Von Begegnungen, die nie stattgefunden haben - Peter Burkhard - E-Book

Von Begegnungen, die nie stattgefunden haben E-Book

Peter Burkhard

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Beschreibung

Wenn das nur gut geht ... in den neuesten Kurzgeschichten von Peter Burkhard. Ob auf den Spuren längst Verstorbener, auf der heimlichen Flucht in ein abgelegenes Bergtal oder gar einer skurrilen Reise nach New York: Kein Ort der Welt scheint für die Hauptpersonen dieser Erzählungen unerreichbar zu sein. Andere tauchen unter, klopfen zu früh ans Himmelstor oder biken auf den Spuren ihres Idols durch die Wüste. Fast könnte man meinen, die ganze Welt spiele verrückt. Dabei sind es bloss Berichte über Reisen und Begegnungen, die nie stattgefunden haben. Neugierig geworden? Dann steigen Sie ein und reisen Sie mit ...

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Inhalt

Der Sinneswandel – oder ein Schelm

,

wer ...

Irren ist mehr als nur menschlich

Der kleine Schwarzmaler

Anna liest Kurzgeschichten

Hans im Glück

Der geläuterte Engel

Tauchstation

Die verlorene Spur

Die Kreuzotter

Elvezia oder eine Begegnung, die nie ...

One life one soul

Gefangen im Rattenloch

Lakeballs mit Erfahrung

Treiben lassen in Cahuita

Im Reich der Brüllaffen

Santiago, das Schlitzohr von Ampascachi

Arturos Plan

Kirenias Ultimatum

Vorwort

Du hältst meinen zweiten Band mit Kurzgeschichten in der Hand.

Es sind Erzählungen von nicht alltäglichen Situationen, die so nie stattgefunden haben und denen Du kaum je begegnen wirst.

Lass Dich ein auf diese kleinen Geschichten voller spannender, vielfach auch berührender Schicksale, die Dich zum Nachdenken anregen sollen oder zum Schmunzeln.

Manche Handlungen enden versöhnlich oder romantisch, andere steuern auf ein dramatisches Ende hin. Wieder andere werden Dich verblüfft zurücklassen oder Deine Fantasie zum Weiterspinnen des Fadens anregen.

Hauptsache, Du zögerst ein bisschen, bevor Du das Büchlein nach dem Lesen zuklappst.

Bestimmt werden Dir in diesem kleinen Werk die zahlreichen farbigen Illustrationen auffallen.

Von Sue Bebié gestaltet, bereichern und beleben sie meine Texte auf einzigartige und unnachahmliche Weise. Ich möchte diese tolle Zusammenarbeit keinesfalls missen.

Viel Spaß beim Lesen, lass der Leseratte in Dir freien Lauf ...

... und Dank

Mein herzlicher Dank für die wertvolle Unterstützung beim Gestalten dieses kleinen Buches richtet sich an

Jolanda, Marie-Theres, Franz und Susan

Der Sinneswandel – oder ein Schelm, wer Böses dabei denkt

Heinz nahm einen kräftigen Schluck Bier, ließ den Humpen auf die Platte des Stammtisches krachen und donnerte in die Runde: „Niemals. Jedenfalls nicht, solange ich lebe!"

„Na, das werden wir ja sehen", maulte Sepp, der ihm gegenüber saß und überheblich grinste. „Auch du bist nur ein Mensch und wirst zuletzt nachgeben, wie die anderen auch. Da gehe ich jede Wette ein."

Damit traf er seinen Saufkumpan im Innersten.

Auf seine geballten Fäuste gestützt wuchtete Heinz seinen Oberkörper über den halben Tisch. „Du getraust dich, meine Standhaftigkeit in Zweifel zu ziehen? Worum wetten wir?“

„Um deine Tiere, die kannst du sowieso nicht mehr halten, wenn du verlierst. Ich setze meine teure Armbanduhr dagegen.“ Seelenruhig zog Sepp den linken Ärmel hoch und präsentierte seinen edlen Zeitmesser.

