Der Vorhang - Beatrix Langner - E-Book

Der Vorhang E-Book

Beatrix Langner

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Beschreibung

Ein Roman, der alles, was wir über autobiografisches Schreiben zu wissen glauben, über den Haufen wirft. Die unglaubliche und mitreißend erzählte Geschichte von zwei Fluchten in beide Teile Deutschlands. 1953 flüchtet eine junge Familie aus der DDR in den Westen. Die Gründe für die Flucht kann das Kind nur erahnen, aber schon bald ist die frühe Erinnerung an das östliche Deutschland verblasst: Das sogenannte Wirtschaftswunder verschafft den Eltern einen kleinen Wohlstand, als sie in einer rheinischen Kleinstadt ein Einzelhandelsgeschäft gründen. Zunächst geht es gut, doch dann werden die einstigen Gewinner des Aufschwungs zu Verlierern der Marktwirtschaft. Immer deutlicher wird auch die soziale Ausgrenzung des unverheirateten Paares in der katholischen Provinz. Und so entschließen sie sich zu einer erneuten Flucht: Diesmal zurück nach Ostdeutschland. Lange nach der Wende fährt das Kind zurück in die alte westdeutsche Heimat. Aber der Versuch, die eigene Kindheit jenseits des Eisernen Vorhangs wiederzufinden, endet am Rand eines großen Lochs, dem Braunkohletagebau Hambach, der viele uralte Dörfer und einen ganzen Wald geschluckt hat und schon bis an die Stadt ihrer Kindheit heranreicht. Wo nichts mehr gefördert werden kann, entstehen neue Landschaften mit riesigen Seen. So endet ihre Reise in die Vergangenheit in einer imaginären Landschaft der Zukunft; das Zeitalter der Kohle ist zu Ende, Köln ist eine Hafenstadt, das große Loch wird geflutet und die rheinische Bucht ist wie vor 30 Millionen Jahren von einem großen tropischen Meer bedeckt.

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BEATRIX LANGNER

DER VORHANG

Eine (beinahe) wahre Geschichte

Roman

Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit, nur dass ihr wen’ger noch, als was die Zeit ist, seid.Paul Fleming

wol, der das vergessen doch sehen und klagen kan, unselig aber, die auch das vergessen noch dazu vergessen.Martin Luther

Wenn das triste Rinnsal an den feindlich-grauen Abhängen bis unten hin geflossen ist, kommt es bei einem Sumpf an, der hat den traurigen Namen Styx.Dante, La Commedia

Ohne eine Ewigkeit, ohne einen feinfühligen und geheimen Spiegel, der auffängt, was je durch die Seele ging, ist die Weltgeschichte verlorene Zeit und in ihr unsere persönliche Geschichte – wodurch wir auf unbehagliche Art zu Gespenstern werden.Jorge Luis Borges, Die Geschichte der Ewigkeit

Inhalt

Die Winterreise//MutterkindDas Loch//Wabi-Sabi//StörungszoneFamilienalbum//Finis GermaniaeDie Legende vom Nachkrieg//Der VorhangDas geteilte Kind//Neue LebenDie unheilige Familie//Penelope 1957Das Gedächtnis der Dinge//GespensterDas Wäldchen//Das elfte GebotDie Erinnerungen der Anderen//Das Gedächtnisder Bäume//Der Krieg um den WaldSchwarze Spiegel//Missglückte HeimatDas verschwundene Bergwerk

Die Winterreise

Unersättlich der Schlund, der an der Erde saugt; wie ein urzeitliches Insekt gräbt sich der Bagger in ihren Leib. Die Wunde. Das Loch. Es hat Dörfer verschluckt, jetzt frisst es sich an die Städte heran, auf Raupen bewegt es sich, es knabbert schabt scharrt, es schlägt seine Schaufelzähne knirschend durch Ton Schiefer Sand, seine Augen glühen weiß in der Dämmerung, träge wie ein Ozeanschiff in der Wüste bewegt es sich voran, Immerath schon verschwunden, Morschenich, Etzweiler, Kuckum, in Manheim schleicht eine magere Katze über den Schotter, Wind raschelt im Gesträuch, eingeschlagene Fenster, schiefe Türen, zerschlitzte Dachrinnen, Tapetenmuster und BRAVO-Poster halten noch die Wände der Häuser zusammen, in denen Menschen gewohnt haben, bevor eine Macht, unsichtbar wie Strahlung, sie aus ihren Dörfern vertrieben hat und aus ihren Häusern und Höfen und Gemüsegärten, Feuerwehrschuppen, Kirche, Friedhofskapelle, Schützenverein, alles weg, sogar die Toten mussten umziehn mitsamt ihrer Mitwohnerschaft aus fettem Gewürm, aber bevor die Dörfer sterben, verschwinden die Kinder von den Dorfstraßen, Schulen werden geschlossen, Buslinien eingestellt, dann kommen die Konzernvertreter mit ihren Aktentaschen, aus denen sie Kaufverträge ziehen, und erst Jahre danach erscheinen am Dorfrand die ersten Maschinen, größer als Ozeanschiffe und höher als der Immerather Dom, und der Wind ist dann schwer von Staub, der über die aufgelassenen Scheunen und Ställe und Äcker bläst und die dünne Lößschicht davonträgt, bis das Land nackt und leer unter der brennenden Sonne glüht, wo nichts lebt als streunende Katzen, die von barmherzigen Händen gefüttert werden. Das ist wie im Krieg, sagen die Bewohner der Bucht, das ist der Krieg der Industrien gegen die Stille in den Höfen.

