiest, saßen auf der Bühne im Kreis, ihre Rücken dem Publikum zugekehrt (Abb. 7). Den dramatischen Text von Luigi Pirandello sprachen sie ohne Deklamation in mechanischer Art und Weise gleich einem Nachrichtensprecher in Mikrofone ein. Inhaltlich handelt das Stück von Signora Ponza, die von Cate Blanchett verkörpert wird, davon, »ob sie die Frau eines älteren Mannes ist oder die Tochter von jemand anderem«.42Vezzoli selbst beschreibt diese Szenerie als eine in höchstem Maße langweilige Talkshow: »stundenlang nur Gossip, Gossip, Gossip«.43 Zum Höhepunkt dieser Szenerie schritt Cate Blanchett fünf Minuten lang an den Zuschauern vorbei die spiralförmige Rampe des Museums hinab, begleitet von (fiktivem) Blitzlichtgewitter und Stroboskoplicht, und trat im John-Galliano-Kostüm auf die Bühne. Damit sollte Cate Blanchett alias Signora Ponza ihre tatsächlichen Familienverhältnisse ans Licht bringen. Stattdessen führte sie aus: »I am neither, I am either, I am no-one, I am any-one. I am who-ever you believe me to be.« (Abb. 8)
Das eigentliche Drama von »Right you are (if you think so)« fand im Publikum statt, nur wurde keiner der Zuschauer darauf hingewiesen, dass diese selbst die eigentlichen Akteure des Abends waren. Die Aufführung begann um kurz nach zehn Uhr abends. Etwa 500 geladene Gäste drängten sich vor dem Guggenheim-Museum, unter ihnen Kunstmäzene, große Künstler und Stars wie die Olsen-Zwillinge, Salman Rushdie, Uma Thurman oder Lou Reed. Das ganze Publikum war eine einmalige und unwiederholbare Zusammenkunft von Celebrities. Trotzdem und entgegen den üblichen Gepflogenheiten genoss kein einziger von ihnen seinen gewohnten Sonderstatus. Vielmehr mussten die bekannten Persönlichkeiten ihrerseits mit ansehen, wie die ausübenden Künstler des Abends über einen roten Teppich an ihnen vorbei im Museum entschwanden. Erst nach einer Stunde Wartezeit erhielten die Gäste Einlass. Die Stimmung von gegenseitigem Anbiedern, Smalltalk und Schmeicheleien schlug um in genervtes Warten. Längst hatten einzelne Zuschauer verärgert die Warteschlange verlassen. Auch als die Aufführung losging, kam das Publikum nicht zur Ruhe. Es wurde getuschelt, man guckte sich irritiert an, teilweise waren die Gesichter wie eingefroren.44 »Aber keiner verließ den Saal, weil alle anderen auch dablieben.«45
Abb. 7: Luigi Pirandello »Right you are (if you think so)« (Uraufführung am 18.6.1917 in Mailand) in der Inszenierung von Francesco Vezzoli, 2007
Abb. 8: Cate Blanchett alias Signora Ponza in »Right you are (if you think so)« (2007)
Was war passiert? Normalerweise besteht beim Besucher einer Theateraufführung die Vorstellung, dass ihm ein dramatischer Text präsentiert wird, der durch die Darstellung einer fiktiven Welt anerkannt, beobachtet und interpretiert wird. Es besteht die traditionelle ästhetische Norm, dass im Theater eine Illusion zur Erscheinung gebracht wird: Der Zuschauer weiß, dass der Darsteller von Romeo nur so tut, »als ob« er den Freitod mit seiner geliebten Julia wählt. Wenn aber die Schauspielerin Cate Blanchett die Rampe des Museums abschreitet, so bedeutet dieser Gang zunächst einmal den Gang auf die Bühne und erschafft die Wirklichkeit dieses Ganges. Cate Blanchett tut also keinesfalls nur so, als würde sie auf die Bühne gehen, sondern sie geht tatsächlich und schafft bzw. verändert dadurch die Realität.
Die Wahrnehmung der realen Körper- und Materialhaftigkeit der von Cate Blanchett vollzogenen Parade entlang der Spirale dominierte in ihrer schieren Endlosigkeit bei Weitem die Verkörperung der fiktiven Rolle der Signora Ponza. Der phänomenale Leib von Cate Blanchett verschwand hier nicht in der Darstellung der Signora Ponza, sondern rief eine eigene, nicht aus der Darstellung der Figur resultierende ästhetische Wirkung hervor. Diese Erfahrung von Präsenz ist nun aber keineswegs als ein Makel bei der Verkörperung der Darstellung der Signora Ponza zu begreifen, der nicht in dem gedanklichen Inhalt von der Rolle der Signora Ponza aufgehen würde, sondern sie beanspruchte mit der Intention von Vezzoli, seinen Gästen die größten Weltstars zu präsentieren, eine eigenständige ästhetische Realität.
Das bedeutet allerdings nicht, dass für die Zuschauer kein Interpretationsbedarf bestanden hätte. In der Aufführung von »Right you are (if you think so)« war es den Zuschauern durchaus möglich, einen gedanklichen Inhalt zu konstituieren, etwa eine Interpretation von Pirandellos geistigem Gehalt als »Talkshow über das Mediensystem«,46 die das Scheitern der eigenen öffentlichen Identität inszeniert. Insofern repräsentierten die Akteure auch bestimmte fiktive Rollen, die in einer gewissen Familienähnlichkeit zu den im Text festgesetzten Rollen standen. Derartige Deutungsmöglichkeiten, so verständlich sie auch sind, werden der Aufführung von »Right you are (if you think so)« aber nicht gerecht. Denn die jeweilige Erfahrung entzieht sich einer solchen Vergegenständlichung oder dem Versuch einer objektiven Beschreibung, da sie nicht deckungsgleich mit der anderer Beteiligter ist, gerade auch bei denjenigen, die es aus ihrer Alltagserfahrung gewohnt waren, bevorzugt behandelt zu werden – und veränderte deren körperlichen Zustand.
Es hat insofern den Anschein, als ob Vezzoli bewusst eine oszillierende Wahrnehmung provozierte, die zwar immer wieder das bewegte Spiel im Raum von Cate Blanchett als Signora Ponza wahrnehmen ließ, den Weltstar aber zugleich in propria persona in den Blick brachte. Dadurch entstand ein merk- und denkwürdiges Verhältnis zwischen beiden Funktionen. Die Präsenz von Cate Blanchett begründete eine spezifische Ordnung der Wahrnehmung, die Repräsentation der Signora Ponza dagegen eine andere. Und je öfter die Wahrnehmung hin- und herglitt, desto mehr richtete sich die Wahrnehmung auf die von den Zuschauern vollzogenen Transformationsprozesse selbst, indem diese sich selbst als Wahrnehmende wahrnahmen, was wiederum auf die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses Einfluss hatte. Den Zuschauern von »Right you are (if you think so)« wurde also zunehmend bewusst, dass ihnen nicht Pirandellos dramatischer Text übermittelt wurde, sondern dass sie selbst es waren, die den gedanklichen Inhalt erst hervorbrachten, und zwar in einer Vielzahl unterschiedlichster Möglichkeiten.
