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Mit dem Wirtschaftswachstum war über lange Zeit ein Heilsversprechen auf bessere Zukunft verbunden, das sich großenteils auch bewahrheitet hat. Doch aus diesem Heilsversprechen wird in neuester Zeit zunehmend eine Zwangshandlung. Für eine steigende Zahl von Menschen in reichen Ländern ist mehr materieller Wohlstand kein glaubhaftes Versprechen mehr auf ein noch besseres zukünftiges Leben. Deshalb wird Wachstum heute kaum noch mit diesem Argument begründet. Stattdessen hören wir, dass ein Land wie Deutschland bei geringem oder ausbleibendem Wachstum gegenüber anderen Ländern zurückbleibt, als Wirtschaftsstandort unattraktiv wird, an Innovationskraft einbüßt oder Arbeitsplätze verliert. Wir müssen wachsen, um wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben, auch wenn wir gar nicht noch mehr materiellen Wohlstand wollen! Das Buch von Mathias Binswanger zeigt auf, woher dieser Wachstumszwang genau kommt. Begründet ist er letztlich in der Tatsache, dass Unternehmen insgesamt über längere Zeit nur Gewinne machen können, wenn auch ein Wachstum des BIP stattfindet. Und Gewinne sind wiederum notwendig, damit Unternehmen längerfristig überleben. In neuester Zeit ist daraus zunehmend eine Zwangshandlung geworden: Wir müssen wachsen, um wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben, auch wenn wir gar nicht noch mehr materiellen Wohlstand wollen! Genau das ist der Wachstumszwang!
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Seitenzahl: 362
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Widmung
Einleitung
Teil I: Der Wachstumszwang
1. Zweihundert Jahre Wirtschaftswachstum: Vom Heilsversprechen zur Zwangshandlung
Der Beginn des Wirtschaftswachstums und seine Voraussetzungen
Vom Heilsversprechen zur Zwangshandlung
2. Der ökonomische Hintergrund des Wachstumszwangs
Warum die Standardökonomie den Wachstumszwang nicht sieht
Die Unmöglichkeit eines stationären Zustandes in einer Geldwirtschaft
Die Notwendigkeit der Geldschöpfung für das Wirtschaftswachstum in real existierenden Wirtschaften
Wachstum als Voraussetzung für Gewinne
Wichtige Merkmale einer kapitalistischen Wirtschaft, die zum Wachstumszwang führen
Böse Kapitalisten oder geniale Unternehmer?
3. Der Zusammenhang zwischen Wachstum und Gewinnen in einer einfachen Modellwirtschaft
Beschreibung der einfachen Modellwirtschaft
Stationäre Wirtschaft ohne Geldschöpfung und ohne Gewinne
Stationäre Wirtschaft ohne Geldschöpfung mit Gewinn, der vollständig an die Haushalte ausbezahlt wird
Unmöglichkeit einer stationären Wirtschaft ohne Geldschöpfung, wenn Gewinne zurückbehalten werden
Unmöglichkeit einer stationären Wirtschaft ohne Geldschöpfung mit Wettbewerb und technischem Fortschritt
Wachsende Wirtschaft mit Geldschöpfung
Erweiterungen des einfachen Modells und die Konsequenzen für den Wachstumszwang
4. Ein fiktives Beispiel: Wie eine Insel mit traditioneller Fischereiwirtschaft in den Wachstumszwang gerät
Traditionelle Fischerei ohne Wachstum in der vorkapitalistischen Phase
Übergang zur kapitalistischen Wirtschaft funktioniert nicht ohne Wachstum und Geldschöpfung
Kapitalistische Wirtschaft mit Geldschöpfung ermöglicht Wachstum und schafft gleichzeitig einen Wachstumszwang
Fazit
5. Ein Beispiel aus der realen Welt: Degrowth in Griechenland nach 2008
6. Aber es geht doch ohne Wachstum! Argumente gegen den Wachstumszwang
Erstes Argument: Es gibt keinen Wachstumszwang, sondern nur einzelne Wachstumstreiber
Zweites Argument: Es gibt Modelle von Wirtschaften, in denen kein Wachstumszwang herrscht
Drittes Argument: Es gibt Unternehmen, die nicht auf Wachstum setzen und trotzdem erfolgreich sind