Weißt du noch, sage ich, das war in diesem heißen Sommer, du hattest das Sommerkleid mit den großen schwarzen Knöpfen an, schäumend schoss die Kall, oder war es die Rur, zwischen den dicht bewachsenen Ufern, das Wasser sprang über große Steine, immer schneller, immer lauter schwoll das Rauschen bis zu einem bedrohlichen Brüllen, du bist in deinen Badeanzug gestiegen, hast dir die Locken unter die Gummibadekappe gestrichen, die mit kleinen weißen Gummiröschen verziert war, und mit gestreckten Zehen den Ufergrund abgetastet, ich sehe dich vor mir, wie du einen Fuß vor den andern gesetzt und dabei so komisch mit den Armen gerudert hast, um nicht auf den glitschigen Steinen das Gleichgewicht zu verlieren, dann bist du in die Knie gegangen, hast die Arme mit zusammengelegten Handflächen nach vorn gestreckt und dich sacht in die reißende Strömung gelegt. Ich wandte mich ab und spielte mit dem Hund, wir wälzten uns im Gras, bis ich aus weiter Ferne undeutliche Rufe hörte. Die Strömung hatte dich schon weit weggerissen, ich rannte am Ufer entlang, deine Badekappe hüpfte auf und ab wie ein Ball in dem strudelnden Wasser, der Hund bellte aufgeregt, du warfst die Arme hoch, um dich dem eisernen Griff der Strömung zu entwinden, ich winkte und schrie gegen das Brüllen des Flusses an, Ufergesträuch zerkratzte mir die Arme, da erschien neben dir etwas Dunkles, die Schnauze steil aufgereckt, paddelte der Hund mit allen Kräften dem Ufer entgegen, du hast dich an seinem Halsband festgehalten und ziehen lassen, bis du wieder stehen konntest, und bist hustend und keuchend aus dem Wasser gestiegen, dein Haar klebte am Kopf, der Hund brach mit großen Sprüngen durch das hohe Gras, umkreiste uns bellend, schüttelte das Wasser aus dem Fell, setzte sich auf die Hinterbeine und sah uns aus bernsteinfarbenen Augen erwartungsvoll an.

An diesem Tag lernte ich ein neues Wort. Lebensgefahr.

Durch die Fenster flutet Nachmittagssonne, dein zimtfarbenes Haar schimmert im Gegenlicht, Schneelicht, Winterlicht. Im Radio summt leise klassische Musik, du sitzt im Sessel, den Kopf angelehnt, die Lider halb geschlossen, die weiße Stirn faltenlos, Porzellanhaut. Ein Schmetterling, eingepuppt in die Hülle einer Greisin, so sitzt du da, die kleinen Hände im Schoß gefaltet. Ich schalte das Radio aus und den Fernseher an. Hallo Deutschland, deine Lieblingssendung.

Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie lächelt mich an. Sie lockt mich, sie schneidet mir Grimassen, sie lallt und flüstert, erinnere dich, stammelt sie, damit du vergessen lernst. Sie gibt mir zu verstehen, dass ich meinen Erinnerungen nicht trauen darf. Es gibt eine Kunst des Vergessens, sagt sie, wie es eine Gedächtniskunst gibt. Du musst nur wollen, du musst dir mehr Mühe geben. Das Gedächtnis arbeitet wie ein Abraumbagger, es kehrt das Unterste nach oben, es wirbelt Zeiten und Orte durcheinander, saugt Bilder Stimmen Geräusche aus der Tiefe der Zeit an die Oberfläche und transportiert sie in die Gegenwart. Erinnerungen können nur formen, was das Gedächtnis herauffördert; was es verbirgt, bleibt für immer verborgen. Erst wenn das Vergangene zu viel von der Gegenwart besetzt, greift das Vergessen ein. Hier verschwindet ein Name, an den du dich beim besten Willen nicht mehr erinnern kannst, dort ein Wort, Gesichter verblassen, dann ganze Sätze, Kapitel, bis die Seiten in deinem Lebensbuch unleserlich geworden sind. Nur manchmal noch steigen sie ungerufen aus dem Nichts herauf, herrenlose Frachtstücke aus einer anderen Zeit, Knopfschachteln und Glasmurmeln, rosa Petticoats, mit Goldflitter bestreute Glanzbildchen und der klebrige Nebel von Haarlack, der sich mit dem stechenden Geruch von Lösungsmitteln im Treppenhaus vermischt hat.

