Der vergessliche Tod - Peter Burkhard - E-Book

Der vergessliche Tod E-Book

Peter Burkhard

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Beschreibung

Die unterhaltsamen, teilweise ausgefallenen Kurzgeschichten von Peter Burkhard geben dir einen Einblick in die wundersamsten Dinge, welche Menschen wie dir und mir widerfahren können. Wie kommt ein Rentner dazu, seinem Nachbarn tote Vögel vors Küchenfenster zu hängen und wie ist es möglich, dass ein Toter plötzlich seinen Arm bewegt? Oder möchtest du erfahren, warum eine junge Frau Besuch ihrer längst verstorbenen Vorfahrin erhält und was Mike mit einem Schuhkarton auf dem Friedhof sucht? Die Erklärungen dazu und weitere spannende Geschichten von teils noch lebenden Kreaturen findest du in diesem Taschenbuch der besonderen Art. Lesespass, der dich nachdenklich zurücklässt, ist garantiert!

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Seitenzahl: 138

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Der vergessliche Tod

Der vergessliche Tod – und 18 weitere skurrile GeschichtenImpressum

Der vergessliche Tod – und 18 weitere skurrile Geschichten

Inhalt

Die toten Vögel im Baum

Ich muss nochmals weg

Der Klang der Stille

Der vergessliche Tod

Tod in der Aare

Besuch aus dem Jenseits

Die Schwarze Witwe

Hundert Gedichte

Cleas Verschwinden

Luang lächelt

Grenzerfahrung

Das Ventil

John und Quan

Zage Mordgelüste

Und du, du willst Sex?

Wo der Himmel ans Wasser reicht

Held wider Willen

Das Kind an der Treppe

Die Sache mit Heinz

Vorworte

Ich bin eine Vielleserin und Freundin guter Erzählungen.Als solche bin ich eine Leserin von Peters Kurzge­schichten. Seit ich ihn und seine Kurzprosa im Forum des Schrei­blust-Verlages entdeckt habe, gehöre ich zu seinen Fans.Warum? Weil er klassische Kurzgeschichten schreibt. Mit einem Anker zu Beginn, einer klaren Prämisse und einer deutlich erkennbaren Pointe.Die Geschichten plätschern keineswegs einfach vor sich hin! Sie strömen in eine bestimmte Richtung, – auch wenn mir diese oftmals erst am Schluss klar wird. Vielfach werden die Kurzgeschichten erst dann richtig rund, wenn man das Ende kennt, – und so kann man rückblickend die Pointe noch besser genießen.Einiges in seinen Erzählungen ist böse, anderes tragisch, manches spannend oder witzig. Mit der einen oder anderen Kurzgeschichte hat er den “besten-ersten-Satz-Kontest“ gewonnen.Wie wäre es hiermit:“Beim Erwachen am vorletzten Sonntagmorgen fragte ich mich ernsthaft, ob es in Costa Rica erlaubt wäre, Hunde kurzerhand zu erschießen.“ Wenn das kein erster Satz ist, der mich ködert! Außerdem wird hier die Geschmacksrichtung der Geschichte bereits festgelegt: Ein wenig böse darf es in Peters Kurzprosa werden.In der titelgebenden Geschichte “Der vergessliche Tod“ findet sich überdies so viel trockener Humor wieder, dass ich kaum aus dem Grinsen herauskomme. So eine Tod-Story habe ich definitiv noch nicht gelesen. Wie erfrischend! Sehr heiter. Und das, obwohl derjenige, der sie erzählt, ja alles andere als glücklich über den Fortgangdes Geschehens ist.Peter schafft es mit wenigen Sätzen, Figuren zum Leben zu erwecken. Ich kann sie gleichermaßen hören. Und se­hen. Und riechen.Sofern es ein erzählendes Ich gibt oder viel Dialog, wird auch schnell das gute Ohr des Autors klar. Die Figuren klingen authentisch. Die Dialoge sind fluffig und gut zu lesen, alle haben ihre eigene Stimme.

Ich wünsche viel Spaß mit den neunzehn Kurzgeschich­ten aus der Feder von Peter Burkhard!