Damit schuf Vezolli in und mit seiner Performance eine Situation, in der der Zuschauer nie sicher sein konnte, an welcher Art von Aufführung er gerade teilnahm, etwa an einer Aufführung des dramatischen Textes von Pirandello, zu der Vezolli geladen hatte, oder als Zuschauer einer Talkshow? Die Rahmen, die auf das eine oder andere hindeuten, wurden ständig wieder zum Einsturz gebracht. Damit provozierte Vezolli eine ästhetische Erfahrung, die im Publikum als »Verunsicherung, Irritation und Destabilisierung von Selbst und Weltwahrnehmung«47 erlebt wurde, die ihren Ausgang in den »affektiven, physiologischen und energetischen«48 Veränderungen des Körpers nahm – und umgekehrt. Denn jeder begriff, dass es auch um ihn ging: »Right you are (if you think so)«! Die Performance von Vezolli ereignete sich, indem die Zuschauer nicht einfach einem wahrzunehmenden Objekt gegenüberstanden, sondern indem es sich um ein Verhältnis der aktiven Teilhabe handelte. Dass sich etwas ereignete, erfuhren die Zuschauer bereits in der Warteschlange vor dem Museum; was sich dagegen ereignete, bemerkten die »Stars und Sternchen« vielleicht erst im Museum oder auch gar nicht. Gleichwohl waren sie zum Teil der Performance geworden. Damit schnappte die sog. tautologische Falle zu: Die Überschneidung von Kunst und Leben war zum »Werk« geworden, welches zum Ziel hatte, Objekt der Überschneidung zu werden. Der ganze Saal war ein Kunstereignis!
Diese spezifische Dynamik hat nun aber nicht nur eine ganz besondere ästhetische Erfahrung zur Folge, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf die Frage nach der Anwendbarkeit des Urheberrechtsgesetzes. Wurde hier das Sprachwerk von Pirandello »Right you are (if you think so)« i. S. v. § 19 Abs. 2 UrhG bühnenmäßig dargestellt? Hat Cate Blanchett sich in den Genuss von Leistungsschutzrechten hineingespielt (§ 73 UrhG), indem sie an und mit ihrem Körper Pirandellos geistigen Gehalt erscheinen ließ, oder fehlte eine derartige Werkakzessorietät, sodass sie sich mit der Zurschaustellung ihres phänomenalen Leibes lediglich auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht stützen kann? Welcher Richter mag hier für sich in Anspruch nehmen, nach den »richtigen« Regeln zu urteilen? Wenn es hier zudem die Zuschauer sind, welche die gedankliche Vorstellung erst konstituieren, ist dies überhaupt mit dem geltenden Urheberrechtsgesetz vereinbar oder gelten hier andere Wertmaßstäbe, die auf das Urheberrechtsgesetz ausstrahlen? Sind derartige Ereignisse überhaupt Kunst(werke)? Welches Verhältnis besteht hier zwischen den Bedingungen zur Entstehung der gedanklichen Vorstellung und den selbstreferenziellen Handlungen, die bedeuten, was sie tun. Handelt es sich hierbei um zwei unterschiedliche Sachverhalte oder denselben, der in ästhetischer Hinsicht lediglich aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht werden muss? Und schließlich: Gibt es einen Urheber der Performance: Pirandello, Vezolli oder gar die Zuschauer oder gar keinen? Die Anwendbarkeit des Urheberrechts steckt hier sozusagen in einem betwixt and between an fließenden Übergängen, was zu einer enormen Rechtsunsicherheit und nicht zuletzt zu einem hohen Prozesskostenrisiko führt.
Die in der urheberrechtlichen Diskussion mehrfach betonte grundlegende Veränderung in den künstlerischen Prozessen seit den 1960er Jahren kann man mit Fischer-Lichte als »performative Wende« beschreiben.
»Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater – alle tendieren dazu, sich in und als Aufführung zu realisieren. Statt Werke zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind.«49
Ob und wie das Urheberrechtsgesetz auf diese veränderten Strukturen der künstlerischen Wirklichkeit angewendet werden kann, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Dabei betritt sie terra incognita, denn die performative Wende in den Künsten ist, soweit ersichtlich, rechtlich noch nicht gewürdigt worden.50 Die Untersuchung versucht diese Frage zu beantworten, indem sie erforscht, ob und wie Aktionsund Performancekunst urheberrechtlich geschützt werden, inwieweit dabei auch traditionelle bühnenmäßige Aufführungen urheberrechtlich neu bewertet werden müssen und ob der Schlüssel zum Urheberrechtsschutz aller Bühnenkunst im Urheberrechtsschutz ihrer Inszenierung oder in der Aufhebung der Werkakzessorietät des ausübenden Künstlers liegt. Dabei werden insbesondere verfassungsrechtliche Wertmaßstäbe eine Rolle spielen.
Ausgehend von der zentralen Frage dieser Arbeit, ob Aktions- und Performancekunst urheberrechtlich als Werke i. S. v. § 2 UrhG geschützt sind, wird zunächst in Kapitel B untersucht, wie der Gesetzgeber den Begriff »Werk« in § 2 UrhG definiert hat. Sodann wird anhand der Darstellung und Analyse der wenigen gerichtlichen Entscheidungen, die zu der Frage ergangen sind, dargestellt, wie uneinheitlich und wenig überzeugend die Gerichte diese Frage beurteilen.
Kapitel C beantwortet die Frage, ob Aktions- und Performancekunst vom Werkbegriff des Urheberrechtsgesetzes erfasst sind. Dazu wird der Lebenssachverhalt »Aufführung« anhand theaterwissenschaftlicher Erkenntnisse untersucht, mit dem Resultat, dass Aufführungen allgemein ereignishaft sind, was ihre Werkeigenschaft infrage stellt, und dass das Urheberrechtsgesetz der Ereignishaftigkeit von Aufführungen nicht Rechnung trägt, obwohl es in § 19 Abs. 2 UrhG eine Regelung zur »bühnenmäßigen Aufführung« enthält. Performative Kunst erweist sich im Ergebnis als im Urheberrechtsgesetz ungeregelt.
In Kapitel D wird untersucht, ob diese Regelungslücke dem Wertungsplan der Rechtsordnung widerspricht. Als Wertungsmaßstab dient die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, genauer: der sog. offene Kunstbegriff der Verfassung. Dessen Merkmale werden konkretisiert.
Kapitel E zeigt, dass (Bühnen-)Ereignisse nicht ohne Weiteres mit dem offenen Kunstbegriff in Einklang zu bringen sind.
