DER VERTAUSCHTE KOFFER - Victor Gunn - E-Book

DER VERTAUSCHTE KOFFER E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Das vornehme Geschlecht der Staffes steht vor dem Aussterben. Es gibt nur noch den alten Kapitän Horatio Staffe und seinen Neffen Jimmy Warrender, der zu seiner Überraschung nach High Matcham auf den einsam gelegenen Stammsitz der Staffes eingeladen wird. In der Hoffnung auf ein reiches Erbe will Warrender seinen zuvor nie gesehenen Onkel Horatio besuchen. Auf der nächtlichen Fahrt nach Südengland bleibt sein Wagen nach einem Unfall stecken. Als er zu Fuß und mit seinem Koffer das nächste Dorf ansteuert, gerät Warrender in eine unheimliche Szene: Zwei Männer heben im Wald ein Grab aus. Als er flüchtet, greift sich Warrender versehentlich den Koffer der Totengräber. Nach einem angstvollen Marsch erreicht er endlich High Matcham. Der Inhalt des Koffers: 250.000 Pfund aus einem Postraub, der seit vier Monaten Englands Polizei in Atem hält!

Der Roman Der vertauschte Koffer von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Victor Gunn

 

 

Der vertauschte Koffer

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 131

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER VERTAUSCHTE KOFFER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Das vornehme Geschlecht der Staffes steht vor dem Aussterben. Es gibt nur noch den alten Kapitän Horatio Staffe und seinen Neffen Jimmy Warrender, der zu seiner Überraschung nach High Matcham auf den einsam gelegenen Stammsitz der Staffes eingeladen wird. In der Hoffnung auf ein reiches Erbe will Warrender seinen zuvor nie gesehenen Onkel Horatio besuchen. Auf der nächtlichen Fahrt nach Südengland bleibt sein Wagen nach einem Unfall stecken. Als er zu Fuß und mit seinem Koffer das nächste Dorf ansteuert, gerät Warrender in eine unheimliche Szene: Zwei Männer heben im Wald ein Grab aus. Als er flüchtet, greift sich Warrender versehentlich den Koffer der Totengräber. Nach einem angstvollen Marsch erreicht er endlich High Matcham. Der Inhalt des Koffers: 250.000 Pfund aus einem Postraub, der seit vier Monaten Englands Polizei in Atem hält!

 

Der Roman Der vertauschte Koffer von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER VERTAUSCHTE KOFFER

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Jimmy Warrender hatte wirklich die Nase voll. Alles ging heute schief. Die verstopfte Benzinleitung hatte ihn vor Winchester eine volle Stunde gekostet, und er konnte High Matcham jetzt nicht mehr rechtzeitig zum Abendbrot erreichen. Es war das erste Mal, dass sein braver kleiner Ford ihn im Stich ließ, und auch diesmal war eigentlich nicht das Auto schuld; irgendwo musste er schlechtes Benzin getankt haben. Die Uhr zeigte halb acht - planmäßig hätte er sich jetzt die Füße an der Türschwelle des Heims seiner Vorfahren abtreten sollen.

Das Wetter war, seit er London verlassen hatte, ununterbrochen stürmisch gewesen, mit gelegentlichen Regenböen; aber jetzt, wie um seine Schwierigkeiten noch zu vergrößern, wurde der Sturm zum Orkan, der mit wilder Kraft durch den Neuen Wald fuhr. Die Straße war mit wirbelnden. Blättern und abgebrochenen Zweigen wie besät; unmöglich, jetzt Gas zu geben und ein ordentliches Tempo zu fahren. Selbst Jimmy wagte das nicht.

»Das soll der Teufel holen«, sagte er übellaunig vor sich hin. So ein Märzwetter sollte polizeilich verboten werden. Das mochte für Grönland oder die Antarktis passen, aber es war nichts, was man sich in Südengland bieten zu lassen brauchte, wenn dem Kalender nach Frühlingsanfang sein sollte. Und als nun der kleine Wagen wieder einmal durch ein Stück offenes Gelände kam, fasste ihn der Wind von der Flanke und riss Jimmy das Steuerrad fast aus der Hand.

Der letzte Schimmer des Tageslichts verschwand vom westlichen Himmel. Bösartig drohende Wolkenmassen jagten einander. Schon lange hatte Jimmy kein Haus mehr zu sehen bekommen, und allmählich kam er zu der Überzeugung, sein Onkel müsse in einer Wildnis leben.

Sein Onkel...

Wie würde ihn sein Onkel wohl empfangen, wenn er in High Matcham mit mehr als einer Stunde Verspätung auftauchte? Dumm, dass dies der erste Eindruck sein sollte, den der alte Herr von ihm erhielt; denn bisher hatte er ihn überhaupt noch nicht kennengelernt. Kapitän Horatio Staffe, früher bei der Kriegsmarine, stellte den feudalen Zweig der Familie dar: echter Landadel, so hochnäsig, dass bis jetzt kein einziger Staffe Jimmys Existenz überhaupt zur Kenntnis genommen hatte.

Der kleine Wagen schlidderte auf dem Asphalt, und eine Gänsehaut lief Jimmy den Rücken herunter, als er sich am Steuerrad abmühte. Etwas Schwarzes, Schattenhaftes war kurz vor ihm über die Straße hinübergeschossen; nur mit Zentimeterabstand war er vorbeigekommen. Aus dem Augenwinkel warf er noch einen Blick auf dieses Wesen, das zwischen den windgepeitschten Bäumen verschwand, und stellte erleichtert fest, dass es wenigstens kein Gespenst gewesen war.

»Das auch noch!«, sagte er böse. »Eine verstopfte Ansaugdüse, tobender Sturm und eine öde Wildnis sind wohl noch nicht genug! Ponys müssen auch noch die Straßen unsicher machen! Ich kann von Glück reden, wenn ich noch vor dem Schlafengehen ankomme!«

Der Zwischenfall bewies ihm die Notwendigkeit, vorsichtig zu fahren. Er hatte ganz vergessen, dass man im Neuen Wald häufig streunende Wildponys antreffen kann. Das Tier war so plötzlich wie ein Gespenst vor seinem Scheinwerfer aufgetaucht, dass er nur mit Mühe und Not einem Zusammenprall entgangen war. Er mäßigte die Geschwindigkeit noch weiter und erlaubte seinen Gedanken, zu dem Thema seiner verehrten Familie zurückzukehren. Jimmys Vater hatte so tief unter den feudalen Staffes gestanden, dass Jimmys Mutter, obwohl sie deren einzige Tochter war, von ihnen bei der Eheschließung in Acht und Bann getan worden war.