Yvonne Tunnat, Kiel

Wer hat schon alles im Griff?Wir geben uns zwar Mühe, versuchen unser Bestes und gestalten unser Leben und unseren Alltag. Die einen spontan und aktiv, die anderen eher abwartend. Aber eben, wer weiß schon, wie das Ganze enden wird…Der Einblick in das Tun und Lassen anderer ist dabei eine willkommene Erweiterung unseres Horizonts. Somit kommt das vorliegende Bändchen von Peter Burkhard gerade recht. Seine Kurzgeschichten haben es in sich, und dass sie dermaßen gehaltvoll sind, lässt auf ein waches Auge und ein ausgeprägtes Interesse an Menschen und ihren Handlungsweisen schließen.Einmal spielt die Handlung direkt vor unserer Nase auf dem Balkon, ein andermal in konkret genannten Gegen­den der Welt, welche der Autor auf seinen zahlreichen Reisen kennengelernt hat. Immer wieder fließen Erlebnis­se und kulturelle Eigenheiten, oft witzig geschildert, in die Erzählungen ein. Manchmal ist das Geschehen jedoch irgendwo anzusie­deln, ganz nach Vorstellung der Leserinnen und Leser. Aber unabhängig von Orten und Personen, Peter Burkhard hat die besondere Gabe, auf seinen Reisen auch unscheinbare Gegebenheiten wahrzunehmen. Und nichts ist ihm zu gering, dass es nicht verdient hätte, in eine reiche Sprache umgesetzt zu werden. Dies alles macht den Erzählband zu einer echten Schatztruhe.Egal, ob es sich um eine Betrügerei, ein Verbrechen oder einfach um ein auferlegtes Schicksal handelt – der Autor schildert die Personen und Abläufe als neutraler Beobachter und überlässt es den Leserinnen und Lesern, sich der Handlung und ihren Protagonisten anzu­schließen, sich davon zu distanzieren oder sich selbst ertappt zu fühlen. Langweilig wird es dabei bestimmt nicht. Wie im realen Leben sind verschiedene Stränge gleichzeitig am Laufen, gleiten ein Stück parallel dahin, überschneiden sich oder laufen einander entgegen. Der Autor versteht es, die Leserinnen und Leser vom ersten Satz an zu packen und die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten.Oft folgen mehrere Aussagen dicht aufeinander. Wir brauchen einigen Atem, um alles im vorgegebenen Tempo zu erfassen, sind gefordert und haben nicht viel Zeit zum Fantasieren. Aber, einmal eingestiegen, können wir gar nicht anders als dranzubleiben – bis zum Schluss. Dort, wo die Protagonisten gewollt, durch Zufall oder durch Schicksal hingekommen sind, und wir mit ihnen.

Franz Frei, Uster

Die toten Vögel im Baum

Die beiden Rentner Norbert Hahn und Axel Streit be­wohnten mit ihren Gattinnen zwei übereinanderliegende Eigentumswohnungen, die Hahns oben, die Streits im Erdgeschoss. Herr und Frau Streit besaßen zudem ein kleines Stück Rasen, welches an einen viel begangenen Wanderweg grenzte. Entlang der Grenze, zwischen Grundstück und Weg, hatte Herr Streit seinerzeit Bam­bus gepflanzt, welcher einzig dazu diente, die freie Sicht der Fußgänger auf seine Wohnung zu verhindern. Rechts neben ihrem Sitzplatz wuchs ein prächtiger, circa vier Meter hoher Feigenbaum, welcher zum Verdruss des Ehepaars Hahn bis vor deren Küchenfenster ragte.