Teil II: Die Zukunft des Wachstums
7. Vollbeschäftigung trotz arbeitssparendem technischem Fortschritt: Bürokratie als Rettung
Widersprüche im Wachstumsprozess
Vier industrielle Revolutionen und der Anreiz zu arbeitssparendem technischem Fortschritt
Die Entwicklungen in Deutschland und der Schweiz seit den 1990er Jahren
Die Rolle der Bürokratie als Arbeitsplatzbeschaffer
New Public Management als Initialzündung für eine neue Bürokratie und die Schaffung von Bullshit-Jobs
Das Gesundheitswesen als Anschauungsbeispiel für die neue Bürokratie
8. Stetiges Wachstum des Konsums trotz Sättigung: Bedürfnisweckung und Zwangskonsum
Bedürfnisweckung als Teil des ökonomischen Prozesses in kapitalistischen Wirtschaften
Förderung relativer Bedürfnisse mit Hilfe von Statusgütern
Verkürzung der Produktlebenszyklen durch Förderung der psychologischen Schrottreife
Künstliche Erhöhung der Vielfalt von Produkten
Individualisierung von Werbung, Produkten und Preisen
Von der Konsumentensouveränität zur Algorithmenabhängigkeit: Die Verselbstständigung des Konsums
Auch der Staat hilft mit: staatlich verordneter Zwangskonsum
9. Falsche Prophezeiungen über das Ende des Wachstums gestern und heute
Malthus und das Problem des Bevölkerungswachstums
Marx und die Ausbeutung der Arbeiter
Schumpeter und der an seinem Erfolg zerbrechende Kapitalismus
Der Club-of-Rome-Bericht und die natürlichen Grenzen des Wachstums
Kommt jetzt doch das Ende des Wachstums? Die These der säkularen Stagnation
Fazit: Ein Ende des Wachstums ist (noch) nicht absehbar
10. Können wir das Wachstum immer besser machen?
Das Wachstum muss weitergehen
Kann Wachstum immer umweltfreundlicher werden?
Ermöglicht Wachstum Wohlstand für alle?
Können Roboter Menschen über ein bedingungsloses Grundeinkommen finanzieren?
Moderates Wachstum statt maximales Wachstum?
Mögliche Reformen der Aktiengesellschaft
Alternativen zur Aktiengesellschaft: Genossenschaften und Stiftungen
Anhang: Wachstumszwang im Modell einer einfachen Kreislaufwirtschaft
Übersicht über das Modell
Annahmen des Modells
Gewinne und Wachstum im Wachstumsgleichgewicht
Anmerkungen
Literatur
Stichwortverzeichnis
End User License Agreement
Kapitel 1
Abbildung 1.1: Reale Wachstumsraten der Weltwirtschaft und verschiedener
Kapitel 2
Abbildung 2.1: Die Alternative: Wachstum oder Schrumpfung
Kapitel 3
Abbildung 3.1: Nettobetriebsüberschuss und Arbeitnehmerentgelt als
Abbildung 3.2: Nettobetriebsüberschuss und Arbeitnehmerentgelt als
Abbildung 3.3: Geldflüsse in der stationären Modellwirtschaft
Abbildung 3.4: Geldflüsse in einer alternativen stationären
Abbildung 3.5: Geldflüsse in einer Wirtschaft ohne Geldschöpfung
Abbildung 3.6: Geldflüsse in einer Wirtschaft ohne Geldschöpfung
Abbildung 3.7: Geldflüsse in einer wachsenden Wirtschaft mit
Abbildung 3.8: Geldflüsse in einer wieder stationären Wirtschaft
Abbildung 3.9: Wachstum und Gewinne bei einmaliger Erhöhung der
Abbildung 3.10: Geldflüsse in einer weiterwachsenden Wirtschaft
Abbildung 3.11: Wachstum und Gewinne bei permanenter Erhöhung der
Kapitel 6
Abbildung 6.1: Bilanzsumme(links) und Gewinne (rechts) der Christian Bollin
Abbildung 6.2: Bilanzsumme (links) und Gewinne (rechts) bei Die Möbelmacher
Abbildung 6.3: Bilanzsumme (links) und Gewinne (rechts) der Elektrizitätswe
Abbildung 6.4: Bilanzsumme (links) und Gewinne (rechts) der Neuland GmbH
Abbildung 6.5: Bilanzsumme (links) und Gewinne (rechts) der Niels Holger
Abbildung 6.6: Bilanzsumme (links) und Gewinne (rechts) der Oktoberdruck AG
Abbildung 6.7: Bilanzsumme (links) und Gewinne (rechts) der Richard Henkel GmbH
Anhang
Abbildung A.1: Kapitalrenditen in Abhängigkeit von der Wachstumsrate.