Das war heute alles vorbei, alle diese Menschen lebten nicht mehr. Jimmys Eltern waren schon kurz nach dem Krieg gestorben, und jetzt war der alte Kapitän, soweit Jimmy wusste, das einzige noch lebende Mitglied der Familie Staffe. Darum überraschte ihn ja der Brief seines Onkels so sehr, obwohl er doch nur ein paar Zeilen enthielt, die besagten, dass er, Onkel Horatio, Jimmy gern kennenlernen möchte, falls der junge Mann geneigt sein sollte, nach High Matcham zu kommen.

Jimmy, Assistent des Leiters der Fernseh-Abteilung beim britischen Rundfunk in Lime Grove, hatte gerade seinen einwöchigen Urlaub, und da er weder für Golf noch ähnliche Laster viel übrig hatte, hielt er die Gelegenheit für gut, die Bekanntschaft seines betagten Verwandten zu machen. Sein Chef bestärkte ihn in diesem Vorhaben; denn es hatte sich bei ihm eine Unmasse von Manuskripten angesammelt, und er nahm an, dass Jimmy in einem alten Landhaus mit viel Muße sich diese Manuskripte vornehmen werde, da er dort keinen besseren Zeitvertreib finden konnte.

»Verrückt!«, murmelte Jimmy, als er an diese Manuskripte dachte. »Mein halber Koffer ist von diesem blöden Zeug voll, und ich zweifle sehr, dass ich dazu kommen werde, auch nur eines davon anzusehen. Wahrscheinlich sind doch dort viele Gäste, man wird auf die Jagd gehen... Das fehlte mir übrigens noch!«

Auch an einem Pirschgang hatte er nicht das geringste Interesse. Er war mittlerweile so deprimiert, dass er es schon bedauerte, sich überhaupt auf diesen Ausflug eingelassen zu haben. Je mehr er an Onkel Horatio dachte, umso mehr bereute er, ihm telegrafiert zu haben, dass er pünktlich um halb acht Uhr bei ihm sein werde.

Der Onkel musste wohl ein harter, strenger alter Mann sein, stolz und unbeugsam, der ihn ohne Zweifel mit kaum verhüllter Abneigung betrachten würde, da Jimmy für ihn nur das unglückliche Ergebnis des Fehltritts seiner jüngeren Schwester darstellte. Kein einziger der feudalen Staffes hatte es ihr je verziehen, dass sie den lustigen, jungen Mechaniker geheiratet hatte, der eines Tages im Schloss erschienen war, um das Sportkabriolett der Tochter des Hauses zu reparieren.

Jimmy musste lachen, und seine Stimmung besserte sich, als er daran dachte, welchen Schock es für die feinen Staffes bedeutet haben musste, als dieser fröhliche, junge Mechaniker - Jimmys Vater - das Mädchen in ihrem eigenen Wagen entführte. Es war in der Tat für sie ein solcher Schlag gewesen, dass die ganze Staffe-Gesellschaft von dieser Minute ab jede Verbindung mit ihr abgebrochen hatte...

»So eine Unverschämtheit!«, sagte Jimmy ärgerlich. »Man könnte denken, dass Papa aussätzig gewesen wäre! Ich weiß gar nicht, warum ich hinfahre, mir diesen verdammten Onkel anzusehen!«

Während er weiterfuhr, der Wind ihm um die Ohren pfiff und der dunkle Wald auf beiden Seiten der Straße dahinglitt, sann er über seinen verstorbenen Vater nach. Die Staffes hatten gar keine Veranlassung gehabt, ihn so tief zu verachten: Er war zwar nie reich geworden, aber er hatte bis zu seinem Tode eine gute Stellung bei einer angesehenen Automobilfirma bekleidet; er hatte für seine Frau ausreichend gesorgt und seinem Sohn eine gute Erziehung angedeihen lassen.

Lediglich ein Gedanke hatte Jimmy veranlasst, die Fahrt überhaupt zu unternehmen, und man muss leider gestehen, dass dieser Gedanke höchst materialistisch war. Warum hatte wohl der alte Mann, der wahrscheinlich schon mit einem Fuß im Grabe stand, den Wunsch ausgesprochen, ihn kennenzulernen? Dafür gab es doch nur eine logische Erklärung: Kapitän Horatio Staffe, ein Junggeselle, war vielleicht der letzte lebende Staffe, und darum war Jimmy für ihn wichtig geworden. Der alte Knacker, der seinem Ende nahe war, hatte bereut und wollte jetzt Jimmy beäugen, weil er ihm sein Geld zu hinterlassen gedachte. Und Jimmy war vernünftigerweise der Ansicht, dass er schon vollständig verrückt sein müsste, wenn er sich eine solche Gelegenheit entgehen ließe. Schließlich war er doch auch ein Mitglied der Familie, und - Donnerwetter, ja... es war durchaus möglich, dass er der vom Gesetz vorgeschriebene Erbe von High Matcham und dem Gut war. Daran hatte er bisher ja noch gar nicht gedacht! Er wusste so wenig von den Staffes, dass sie für ihn fast wie Fremde wirkten. Bei Lichte besehen waren sie es ja auch. Er war recht froh, dass nur noch einer von ihnen übriggeblieben war.

»Sieh mal an!«, stieß er plötzlich hervor und bremste scharf.

Der erste Wegweiser seit vielen Meilen tauchte aus der Dunkelheit auf. Er brachte den Wagen so zum Stehen, dass seine Scheinwerfer die Tafel beleuchteten. Ein kleiner Seitenweg zweigte hier nach links ab. Der Arm des Wegweisers, der in diese Richtung wies, zeigte alles Wissenswerte: Denisford drei Meilen; Tolesley sechs Meilen; Matcham St. Paul elfeinhalb Meilen.

Hier war die Seitenstraße, nach der er so lange Ausschau gehalten hatte. Er starrte sie zweifelnd an, denn ihr Aussehen gefiel ihm gar nicht. Die Hauptstraße, auf der er bis jetzt gefahren war, war schon einsam und wild genug gewesen; wie mochte erst diese Nebenstraße sein?