Die beiden Paare konnten einander nicht ausstehen. Die gegenseitige Abneigung ging so weit, dass die Parteien, durch das Wohneigentum zur Nachbarschaft verdammt, sich das Leben schwer machten, wo es ihnen möglich war. Herr Hahn und seine Frau störten sich nicht nur an den Ästen des Baums vor ihrer Küche. Genauso verhasst war ihnen der kleine Kläffer der anderen, welcher seine Ge­schäfte ungestraft auf deren gepflegtem Rasen verrichten durfte. „Eine Schande ist das“, empörte sich die Hahn jeweils, wenn sie dem Hund zusah, wie er sich erleichterte. Am meisten aber ärgerten sich die zwei über den Bambus, weil er ihnen die Sicht auf den Wanderweg nahm.Um ihre Widersacher ihrerseits zu schikanieren, hängte Herr Hahn, gedrängt durch seine Angetraute, zwei Vo­gelhäuschen an die Markise des Balkons. Worauf, wie er­hofft, ihre gefiederten Freunde Unmengen an Futterrest­en, Körnern und Vogeldreck auf die Blumen­beete darunter fallen ließen. Zudem hatte er an der Decke seines Balkons die Attrappe einer Videokamera installiert, welche dank ihres rot blinkenden Lämpchens ihren Zweck vollauf erfüllte.

Einen ersten Höhepunkt erreichten die Streitereien nach einer Serie bissiger Briefe vom Erdgeschoss. Norbert Hahn trat in die Küche und wedelte mit dem neusten Schreiben: „Der nächste Angriff! Hör dir das an, … ver­lange ich ultimativ, dass Sie die widerrechtlich angebrach­te Videokamera umgehend entfernen, sonst …“ Er rückte die Brille zurecht und wollte Luft holen, doch seine Frau fiel ihm ins Wort: „Vergiss es! Natürlich lässt du die Ka­mera, wo sie ist, so weit kommt’s noch!“Und so blieb die Attrappe, wo sie war.Axel Streit wusste sich in seiner Not nicht besser zu hel­fen, als sämtliche Ersatzreifen, die sein Peiniger in der ge­meinsamen Tiefgarage gelagert hatte, eines frühen Mor­gens heimlich auf die Straße zu befördern. Was, wie nicht anders zu erwarten, dessen Rache heraufbeschwor.„Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“, brummelte er, als er kurze Zeit später den Feigenbaum mit einigen toten Vögeln behängte, die den letzten Winter nicht überstanden hatten und die er wohlweislich in einer Schachtel aufbewahrte.Die beiden Ehefrauen standen ihren Männern in nichts nach. Frau Hahn ließ einmal, rein zufällig natürlich, ver­dorbenes Fleisch vom Balkon fallen, als der verhasste Wischmopp unter ihnen durchs Gras tollte. Immerhin, der kleine Hund überlebte die Attacke nach kurzer, aber heftiger Leidenszeit.So wogten die Streitigkeiten über Jahre hin und her. Hie und da führten die Zustände im Haus auch zu eheinter­nen Reibereien, unter denen der feinfühlige Herr Streit besonders litt. Einmal, nach einem solchen Ehezwist, meinte er zu seiner Frau: „Solange von uns vieren noch mehr als eine Person in diesem Haus lebt, herrscht Krach! Erst wenn mindestens drei gegangen sind, wird in diesen Mauern wieder Frieden einkehren, es ist ein Graus.“„So ist es“, erwiderte seine bessere Hälfte süffisant, „und solltest du es sein, der als Allerletzter geht, dann denk ge­fälligst daran: Der Letzte macht das Licht aus.“ Ihre spitze Entgegnung entlockte ihm ein eher mutloses Lächeln, doch dann umarmte er sie.

Frau Hahn wurde sechs Jahre nach ihrem Mann in den Ruhestand versetzt. Dank der neu gewonnenen Freizeit machte sie es sich zur Gewohnheit, auf ein Kissen ge­lehnt, aus dem offenen Fenster den Wanderfreunden zu­zuschauen, welche an schönen Tagen zuhauf vor ihrem Haus vorbei pilgerten. Oft begleitete sie die Wanderer in ihren Gedanken und ging mit ihnen ein Stück des Weges, um darauf ernüchtert wieder in ihre kleine Welt zurück­zukehren. Dann wischte sie sich traurig ein paar Tränen aus den Augen, wohl wissend, dass sie ihren Mann nie dazu bewegen könnte, mit ihr auf Wanderschaft zu ge­hen.Dem Ehepaar Streit blieb das Tun der verachteten Nach­barin über ihnen nicht verborgen und sie freuten sich die­bisch, wenn sie sahen, dass der Bambus in den Sommer­monaten gut gedieh und hoch hinaus wucherte.Als Frau Hahn eines Tages die Ausflügler hinter der Wand aus Halmen nur noch erahnen konnte und Herr Streit nicht gewillt war, diese zurückzustutzen, platzte ihr der Kragen. „Geh zum Friedensrichter!“, schrie sie ihren Mann an, „koste es, was es wolle.“Herr Hahn tat, wie ihm geheißen war. An einem Herbst­morgen trafen sich die beiden Rivalen auf dem Friedens­richteramt.­