„Okay, ich bin einverstanden, aber ich werde die Wette gewinnen, das schwöre ich dir. Und ihr", er blickte triumphierend in die Gesichter der Männerrunde, „seid meine verdammten Zeugen!"

Noch zur selben Stunde löste sich vor dem Gasthaus Zum Wilden Mann die Gruppe der aufgebrachten Kameraden auf, von denen keiner ahnte, wie die Abmachung der beiden Hitzköpfe ausgehen sollte.

Mitten auf Heinz Feierabends quadratischem Grundstück, einem Flecken Land von respektabler Größe, befand sich sein Geburtshaus. Dem Zerfall trotzend, stand es hier seit mehr als hundert Jahren und, davon war der Alte nicht abzubringen, niemand sollte es wagen, Hand daran zu legen. Die letzten, welche versucht hatten, ihm seinen Besitz abzuluchsen, waren Vertreter eines Immobilienunternehmens gewesen, welches auf seinem Boden und den angrenzenden Grundstücken riesige Wohnblocks errichten wollte. Deren Bemühungen blieben prompt vergeblich, denn anders als die Landbesitzer um ihn herum war Heinz keinesfalls bereit, der Verlockung des großen Geldes nachzugeben.

An einem verregneten Junimorgen, der Frühaufsteher war eben daran, die zwei Schwarznasenschafe und seine Gänseschar zu füttern, fuhren an der Nordseite seines Grundstücks Bautrupps mit Baggern auf. Im Verlauf von wenigen Tagen rissen sie die drei benachbarten Einfamilienhäuser aus den Sechzigerjahren nieder, sortierten und entsorgten den Bauschutt und planierten das gesamte Gelände.

Heinz haderte mit seinem Schicksal, er wusste genau, was dies zu bedeuten hatte: Der Kampf zwischen David und Goliath hatte begonnen. Wütend und mit wachsender Verzweiflung beobachtete er das Geschehen und wandte sich Hilfe suchend an seinen Sohn, in dem er seinen einzigen Verbündeten vermutete.

„Du wirst sehen, Lars, die werden rundherum alles platt machen, nur um Betonklötze in die Höhe zu ziehen. Am Schluss werde ich enden wie ein Gefangener, geächtet und abgeschnitten von der Umwelt.“ Mutlos schob der alte Mann den gebratenen Reis von sich, dem er sonst nur mit Mühe widerstehen konnte.

Der Junior nickte und stocherte mit der Gabel im Teller herum. „Ganz bestimmt werden die das tun und wenn du nicht einlenkst, kannst du dir die Sonne in Zukunft an deine Fensterscheiben malen. Paps, ich verstehe dich vollends, aber ich halte deinen Widerstand für zwecklos und schlussendlich schadest du nur dir selbst.“

Heinz ballte seine rechte Hand zur Faust und fuhr dazwischen: „Gib dir keine Mühe, in diesen Mauern sind wir beide aufgewachsen und habe ich mein Lebtag gehaust.

Unter diesem Dach will ich sterben. Basta!“

Lars, der gekommen war, um seinem Nächsten zuzuhören, erhob sich wortlos, räumte das Geschirr weg und wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen. „Ich werde wieder kommen, wenn du dich beruhigt hast. Schlaf gut, Paps.“

Der rebellische Vater sollte recht behalten. Schon bald nach dem Abriss der ersten Häuser wurden die stillgelegte Sportanlage östlich und eine verwaiste Fabrikanlage im Süden seines Grundstücks ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht. Unaufhaltsam und bedrohlich veränderte sich die gewohnte Umgebung des Alten. Sie schien nur darauf zu lauern, auch seinem maroden Häuschen den Garaus zu machen. Selbst seine Nachbarn, auf deren Kontakt mit ihm er nie viel gegeben hatte, waren binnen Kurzem alle weg. Und, davon war er überzeugt: Es war ihnen völlig schnurz, was mit ihm und seinem kleinen Domizil geschehen würde.

Einmal, Heinz rackerte in seinem Garten, stand unerwartet eine weißhaarige Frau, welcher er noch nie zuvor begegnet war, vor seinem Grundstück. Sie hielt sich am Gatter der Umzäunung, sah ihm bei der Gartenarbeit zu und wartete, als ob sie eine Verschnaufpause nötig hätte.