Der Sturm brauste durch die Bäume. Ein paar kalte Regentropfen wurden Jimmy mit Gewalt ins Gesicht getrieben. Er startete wieder und bog in den Seitenweg ein.

Noch bevor er Denisford erreichte, begegnete er zwei weiteren Ponys; aber er fuhr jetzt vorsichtig, und die Tiere hatten genügend Zeit, um zur Seite zu springen. Abgebrochene Zweige, die überall auf dem Wege lagen, erwiesen sich als unangenehmer. Zweimal hatte er schon anhalten und aussteigen müssen, um solche Hindernisse aus dem Wege zu räumen.

Das Heulen des Sturms war auf diesem engen, sich windenden Weg verstärkt zu hören; denn auf beiden Seiten standen die Bäume dicht beieinander, und der Wind tobte ununterbrochen in ihren Kronen. Der Weg wies dazu noch unerwartete scharfe Kurven, plötzliche Senkungen und Steigungen auf.

»Das ist ja hier wie in einem Alptraum von Walt Disney«, brummte Jimmy, noch missgelaunter als vorher. »Wie können Menschen nur in einer solchen Wildnis hausen!«

Natürlich war nur das nächtliche Unwetter an seinem abfälligen Urteil schuld. Bei hellem Tageslicht, wenn eine sanfte Brise in den Bäumen geraschelt und der Sonnenschein Kringel auf die Straße geworfen hätte, wäre ihm die Landschaft ganz reizvoll erschienen. Dann hätte er sicher die Menschen beneidet, die in dem malerischen Dorf Denisford lebten, durch das er bald darauf fuhr. Heute Nacht beim Sturm war es angenehm, den gelben Lampenschein zu sehen, der aus den Fenstern der Landhäuschen herausstrahlte, und das gemütliche Licht, das aus dem Eingang eines freundlichen, kleinen Wirtshauses auf die Straße fiel. Seufzend unterdrückte er den Wunsch anzuhalten und sich ein Gläschen zu genehmigen. Er hatte ohnehin schon Verspätung.

Hinter Denisford wurde die Straße wieder öde und unfreundlich. Er begann zu rechnen. Noch acht weitere Meilen bis Matcham St. Paul und dann, wenn er den Ort erreicht hatte, musste er noch das Haus seines Onkels suchen. Aus dem Namen dieses Hauses war zu schließen, dass es wahrscheinlich auf einem Hügel stand. In den Zeiten des Feudalismus bauten ja die adligen Gutsherren ihre Schlösser unweigerlich auf den Gipfeln von Hügeln, und seit seiner frühesten Jugend hatte sich Jimmy, sooft er von dem alten Stammhaus der Staffes hörte, dieses Heim als ein trutziges, von grauen Mauern umgebenes Schloss vorgestellt.

»Schon fast acht Uhr«, sann er. »Selbst wenn von jetzt ab alles glatt geht, werde ich nicht vor halb neun anlangen. Eine volle Stunde Verspätung! Das ist genau die richtige Methode, wenn man einen guten Eindruck machen will!«

Es war durchaus möglich, dass auch noch andere Gäste zum Essen geladen waren, und er malte sich im Geist aus, wie sein Onkel ihn vom oberen Tafelende her mit seinem Blick durchbohren würde, wenn er zur Tür hereinkam. Die andern Gäste zogen wohl nur die Augenbrauen etwas in die Höhe; aber selbst der Diener würde ihn kalt und missbilligend anschauen.

Jimmy war in dieser Hinsicht besonders empfindlich, denn im allgemeinen war er die Pünktlichkeit selbst. Auch heute hatte er sich reichlich Zeit genommen, um seinen Bestimmungsort bequem und rechtzeitig zu erreichen. Wenn nicht diese verstopfte Ansaugdüse gewesen wäre...

»Verdammt und zugenäht«, brummte er und bremste. Diesmal war es kein abgebrochener Zweig, der ihm den Weg versperrte; es war fast eine ganze Baumkrone, die gerade auf seinen Kopf hinuntersauste. Nur die ausgezeichneten Bremsen und die Geschicklichkeit, mit der er noch in letzter Sekunde das Steuer herumriss, bewahrten ihn vor einem Unglück. Gerade vor seiner Stoßstange krachte die Krone auf die Straße. Er war auf etwas Derartiges gefasst gewesen, aber jetzt, als es geschehen war, nahm es ihn doch mit. Benommen kletterte er aus dem Wagen, warf ängstliche Blicke auf die sturmgepeitschten Baumwipfel und zog das Hindernis zur Seite. Er benötigte seine ganze Kraft dazu, es waren mächtige Äste.

»Sieht fast aus, als ob ich mich schon glücklich schätzen kann, wenn ich überhaupt noch nach High Matcham komme«, sagte er sich, als er die Beule an seinem Kotflügel betrachtete. »Ebenso wahrscheinlich ist es, dass mich jemand im Morgenrot mit eingeschlagenem Schädel auf der Landstraße findet! Wie kann die Polizei nur dulden, dass die Bäume so über die Straße hinüberhängen!«

In seiner begreiflichen Erregung vergaß er, dass der Sturm ganz ungewöhnlich heftig war - so heftig, dass er die Schlagzeilen für die Morgenzeitungen am nächsten Tage abgab; in weiten Gebieten hatte er große Zerstörungen angerichtet.

Jimmy war froh, dass der Weg ein kurzes Stück weiter wieder breiter wurde; ohne neue Abenteuer erreichte er das Dorf Tolesley und fuhr hindurch. Nur noch etwas mehr als fünf Meilen bis Matcham St. Paul...

Aber eine Meile hinter dem Dorf passierte ihm ein schlimmeres Unglück. Die Straße hatte sich wieder zu einem gewundenen Feldweg verengt und war überdies noch gefährlich bergig geworden. Auf kurze, steile Abhänge folgten starke Steigungen, die oft in Serpentinen aufwärts führten. Gebrochene Zweige und Blätter, die im Licht seiner Scheinwerfer herumwirbelten, dienten auch nicht gerade dazu, die Fahrt angenehmer zu gestalten.