Daher wird in Kapitel F der Wesensgehalt von Kunst im Sinne des offenen Kunstbegriffs näher analysiert. Diese Analyse resultiert in der Erkenntnis, dass der Gegenstand der Kunstfreiheit der Schutz einer besonderen ästhetischen Erfahrung ist, die auch und gerade durch performative Kunst vermittelt wird. Dies erlaubt es, festzustellen: Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG schützt auch performative Kunst und damit Aufführungen. Darin liegt eine verfassungsrechtliche Wertung, mit der die Regelungslücke im Urheberrechtsgesetz im Widerspruch steht: Aufführungen verdienen grundsätzlich urheberrechtlichen Schutz.
Regelungslücken bedürfen der Rechtsfortbildung. Daher wird in Kapitel G untersucht, wie das Urheberrechtsgesetz in Bezug auf den Schutz performativer Kunst fortgebildet werden kann. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wer als Künstler und Urheber einer Aufführung geschützt wird und wofür – denn Ereignisse als solche können als spontanes und momentanes Phänomen ihrem Wesen nach keinen Schöpfer haben.
Kapitel H fasst die die Ergebnisse der Untersuchung zusammen und resümiert diese.
Aktions- und Performancekunst genießen als Werk Rechtsschutz nach Maßgabe des Urheberrechtsgesetzes, wenn sie die Voraussetzungen des § 2 UrhG erfüllen, allgemein die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 UrhG. Zunächst werden daher die tatbestandlichen Werkvoraussetzungen vorgestellt. Anschließend werden die wenigen Streitfälle erörtert und bewertet, die bislang von Gerichten in dieser Frage entschieden worden sind. Daran werden die Schwierigkeiten deutlich, welche die Rechtsprechung mit der urheberrechtlichen Bewertung von Aktions- und Performancekunst hat.
Wie bereits einleitend angedeutet, ist das »Tor« für einen Schutz nach Maßgabe des Urheberrechtsgesetzes das Werk i. S. v. § 2 UrhG. Als Rechtsobjekt fungiert es als Dreh- und Angelpunkt des Rechtsschutzes, indem es dem Urheber als Rechtssubjekt Schutz gegen eine unbefugte Auswertung seiner schöpferischen Leistung und seiner ideellen Interessen gewährt, § 11 UrhG.51 Um feststellen zu können, ob Aktions- und Performancekunst Werke im Sinne des Urheberrechtsgesetzes sind, müssen daher zunächst die Voraussetzungen erörtert werden, die erfüllt sein müssen, damit ein Werk im Sinne des § 2 UrhG vorliegt.
Regelungstechnisch enthält § 2 Abs. 1 UrhG einen offenen Regelbeispielkatalog unterschiedlicher Werkgattungen, der in § 2 Abs. 2 UrhG durch eine abstrakt-generelle Legaldefinition ergänzt wird. Diese Kombination bietet den Vorteil, dass einerseits neue Kunstarten nicht von vornherein vom Schutz ausgenommen sind, andererseits dienen die konkreten Beispielsfälle als Maßstab für die Anwendung der offenen Werkdefinition gemäß Absatz 2.52
Da Aktions- und Performancekunst weder in der beispielhaften Aufzählung von Werkgattungen des § 2 Abs. 1 UrhG genannt sind, noch beides zweifelsfrei der Werkgattung der bildenden Kunst i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG untergeordnet werden kann,53 sondern vielmehr gerade geprüft werden soll, ob der mit und in der Aktions- und Performancekunst vollzogene Wandel in den bildenden Künsten urheberrechtlich erfasst werden kann, ist die Kunstgattung der Aktions- und Performancekunst anhand der allgemeinen Definition des urheberrechtlichen Werkes (§ 2 Abs. 2 UrhG) auf ihre Werkeigenschaften hin zu prüfen. Dazu muss der Werkbegriff zunächst ausgelegt werden.
Nach der Legaldefinition des Urheberrechtsgesetzes sind Werke nur »persönliche geistige Schöpfungen« (§ 2 Abs. 2 UrhG). Bei diesem Normtext handelt es sich aber lediglich um die »Spitze des Eisbergs«.54 Denn die Ausdrucksweise »persönliche geistige Schöpfung« entbehrt mit ihren wenigen Attributen eines hinreichend scharfen Inhalts bzw. einer bestimmbaren Bedeutung, die aber die Voraussetzung der Bezugnahme auf den Lebenssachverhalt bildet, der auf seine Werkeigenschaft hin überprüft werden soll.55
In der Tat gehen die Meinungen, in welcher Weise der gesetzliche Werkbegriff zu verstehen sei, im urheberrechtlichen Schrifttum auseinander. Die überwiegend herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung folgt dem sogenannten Schöpfungsprinzip.56 Demgegenüber hat der Schweizer Rechtsgelehrte Max Kummer mit seiner Abhandlung »Das urheberrechtlich schützbare Werk« bereits 1968 das Fundament des Urheberrechts grundlegend fortgebildet57 – und liegt seitdem für die Praxis quasi im Hintergrund auf der Lauer. Da seinem Werkbegriff am ehesten ein »Rezeptionsprinzip« zugrunde liegt, wird dieser Begriff bereits an dieser Stelle dem Schöpfungsprinzip entgegengesetzt.
Das vom Urheberrechtsgesetz geschützte Werk wird in Deutschland von der herrschenden Meinung in Literatur58 und Rechtsprechung59 als Ausdruck der subjektiven Wirklichkeit seines Urhebers begriffen und bestimmt. Entsprechend ist das zentrale Kriterium des Werkes die Eigenschaft, die je eigentümliche Individualität seines Schöpfers zum Ausdruck zu bringen.60 Das Werk ist primär nicht Aussage oder Botschaft, sondern in erster Linie unmittelbarster Ausdruck der Urheberpersönlichkeit,61 indem der Urheber durch eine wahrnehmbare Formgestaltung seinen »lebenden Geist«,62 seine mitunter extremen seelischen Zustände, Träume, Fantasien im Werk durch eine spezifische Darstellung veranschaulicht.63
Dieser Gesetzesauslegung durch die herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung liegt eine sogenannte Schöpfungstheorie zugrunde, die von der deutschen Jurisprudenz zum allgemeinen Rechtsprinzip erhoben wird.64 Bei dieser Rechtsidee wird das Werk zum Angelpunkt urheberrechtlicher Entscheidungen gemacht. Im Zentrum des Urheberrechts befindet sich also das von seinem Urheber unabhängig und selbstständig existierende Werk – und damit zugleich auch sein Urheber selbst, der seinen individuellen Geist durch einen genialen Schöpfungsakt ins Werk hineingebracht hat. Kraft Natur der Sache sei es daher gerecht, auf die vorgegebene Individualität seines Schöpfers im Werk Bezug zu nehmen.