Kapitel 1
Tabelle 1.1: Ungefähre Wachstumsraten der Weltwirtschaft und des
Kapitel 5
Tabelle 5.1: Zahlen zur griechischen Wirtschaft von 2001 bis 2016.
Kapitel 6
Tabelle 6.1: Wachstumsneutrale KMUs nach Liesen (2013)
Kapitel 7
Tabelle 7.1: Entwicklung von Arbeitsproduktivität
Tabelle 7.2: Entwicklung von Arbeitsproduktivität
Tabelle 7.3: Anteile an der Beschäftigung nach Berufsklassen von 1991/92
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Mathias Binswanger
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Satz: Lumina Datamatics
Print ISBN: 978-3-527-50975-1
ePub ISBN: 978-3-527-82204-1
Meinem Vater Hans Christoph Binswanger (2018 verstorben) in dankbarer Erinnerung gewidmet
Seit Beginn der ersten industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts in England ist Wirtschaftswachstum nach und nach in fast allen Ländern dieser Erde zu einem Dauerzustand geworden. Wachstum gilt als Anzeichen einer funktionierenden Wirtschaft, während ein Ausbleiben von Wachstum als pathologische Störung empfunden wird. Schon ein Jahr ohne Wachstum führt zu großer Nervosität in Politik und Wirtschaft, und man versucht alle Hebel in Gang zu setzen, um wieder auf den Wachstumspfad zu gelangen. Und wächst eine Wirtschaft gar ein paar Jahre nicht, wie das in Griechenland von 2008 bis 2013 der Fall war, dann wird daraus eine nationale Katastrophe. Doch warum sind heutige Wirtschaften dermaßen auf Wachstum fixiert?
Als wichtigster Grund für Wachstum wird im Allgemeinen das nie enden wollende menschliche Streben nach Verbesserung der Lebensbedingungen gesehen (zum Beispiel Schwarz et al., 2016). Doch dieses Streben nach Verbesserung gab es auch schon vor der industriellen Revolution, ohne dass es je zu nennenswertem Wirtschaftswachstum gekommen wäre. Präindustrielle Wirtschaften haben ohne Wachstum funktioniert, obwohl die menschliche Natur damals dieselbe war wie heute. Wachstum einfach mit dem Bedürfnis nach mehr und besseren Gütern und Dienstleistungen erklären zu wollen, greift deshalb zu kurz. Das Buch zeigt, dass Wachstum in modernen Wirtschaften keine Option, sondern eine Notwendigkeit ist. Andernfalls kommt es zu Krisen und die Wirtschaft gerät bald in eine Abwärtsspirale. Also muss die Wirtschaft längerfristig stets wachsen, um einen solchen Schrumpfungsprozess zu verhindern.
Der Wachstumszwang ergibt sich aus der Funktionsweise der modernen Wirtschaft, die sich nach der industriellen Revolution durchgesetzt hat. Wir nennen diese Wirtschaftsform meist kapitalistische Wirtschaft oder einfach Kapitalismus. Gemeint ist damit nicht Ausbeutung wie bei Karl Marx, wo der Begriff Kapitalist einen negativen Unterton hat, sondern eine Wirtschaft, in der Kapital (Maschinen, Anlagen, Computer, Roboter etc.) neben Arbeit wichtigster Produktionsfaktor ist. Das Hauptziel der Unternehmen besteht darin, mit Hilfe des Kapitals einen möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften.1 Doch wie ist es überhaupt möglich, dass eine Mehrheit von Unternehmen Jahr für Jahr Gewinne erzielt und die Erlöse somit die Kosten übersteigen? Wie wir sehen werden, funktioniert das nur mit permanenter Zufuhr von weiterem Geld. Diese Geldzufuhr erfolgt seit Entstehung der kapitalistischen Wirtschaft durch Banken, welche mit der Vergabe von Krediten bei Bedarf zusätzliches Geld schaffen können. Eine kapitalistische Wirtschaft ist deshalb zwingend auch eine Geldwirtschaft. Nur in einer Geldwirtschaft ist es möglich, stets weitere Investitionen zu finanzieren, um so den Kapitalbestand immer mehr zu erhöhen, ohne dass gleichzeitig der Konsum zurückgeht.