Du musst alles vergessen, hast du gesagt, sage ich, aber ich konnte nicht. Ich bin zurückgekommen. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde zurückzukommen, aus meinem untergehenden Land in die missglückte Heimat, wie oft habe ich mir ausgemalt, wie ich am Bahnhof Zoo in den Interzonenzug nach Köln steigen und, berauscht von Freiheit, die Luft eines anderen Planeten atmen würde, während vor dem Abteilfenster andere Flüsse in einem anderen Land an mir vorbeizögen. Als es dann an einem regnerischen Wintermorgen Anfang Januar endlich so weit war und ich mit rasendem Puls, den blauen Reisepass in der Hand, an den Uniformierten in ihren Glaskäfigen vorbei durch den unterirdischen Gang im Bahnhof Friedrichstraße lief und die Tür am Ende des Gangs aufstieß, das Tor in die Freiheit, da zersprang mein Herz fast vor Angst und mit jedem Schritt wurde mir beklommener zumute, als würde der Tartaros mich im nächsten Moment verschlingen, das Reich der Toten, und der Styx mich in seine Tiefe reißen, der Fluss ohne Wiederkehr, der Grenzfluss zwischen den Lebenden und den Toten.

Dein Kopf ist auf die Brust gesunken, du schnarchst leise. Der rechte Fuß ist grotesk verrenkt, deine rechte Hand liegt in deinem Schoß wie ein toter Fisch. Auf dem ovalen Couchtisch nadelt das Weihnachtsgesteck. Ich stopfe es in den Mülleimer, wische den Tisch ab und nehme eins deiner selbstgehäkelten Spitzendeckchen aus der Schrankwand. Ich breite es auf der Tischplatte aus und stelle eine leere Vase darauf. Rosige Dämmerung legt sich über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Im Zimmer ist es fast dunkel, im Fernsehen läuft ein Film über Nashörner.

Der Zug war halbleer, sage ich, das Abteil eisig kalt. Ein grauer, regnerischer Wintertag zog hinter den Zugfenstern auf, Nebelbänke verdeckten die vorbeifliegenden Dörfer und Städte und Bahnhöfe. Sieben Stunden später ratterte der Zug über die Rheinbrücke, vor dem Milchglashimmel duckte sich der Kölner Hauptbahnhof wie ein stählerner Spinnenleib zu Füßen des Doms, dessen Turmspitzen sich im Dunst verloren. Auf der Treppe zur Plattform drängte sich eine dichte Menschenmenge. Von den neben mir Gehenden hörte ich, dass zur Stunde der neue Erzbischof von Köln mit einem feierlichen Hochamt eingeführt werde. Widerstandslos überließ ich mich dem Sog der Körper, der mich durch das Hauptportal schleuste, das Kirchenschiff war grell ausgeleuchtet, es roch nach Parfüm und Weihrauch, Menschen in Pelzen und gepolsterten Jacken reckten die Hälse, um einen Blick auf den Kardinalbischof zu werfen, dessen zweispitzige Mütze neben dem goldenen Hirtenstab langsam über den Köpfen der Menge durch das Mittelschiff zum Altarraum schwebte. Unter den Klängen der mächtigen Domorgel, die in diesem Moment kantilierend einsetzte, verschmolz die wogende, dampfende Menge zu einem einzigen Körper, von dem ich, die Besucherin von einem andern Stern, ein winziger Teil war. Über mir stieg in erhabener Symmetrie das Deckengewölbe auf, als wollte es meiner unverhofften Anwesenheit an diesem Ort die Feierlichkeit eines Wunders verleihen, und war es denn nicht ein Wunder, dass ich hier war, an diesem nasskalten Dreikönigstag, den es nach allen Regeln der Vernunft für mich gar nicht geben durfte, in dieser Kathedrale, in der ich nicht hätte sein sollen, an dieser Stelle des Universums, genau unter dem Scheitelpunkt der Rippen des linken Seitenschiffs, an der meine Anwesenheit nicht vorgesehen war, in dieser Stadt am Fluss, aus der man mich vor langer Zeit vertrieben hatte.