„Alles okay bei ihnen?“, rief Heinz ihr zu und ließ seinen Spaten ruhen. Die Frau nickte, zog einen gelblichen Briefumschlag aus ihrer Einkaufstasche und streckte ihn ihrem verblüfften Gegenüber hin.

„Was wollen sie? Ich benötige nichts und will auch nicht bekehrt werden. Also gehen Sie!“

Doch der ungebetene Zaungast dachte nicht daran und gab dies dem mürrischen Krauter durch Handzeichen zu verstehen. Als sie partout nicht gehen wollte, stiefelte Heinz unwirsch auf sie zu.

„Haben Sie nicht gehört oder sind Sie schwer von Begriff?

Sie sollen mich in Ruhe lassen.“

Die alte Frau fuchtelte mit dem Umschlag. „Ich werde gleich wieder gehen, aber vorher möchte ich Ihnen dies hier geben. Lesen Sie es in aller Ruhe, es wird Ihnen keinen Schaden bringen.“

Widerwillig nahm der Griesgram das Kuvert entgegen und brummelte etwas von „und jetzt gehen Sie endlich, ich habe zu tun“, bevor er ihr den Rücken zuwandte und sie achtlos stehen ließ.

In den folgenden Wochen geschah Erstaunliches.

Heinz las den Brief und suchte daraufhin den Kontakt zu Fanny, der Besucherin am Zaun. Bald darauf und nicht selten sahen ihn die Menschen im Nachbardorf locker plaudernd mit seiner neuen Bekanntschaft spazieren gehen. Der zornige alte Mann wandelte sich und obwohl die schnell wachsenden Neubauten immer größere Schatten auf sein Eigentum warfen, gewann er zunehmend an Gelassenheit.

Eines Abends war Lars bei seinem Vater eingeladen.

Noch beim Einlass in sein Haus flüsterte Heinz seinem Sohn ins Ohr: „Wir sind heute zu dritt beim Essen und es gibt Neues zu berichten.“

Lars, hocherfreut über den neu gewonnenen Umgang seines Vaters, spielte den ganzen Abend den Charmeur. „Du scheinst ja kleine Wunder bei meinem alten Herrn zu bewirken. Ich habe den Eindruck, dass er in letzter Zeit eine richtige Veränderung durchgemacht hat. Toll, wirklich, es macht mich glücklich.“

„Ja", antwortete Fanny, „wir verstehen uns ausgezeichnet und tun einander gut. Sag es ihm, Heinz, erzähle ihm von unseren Plänen!"

„Also gut." Er zögerte kurz und griff nach Fannys Hand, dann überwand er sich. „Mein Sohn, ich werde meinen Grund und Boden verkaufen."

„Was?!" Lars wieherte und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Sag das noch einmal."

„Ich werde ihn verkaufen. Aber nur, wenn ...", nochmals hielt Heinz trotzig inne, „diese Immobilienheinis auf meine Bedingungen eingehen werden."

Als das kleine Haus viele Wochen später kurz vor dem Abriss stand, lebte Heinz bereits seit geraumer Zeit mit Fanny im Nachbardorf und Sepp hatte die Schafe und das Federvieh längst abgeholt.

Mit Unterstützung zweier Kumpels war Lars zu nächtlicher Stunde damit beschäftigt, letzte Habseligkeiten seines Vaters vor der Abfuhr zu retten. Dabei fiel sein Blick auf einen kleinen Stapel Briefe. Er öffnete den zuoberst liegenden, eine Kopie des Kaufvertrages und überflog deren Zeilen. Das Papier besagte, dass die Immobiliengesellschaft seinem Vater die restlose Erfüllung seiner Bedingungen über den Verwendungszweck des Grundstücks zusicherte. Lars kannte die Einzelheiten und legte das Blatt auf die Seite. Dann entnahm er einem gelblichen, bereits geöffneten Umschlag einen Brief und begann die in sorgfältiger Schrift geschriebenen Zeilen zu lesen:

'Lieber Herr Feierabend Ich bin Fanny Braun, die Witwe Ihres vor sechs Jahren verstorbenen Arbeitskollegen Willy und ich habe vernommen, was die Leute im Dorf über Sie und Ihr Schicksal reden. Ich hatte leider bisher nie die Gelegenheit, Sie persönlich kennenzulernen, aber Willy hat über Sie immer nur Gutes berichtet. Bitte erlauben Sie mir, mit Ihnen über Ihre vertrackte Situation zu sprechen. Es ist mir ein echtes Bedürfnis, gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, die Sie aus Ihrer Not herausführen könnten.'