Die Verhandlung war zäh, die zwei Männer zeigten sich wenig einsichtig. Sie hatten es allein der tatkräftigen Unterstützung des Vermittlers zu verdanken, dass sie letztlich doch noch zu einem Vergleich kamen. Die Streithähne einigten sich darauf, dass der eine jeweils im Mai und der andere ebenso bis Ende November, den Bambus auf eine Höhe von hun

dertvierzig Zentimeter zu­rückzuschneiden hatte. Die Einigung kam allerdings nur mit einem Widerrufsvorbehalt zustande, der es den bei­den Kontrahenten erlaubte, die Meinung ihrer kämpferi­schen Gattinnen einzuholen. Eine knappe Woche nach dem richterlichen Termin, hielt der Friedensrichter das erwartete Einschreiben in Händen, mit dem Vermerk 

Vergleich abgelehnt

.

Der folgende Winter war sehr hart. Herr Streit wurde schwer krank, Bambus und Feigenbaum erfroren und viele Jahresvögel hielten der Kälte nicht stand und starben. Auch der geschwächte Mann kämpfte vergeblich, er er­lebte die ersten Frühlingstage nicht mehr und seine Wit­we verlor vollends den Boden unter den Füßen. Sie ver­nachlässigte das Grundstück und kümmerte sich weder um den ruinierten Bambus, noch um den toten Feigenb­aum, aber am allerwenigsten interessierten sie die Nach­barn über ihr.Auch diese litten. Nicht etwa wegen der tragischen Ereignisse unter ihnen, sondern weil ihnen ein Teil ihres Lebensinhaltes abhandengekommen war. Der Ausblick aus dem Küchenfenster war plötzlich frei, nichts mehr trübte die Aussicht auf den Wanderweg. Der kleine Hund, der alte Störenfried, entzog sich ihren Blicken im Gras des wuchernden Gartens und schiss im Versteckten. Die Kamera-Attrappe blinkte umsonst und selbst Körner undVogeldreck blieben unbeachtet in den Beeten der Nachbarin liegen und als die Tage wärmer wurden, öffneten sich darin vorher nie gesehene Blüten. Frau Hahn begann sich zu langweilen, die Tage ohne die gewohnten Ärgernisse waren öde. Ihr Gemahl suchte fortan Befriedigung beim Autowaschen und saß schon nachmittags vor dem Fernseher. In den zwei übereinander liegenden Wohnungen der streitbaren Ehepaare verflogen Fehden und Zerwürfnisse und schafften Platz für Trübsal und Tristesse.

Bald nach dem Tod ihres Mannes verkaufte Frau Streit ihre Wohnung und zog, zusammen mit dem kleinen Hund, in die Seniorenresidenz Sonnmatt. Sie bewohnte künftig Zimmer Nummer 012, einen schönen, hellen Raum im Erdgeschoss, mit einer Außentür, die direkt in den Garten führte. Dort war die Witwe häufig anzutreff­en, wenn sie unter den Bäumen vor sich hindämmerte.Eines Abends, Frau Hahn stand am Bügelbrett, wandte sie sich an ihren Mann: „Du, sag mal Norbi, wie lange ist das nun her, dass die Streit von hier weggezogen ist, drei Wochen oder sind es gar vier?“„Weiß ich doch nicht“, brummte ihr Mann und stellte den Ton des Fernsehers lauter, „das interessiert mich nicht, Hauptsache, wir sehen die nie wieder!“Sie nickte: „Ich frag bloß. Du hast schon recht, das wäre das Schlimmste, was passieren könnte, aber so übel wird uns das Schicksal ja wohl nicht mitspielen!“„Hmm.“