Mutterkind

Ein sonniger Novembermorgen, vor mir stürzt das Land in die Tiefe, die Grube das Loch die Wunde, in meinem Rücken die letzten Häuser von Angelsdorf, im goldenen Licht glänzen Stoppelhalme über der fetten, krumigen Erde. Hier ist das Ufer. Über mir der niedrige Himmel des Nordens. Du musst alles vergessen, so lautete mein Urteil, und ich habe es versucht, ich habe sie mit der Muttermilch aufgesogen, die deutsche Krankheit, ich habe Vergessen getrunken, ich bin das vergessene Kind, der Bastard mit dem Mutternamen, euer gehorsames Hündchen, allmählich verschwimmt hinter dem dunstigen Horizont mein Jahrhundert, das Jahrhundert der Kohle und der Krematorien, Heidewitzka Herr Kapitän, ein Riss geht durch Deutschland, ich hole tief Luft und stürze mich in die Tiefe, der Rheingraben ist eingebrochen, in den Riss strömt von Norden das Meer, die Kölner Bucht läuft voll, zwischen Mönchengladbach und Koblenz breitet sich ein dreißig Kilometer weites Schelfmeer, auf der andern Seite liegt Belgien oder was davon noch übrig ist, das Ruhrgebiet ist abgesoffen, aus der Bottroper Innenstadt ragt ein Steinkorallenriff, Düren ist ein Fischerdorf am Arnoldischen Meer, am Strand von Jülich bauen braunhäutige Kinder Sandburgen, auf der Kölner Domplatte sitzen die Touristen unter Sonnenschirmen und sehen dem Platschen der Wellen zu, das keckernde Lachen einer Entenfamilie zerhackt die sommerliche Stille, unter einem ausgedehnten atlantischen Hochdruckgebiet wiegen sich Kokospalmen im Wind, Kinder lassen Segelschiffchen über die Hohe Straße gleiten, ihre Mütter sitzen auf einer Bank und erzählen den Kleineren Märchen von heiligen Männern, die in grauer Vorzeit hier Kraftwerke gebaut haben, und von den guten Riesen Zweiachtacht und Zweifünfneun, die den schwarzen Strom und den Wohlstand in die Bucht gebracht haben.

Du hast den schönsten Bauchnabel der Welt, sage ich und ziehe dir vorsichtig das Nachthemd über den Kopf. Eigentlich nur eine zarte Hautfalte, kaum sichtbar, wirklich ein Wunder der Hebammenkunst. Wenn nicht das fingerlange Schlauchstück drinstecken würde, würde man ihn gar nicht bemerken. Durch den Schlauch fließt eine milchkaffeefarbene Flüssigkeit in deinen Magen, die nach Muttermilch riecht und mir jeden Morgen von Neuem Übelkeit erregt.

Tägliche Verrichtungen. Essen, schlafen, duschen. Wer sagt mir, dass danach irgendwann noch etwas anderes kommt, das besser wäre als das hier. Jeder Tag beginnt und endet auf die gleiche Art, mit dem Blick in deine schönen leeren Augen, grüne Augen mit zarten goldenen Sprenkeln. Mit der Zeit habe ich gelernt, deine Windeln zu wechseln, dich zu waschen, die entzündeten Augen zu reinigen, die PEG zu kontrollieren, dich vom Bett in den Rollstuhl und vom Rollstuhl in den Sessel und vom Sessel wieder ins Bett zu heben, geduldig zu sein, wenn du jammerst, dich zu beruhigen, wenn du um Hilfe schreist und den Grund dafür nicht sagen kannst. Mit dem feuchten Waschlappen streife ich über Gesicht, Hals, Schultern, Arme, fädle die mageren Arme durch das Trägerhemdchen, ziehe dir den Pullover über den Kopf und kämme dein zimtfarbenes Haar, das im Morgenlicht leuchtet wie die Fresien, die es seit ein paar Tagen im Supermarkt gibt.

Schlaf noch ein bisschen, flüstere ich, ich muss jetzt arbeiten, und drücke dir einen Kuss aufs Haar.

Schade, flüsterst du und krampfst deine mageren Finger um mein Handgelenk, dass die Knöchel weiß und spitz hervortreten.

Ist ja gut, sage ich und versuche, dir meinen Arm sanft zu entwinden. Du hältst mich fest, als ich mich aufrichten will. In deiner Hand ist so viel Kraft, dass sie mich niederzwingt, erschrocken knie ich vor dir.

Ich bin doch nebenan, sage ich, du musst nur rufen.

Ist gut, flüsterst du und lässt mich frei.