Dieser Normzweck von § 2 Abs. 2 UrhG deutet sich bereits im Wortlaut seines Normtextes an. Die Schöpfung des urheberrechtlichen Werkes wird, wenn auch zum Teil nur im übertragenen Wortsinn, in Analogie zur Schöpfung der Welt durch Gott begriffen.65 Der Urheber als autonomes Subjekt bringt ein ebenso autonomes Werk hervor. Und so wie auch der Ungläubige durch seine Vernunft die ewige göttliche Wahrheit erkennen kann, wird auch demjenigen die subjektive Wirklichkeit des Urhebers zuteil, der sich in das Werk einfühlt.
Die gesetzliche Verankerung des Schöpfungsprinzips kann man auch im äußeren System des Urheberrechtsgesetzes finden. Die herrschende Meinung pflegt sie in § 7 UrhG zu sehen: Als allein möglicher Urheber des Werkes gilt der Mensch.66 Nur der Mensch sei in der Lage, als Ergebnis eines kreativen Denkprozesses seinen lebendigen Geist zum geistigen Gehalt des Werkes zu verobjektivieren.67 Diese zentrale Wertung liegt den Anhängern des Schöpfungsprinzips zufolge als Begründungsansatz des Normgebers für den gesamten Urheberrechtsschutz zugrunde, wie ihn § 1 Abs. 1 UrhG postuliert, nämlich den Urheber in seinen persönlichen und geistigen Beziehungen zu seinem von ihm losgelösten und unabhängig existierenden Werk zu schützen, mit dem dieser durch ein unsichtbares geistiges Band verbunden ist.68 Als »menschenrechtlich fundierten Anspruch auf die Zuordnung der Urheberschaft« soll er »lückenlos«69 die gesamte Rechtsanwendung im Urheberrechtsgesetz durchziehen und betrifft damit auch die für diese Untersuchung relevante Verwertung des Werkes durch das Recht zur Aufführung, in der gemäß § 19 Abs. 2 UrhG ein Werk bühnenmäßig dargestellt werden soll, sowie die gesetzlich manifestierte Werkakzessorietät des Rechts des ausübenden Künstlers in § 73 UrhG.
Da hinter dem Werkbegriff aber – wie bei jedem anderen Rechtssatz auch – ein Wille des Gesetzgebers steht, muss zunächst herausgearbeitet werden, welche Bestimmung der Gesetzgeber dem Begriff des Werkes gegeben hat, wonach Werke nur persönliche, geistige Schöpfungen sein sollen. Denn einen »Willen des Gesetzes« gibt es nicht, das heißt, erst wenn die Sichtweise des historischen Gesetzgebers feststeht, kann beurteilt werden, ob in einem zweiten Schritt der Rechtsanwendung dieser ursprüngliche Normzweck auch im Anwendungszeitpunkt fortgilt. Die historische Auslegung ermöglicht es, rational zu kontrollieren und zu kritisieren, ob ein Gesetz bei der Rechtsanwendung gegen seinen Normzweck umgedeutet wurde.
Aus Gründen solcher Methodenehrlichkeit ist für diese Untersuchung auch die klare Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zentral.70 Denn einerseits soll mit dieser Untersuchung eine rationale Kontrollierbarkeit und Kritisierbarkeit der bisherigen Praxis ermöglicht werden, andererseits soll erkennbar sein, wo die Grenze zwischen einer zulässigen Rechtsanwendung liegt, bei der »in denkendem Gehorsam«71 durch Auslegung das aus dem Gesetz herausgeholt wird, was der Gesetzgeber hineingelegt hat, nur sozusagen am Maßstab der Gesamtrechtsordnung »hochgerechnet« (intra ius), und wo das Gesetz, orientiert an einem erkennbaren Wertungsplan der Rechtsordnung, fortgebildet wird – oder wo eine Rechtsanwendung auf eine unzulässige Lockerung der Gesetzesbindung und Gewaltenteilung hinauslaufen würde, weil sich der Rechtsanwender im Wege der »verdeckten Rechtsfortbildung« sozusagen »im Blindflug« zum Herrn des Gesetzes aufschwingt, indem er etwas Neues in das Gesetz hineinlegt, nämlich seinen Regelungswillen (contra legem).
Der Gesetzgeber von 1965 wollte zur Bestimmung des Werkbegriffs ausdrücklich den Inhalt übernehmen, welchen ihm Rechtslehre und Rechtsprechung zuvor gegeben hatten.72
Im Folgenden wird daher ein historischer Überblick über die wichtigsten Ideen und Lehren zum Wesen und zur rechtlichen Natur des Urheberrechts gegeben – aus drei Gründen: Die Entstehungsgeschichte soll erstens den historischen Normzweck präziser ermitteln, als er bereits durch Auslegung des Wortlauts und der Systematik festgestellt wurde.73 Ferner markiert die historische Auslegung des ursprünglichen Normzwecks die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Denn durch Auslegung kann nur das an Bedeutung aus einer Norm herausgeholt werden, was der Gesetzgeber zuvor hineingelegt hat – ansonsten wäre es nicht mehr Auslegung, sondern Einlegung.74 So soll, drittens, eine Eigenwertung als eigenständige Normsetzung offengelegt werden, was den Rechtsanwender zu einer erhöhten Begründung seiner Entscheidung verpflichtet.75
Das Urheberrecht ist in seinem Gang durch die Geschichte eine der »Grosstaten des Rechts der Neuzeit«76.77 Seine Rechtsquellen gehen auf das naturrechtliche Denken im 18. Jahrhundert zurück. Zwar sind die vom Urheberrecht geschützten Interessen uralt.78 Die Grundannahme des modernen Urheberrechts war dem Altertum und dem Mittelalter aber noch fremd: die abendländische Dichotomie von Körper und Geist.79 Die Rechtswissenschaft konnte daher auf keine römischen Rechtsquellen zurückgreifen, sondern musste vollständig neue Ideen und Lehren über das Wesen und die rechtliche Natur des Urheberrechts entwickeln. Wie sich aus der folgenden Entstehungsgeschichte zeigt, ist der Kampf der Meinungen bis heute geprägt von dem Problem, erstens den Rechtsgegenstand herauszuarbeiten, zweitens diesen Rechtsgegenstand von anderen, freien Gütern abzugrenzen und drittens den rechtlich adressierbaren Gegenstand (auf objektiver Basis) seinem Urheber zuzuordnen.