Lars ließ das Schreiben verwundert sinken und stierte für einige Momente regungslos vor sich hin. Nachdem er noch die restlichen Zeilen gelesen hatte, faltete er den Brief zusammen und legte ihn zurück zu den Gegenständen, die er für seinen Vater zusammentrug.

Anschließend trat er vor sein Elternhaus, wo in einem alten Fass ein helles Feuer loderte und knisternd Funken in den sternenklaren Himmel schickte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und blickte schweigend ins unendliche Universum.

Anderthalb Jahre später an einem milden Samstagnachmittag fand in einer Ecke der neu eröffneten Grünanlage eine bescheidene Feier statt. Heinz und seine Gefährtin saßen als Ehrengäste in der vordersten Reihe der zahlreich Anwesenden, exakt dort, wo Monate zuvor noch seine kleine Trutzburg gestanden hatte. Viele waren gekommen: lokale Politiker, Neuzuzügler, die Pfarrer beider christlichen Konfessionen und die Stammgäste des Wilden Mannes, unter ihnen Sepp, Fannys Bruder. Als Lars unter Beifall und mit unübersehbarem Stolz das Tuch von der rostigen Stele zog, auf welcher als Initiant und Spender der Name seines Vaters prangte, spürte dieser Fannys innigen Händedruck.

Ihm war, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass er das Richtige getan hatte.

Vom nahen Tümpel war das Schnattern streitender Enten zu vernehmen.

Irren ist mehr als nur menschlich

Unsereins hat sich das Sterben einfacher vorgestellt, zügiger auf jeden Fall.

Leider lerne ich gerade, dass es dauern kann, den Jordan zu überschreiten.

Mein Coupon trägt die Nummer 117. Auf dem Monitor über mir flimmert schon seit ein paar Minuten die 92, als wäre die Zeit ins Stocken geraten. Wenn dieser greise Türsteher die Zutrittsberechtigungen weiterhin im gleichen Tempo kontrolliert, wird es Abend werden, bis ich passieren kann.

Seit Stunden sitze ich auf dieser kleinen Bank und warte gelangweilt und freudlos auf Einlass. Dabei drehen sich meine Gedanken ständig nur um zwei Fragen: Was ist der Grund meines Ablebens und was wäre wenn? Schon als ich noch lebte, hatte ich öfters über ein ähnliches Thema philosophiert: Wo wäre ich heute, wenn ich damals bei x einer Gelegenheit einen anderen Weg eingeschlagen hätte? Eine schlüssige Antwort fand ich nie. Aber die Fragestellung ist berechtigt, da bin ich mir sicher: Wenn ich mich nur einmal im Leben an einer Verzweigung anders entschieden hätte, dann säße ich nicht jetzt vor dieser Pforte.

Die letzte Möglichkeit, eine andere Wahl zu treffen, bot sich mir vor anderthalb Tagen.

Wenn ich auf Joes Geburtstagsfeier verzichtet und damit das Debakel des Abends nicht mitverschuldet hätte, wäre wahrscheinlich alles anders gekommen.

Das Fest war in vollem Gange, alle vergnügten sich. Ich wollte mich nützlich machen und war dabei, ein Tablett voller liebevoll gefertigter Häppchen von der Küche über ein paar Stufen in den Garten zu tragen. Luna, die unberechenbare Hündin meiner Schwägerin, lag friedlich am oberen Ende der Treppe. Sie schien mich bewusst zu ignorieren, den verlockenden Bissen, die auf den hübschen Platten lagen zum Trotz.