Wenig später hießen die Hahns ihre neuen Nachbarn willkommen, eine junge, sympathische Familie mit drei Kindern. Einen Großteil ihrer Freizeit verbrachten die quirligen Mitbewohner auf dem Sitzplatz vor dem Haus,zusammen mit Frieda, einer sabbernden Deutschen Dog­ge. Wenn es das Wetter zuließ, feierten und musizierten sie an den Wochenenden im Kreis ihrer Freunde am selbst gebauten Grill. Es dauerte allerdings nicht lange, bis das alte Ehepaar auch der jungen Familie überdrüssig wurde. Herr Hahn meinte zu seiner Frau: „Liebste, mir schwebt vor, ins Altersheim zu ziehen, ich bin müde und mag nicht mehr streiten.“„Du hast recht“, erwiderte sie, „wenn wir Glück haben, ist ein schönes Zimmer frei, wo wir unsere letzten Jahre in Ruhe und Frieden verbringen können.“Schon nach kurzer Wartezeit erhielten die beiden ein schönes, geräumiges Doppelzimmer im ersten Stock der Sonnmatt zugeteilt, Nummer 112.„Jetzt schau dir das an“, Frau Hahn geriet ins Schwärmen, „dieses große Fenster und dieser herrliche Blick auf den Garten, wir haben es wirklich toll …“ Sie hielt mitten im Satz inne und erstarrte. Dann, nach ein paar Momenten brach es aus ihr heraus: „Um Himmels willen, nein, nein, das darf doch nicht wahr sein! Norbert komm her! Komm schon her und schau dir das an!“Unten im Schatten sanft wiegender Bambusgräser saß, wie wenn nichts wäre, Frau Streit. Sie las und schien völ­lig ungeniert die Ruhe zu genießen und wie wenn damit der Sache nicht Genüge getan wäre, rekelte sich der Wischmopp neben ihr im Gras.

Der kleine Hund wurde vierzehn Jahre alt. Immer spätabends, wenn es niemand sehen konnte und das Al­tersheim im Dunkeln lag, öffnete Frau Streit leise ihre Außentür einen Spaltbreit und ein paar Minuten später kehrte ihr alter Wegbegleiter, erleichtert und vollkommen unbemerkt zurück ins Zimmer.

Ich muss nochmals weg

Mit der zittrigen Hand eines greisen Mannes, aber prä­gnant und mit sorgfältiger Schrift, schrieb Martin die Zeile auf einen Fetzen Papier:Ich muss nochmals weg.Da­nach legte er den Zettel auf die Kommode im Flur und beschwerte ihn mit einem glänzend polierten Stein.

Er fühlte sich bereit für sein Vorhaben und ging früh zu Bett.

Als Martin am folgenden Morgen die Lamellen der Schlafzimmerjalousien etwas anhob, bemerkte der Früh­aufsteher als Erstes die Spatzen vor seinem Fenster. Und er sah, dass die Sonne schien. Das war schon einmal bes­ser, als wenn es an diesem Tag geregnet hätte. Mehrmals zupfte der alte Mann die Decke auf seinem Bett zurecht. Dann ging er durch die Räume, kontrollierte, ob nirgends mehr Strom floss, zog die Badezimmertüre zu und verließ das Haus.

Den Entschluss dazu hatte er kurz zuvor gefasst, am Abend seines 86. Geburtstages. Der Jubilar hatte den ganzen Tag allein verbracht, niemand hatte ihn besucht oder angerufen. Keine einzige Glückwunschkarte hatte ihn erreicht, auch kein Brief und keine E-Mails, es schien so, als hätte man ihn einfach vergessen. Die letzten zehn Monate waren schwer zu ertragen gewe­sen, seit sie ihn allein zurückgelassen hatte. Schon lange hatte er mit seinem Schicksal gehadert, inzwischen aber war ihm endgültig klar geworden, dass er für die anderen nicht mehr existierte. Was also hätte ihn noch halten sol­len?