Seine erste wichtige Ausprägung fand die Dichotomie von Körper und Geist durch die Theorie vom geistigen Eigentum.80 Während noch mit der Wende zur Neuzeit den Verlegern – und nicht etwa den Autoren als Urhebern81 – ausschließliche Nachdruckprivilegien erteilt wurden,82 verbreitete sich mit der Aufklärung die Idee des geistigen Eigentums durch eine Hochflut von Veröffentlichungen in ganz Europa83 und trat schließlich an die Stelle84 der spätfeudalistischen Privilegientheorie,85 welche die staatliche Verleihung von Privilegien zum Schutz gegen Nachdruck durch einzelne Drucker, Verleger oder Autoren umfasste.86
In Deutschland wurde die Idee vom geistigen Eigentum als juristischem Begriff erstmals 1690 mit dem Argument formuliert, dass der Nachdruck von Büchern unrechtmäßig ist, obgleich keine kaiserlichen Nachdruckprivilegien bestehen.87 Herrschende Meinung war dies aber noch nicht. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Idee vom geistigen Eigentum insbesondere von Johann Stephan Pütter zu einer Theorie ausgearbeitet, indem er die Interessen des Buchhandels mit dem Streitstand zusammenfasste.88
In seiner Schrift »Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts« (1774)89 differenzierte er zwischen dem Kaufvertrag über das körperlich greifbare Manuskript eines Buches und dem Verlagsvertrag über das im Manuskript verkörperte geistige Gut, weshalb allein der Kaufvertrag nicht zu einem Büchernachdruck berechtigte.90 Die Unzulässigkeit des Büchernachdrucks führte Pütter auf die Herrschaftsmacht des Urhebers über sein Geisteserzeugnis zurück. Die Legitimität dieser Herrschaftsmacht begründete er mit der Schöpfung des Werkes, welches »ursprünglich ein wahres Eigenthum ihres Verfasser [sei], so wie ein jeder das, was seiner Geschicklichkeit und seinem Fleisse sein Daseyn zu danken hat, als sein Eigenthum ansehen kann«.91 Entsprechend der naturrechtlichen Eigentumsideologie92 und im Anschluss an die Arbeitstheorie von John Locke93 wird im 18. Jahrhundert also auch das geistige Eigentum mit der Arbeit gerechtfertigt, die zu seiner Schaffung aufgewendet werden musste, und so juristisch zu erfassen versucht.94 Gemäß der Lehre vom geistigen Eigentum besteht das Wesen des Urheberrechts demnach im Schutz des selbstständig existierenden Geisteswerks, dessen rechtliche Existenz mit einem Analogieschluss zum Sacheigentum konstruiert wird.95 Die Überlegung, wonach »Eigenthum ist, was mir eigen ist, und eigen ist, was mir alleine zugehört«,96 erwies sich also auch hier als äußerst fruchtbar. Mit dieser überpositivistischen, naturrechtlich begründeten Lehre fand das Zeitalter der Privilegien als eines »ewigen« Rechts zugleich nachträglich seine Legitimation, indem sie den Rechtsgegenstand, an dem die Verleger bereits zwischen 1500 und 1800 ausschließlich durch Privileg berechtigt waren, überhaupt erst konstruierte.97 Die Lehre vom geistigen Eigentum ist bis zum heutigen Tag wirksam geblieben. Wie der BGH in seiner »Grundig«-Entscheidung zum geltenden Urheberrechtsgesetz formulierte:
»[d]ie Herrschaft des Urhebers über sein Werk, auf die sich sein Anspruch auf einen gerechten Lohn für eine Verwertung seiner Leistung durch Dritte gründet […], wird nicht erst durch den Gesetzgeber verliehen, sondern folgt aus der Natur der Sache, nämlich aus seinem geistigen Eigentum, das durch die positive Gesetzgebung nur seine Anerkennung und Ausgestaltung findet.«98
Im Hinblick auf die zuerst aufgeworfene Frage nach dem Rechtsgegenstand des Urheberrechts ist damit aber nur ein Anfang gemacht. Denn es stellt sich sofort die Frage, was dieser geistige Gegenstand ist, der da geschützt werden soll. Und was ist daran als das Besondere zu qualifizieren?
Die »Parole«99 vom geistigen Eigentum als ausschließlichem Recht am Werk war rechtsgeschichtlich der »wirksamste Appell«100 »im Kampf um den Schutz der geistigen Arbeit«.101 Mit ihrer Durchsetzung erfuhr sie im 19. Jahrhundert aber eine Läuterung102 und »verschwand« schließlich in der »Mottenkiste der Rechtsgeschichte«.103 In ihrer dogmatischen Ausarbeitung erwies sich der Analogieschluss zum Eigentum als unzulässig, waren doch die Rechtsgüter Sacheigentum und Urheberrecht sowohl in Ansehung des Gegenstandes als auch des Inhalts zu verschieden.104 Insbesondere Kohler fürchtete eine Verwässerung des Begriffs des Eigentums, da der Gegenstand des Geistwerkes nicht die gleiche Abgegrenztheit aufweise wie ein körperlicher Gegenstand, weshalb er oftmals unklar und schillernd bleibe.105
An die Stelle der Theorie vom geistigen Eigentum setzte Kohler zur Beschreibung des Rechtsgegenstandes des Urheberrechts den Begriff des Immaterialgüterrechts.106 Im Hinblick auf die Frage nach dem Rechtsgegenstand erfuhr das Werk so eine maßgebliche Konkretisierung. Denn bislang wurde als Schutzobjekt »einfach das Gedicht, das Musikstück als Eigenthumsobjekt […] [benannt,] ohne Rücksicht darauf, was alt, was neu, was original, was nicht original und was gewöhnlich ist«.107 Allerdings stellten sich damit grundlegende Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem Geschützten und dem Ungeschützten.