Um sie ein wenig zu foppen, neigte ich leicht das Tablett, damit sie besser sehen konnte, was ihr entging.

„Na Luna, die hättest du wohl ...“, ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

Am Ende des Tumultes lagen alle Köstlichkeiten verteilt über zwei Gartenbeete. Eines der Tischchen war in einer Pfütze von Wein, Bier und Smoothies und in zersplitterten Gläsern gelandet, während Luna jaulend das Weite suchte. Sonja, das am meisten betroffene Opfer, starrte ungläubig auf ihre mit Rotwein durchtränkte Fashion-Hose und dann auf meine Schwägerin, welche schuldbewusst aus der Küche angeschossen kam.

„Um Himmels willen, war das Luna? Was ist denn vorgefallen? Großer Gott, das tut mir furchtbar leid! Wo steckt denn das böse Mädchen, wo?“

Nach einer kurzen Schockstarre wurden wir uns schnell einig, dass so etwas passieren konnte. Also hieß es zuerst alles aufsammeln, dann Schwamm drüber und weiterfeiern. Hierzu lieh meine Schwägerin ihrer Freundin eine Trainingshose für den Rest des Abends.

Obwohl meine Provokation an die Adresse der Hündin unbemerkt geblieben war, nahm ich die Schuld für das Chaos auf mich und bot Sonja an, ihre Hose zur Reinigung zu bringen.

Schade nur, dass mein Schicksal meine noble Attitüde nicht zu honorieren wusste: Denn heute Vormittag, kurz nachdem ich das teure Stück aus der Express-Reinigung geholt hatte, ließ es mich zu Tode kommen.

Nummer 105 leuchtet auf. Es geht vorwärts, langsam, aber immerhin. Ein betagtes Pärchen durfte nach einem längeren Geplänkel mit dem Türsteher soeben passieren.

Unter mir ist die Wolkendecke partiell aufgerissen und ermöglicht mir einen Blick auf die Erde. Was für eine ungewöhnliche Perspektive.

Deutlich lässt sich erkennen, wie sich die Nacht langsam über die Arabische Halbinsel ans Mittelmeer schiebt.

Bald werden Afrika und Europa im Dunkeln liegen, während sich Hunger in mir breitmacht und ich noch immer hier sitze.

Ob allein der Entscheid, Joes Feier zu besuchen, meinen Hinschied bewirkt hat? Meine Zweifel an dieser Logik mehren sich. Ich musste schon vorher auf ein falsches Gleis geraten sein.

An der Ursache meines Todes hingegen gibt es nichts zu deuteln: Ein unglückliches Zusammentreffen, etwas Lautes, Heftiges hat mich ins Jenseits befördert.

Weshalb bloß entzieht es sich völlig meiner Kenntnis, was genau geschehen ist und warum?

Vielleicht war es gar nicht ich, der sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befand. Möglicherweise war es der oder die andere oder sogar mehrere Personen, welche mir fatalerweise in die Quere gekommen waren. Ich muss diese Ungewissheit verdrängen, um nicht vollends zu verzweifeln. Bloß wie?

Längst hat der Nachtschatten das Rote Meer geschluckt und die Wolkendecke ist verschwunden. Links unter mir erstreckt sich der Unterlauf des Nils, an dem sich Städte und Oasen wie eine gelblich glitzernde Perlenkette auf schwarzem Grund aneinanderreihen. Wunderbar anzusehen ist die Welt von hier aus und friedlich, weil man das Leiden der Kreaturen im Finstern nicht sehen kann und hier oben auch nicht hören.

Na also, endlich. Es ist so weit, die Anzeige des Monitors befreit mich aus meiner Grübelei: Nummer 117 prangt in großen Zahlen vom Monitor.

Ich möchte aufspringen, doch mein Rücken zwingt mich zu mehr Besonnenheit beim Aufstehen und noch ein letztes Mal verliert sich mein Blick nach unten.

In ganz Europa funkeln mir die großen Städte und ein dichtes Netz von Lichterfäden entgegen. Wie unendlich beschaulich zeigt sich die Erde zu meinen Füßen. Alles Glück und aller Schrecken sind unter einer schwarzen, Eintracht verheißenden Decke verhüllt.