Der Linienbus fuhr vom Busbahnhof hinter dem Dom, sage ich, ich erwischte gerade noch den letzten. Hinter den beschlagenen Fenstern Schwärze, es regnete noch immer, stumm reihten sich kleine Dörfer mit schmucklosen Häusern in einer endlosen Ebene, kein Baum, kein Strauch, nur vereinzelt leuchteten in der Ferne die roten Rücklichter fahrender Autos. Nach einer Stunde hielt der Bus vor dem Bahnhof von E., die Straße verlor sich im Dunkel der Felder, der Bus wendete und fuhr leer zurück. Ein paar Häuser weiter wurden an der Tür eines Lokals Fremdenzimmer angeboten. Drinnen war es laut und verqualmt, an den Tischen saßen Männer, die Unterarme auf die Tische gestemmt, der Wirt trocknete sich die Hände an dem fleckigen Geschirrtuch am Gürtel, auf dem Fernsehbildschirm über den Köpfen lief Fußball, ich fragte nach einem Zimmer, von der Antwort verstand ich nur so viel, dass er nicht mehr vermiete, ich solle im Rheinischen Hof nachfragen, dat kansse ze Fohß jänn, Meechen, de Stroos runner, ich bedankte mich und lief los, eng an den einstöckigen, braun verkachelten Häusern entlang. Mit feinen Nadeln stach der Regen ins Gesicht, eisiger Wind riss an den Ohren. Niemand war mehr unterwegs, wie ausgestorben die Straße, die sich schwarzglänzend unter meinen Schritten hinzog. Hier war es. Kino, Rheinischer Hof und daneben das Kleine Kaufhaus mit dem großen Schaufenster, unser Laden, das einzige Haus in der Straße, das statt der braunen Kacheln am Erdgeschoß einen weißen Anstrich trug. Alles war noch genau so, wie ich es mir in all den Jahren meiner Abwesenheit vorgestellt hatte, sogar der rote Kaugummiautomat hing noch immer neben der Ladentür, wie in Bernstein gegossen, konserviert für die Ewigkeit. Nur die eisernen Säulen, die den schmalen Gehweg markierten, säumten als Grenzpfähle der Gegenwart, wie mir das Gedächtnis zuverlässig meldete, die Straße, hinter der einmal die fremden Städte lagen und die Kindheit endete.

Das Hotel war verschlossen. Ich drückte die Nachtklingel; nach einigen Minuten öffnete ein Mann. Mürrisch ließ er mich eintreten, nachdem er überall Licht gemacht hatte. Im Schankraum, der zugleich Hotellobby war, roch es nach Bier und kaltem Zigarettenrauch. An einer Wand hingen hinter Glas Fotos von Karnevalsprinzen. Ich legte meinen Pass auf den Tresen, der Mann blätterte ratlos darin herum und verlangte dann, dass ich sofort bezahle; gehorsam zog ich meinen einzigen Fünfzig-D-Mark-Schein hervor und reichte ihn ihm.

Dat is aber ohne Frühstück, brummte er und steckte den Schein achtlos in seine Hosentasche.

Kein Problem, sagte ich, nahm meine Tasche und stieg die Treppe hinauf. Hinter mir erlosch das Licht, eine Tür schlug, ein Schlüssel drehte sich im Schloss, ich war allein. Im Zimmer brannte eine nackte Glühbirne an der Decke, im Nachttischschränkchen lag, in schwarzes Kunstleder gebunden, ein katholisches Gebetbuch. Schrank, Bett, Nachttische, zwei Stühle, alles helle Esche oder Birke, frühe sechziger Jahre, Gelsenkirchener Barock, das zwanzigste Jahrhundert war hier vor langer Zeit eingedöst. Ich stellte die Tasche ab, wusch Gesicht und Hände über dem kleinen Waschbecken und zog die Gardine zurück, das Fenster ging auf einen kleinen Garten mit niedrigen Obstbäumen, so viel war in der Dunkelheit zu erkennen. Es war noch zu früh zum Schlafen, ich war hungrig, das Zimmer war ungeheizt, also behielt ich den Mantel an und ging durch das kalte, stille Haus noch einmal hinunter auf die Straße. Es nieselte. An manchen Hauseingängen blieb ich stehen, berührt von dem einen oder anderen heranwehenden Gesicht, einer Straßenflucht, einem Zimmer mit Blick auf ein Vorgärtchen, die wieder verschwanden, ohne deutlich zu werden. Etwas fehlte. Kein inneres Bild wollte sich einstellen, das meine eigene Anwesenheit an diesem Ort, in dieser Straße beglaubigt hätte.

Ich bog in eine Seitenstraße ein, unversehens wuchs vor mir die Masse der katholischen Kirche in den diesigen Himmel, an deren eine Seite sich der rote Backsteinbau der alten Volksschule lehnte. Durch die Schraffur des Regens, der wieder stärker geworden war, sah ich das Klassenzimmer mit den hohen Fenstern, die Bank ungefähr in der Mitte, meine Bank, das schräge Pult aus speckigem Holz, darauf die Schiefertafel mit dem Schwämmchen, den hölzernen Griffelkasten, ich hörte, wie der Schiebedeckel scharrte, dieses herrliche Geräusch, bevor die Griffelspitze sich auf die Tafel senkt, ich erkannte meinen Griffel, schiefergrau mit einer Binde aus Papier, ich sah die Weidengerte in der Hand des Lehrers, ich hörte das Sirren der Luft, aber ich sah nicht das Kind, nicht die vorgestreckten Handflächen. Es ließ sich nicht blicken. Es musste aber doch hier gewesen sein, vielleicht stand es neben der Tafel, verdeckt von dem Kartenständer mit der großen Landkarte von Deutschland, diesem von blauen Schlangenlinien geäderten, mit Gebirgsrippen durchzogenen buntscheckigen Gebilde, im Norden grün, in der Mitte gelb, grün und braun und nach Süden immer brauner, vielleicht hatte der Lehrer es wieder in die Ecke gestellt, Gesicht zur Wand. Es war nicht da. Meine Erinnerung ließ mich im Stich, sage ich, ausradiert, ausgelöscht das kleine Mädchen, das ich doch zweifellos einmal gewesen sein musste, aus dem Bild getilgt, als hätte es dieses Kind nie gegeben. Meine Kindheit war ein leerer Brunnen.