Da er mit der Zeit gegen die Gefahren der Fahrt abgestumpft war, fuhr er ohne zu bremsen, eine dieser steilen Strecken hinunter. Er ahnte nicht, dass die Straße an der tiefsten Stelle eine scharfe Kurve machte. Zu spät entdeckte er in der Biegung etwas Schattenhaftes, das sich außerhalb der Reichweite seiner Scheinwerfer genau in der Mitte der Straße bewegte. Als der kleine Wagen um die Kurve schlidderte, kam dieser Gegenstand in den Lichtkegel und entpuppte sich als ein Mädchen in dunklen Hosen und rotem Pullover auf einem Fahrrad.

Trotz aller Anstrengungen gelang es Jimmy nicht ganz, an ihr vorbeizukommen. Ein Kotflügel erfasste das Schutzblech des Fahrrads, und das Mädchen flog über die Lenkstange, während ihr Rad wie ein lebendiges Wesen nach oben schnellte.

Zu Tode erschrocken stürzte Jimmy aus dem Auto und rannte auf das Mädchen zu. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als sie von selbst wieder auf die Füße sprang und nun im vollen Licht seiner Scheinwerfer ganz außer sich vor Wut vor ihm stand.

»Sie Straßenrowdy, Sie!«, schrie sie, und ihre Augen blitzten.

Jimmy schluckte.

»Sind Sie verletzt?«, fragte er nicht sehr intelligent.

»Natürlich bin ich schwer verletzt, Sie Idiot!«, erwiderte sie. »So eine blöde Frage! Mein rechtes Knie ist ganz zerschlagen! Höchstwahrscheinlich bin ich für mein ganzes Leben ein Krüppel!«

»Es tut mir schrecklich leid...«

»Was nützt mir Ihr Beileid?«, fauchte sie. »Sie - Sie - Sie Mörder Sie! Sie gehören ja ins Zuchthaus!«

»Aber...«

»So aufs Geratewohl herumzufahren!«

»Das bin ich keineswegs«, protestierte Jimmy. »Aber diese verdammten Blätter, die überall herumfliegen...«

Er hielt inne. Er konnte nicht anders. Schon unter normalen Umständen musste dieses Mädchen, das vor ihm stand, ungewöhnlich hübsch sein. Aber jetzt, in ihrem Zorn, sah sie geradezu hinreißend aus. Im Licht der Scheinwerfer blitzten ihre dunklen Augen wie Edelsteine. Ihre roten Lippen waren geöffnet und ließen weiße, ebenmäßige Zähne sehen. In entzückender Unordnung quoll ihr dunkles, gewelltes Haar unter der marineblauen Mütze hervor, die in der Farbe zu ihren Hosen passte. Ihr schneller, stoßweiser Atem hob und senkte die kleinen Brüste, die sich unter dem roten Pullover deutlich abzeichneten. Mit einem Wort: sie bot wirklich einen höchst reizvollen Anblick, und Jimmy, der doch von den Fernseh-Studios an schöne Frauen gewöhnt war, starrte sie mit Begeisterung an.

»Die fallenden Blätter! Eine ganz faule Ausrede!«, sagte sie und versuchte, in ihre Stimme so viel Verachtung wie möglich zu legen. »Sie fahren wie ein Verrückter herunter, und es ist ein rein« Wunder, dass Sie mich nicht ganz getötet haben.«

»Zum Teufel, Kindchen, ich sagte Ihnen doch...«

»Sägen Sie nicht Kindchen zu mir!«

»Nun, schließlich sehen Sie doch wie ein kleines Mädchen aus!«

»Jetzt werden Sie auch noch frech!« herrschte sie ihn an, trat einige Meter zurück und hob ihr Fahrrad vom Boden auf. »Ihr Glück, dass das Rad nicht allzu viel Schaden genommen hat!«

»He!«

»Was denn?«

»Einen Augenblick!«

Verwundert über seinen veränderten Ton starrte sie ihn an.

»Einen Augenblick!«, wiederholte Jimmy grimmig. »Sie sind mir die Richtige! Mich schimpfen Sie einen Straßenrowdy und einen Mörder?«

Die Empörung des unschuldig Verdächtigten stieg in ihm hoch und machte ihn für die Reize des Mädchens vollkommen unempfindlich. »Wo ist denn Ihr Rücklicht?«

»Mein - mein Rücklicht?«

»Ja, nun schlagen Sie eine andere Tonart an, wie?«, fuhr er fort. »Kein Wunder, dass ich Sie nicht gesehen habe! Als ich um die Ecke kam, konnte ich nur einen ganz verschwommenen Umriss wahrnehmen. Wissen Sie denn nicht, dass Sie sich strafbar gemacht haben?«

Einen Augenblick lang schaute sie erstaunt zu ihm auf. Dann kam ein verwirrter Ausdruck in ihr gerötetes Gesicht. Behende sprang sie auf ihr Rad und fuhr los.

»He! Halten Sie!«, brüllte ihr Jimmy nach.

Sie kümmerte sich nicht um sein Rufen. Da sie die Frage nach dem Rücklicht nicht beantworten konnte, war sie geflüchtet. Jimmy sprang entrüstet in seinen Wagen und ließ den Motor ah.

»Wenn du glaubst, dass du so leichten Kaufes davonkommst, mein Schätzchen, dann bist du aber schwer im Irrtum«, murmelte er. »Mein Gott! Mich beschimpft sie, und dabei hat sie an ihrem verflixten Rad noch nicht einmal ein Rücklicht!«

Der kleine Wagen fuhr an - aber nur, um sofort in ein neues Unglück hineinzulaufen. Dicht vor Jimmy stürzte krachend ein Baum quer über den Weg. Es geschah so plötzlich, dass Jimmy keine Zeit blieb, den Aufprall abzuwehren.

Er trat hart auf die Bremse, aber das nützte nur wenig. Der Wagen fuhr trotzdem hart auf das Hindernis auf, und Jimmy wurde gegen das Steuerrad geworfen. Er spürte einen heftigen Schmerz in der Brust, und kleine Zweige peitschten sein Gesicht. Der Motor starb, man hörte nur noch das Brausen des Sturms - und ein unheilverkündendes Zischen. Dampfwolken stiegen vom Kühler hoch.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Oh, verdammt!«, stöhnte Jimmy Warrender in seinem Schmerz.