Der Türsteher versprüht Ungeduld, blickt suchend um sich. „Nummer 117 ist an der Reihe. Nummer 117?!“

Ich trete unsicheren Schrittes ans Tor und ringe um Haltung. „Entschuldigen Sie bitte, ich war gedanklich abgeschweift. Aber sagen Sie mir doch, was ist geschehen, warum bin ich hier?“

Petrus – so steht es auf seinem Namensschild – blättert wortlos in seinem Ringheft, liest und runzelt die Stirn.

„Ah ..., einen Moment, es gibt da, mmh ..." Wieder verstummt der Greis und mit jeder Zeile, die er überfliegt, scheint sich seine Miene zu verdüstern.

„Mmmh ..., da ist anscheinend etwas schiefgelaufen. Es macht den Eindruck, dass da zwei Lebensläufe durcheinandergeraten sind.“ Er nickt: „Ja, es ist leider so: Du bist zu früh gekommen, das wäre der Termin deines Bruders Joe gewesen.“

Meine Knie beginnen zu zittern, das Blut weicht mir aus den Adern. „Aber, was heißt durcheinander, wie ist so etwas möglich?“

Petrus kratzt sich nervös am Kopf und scheint zögerlich zu einem Entschluss zu gelangen. „Es ist mir ein wenig peinlich, aber du musst nochmals zurück. So will es die Hausregel, es tut mir leid. Solche Missgeschicke sind unangenehm, sehr sogar, aber sie kommen leider hin und wieder vor.“

Peinlich? Missgeschicke? Unangenehm? Mein Kopf scheint nächstens zu explodieren ...

Ich möchte eine Erklärung und versuche mich zu wehren, doch die Ohnmacht droht meine Stimme zu ersticken.

„Was heißt das?“, stoße ich hervor, „was bedeutet dies für Joe und mich? Muss er jetzt ...?“

Petrus versucht zu beschwichtigen: „Bleib ruhig, du wirst schon sehen, alles kommt gut.“

Der Klingelton meines Handys unterbricht jäh seine Plattitüde.

„Hörst du“, meint der alte Mann, „man verlangt nach dir, geh schon ran.“

Vibrierend tanzt mein Mobiltelefon zu Purple Rain auf meinem Arbeitspult und reißt mich aus meiner Mittagsruhe: Johanna.

„Schatz, denk daran, pünktlich um 18 Uhr in der Europaallee. Und vergiss nicht, vorher noch unsere Flugtickets abzuholen!“

„Meinst du wirklich, dass wir zu dieser Feier gehen sollen?“ Ein unheilvolles Gefühl beschleicht mich. Es ist, als würde mir jemandes Schicksal in die Hand gelegt, ohne mich wissen zu lassen, wozu und von wem. „Wir müssen morgen sehr zeitig raus, die Kanaren erwarten uns.“

Doch ich beiße auf Granit. „Keine Diskussion, mein Lieber. Es ist Joes Fünfzigster und da können wir nicht kneifen. Also sei pünktlich und enttäusche mich nicht, tschüüüüss.“

Verunsichert und deprimiert lehne ich mich in meinem Bürosessel zurück und wische Staub, von dem ich nicht weiß, woher er kommt, vom rechten Hemdsärmel. Mich schaudert, irgendetwas stimmt hier nicht.

Ein Blick auf die Armbanduhr: Es ist halb sieben.

Gelächter und lautes Stimmengewirr dringen vom Garten um die Hausecke.

„Schau mich an.“ Mit kritischem Blick zupft Johanna meine Krawatte zurecht. „Jetzt stell dich nicht so an. Joe freut sich und wir müssen ja nicht ewig bleiben.“

Joe. Mein Bruder Joe. Wieder meldet sich mein Unterbewusstsein, lässt mein Innerstes gefrieren und ich weiß nicht warum.

„Liebling, worauf wartest du?“

Ich zucke zusammen, blicke stumm in die Augen meiner geliebten Frau und klingle kurz an der Tür.

Der kleine Schwarzmaler