Durch die halboffene Tür sickert stoßweises Wimmern. Du rufst nach mir. Von draußen sind spielende Kinder zu hören, ihr Lachen treibt in kleinen Strudeln durch den Abend. Das Rufen wird lauter, energischer. MAMA, immer wieder diese beiden langgezogenen Silben. MA-MA. Ich öffne leise die Tür, setze mich an dein Bett und streichle beruhigend deinen Handrücken. Das musst du dir mal vorstellen, sage ich, die Straße und alles andere, das war alles noch da, Kirche, Schule, Häuser, Leuchtreklamen, Schaufenster, als wären wir nie weggegangen aus diesem Dorf in der Rheinischen Bucht, nur mich hatte man herausgeschnitten. Auf dem Rückweg zitterte in den schmutzigen Pfützen der mattrote Widerschein der Leuchtbuchstaben über der Sparkasse, aber dieses schwache Leuchten genügte, und in derselben Sekunde durchfuhr mich eine heftige Sehnsucht nach einem dieser heißen Sommertage zwischen Zuckerrübenfeldern und Kühltürmen, wenn die weiche Luft wie ein Streicheln den erhitzten Körper umströmte und der herbe Geruch von Heu in der Nase kitzelte und von den Hängen der Rureifel die Wildbäche rauschend hinunterstürzten und die ganze Welt atmete und bebte wie ein großes warmes Tier. Und als ich eine Viertelstunde später, zurück im Rheinischen Hof, unter das klamme Federbett kroch und vor Hunger nicht einschlafen konnte, da stand es auf einmal wieder klar und deutlich vor mir, das lange vergessene Wort, innen an die Augenlider geschrieben, LEBENSGEFAHR. Es hatte also all die Jahre still gewartet, um diesen einen Tag am Fluss für immer im Gedächtnis festzuhalten, eingeschlossen in diesem Wort.

Das Loch

Du musst alles vergessen, so war es doch, aber ich bin zurückgekommen, ich sitze am Abhang und starre in das Loch, durch die klare Herbstluft dringt das monotone Brummen starker Motoren, in konzentrischen Halbkreisen arbeitet sich der Bagger durch das Gelände, dreihundertvierzig Meter unter mir öffnet sich der Schlund der Zeit, Menschenzeit, Allerweltzeit, Niemandszeit, ein Meer aus Zeit, von Vergessen durchpflügt. Gierig schlagen die Schaufelzähne in das lockere Sediment, Kratzspuren, Schürfwunden, Zeitfalten hinterlassend, kilometerweit transportieren die Förderbänder den Abraum der Zeit zu den Absetzern, verlorene Zeit, überflüssige Zeit. Mitgerissen von der sanften Krümmung der Erde, klettern die Augen über die Terrassenhänge zu den schneeweißen Wolken über den Kühltürmen von Weisweiler. Wenn ich lange genug auf diese künstlichen Kumuli starre, die träge über den Novemberhimmel treiben, steigt vor mir eine andere, imaginäre, nein, ganz und gar reale Landschaft auf, eine Komplementärwelt, der Himmel ein tiefblaues Meer, die Wolken schwimmende Eisberge, Eisschollen treiben gemächlich zum Horizont, so weit der Blick reicht, die perfekte Täuschung, die Verwandlung der Welt in ihre Gegenwelt, Trompe-l’œil, die Krümmung des Raums zur Linse, durch die aus der ersten eine zweite Welt ersteht. Ich stürze mich in die Tiefe, über mir schlagen die Wellen der Luft zusammen wie das kühlende Dach eines Laubwalds an einem windigen Sommertag, rückwärts durch das Zeitmeer rutsche ich durch Keuper Hauptkies Rotton Bundsandstein Muschelkalk dem Grund entgegen, geschichtete Zeit, zwölf Millionen Jahre wie im Flug. Ein leises Knarren und Ächzen liegt in der Luft, ein Rauschen wie von starken Dieselmotoren, sonst ist es still, so still, dass ich mein Herz klopfen höre. Aber es ist nicht mein Herz, es ist der Flügelschlag der Ewigkeit.