Das volle Ausmaß der Katastrophe war ihm noch nicht bewusst geworden. Noch war in seinen Ohren nur das Pfeifen des Sturms, und er hatte das Gefühl, als ob ihm das Steuerrad durch die Brust hindurchgegangen wäre.

Aber eine vorsichtige Untersuchung bewies ihm, dass alle seine Rippen noch intakt und an ihrem normalen Platz waren. Der Schmerz ließ allmählich nach.

Warmer Dampf stieg ihm in die Nase, und er riss sich zusammen, als ihm dämmerte, was das zu bedeuten hatte.

»Au!«, sagte er böse. »Da ist etwas entzwei!«

Entzwei war milde ausgedrückt. Unglücklich starrte er auf den Riss im Kühler, aus dem jetzt heißes Wasser sickerte, während der Dampf abnahm.

»Verflucht!« wütete Jimmy und fügte noch einige nicht ganz salonfähige Ausdrücke hinzu.

Das war wirklich Pech. Sich hilflos auf einer finsteren, einsamen Straße vier oder fünf Meilen von dem nächsten Ort zu befinden, war gerade das, was ihm noch gefehlt hatte. Merkwürdigerweise fiel ihm in diesem Moment der Prüfung ein, dass ihm das Mädchen in dem roten Pullover nun endgültig entwischt war und dass er sie nicht wieder zu sehen bekommen würde. Unvernünftigerweise gab er ihr die Schuld an dem Unglücksfall. Wenn er sich ihretwegen nicht aufgehalten hätte, wäre er schon wenigstens eine Meile entfernt gewesen, als der Baum auf die Straße niederbrach.

Darauf, dass ein zweites Auto auf diesem Wege entlangkommen würde, konnte er bei der Einsamkeit und Verlassenheit der Strecke gar nicht hoffen. Und so überkam ihn die Verzweiflung. Er konnte jetzt nicht mehr vor halb elf oder elf nach High Matcham kommen. Was ihm dann sein Onkel sagen würde, wagte er sich gar nicht vorzustellen.

»Ach was! Soll der alte Knacker sagen, was er will!«, murmelte Jimmy und betrachtete sein kaputtes Auto mit betrübten Blicken. »Wie sollte er jetzt weiterkommen?«

Die Antwort darauf war einfach: zu Fuß gehen. Gewiss, wenn er sich in den Wagen setzte und wartete, würde wohl irgendwann einmal ein anderes Auto auf diesem Wege entlangkommen. Aber mit Sicherheit konnte man sich auch darauf nicht verlassen. Denn hier war er, das wurde ihm immer klarer, am Ende der Welt.

Seine Brust schmerzte noch, aber er wusste, dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Sein Auto war schlechter weggekommen: auch die Steuerung war anscheinend beschädigt. Das bestätigte sich, als er den Motor anspringen ließ und versuchte, nach rückwärts aus den Zweigen des Baumes herauszufahren. Der kleine Wagen fuhr zwar ein oder zwei Meter, aber ein schleifendes Geräusch warnte Jimmy, dass es besser sei, von solchen Versuchen Abstand zu nehmen. Außerdem war auch nicht daran zu denken, den Wagen auch nur eine Meile ohne Kühlwasser laufen zu lassen.

Er hob seinen Koffer aus dem Rücksitz, drehte die Lichter ab, steckte den Zündschlüssel ein und bahnte sich einen Weg durch die Zweige. Gerade als eine neue Regenbö durch die Baumwipfel pfiff, trat er seinen Marsch in die Dunkelheit an.

Es waren noch mindestens vier Meilen bis Matcham St. Paul, und soweit er wusste, konnte High Matcham gut und gern noch zwei Meilen weiter liegen. Landsitze, die ihren Namen von einem in der Nähe liegenden Dorf ableiten, liegen nicht immer unmittelbar daran. Es würde durchaus zu seinem Pech passen, wenn er schließlich feststellte, dass das Haus seines Onkels erst in der nächsten Grafschaft lag.

Sein Koffer, den er für ganz leicht gehalten hatte, erwies sich schon nach einer halben Meilen merkwürdigerweise als schwer. Allmählich bekam er das Gefühl, dass es eigentlich ein kleiner Schrankkoffer war. Er nahm ihn von einer Hand in die andere und hob ihn dann auf die Schulter; aber das Stück wurde immer schwerer.

»Der Teufel soll den alten McGriesgram holen!«, fluchte Jimmy. »Kein Wunder, dass der Koffer schwer wie Blei ist. Da hat er mir doch die ganzen lausigen Manuskripte eingepackt! Am liebsten möchte ich sie in den Graben werfen!«

Die Überlegung, dass eine solche Tat wahrscheinlich seine Entlassung nach sich ziehen würde, hielt ihn jedoch ab, diesen Gedanken auszuführen. Der alte McGriesgram - das war Jimmys nicht gerade ehrerbietiger Spitzname für seinen Chef, den berühmten Fernseh-Dramaturgen Duncan McDonald - hatte ihm diese Manuskripte, von denen einige das Werk berühmter Autoren waren, besonders ans Herz gelegt.

Sein angeborener Optimismus veranlasste Jimmy, beim Marschieren hin und wieder eine Pause einzulegen, den Koffer abzusetzen und sich nach vorn und hinten umzublicken in der Hoffnung, dass sich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit doch ein Gefährt nähern würde. Aber was ihm begegnete, waren Zweige, die sich im Winde bogen, ein vorüberhuschendes Kaninchen und einmal ein kleines Wald- Pony, das gerade vor ihm über die Straße sprang und ihn erschreckte.

Auf beiden Seiten der Straße stand dichter Wald. Während der ersten schweren Meile musste Jimmy mehr als einmal an den düsteren Wald aus einem Walt-Disney-Film denken. Er erwartete fast, Gnomen und Hexen hinter den Baumstämmen zu ihm herüberlugen zu sehen. In manchen Teilen des Neuen Waldes gibt es ja offenes Gelände, das nur von gelegentlichen Baumgruppen unterbrochen wird, aber hier gab es nur Wald, nichts als Wald.

Der einzige Trost in dieser traurigen Lage bestand darin, dass es aufgehört hatte zu regnen. So konnte er wenigstens trocken nach High Matcham kommen...

Nach High Matcham kommen! Das war ja einfach lächerlich! Er hatte noch nicht einmal ein Viertel der Entfernung zurückgelegt und fühlte sich schon völlig zerschlagen.