Martin überlegte nicht lange. Ohne einen Plan ging er zum See und folgte dessen linkem Ufer See-abwärts. Als er das Ende des Gewässers erreicht hatte, folgte er dessen Ausfluss, bis dieser in den nächstgrößeren Fluss mündete. Nun hielt sich der Wanderer an diesen, bis auch dessen Wasser sich mit den Massen eines noch größeren Wasser­laufs vermengten. So ging er während Tagen und Wochen, immer den Ufern nach. Er marschierte allein, sprach mit niemandem, außer hie und da mit sich selbst, obwohl er auch den Sinn dieser Selbstgespräche anzweifelte.Zuerst noch fragte er sich, ob vielleicht doch jemand be­merkt haben könnte, dass der Alte weg war?Wohl kaum, dachte er,denn sonst hätte mich sicher die Polizei aufgehal­ten, um mir mitzuteilen, dass ich vermisst werde und um sich zu erkundigen, wohin ich ginge. Aber niemand schien sich dafür zu interessieren.

Mit jedem Tag wurden seine Schritte beim Marschieren leichter, seine starren Gelenke, die versteiften Muskeln, alle seine alten Körperteile begannen sich zu entkrampfen und machten ihm das Gehen je länger je einfacher. Und wenn es ihm doch einmal schwerfiel oder das Wetter nicht mitspielte, dann nahm er sich die Zeit und legte eine Pause ein. Nichts trieb ihn, nichts hinderte ihn, nichts hielt ihn auf, Martin ging und folgte dem Lauf des Wassers. Manches, was der rüstige Alte beim Gehen am Weg sah, rief Dinge in ihm wach, die einmal in seinem Leben wichtig gewesen waren. Vieles aber nahm er gar nicht wahr, weil sein Denken sich lieber in Erinnerungen ver­strickte, in Rückblenden, für die er jetzt alle Zeit der Welt hatte. Immer und immer wieder kehrten seine Gedankenin die Vergangenheit zurück. Sie fanden sich in seiner Ju­gendzeit wieder oder verweilten bei all den schönen Mo­menten, mit denen sein Leben reich gesegnet war.Nur wenn Familienmitglieder versuchten, in seine Ge­dankenwelt vorzudringen, vertrieb er diese fest entschloss­en, seine Angehörigen hatten in seinen Lebensbildern nichts mehr verloren.

Manchmal waren es Straßennamen, gelegentlich Wirts­hausschilder, hie und da nur kleine Begebenheiten am Wegrand, welche die Schubladen seines Gedächtnisses öffneten und kleine, witzige oder traurige Geschichten hervorholten. So wie die zwei Rockertypen, welche ihn mit dem Wum­mern und Krachen ihrer Motorräder zurückversetzten zu jenem 29. Mai, seinem Geburtstag. Das war der Tag, als ihn seine Schulklasse damit überrumpelte, dass er mit ei­ner geliehenen Harley-Davidson zweimal um das ganze Dorf donnern durfte, bis weit den Berg hinan, um die entfernteste Ecke der Gemeinde und wieder zurück zum See. Diese Geste seiner Schüler war das umwerfendste Geburtstagsgeschenk, das er je erhalten hatte.Keine Erinnerungen aber vermochten ihn glücklicher zu stimmen als die an seine unzähligen Reisen in die Länder aller Kontinente. Ob allein auf Fotopirsch im südlichen Afrika oder noch lieber mit ihr auf den Vulkanen Javas, in den Wüsten des Omans oder an den Salzseen der chileni­schen Anden, reisen war seine Passion gewesen. Mit ihr an seiner Seite hatte er große Abenteuer erlebt, welche die Welt ihm zu Füßen gelegt hatte. Sie war nicht nur eine verlässliche, unkomplizierte Reisebegleiterin gewesen, sondern sein Lebensquell bis zu ihrem letzten Tag. Umso trauriger stimmte es ihn nun, dass ihm ihr Name für immer entfallen war.