Falls es ihn wirklich gibt, diesen Ort, sage ich, den die Dichter die Heimat der Seele nennen, diesen Sehnsuchtsort im Rücken der Zukunft, dann habe ich ihn jedenfalls nicht gefunden auf meiner Winterreise, an jenem verregneten Dreikönigstag des Jahres Neunzehnneunundachtzig. Dieses Überall und Nirgends der Morgenlandfahrer, das Einswerden aller Zeiten, für mich ist es verloren. So oft ich zurückdenke an meine Kinderjahre, ist da ein großes Nichts. Es gibt mich nur in der Gegenwartsform, im ewigen Präsens des Hier und Jetzt. Zwischen der Vergangenheit und mir klafft ein Loch, durch das meine Jahre davonschwimmen wie langsame Schiffe, beladen mit namenlosen Gesichtern und Stimmen, mit unbekannten Städten und fremden Zimmern.

Nebenan ist alles still. Ich stehe am Fenster. Durch das Fenster scheint eine schöne weiße Spätwintersonne, ich könnte spazierengehn. Die Dächer sind mit dicken Schneepolstern bedeckt, die über die Regenrinnen hängen und geräuschvoll abstürzen. Ich zucke jedesmal zusammen, aber ich bleibe sitzen, an meinen Schreibplatz vor dem Fenster, und sehe dem Tag beim Sterben zu.

Man muss zweimal an einen Ort gekommen sein, hat Marina Zwetajewa irgendwo geschrieben, das erste Mal, um wegzugehen, und noch einmal, um Abschied nehmen zu können. Noch einmal also, sage ich, ein halbes Menschenalter später, noch einmal mit der deutschen Bahn, noch einmal vom Bahnhof Friedrichstraße, wenn auch dieses Mal ohne Herzklopfen, ohne den blauen DDR-Pass und ohne die argwöhnischen Blicke der Zöllner, noch einmal für höchstens vierundzwanzig Stunden und keine mehr, nicht um zu bleiben nämlich, sondern: noch einmal, nur anders. Schließlich waren die Zeiten von Grund auf andere geworden, die Mauer war weg, die DDR war weg, ihre Denkmale geschleift, ihre Regierung vertrieben, ihre Machthaber vor Gericht gezerrt oder ins Gefängnis geworfen worden, ihre Insignien entweiht, ihre Prunkgebäude abgerissen, ihre Straßen und Plätze umbenannt, als sollte den Bürgern dieses gleichsam über Nacht verschwundenen Staates jeder Anhaltspunkt genommen werden, an dem ihre Erinnerungen haften könnten, vierzig Jahre ausgelöscht, verflucht im Gedächtnis der Nachkommen, damnatio memoriae, wie die alten Römer das nannten.

Die Sonne strahlte golden aus einem tiefblauen Himmel, als die Rezeptionistin im Arnoldshof mir den Zimmerschlüssel in die Hand drückte und mit slawischem Akzent zu verstehen gab, dass das Restaurant in der Wintersaison geschlossen sei. Auf dem Gang war niemand zu sehen, wer verirrte sich auch im November in diesen gottverlassenen Winkel der Bucht. Ich stellte meine Tasche ab, schob die Gardine zur Seite, warf einen Blick auf den Hotelparkplatz, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, ich tat alles genau so wie damals im Rheinischen Hof, als könnte durch die Wiederholung der abgerissene Lebensfaden zurück ins Gewebe der Zeit geschoben werden. Das Hotel befand sich an der Peripherie der Stadt, mitten in einem kleinen Dorf, das schon vor Jahren nach E. eingemeindet worden war. Ich beschloss, unterwegs zur Hauptstraße den Umweg über den Tagebau Hambach nehmen, der hier ganz in der Nähe sein musste. Es war sommerlich warm, viel Zeit blieb nicht, in dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter. Ein Hinweisschild behauptete, bis zum Grubenrand seien es nur noch anderthalb Kilometer. Hinter der kleinen weißen Dorfkirche lagen rechts und links Stoppelfelder, ich schwitzte, ich spürte das Gewicht des Körpers in den federnden Kniegelenken, das gleichmäßige Strömen des Bluts durch die erwärmten Muskeln, und trotzdem war in diesem Gehen etwas Stolperndes, eine seltsame Unsicherheit, die mich zwang, alle hundert Meter stehenzubleiben, sodass es für andere so aussehen musste, als betrachtete ich etwas am Feldrand, dabei sah ich angestrengt in mich hinein. Ob noch alles stimmte mit mir. Aber es stimmte natürlich schon lange nichts mehr. Was hätte ich sonst hier zu suchen gehabt, eine Schiffbrüchige, angespült in dieser Bucht am Rand der Nordeifel unter der glühenden Sonne des Klimawandels. Ich zog den Wintermantel aus und hängte ihn über die Schultern; beim Gehen rutschte er immer wieder herunter und landete im Straßenstaub, der feinpulverig und schmierig wie Lehm war.