»Großer Gott!«, rief er plötzlich.

Einen Augenblick glaubte er an Halluzinationen zu leiden. Er hatte gerade die tiefste Stelle der Senkung erreicht, als er dort auf einem schmalen Grasstreifen etwas erblickte, was ganz wie ein Auto aussah. Natürlich konnte es kein Auto sein, sondern nur ein Schatten.

Aber dann blieb er wie angewurzelt stehen. Er stand dem unbestimmten Ding jetzt genau gegenüber, und es sah mehr denn je wie ein Auto aus. Das war eigentlich nicht überraschend, denn es war tatsächlich eine Limousine. Kein Scherz! Das Ding war unmodern, schäbig, mit Kot bespritzt, aber unzweifelhaft ein solides, großes Auto.

Jimmy konnte in der Dunkelheit nicht viel sehen, aber der Wagen schien ihm fahrbereit zu sein. Er stand verlassen auf dem Grasstreifen, ganz als ob ihn jemand dort geparkt hätte, um in einem Haus einen Besuch zu machen.

Nur gab es kein Haus. Ringsherum war nichts als Wald. Verwundert ging Jimmy um den Wagen herum. Die Türen waren nicht verschlossen, und so konnte er sich davon überzeugen, dass der Wagen leer war. Als er seine Hand zufällig auf den Kühler legte, war er so überrascht, dass er zusammenfuhr. Er hatte erwartet, den Kühler eiskalt zu finden. Aber er war nicht kalt; er war entschieden warm. Das bedeutete, dass das Auto erst kurze Zeit hier stehen konnte; und das bedeutete wiederum, dass sich menschliche Wesen in nicht allzu großer Entfernung aufhalten mussten.

Jimmys Stimmung, die weit unter den Gefrierpunkt gefallen war, stieg. Diese Leute, wer sie auch immer sein mochten, würden ihn doch wohl ein Stückchen mitnehmen...

Leute? Was für Leute mochten das sein, die ihren Wagen nachts in einer solchen Wildnis parkten? Misstrauisch zog Jimmy die Stirn kraus. Ach, Unsinn! Sicherlich gab es dafür eine ganz einfache Erklärung.

Die Düsternis im Walde lichtete sich unvermittelt. Plötzlich war Jimmy in der Lage, alles um sich herum klar zu sehen. Ein Blick nach oben in die vom Sturm gepeitschten Baumkronen brachte ihm die Erklärung. Die düsteren Wolken hatten sich verteilt, und der Mond spendete silbriges Licht.

Jimmy sah jetzt, dass das Gras unmittelbar vor dem Wagen zertrampelt und gerade hier eine Lücke zwischen den Bäumen war. Von den Insassen des Autos war jemand durch diese Lücke hindurchgegangen. Jimmy nahm seinen Koffer fest in die Hand und folgte dieser Spur. Es hatte doch keinen Sinn, hier zu warten, bis der Kerl von allein zurückkam.

Aber - was, wenn es mehr als nur ein Kerl war? Wieder verlangsamte er seine Schritte. Das konnte doch sehr unangenehm werden. Es war vielleicht besser, laut zu rufen. Irgendwie glaubte er auch nicht mehr recht an die ganz einfache Erklärung, von deren Existenz er noch vor einem Augenblick überzeugt gewesen war. Das Gras in der Lücke zwischen den Bäumen war nicht nur zertrampelt, sondern so zu Boden gedrückt, als wäre ein schwerer Gegenstand darüber geschleift worden.

Mit gemischten Gefüllten ging er zwischen den Bäumen dahin. Es schien ein Weg zu sein, aber er führte nur ein paar Meter weit. Dann wurde der Wald dünner und hörte schließlich ganz auf. Jimmy befand sich nun am Rande einer kleinen Lichtung, die nach der Mitte zu in eine grasbewachsene Böschung abfiel. Der Mond schien und beleuchtete die Rücken von zwei Männern, die mit irgendwelchen Werkzeugen dabei waren, ein Loch zu graben.

Jimmy war so überrascht, dass er seinen Koffer im Grase abstellte, regungslos stehenblieb und die Männer beobachtete. Er unterdrückte seinen Wunsch, sich durch einen Zuruf bemerkbar zu machen. Denn plötzlich fühlte er, dass irgendetwas Düsteres und Grausiges in dieser Szene lag. Was das war, wurde ihm blitzartig klar. Das Loch im Boden sah ganz wie ein Grab aus.

Er blieb, unfähig sich zu bewegen, im tiefen Schatten am Rande der Lichtung stehen und schaute mit vor Entsetzen starrem Blick auf die Szene. Es wurde ihm übel; er schämte sich vor sich selbst, als er merkte, dass er am ganzen Leibe zitterte.

»Dummkopf! Trottel!« Er schüttelte sich. Wie kam er nur auf den wahnsinnigen Gedanken, dass das Loch wie ein Grab aussah? Aber es half nichts: Die Grube sah eben doch wie ein Grab aus. Jimmy beglückwünschte sich dazu, dass er einen Ruf unterdrückt hatte. Er schlich leise zurück und suchte instinktiv Deckung.

Das tiefe Schweigen wurde unheimlich. Außer dem Rauschen der Baumkronen war kein Laut zu hören. Sogar der Wind hatte nachgelassen. Er fegte nicht mehr in Orkanstärke durch den Wald, sondern war nur noch eine kräftige Brise. Aber trotzdem war kein Laut von dem zu hören, was die Männer miteinander sprachen.

Sie waren für ihn nichts als schattenhafte Figuren. Einer von ihnen bewegte sich jetzt, so dass Jimmy ihn von der Seite sehen konnte. Aber er blieb auch so nur ein Mann in dunklem Mantel und weichem Hut. Jetzt bückte er sich und scharrte, mit seinem Werkzeug im Boden. Mit einem kleinen, kurzen Werkzeug.

Jimmy wunderte sich. Um hier eine Grube zu graben, brauchte man einen Spaten. Aber die Werkzeuge, die diese Männer verwandten, waren keine Spaten. Sie waren viel kürzer und schmaler. Und dann fiel ihm ein, dass sie der Größe und Form nach Montiereisen sein konnten.