Kohler legte seiner Lehre vom Immaterialgüterrecht zunächst die Stellungnahme von Johann Gottlieb Fichte über den kontrovers diskutierten Streit über die Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks108 zugrunde. In seinem »Beweis über die Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks« von 1793 unterschied dieser bei einem Buch »das Körperliche desselben, das bedruckte Papier; und sein Geistiges«, wobei er dieses Geistige weiter ausdifferenzierte »in das Materielle, den Inhalt des Buches, die Gedanken, die es vorträgt; und in die Form dieser Gedanken, die Art wie, die Verbindung in welcher, die Wendungen und die Worte, mit denen er es vorträgt«.109 Diese Unterscheidung führte Fichte zu der rechtlichen Bewertung, dass der Erwerber des Buches Eigentum nur am Manuskript erhalte. Der geistige Inhalt werde demgegenüber mit Veröffentlichung des Buches frei. Nur die Form der Gedanken »die Ideenverbindung, in der, und die Zeichen, mit denen sie vorgetragen werden«110 verblieben, so Fichte, im ausschließlichen Recht des Verfassers; hier habe der Urheber »das Recht, zu verhindern, dass niemand in sein ausschließliches Eigenthum dieser Form Eingriffe thue und sich des Besitzes bemächtigte«.111
Mit der Unterscheidung vom Recht am Manuskript und dem Recht an seinem Inhalt oder besser: an der Form, in der sich der Gedankeninhalt manifestiert, leistete Fichte, wie bereits betont, einen wichtigen Beitrag zur Konkretisierung des Rechtsgegenstandes des modernen Werkbegriffs – nämlich als eines »Gebilde[s] des Gedankeneigentums«.112 In der Jurisprudenz führte er jedoch zu dem klassischen Streit, ob nur die Form oder auch der Werkinhalt urheberrechtlich geschützt sein kann,113 was in Bezug auf die Frage nach der Abgegrenztheit des Rechtsgegenstandes zu maßgeblichen Schwierigkeiten führen sollte.114
Diese Unterscheidung zwischen Form und Inhalt wurde auch von Kohler in seiner Lehre vom Immaterialgüterrecht zugrunde gelegt.115 Dabei entwickelte Kohler aber den Gedanken, dass bei einem auf die bloße (äußere) Form beschränkten Schutzbereich rechtliche »Irrtümer« unterlaufen, wie z. B. bei Übersetzungen, »oder eine[m] zum Schauspiel hergerichtete[n] Roman«.116
»Die Annahme, Kupferstiche von Gemälden seien kein Nachdruck, weil sie die Form verändern, auch das Nachstechen eines Kupferstiches nicht, nur der unbefugte Nachdruck von den Originalplatten, dieser unrichtige Gedanke, [ist] eine Folge solcher prinzipiellen Unrichtigkeit.«117
Um diese Lücke zu schließen, erweiterte Kohler den Rechtsschutz der »Form« auf die »innere Form«, die er der »äußeren Form«, z. B. dem nackten Wortlaut oder dem Sujet, gegenüberstellte. Diese innere Form sei die wesentliche Form, die er definierte als »die Form der Ideenfolge, Ideengruppierung und Ideenbewegung, die Eigenart der Assoziation, Verbindung und Abstoßung von Ideen, überhaupt die individuelle Besonderheit der psychischen Mechanik«.118
Mit dieser Überlegung, wonach auch die »Form der Gedankeneinteilung«,119 die »Gedankenzeichen«,120 geschützt sind, nicht aber der Gedanke selbst, knüpfte Kohler an die Inhaltsästhetik Hegels an, der mit »großer Schärfe«121 den Unterschied zwischen Form und Inhalt weiter entfaltet habe.122 Unter Rückgriff auf die »Vorlesungen über die Ästhetik« aus dem Jahre 1835, bei der Hegel das Schöne als das sinnliche Erscheinen der Idee versteht, war also für Kohler die Form die sinnlich-anschauliche Erscheinung eines Gegenstandes und die der Wahrnehmung sich darbietende Art seiner Darstellung, in der die Gestaltungsmomente seiner äußeren und inneren Form enthalten sind. Demnach steht die Form im Gegensatz zum geistigen Gehalt, den die Form anschaulich offenbart, weshalb auch für Hegel nur das »Eigentum« an der »Art und Weise« des Werkes beim Urheber verbleibt.123
Wesentlich an der Theorie vom Immaterialgüterrecht ist nun, dass Kohler glaubte, auf dieser Basis die innere Form noch vom schutzlosen Gehalt trennen zu können. Denn der inneren Form liege ein »Prototyp« zugrunde, dessen Kern erhalten bleibe, selbst wenn die äußere Schöpfung verändert werde.124Kohler nannte diesen Kern »imaginäres Bild«. Den Kern seiner Lehre bildete damit die Verbindung der Überlegungen von Arthur Schopenhauer125 mit der platonischen Ideenlehre. Denn Kohler dachte, so zu einer Möglichkeit zu gelangen, das Wesen hinter der Erscheinung zu erkennen. Und eben deswegen glaubte er, die innere Form schematisch noch vom schutzlosen Inhalt trennen zu können. In Abgrenzung zum Sujet, der äußeren Fabel,126 erhob er daher dieses imaginäre Bild hinter der inneren und diese hinter der äußeren Form zum Schutzgegenstand des Urheberrechts. Denn Kohler war sich bei künstlerischen Schöpfungen (insbesondere des Realismus) sicher, dass »hinter der individuellen Sache die Idee der Sache lebt«:127
»[D]er Künstler, der durch seine Skizzen das Rohbild der in ihm schlummernden Ideenmacht zu Tage bringt, bekundet damit von selbst, dass dem fertigen Werke ein Vorbild zu Grunde liegen muß, um das sich erst die individuelle Gestalt herumlegt, die ihm der Künstler gibt.«128
Kohler brachte mit dem Begriff des imaginären Bildes mithin zum Ausdruck, dass dem internen Denkprozess als Resultat ein »imaginäres Ideenbild« zugrunde liegt, dessen »Gegenstand« als »von der Form abgelöstes Substrat mit existiert«.129 Nach Kohler handelte es sich bei diesem imaginären Bild also um ein Urbild, das in seiner Reinheit und Unvollkommenheit als Ideal vorbesteht. Hierbei handele es sich um die Emotionen, Träume oder Fantasien seines Urhebers, die es allein rechtfertigen würden, das urheberrechtliche Werk einem Urheber zuzuordnen – und um es so vom nicht geschützten Stoff, dem Sujet, dem freien Inhalt abzugrenzen. Das imaginäre Bild versuchte er in den verschiedenen Kunstgattungen sichtbar zu machen.130 In seiner Stellungnahme zur Musik, die er im Ganzen den Schriftwerken zuschlägt, heißt es:
»Beim Tonbild handelt es sich, wie beim lyrischen Gedicht, um einen Stimmungseindruck, der darauf beruht, dass der Tonmeister eine bestimmte Empfindung in eine ihr entsprechende Fassung von Tönen zu bringen versteht, was darin begründet ist, dass die Tonverbindungen eben in uns eine ganz einzigartige Stimmung zu erzeugen vermögen.«131
Hieraus wird deutlich, dass nach Kohler urheberrechtlich nur die individuelle Emotion von Bedeutung ist, die sozusagen direkt aus der Seele des Urhebers in das Werk eingeht:
»Wie jedes künstlerische Streben, so kann natürlich auch dieses ein bewusstes oder ein unbewußtes sein: […] Ja selbst der Autor, welcher im Somnambulismus oder in einem ähnlichen psychopathischen Zustand Werke macht, genießt den Autorschutz, da gerade in diesen Zuständen oftmals die Seele sich zum höchsten Schwunge begreift.«132
Kohlers Lehre vom Immaterialgüterrecht ging also davon aus, dass das Werk als Ausdruck der subjektiven Wirklichkeit seines Schöpfers zu verstehen ist. Problematisch daran ist aber, dass diese Idee erst dann justiziabel wird, wenn sie eine wahrnehmbare Formgestaltung gefunden hat, mithin dann, wenn sie zumindest für einen kurzen Augenblick auf einem Objekt der Körperwelt fixiert wird – und so das imaginäre Ideenbild dem Betrachter erscheinen kann. Das Problem seiner Theorie vom Immaterialgüterrecht liegt also darin, dass das imaginäre Bild bis heute imaginär geblieben ist.133 Denn allein die Behauptung, es wäre ein Wesen hinter der Erscheinung vorhanden, genügt nicht, sondern dieses muss zwecks rechtlicher Beurteilung auch erkennbar sein. Die Theorie vom Immaterialgüterrecht ist aber nicht imstande, überzeugend zu erklären, wie und warum ein Werk, das als Ausdruck der Individualität eines Urhebers erschaffen wurde, von einem Rechtsanwender daraufhin überprüft werden könnte, ob sich dieses ideale Urbild im urheberrechtlich geschützten Werk auch tatsächlich rein und unverfälscht ausgedrückt hat. Mit Recht hat daher insbesondere Ulmer,134 unter Berufung auf de Boor,135 dargelegt, dass die Konstruktion des Autorrechts als eines Immaterialgüterrechts einen anfänglichen Fehler enthält, der in der rechtlichen Bewertung schließlich dazu führt, dass der gesamte inhaltliche Bestand eines (Sprach-)Werkes von dem Schutzbereich der inneren Form einverleibt wird, schmilzt doch der Begriff des freien Inhalts weitestgehend zugunsten der inneren Form, wenn der Begriff der inneren Form beliebig weit in den freien Inhalt ausgedehnt werden kann, was die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt als willkürliche Grenzlinie »demaskiert«,136 eben weil man dialektisch herausstellen kann, »dass der Inhalt nichts ist als das Umschlagen der Form in Inhalt, und die Form nichts als Umschlagen des Inhalts in Form«.137 Die Versuche, aus den Begriffen »Form« und »Inhalt« objektive Kriterien herauszuarbeiten, um das Besondere vom Allgemeinen, das Geschützte vom Ungeschützten zu unterscheiden, sind daher gescheitert. Der Begriff vom imaginären Bild wurde in der Folge dann auch zu Recht in der Rechtswissenschaft ganz überwiegend abgelehnt.138
Damit konnte aber die Forderung, geschützt sei nur die Form, urheberrechtlich nicht aufrechterhalten werden. Denn wenn man die Form lediglich als etwas versteht, das dazu dient, etwas wahrnehmbar zu machen, ist die Aussage, geschützt sein kann nicht das, was noch gar nicht existiert, eine Banalität. Die Form dagegen zu definieren als etwas, das auf einen geistigen Inhalt verweist, und nur dessen wahrnehmbare Form zu schützen, führt, das hat Kohler treffend herausgearbeitet, etwa bei Übersetzungen zu Fehlschlüssen, die nur durch eine Ausweitung der Form in den Inhalt zu retten wären, was aber auf einer objektiven Grundlage nicht gelingen kann.139
Diese Ausdifferenzierung in Form und Inhalt ist auch in der Rechtsprechung auf Ablehnung gestoßen.140 In der amtlichen Gesetzesbegründung des Urheberrechtsgesetzes von 1965 heißt es daher, dass als persönliche geistige Schöpfungen Geisteswerke anzusehen seien, »die durch ihren Inhalt oder durch ihre Form oder durch die Verbindung von Form und Inhalt etwas Neues und Eigentümliches darstellen«.141 Auch der BGH geht in ständiger Rechtsprechung in Bezug auf Sprachwerke davon aus, geschützt seien grundsätzlich sowohl die Gedankenformung und -führung des dargestellten Inhalts als auch die besonders geistreiche Form und Art der Sammlung, Einteilung und Anordnung des dargebotenen Stoffes.142
Wie gezeigt, vermag die Theorie vom Immaterialgüterrecht nicht befriedigend zu erklären, wie und warum ein Werk, das als individueller Ausdruck der Urheberpersönlichkeit geschaffen wurde, von einem Rechtsanwender daraufhin überprüft werden könnte, ob sich dieses ideale Urbild im urheberrechtlich geschützten Werk auch tatsächlich rein und unverfälscht ausgedrückt hat. Die Kritiker der Theorie des Immaterialgüterrechts versuchen diesem Dilemma nun dadurch zu entgehen, dass sie die Möglichkeit einer »Einfühlung« in die Urheberpersönlichkeit behaupten. Anstelle der Unterscheidung von Form und Inhalt, von materiellem und immateriellem Eigentum, wie sie von Fichte, Hegel, Schopenhauer und Kohler vertieft wurde, gehen sie dabei von der Annahme aus, dass der subjektive Geist selbst im Werk festgelegt ist und sich entsprechend verobjektiviert. Ihre klassische Darstellung findet diese Ansicht bei Otto von Gierke,143 nach welchem das Urheberrecht ein Persönlichkeitsrecht sei, weil es ein Recht an der eigenen Seinsweise sei. Individualität wird entsprechend von ihm bestimmt als der durch Formgebung individualisierte Gedankeninhalt, »dessen Gegenstand ein Geistwerk als Bestandteil der eigenen Persönlichkeitssphäre bildet«.144
Diese personenrechtliche Konstruktion des Urheberrechts geht auf Immanuel Kant zurück. In seiner Schrift »Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks«145 stellte dieser die – vielfach als »seltsam«146 beschriebene – These auf, dass »im Werk« der Autor selbst spreche,147 sodass dessen »angeborenes Recht in eigener Person«148 verletzt sei, wenn sein Werk in unberechtigter Weise von einem anderen vorgetragen werde, also einem Vertreter ohne Vertretungsmacht.