Nach zwanzig Minuten endete die Straße an einem leeren Waldparkplatz. Eine Treppe führte über eine steile Böschung zu einer Aussichtsplattform. Ich stieg hinauf, und da war es. Das Loch. Ein gigantischer Trichter, dessen terrassenförmige Abhänge in allen Schattierungen von Ocker bis Saharagelb, Orange und Schiefergrau im Mittagslicht leuchteten. In regelmäßigen Abständen säumten grüne Kästen zwischen Bäumen und Sträuchern den Rand der Böschung, Hagebutten glänzten im staubigen Grün, leichter Wind wie am Meer raschelte in den welken Blättern. Am linken Grubenrand unterbrach ein bewaldeter Buckel die schnurgerade Horizontlinie, über der sich in makellosem Azur die gläserne Kuppel des Himmels wölbte, nur hier und da eingedrückt von den weißen Kuben der Kühltürme. Die andere Seite lag unter einer milchigen Dunstglocke, unter der sich das Ende des Lochs in der Ferne verlor. Auf den höher gelegenen Sohlen des terrassenförmig abfallenden Abhangs bewegten sich ameisenkleine Lastkraftwagen, und ganz unten, auf der tiefsten Sohle gerade noch erkennbar, stand klein wie ein Spielzeug der größte Bagger der Welt.

Mit ruhiger Präzision hebt und senkt sich die Bettdecke über deiner Brust. Frisch gewaschen, eingecremt und nach Pfefferminz und Veilchen duftend liegst du mit offenen Augen im Bett und greifst ängstlich nach meiner Hand. Schlaf schön weiter, sage ich und suche in meinem Gedächtnis, ob dieses maskenhafte Gesicht mit den steilen Jochbögen und der spitzen weißen Nase mich an jemand oder etwas erinnert. Wir spielen das alte Mutterkindspiel, aber die Rollen sind vertauscht, Anfang und Ende schließen sich zum Kreis. Der Tod, höre ich mich denken, wäre Erlösung. Aber deine vom Schlaf leicht geröteten Wangen sagen etwas anderes.

Wann hat das eigentlich angefangen, sage ich, dieses Abbaggern von Gegend, Garzweiler, Inden, Erkelenz, Hambach, Hürth, Kerpen, was weiß ich, diese chirurgische Operation an einer ganzen Landschaft, ausgeführt mit der kalten Präzision des Pathologen, tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, wo noch vor fünfzig Jahren das Herz der alten Bundesrepublik schlug, diese alte europäische Kulturlandschaft zwischen Rhein und Maas im ökologischen Exitus, warum war mir das denn nicht schon bei beim ersten Mal aufgefallen, kein Baum und kein Strauch kilometerweit, diese flache Horizontlinie, wie das Kardiogramm eines Sterbenden auf einer Intensivstation, uralte Dörfer, die vor über tausend Jahren als Rodungsinseln in dem riesigen Wald zwischen Köln und Aachen gegründet wurden, Geiseln der Energiewirtschaft, die nun eines nach dem andern der Vorfeldräumung weichen mussten, wie das auf der Internetseite in Konzernsprache hieß, verschwunden in dem großen Loch. Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldne Brücke, der erste nicht, der zweite nicht, der dritte muss gefangen sein. Entweihte Kirchen, abgeholzte Wälder, alte Handelsstraßen, die in diesem gigantischen Krater endeten, verändert bis auf den Grund diese Landschaft, in die ich nach drei Jahrzehnten, nein, nicht zurückgekehrt war, man kann nur zu etwas zurückkehren, das man kennt, sondern eben: noch einmal gekommen. Bis zur Unkenntlichkeit verformt die Bucht mit ihren alten Maiglöckchenwäldern und fruchtbaren Feldern und Weiden, mit Apfelbaumalleen und Dorfweihern, die ich all die Jahre im Kopf mit mir herumgetragen hatte in Ermangelung von etwas, das man wohl Heimat nennt.

Aber war denn sie, sage ich, die ostwestliche Reisende auf ihrem Aussichtspunkt dreihundertvierzig Meter über dem Abgrund, noch dieselbe Person wie damals auf ihrer Winterreise, und musste sie nicht genau in diesem Moment, bei ihrer zweiten Ankunft, und zwar zu ihrer eigenen Überraschung, feststellen, dass nicht nur sie es war, die sich verändert hatte, sondern genauso und noch mehr diese uralte Landschaft mit ihren Dorfangern und Löschteichen und Rübenäckern? Keine Rückkehr also, das war es nicht, aber was war es dann, sage ich, das mich an diesem sommerlich heißen Novembertag noch einmal in die alte Heimat verschlagen hatte. Ein Abschied hatte es werden sollen, ein Lebewohl, stattdessen war da jetzt dieses Loch, der Fußabdruck eines gigantischen Raubtiers, sechs Kilometer breit, acht Kilometer lang, fast vierhundert Meter tief, sodass es also diesen Ort nun zweimal gab, als Erinnerung und als Un-Ort. Was ich verloren hatte, war unwiderleglich und für immer als Verlust sichtbar, war Landschaft geworden.

Wabi-Sabi