So etwas! Mit Montiereisen die Erde lockern! Und dabei war das Loch ziemlich tief. Die beiden mussten also mindestens schon eine volle Stunde gearbeitet haben. Und damit wurde das Düstere, Unheilschwangere, das bisher mehr Vermutung als Eindruck gewesen war, zu einer Realität, einer Gewissheit.

Jimmy Warrender zitterte immer noch. Er war sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass er kein Held war, kein Wikinger oder Indianertoter, der sich in einer solchen Lage zweifellos tollkühn vorwärts gestürzt und Erklärungen verlangt hätte. Jimmy wünschte nur, sich ganz klein machen zu können, um jede Möglichkeit zu vermeiden, gesehen zu werden.

Eine große, hässliche, schwarze Wolke schob sich vor den Mond und verlöschte sein Licht, als ob eine himmlische Hand an einem Schalter gedreht hätte. Der Wind stieg wieder auf Orkanstärke an, und ein heftiger Regenschauer fuhr nieder.

Jimmy war darüber froh. Dieser plötzliche Aufruhr der Natur gab ihm Zeit, sich zusammenzureißen, Zeit zu denken. Er merkte gar nicht, wie die Minuten vergingen. Er stand da, es wurde ihm immer kälter und kälter, und doch blieb er wie angewurzelt stehen.

Die beiden standen jetzt neben dem Loch und blickten hinein. Jimmy glaubte sogar ein leises Flüstern zu hören. Die Gelegenheit zum Nachdenken hatte ihm praktisch nicht viel genützt, denn sein Hirn war noch immer mehr oder minder benommen. Nur eines war ihm klar - und zwar, dass er ein Narr war, sich so verrückte, dramatische Dinge einzubilden. Wie etwa, dass diese Grube ein Grab sein sollte...

Verrückte Einbildungen? Wirklich? Die beiden Männer hatten sich jetzt gerade über etwas gebückt, hoben es mit Anstrengung hoch und legten es in die Grube. Nun konnte Jimmy nicht länger zweifeln! Dieses Etwas hatte genau die Form eines menschlichen Körpers und schien in eine Decke oder in ein Reiseplaid eingewickelt zu sein.

In diesem Augenblick verschwand der Mond wieder hinter einer Wolke.

Jimmy schwitzte. Es war ihm kalt, aber er schwitzte doch. Großer Gott! Diese Kerle waren ja Mörder! Sie hatten jemanden umgebracht und waren dann an diesen einsamen Ort gefahren, um die Leiche loszuwerden. Dabei kam Jimmy Warrender der niederschmetternde Gedanke, dass er ja selbst auch in erheblicher Gefahr schwebte. Wenn ihn die beiden Männer sahen, mussten sie wissen, dass er sie beobachtet hatte. Und eine Grube von dieser Größe konnte ohne weiteres auch zwei Leichen aufnehmen.    

Es war nicht der Moment, um dazustehen und blöde vor sich hinzustarren. Es war entschieden Zeit für einen raschen und unbemerkten Abgang. Kerls, die Gräber aushoben und Leichen verscharrten, konnten kaum Skrupel kennen. Wenn sie Jimmy erspähten, so würden sie ihn nicht wieder weggehen lassen. Ihre eigene Sicherheit - ja, ihr Leben - hing davon ab, ihn zum Schweigen zu bringen.

Vorsichtig schlich er mit angehaltenem Atem nach rückwärts fort, bis er an einen Baum hinrannte. Beinahe hätte er erschreckt aufgeschrien, aber es gelang ihm noch rechtzeitig, den Laut in der Kehle zu unterdrücken. Dann wandte er sich um und rannte. Das war natürlich ganz töricht, aber er konnte einfach nicht anders. Er war nicht gesehen worden, also hatte er gar keine Eile; und schon die einfachste Überlegung hätte ihm die Notwendigkeit gezeigt, sich möglichst lautlos fortzuschleichen. Aber etwas wie eine Panik hatte ihn erfasst, und so rannte er blindlings fort.

Als er schon fast die Straße erreicht hatte, wurde er ruhiger. Er hielt in seinem Lauf inne und versuchte sich einzureden, dass er gar nicht feige, sondern nur vernünftig gehandelt habe. Schließlich konnte er es doch nicht mit beiden zugleich aufnehmen. Die Kerle waren außerdem sicherlich bis an die Zähne bewaffnet...

Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sein Herz vor Schreck aussetzte: Er hatte seinen Koffer vergessen!

»Verdammt!«, fluchte er leise.

Unschlüssig blieb er stehen. Einen Moment lang war er entschlossen, ihn aufzugeben. Aber dann erinnerte er sich, dass auf der Innenseite des Deckels sein Name und seine Londoner Adresse aufgeklebt waren. Er konnte ihn also nicht am Rande der Lichtung liegenlassen, wo ihn die beiden Mörder finden mussten. Denn damit unterschrieb er praktisch sein eigenes Todesurteil.

Einen Augenblick überlegte er. Seit seiner Flucht aus der Lichtung waren erst wenige Minuten vergangen. Die Männer würden noch geraume Zeit brauchen, um das Grab wieder zuzuschütten, und außerdem würden sie so von ihrer Aufgabe in Anspruch genommen sein, dass sie außer dem Heulen des Sturmes kaum etwas hörten.

Widerwillig eilte Jimmy den Weg zurück, den er gekommen war. Er verhehlte sich selbst nicht, dass er furchtbare Angst hatte. Jeder einzelne Schritt seines Rückwegs kostete ihn schwere Selbstüberwindung.

Aber seine Furcht war ganz überflüssig. Als er den Koffer ergriff, warf er noch einen raschen Blick auf die Senke, in der die beiden Männer über das Grab gebückt standen. Mit den Händen schaufelten sie die Erde hinein. Sie waren viel zu sehr mit dieser Arbeit beschäftigt, um aufzublicken. Jimmy stahl sich wieder fort, und da die panische Angst von ihm gewichen war, waren seine Schritte diesmal vorsichtiger. Aber als er die Straße ohne Unfall erreicht hatte, holte er doch tief und erleichtert Atem. In fünf Minuten würde er eine halbe Meile weiter sein, und selbst wenn die Mörder ihn in ihrem Wagen überholen sollten, konnten sie kaum annehmen, dass er sie beobachtet hatte.