Aus diesem von Kant als »ius personalissimum« bezeichneten Recht gewann Johann Caspar Bluntschli seine Überzeugung, dass das von einem Urheber erschaffene Werk »eine Offenbarung und ein Ausdruck seines persönlichen Geistes«149 sei. Es sei daher ein Gebot der Rechtsordnung, die Relation zwischen Urheber und Werk, zwischen »Schöpfer und Geschöpf«150 als ein subjektives Recht zu schützen. Wie gesagt, war es in Deutschland aber vor allem von Gierke, der diese Theorie zur »Lehre vom Persönlichkeitsrecht« weiterentwickelte: Das Werk gehöre insoweit dem Urheber, wie es Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit sei.151
Zwar gab auch Kohler zu, dass das urheberrechtliche Werk mit seinem Schöpfer durch »einige individualrechtliche Beziehungen«152 zusammenhängt. Aber weil er nicht davon ausging, dass sich im Werk selbst die Urheberpersönlichkeit manifestiert, sondern dieses imaginäre Bild bereits ohne »Einfühlung« erkannt werden könne, handele es sich bei der Beziehung des Urhebers zu seinem Werk nicht um eine Beziehung zu sich selbst, sondern um die Beziehung eines Vaters zu seinem »geistigen Kind«.153 Daher sei der Urheber mit seinem Werk auch lediglich durch die in der Vergangenheit liegende Tatsache des Schöpfungsaktes verbunden.154 Die Persönlichkeitsrechte seien streng von den »Autorrechten«155 zu unterscheiden, weshalb die Theorie vom Immaterialgüterrecht auch als »dualistische Theorie«156 bezeichnet wird. Der Schöpfer schaffe das Geisteswerk als eine von ihm ablösbare und tradierbare unkörperliche Sache, der unabhängig von ihrem Urheber eine eigene Existenz zukomme.157 Das Urheberrecht sei daher »ein außerhalb des Menschen stehende[s], aber nicht körperlich, nicht faß- und greifbare[s] Rechtsgut«.158
Da die Theorie vom Immaterialgüterrecht aber, wie bereits betont, weder zu erklären noch zu rechtfertigen vermag, wie und warum ein Werk, das als Ausdruck der subjektiven Wirklichkeit seines Urhebers verstanden werden soll, von anderen auf seinen Wahrheitsgehalt hin beurteilt werden soll, warf von Gierke der Theorie vom Immaterialgüterrecht vor, dass aus ihr nicht hervorgehe,
»dass die positive Rechtsordnung die Grenzen der Herrschaft an einem so verselbständigten Gute aus der Person seines Schöpfers bestimmt. Und sie nimmt nur kraft eines wenig folgerichtigen Verfahrens in den Inhalt dieses dinglich angelegten Rechtes an einem äußeren Gute auch den Schutz der rein persönlichen Beziehungen des Urhebers zu seinem Werke auf.«159
Der Theorie vom Immaterialgüterrecht wurde daher zu Recht vorgehalten, dass das Urheberrecht zu einem bloßen Vermögensrecht »verkümmere«.160 Denn der wesentliche Inhalt des Urheberrechts liegt hiernach lediglich in der Verwertung des Geisteserzeugnisses, sodass sich das Wesen des Urheberrechts »in bloße fremde Unterlassungen verflüchtigt«.161 Damit würde man aber, so der Vorwurf, »dieses Recht der besonderen gegenständlichen Beziehung [berauben], durch die es sich von anderen absoluten Rechten unterscheidet«.162 Und diese besondere Beziehung liege eben darin, dass sich der Urheber selbst in seinem Werk manifestiere, weshalb das urheberrechtliche Rechtsgut also keinesfalls außerhalb, sondern vielmehr innerhalb des Menschen stehe. Die Moral gebiete es daher, den Urheber auch in seinen ideellen Beziehungen zu seinem Werk zu schützen, und zwar in Form des sogenannten Urheberpersönlichkeitsrechts, des »droit moral«.163
Damit standen sich zunächst die Theorie vom Urheberrecht als einem reinen Vermögensrecht einerseits und die Theorie vom Urheberrecht als einem reinen Persönlichkeitsrecht andererseits gegenüber. Diese beiden Theoriestränge führte – unter expliziter Erwähnung der eigentlichen Unvereinbarkeit – Philipp Allfeld zu der bis heute vorherrschenden »monistischen Theorie« zusammen, gemäß welcher sowohl vermögensrechtliche als auch persönlichkeitsrechtliche Aspekte in einem einheitlichen Urheberrecht untrennbar miteinander »verwurzelt« sind.
»Das Urheberrecht ist also kein reines, es ist ursprünglich überhaupt kein Vermögensrecht. Es ist das in der Person wurzelnde, durch die Thatsache geistigen Schaffens zur Entstehung kommende, ausschließliche Recht, über die Kundgabe des Erzeugnisses dieses Schaffens an Andere zu bestimmen. Näher betrachtet, geht das Recht des Urhebers dahin, zu bestimmen, ob und wie, in welcher Form [Seitenwechsel] und zu welchen Zwecken das Werk kundgegeben werden solle.«164
Eugen Ulmer erklärt diese Zusammenführung bekanntermaßen mit den Wurzeln eines Baumes, dessen einheitlicher Stamm das Urheberrecht sei. Die urheberrechtlichen Rechte seien die Äste und Zweige, die ihre Kraft bald aus beiden Wurzeln, bald aus einer von ihnen ziehen.165 Um zwischen gemeinfreien und denjenigen Elementen eines Werkes unterscheiden zu können, die dem Urheber zugeordnet werden können, wird daher nicht zwischen Form und Inhalt differenziert, sondern das Werk selbst als Manifestation der Urheberpersönlichkeit begriffen. Mit Ulmer wird entsprechend davon ausgegangen, dass nur die individuellen Züge des Werkes Gegenstand des urheberrechtlichen Schutzes sind – und zwar in Abgrenzung zu dem im Werk ebenfalls verkörperten geistigen Gemeingut.166 Die Rechtsprechung hat dieser Auslegung des gesetzlichen Werkbegriffes beigepflichtet und fordert seitdem in ständiger Rechtsprechung für Werke der bildenden Kunst einen »ästhetischen Gehalt, der einen solchen Grad erreicht, dass nach den im Leben herrschenden Anschauungen noch von Kunst gesprochen werden kann«.167
Im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage nach dem Rechtsgegenstand des Urheberrechts ist das urheberrechtliche Werk damit als Ausdruck der subjektiven Wirklichkeit ausgewiesen. Zusammenfassend kann es mit Heinrich Hubmann wie folgt charakterisiert werden. In seinem Beitrag »Das Recht des schöpferischen Geistes« heißt es in Bezug auf die subjektive Wirklichkeit:
»Die göttliche Schöpfung hat dem Menschen Raum für selbständiges Schöpfertum gelassen. Immer wieder greift der persönliche Geist in die Tiefen seines eigenen Wesens und holt aus seiner Individualität eigene Vorstellungen, Stimmungen und Erlebnisse herauf, in der Werkstatt seiner Seele spinnt er eigene Gedanken und Bilder.«168
Dem Problem, wonach man nicht feststellen konnte, ob sich die vom Urheber intendierte Wirklichkeit auch tatsächlich ausgedrückt hat, versucht Hubmann durch die Manifestation der Urheberpersönlichkeit im Werk zu entgehen, indem er meint, »dass bei ihr der individuelle Geist selbst in eine äußere Form eingeht, dass er sich objektiviert und Ausdruck gewinnt, dass er sozusagen selbst Gestalt annimmt und aus dieser Gestalt wiedererkannt werden kann«.169
Durch diese Einfühlung kraft Affinität, was Schleiermacher das »Alleben« nennt,170 kommt Hubmann zu dem Schluss:
»Nun […] können wir feststellen, welche geistigen Erzeugnisse Eigentum eines einzelnen Menschen sind und ihm ausschließlich gebühren. Es sind diejenigen geistigen Inhalte und Formen, die nicht aus allgemeinen Quellen stammen, sondern vom persönlichen Geist aus seinem eigenen Inneren neu geschaffen sind und deren Hervorhebung nur mit individuellem Einsatz möglich war.«171