Er war also in Sicherheit. Und jetzt galt es zu überlegen, was er nun tun sollte. Er konnte die Dinge nickt einfach auf sich beruhen lassen. Die Polizei! Er musste so schnell wie möglich mit der Polizei in Verbindung treten! Nun, wahrscheinlich gab es eine Polizeistation in Matcham St. Paul, und es war anzunehmen, dass er sowieso durch das ganze Dorf hindurchgehen musste, bevor er das Haus seines Onkels finden konnte.

»Ach, ich Idiot!«, murmelte Jimmy und blieb stehen.

Er hatte schon wieder etwas vergessen. Er hatte etwas nicht getan, was selbstverständlich seine Pflicht gewesen wäre: Er hatte sich die Autonummer nicht angeschaut.

Diese Nummer war sicherlich das erste, wonach die Polizei fragen würde. Er zögerte einen Augenblick; dann stellte er den Koffer am Straßenrand ab und rannte zurück. Es waren nur hundert Meter.

Ohne Schwierigkeiten entzifferte er die Nummer: KLT 2266. Schleunigst lief er wieder zu seinem Koffer, ergriff ihn und setzte sich in Marsch. Nachdem er eine halbe Meile zurückgelegt hatte, fühlte er sich einigermaßen beruhigt. Jetzt war er vollkommen sicher. Die Gedanken wirbelten so aufgeregt in seinem Kopf herum, dass er das Gewicht seines Koffers ganz vergaß. Wer mochten die beiden Männer sein? Und ihr Opfer? Wer war ihr Opfer? Ein Mann oder eine Frau? Nun, wer die Männer auch sein mochten, es stand ihnen eine schöne Überraschung bevor, wenn die Polizei eingriff. Für die Polizei würde es ja eine Kleinigkeit sein, die Besitzer des Wagens zu ermitteln und ihnen dann ein paar unangenehme Fragen vorzulegen.

Jimmy wurde sich klar darüber, dass die Zeitungen in ihren Schlagzeilen von ihm berichten würden - er konnte seinen Namen und seinen Beruf schließlich nicht verheimlichen -, und er fragte sich, ob diese Art von Reklame für ihn vorteilhaft wäre. Was wird McGriesgram dazu sagen? Keineswegs wird er ihm einen Glückwunsch aussprechen. Oder sein Onkel... Dieser vornehme, aristokratische, alte Mann, der so stolz auf seine ehrenwerten Ahnen war, würde höchstwahrscheinlich einen Herzschlag bekommen, wenn er hörte, dass sein Neffe in eine schmutzige Mordaffäre verwickelt war - noch dazu in eine, die sich praktisch an der Schwelle seines Hauses abgespielt hatte.

Das ist gerade der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt! sagte sich Jimmy unglücklich. Er wird mich jetzt schon zum Teufel wünschen, weil ich mit solcher Verspätung ankomme, aber wenn er erst von der Mordgeschichte hört, wird er einfach in die Luft gehen. Aber kann ich etwas dafür? Ist es meine Schuld?

Während er solche Überlegungen anstellte, kam ihm kaum zu Bewusstsein, wie die Zeit verstrich. Gelegentlich nahm er den Koffer von einer Hand in die andere, aber er dachte nicht an die Schmerzen in seinen Armen und die Stiche in seiner Brust. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den andern. Früher oder später musste er auf diese Weise Matcham St. Paul erreichen, denn es gab keine Möglichkeit, sich zu verirren. Er hatte kein Haus, keine Hütte und keine Abzweigung gesehen, seitdem er von der Grabstätte weggegangen war. Es kam ihm vor, als wäre er schon mindestens neun oder zehn Meilen marschiert. Die Straße nahm kein Ende. Immer weiter führte sie durch den Wald. Es war geradezu unfassbar, dass es einen Teil Englands geben konnte, der so völlig verlassen war.

Dabei vergaß Jimmy, dass sein ganzes Abenteuer sich lediglich in einem einsamen Teil des Neuen Waldes abgespielt hatte, der nicht mehr als vier oder fünf Meilen umfasste. In seiner Einbildung kam es ihm vor, als ob ein erheblicher Teil Südenglands noch Urwald sei. Wenn man einen einsamen Landweg entlanggeht und dabei einen schweren Koffer schleppt, überschätzt man Entfernungen leicht.

Allmählich wurde die Gegend freier. Die Bäume standen nicht mehr dicht gedrängt rechts und links von ihm, sondern lösten sich in gelegentliche Baumgruppen auf. Niedrige Hecken säumten die Straße. Und als der Mond wieder zwischen den Wolken hervorkam, goss er sein sanftes Licht über eine Heidelandschaft, die in ihrer Art noch wilder und verlassener war als der Wald.

Ein besonders steiler Hügel kostete Jimmy, beladen wie er war, fast den Rest seiner Kraft. Er beschloss, sobald er nach London zurückgekommen war - und das beabsichtigte er so schnell als möglich zu tun -, einen Gymnastikkurs mitzumachen. Ganz entsetzt stellte er seine schlechte körperliche Verfassung fest.

Immer noch war nichts von einem Haus oder Dorf zu sehen. Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich ödes Land, über das der Sturm hin fegte. Hier und da standen Baumgruppen, deren Kronen sich im Winde bogen. Auf der Spitze des Hügels angelangt, musste Jimmy anhalten, um sich auszuruhen. Seine Arme schmerzten fürchterlich. Jeder Muskel seines Körpers tat ihm weh. Die Straße, die von hier aus eben weiterlief, schien sich vor ihm bis ins Unendliche zu dehnen. Stöhnend nahm er seinen Koffer wieder auf und stolperte weiter. Aber schon nach hundert Metern wurde die Hecke zu seiner Rechten höher, so dass er nur noch eine Reihe von Kastanienbäumen sehen konnte, die in stattlicher Größe die Straße säumten. Es fiel Jimmy auf, dass sie nicht völlig verwildert waren. Sie standen auch in regelmäßigen Abständen. Und er hatte recht damit: Er war nicht mehr in einer Wildnis. Denn bald kam er zu einer Lücke in der Hecke, wo ein offenstehendes altes, hölzernes Tor den Blick auf eine dunkle Auffahrt freigab.

»Ich kann’s fast nicht glauben«, sagte Jimmy verwundert. »Wirklich eine menschliche Behausung? Ich muss wohl träumen!«