Gewinne zu erzielen ist in einer kapitalistischen Wirtschaft aber kein Dürfen, sondern ein Müssen. Diese Wirtschaftsform ist an Märkte gekoppelt, wo Unternehmen stets einem mehr oder weniger ausgeprägten Wettbewerb durch die Konkurrenz ausgesetzt sind. Dadurch sind Unternehmen zu permanenter Suche nach neuen Wettbewerbsvorteilen gezwungen, da sie sonst Marktanteile verlieren, Verluste machen und schließlich in Konkurs gehen. Wettbewerbsvorteile ergeben sich aber auf die Dauer nur, wenn Unternehmen innovativ sind und mit Hilfe des technischen Fortschritts eine permanente Erhöhung der Produktion von immer vielfältigeren Gütern und Dienstleistungen anstreben. Geld, Wettbewerb und technischer Fortschritt sind systemnotwendige Bestandteile einer kapitalistischen Wirtschaft, die in ihrem Zusammenspiel Wachstum ermöglichen und gleichzeitig den Wachstumszwang verursachen.
Die Erforschung des eben beschriebenen Wachstumszwangs ist in meinem Fall ein generationenübergreifendes Projekt. Bereits mein Vater, der 2018 verstorbene ehemalige Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, Hans Christoph Binswanger, beschäftigte sich intensiv mit diesem Thema. Ursprünglich standen in seinen Arbeiten die Auswirkungen des Wachstums auf die Umwelt im Vordergrund, und er galt als wachstumskritischer Ökonom. Doch bald keimte bei ihm der Verdacht auf, dass Wachstum als systemimmanenter Bestandteil kapitalistischer Wirtschaften gesehen werden muss. In diesem Fall kann man nicht einfach mit dem Wirtschaftswachstum aufhören, wie dies seit der Publikation des Club-of-Rome-Berichts Grenzen des Wachstums im Jahr 1972 immer wieder gefordert wurde. In einer Aufsatzsammlung die 1991 unter dem Titel Geld und Natur publiziert wurde, lesen wir bereits (Binswanger, H.C, 1991, S. 6):
»Vermutlich gibt es in unter den Bedingungen der Geldwirtschaft einen Zwang zum Wachstum, wenn man nicht wirtschaftliche Krisen in Kauf nehmen will.«
Drei Jahre später, in dem von meinem Vater herausgegebenen Sammelband Geld und Wachstum, war diese Vermutung zur Gewissheit geworden, Dort steht (1994, S. 118):
»… die Wirtschaft ist heute sowohl einem Wachstumszwang als auch einem Wachstumssog ausgesetzt. Sie ist zum Wachstum »verurteilt«, aber lässt sich auch gerne »verurteilen«, nicht weil die Menschen unersättlich sind, sondern weil das Geld bzw. die Geldschöpfung im Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt eine eigene Dynamik entwickelt, die sowohl eine Stoß- wie eine Sogkraft entfaltet.«
und auf der nächsten Seite (S. 119) kommt die Schlussfolgerung:
»Die Alternative zum Wachstum ist nicht Stabilisierung auf dem heute erreichten Niveau, sondern Krise bzw. Schrumpfung.«
Damit ist die Quintessenz bereits ausgesprochen, auch wenn mein Vater den Wachstumszwang damals noch nicht im Detail begründen konnte. Die Erarbeitung einer präziseren Begründung »kostete« ihn zehn weitere Jahre, während denen er an dem Buch Die Wachstumsspirale schrieb, welches 2006 publiziert wurde. Dort findet sich auch ein Modell, welches den Wachstumszwang unter bestimmten Annahmen aufzeigt und daraus Schlussfolgerungen für real existierende kapitalistische Wirtschaften zieht (Binswanger, H.C., 2006, S. 327-348).
Aufgrund von Diskussionen mit meinem Vater zu Beginn der 90er Jahre war ich von Anfang an überzeugt, dass die These des Wachstumszwangs richtig ist. Also begann ich mich selbst mit diesem spannenden Thema zu beschäftigen, und ein erster Beitrag erschien 1996 in dem vom verstorbenen Evolutionsbiologen und Gründer des Club of Vienna, Rupert Riedl, herausgegebenen Sammelband Die Ursachen des Wachstums. Der Beitrag trägt den Titel »Monetäre Wachstumsdynamik in modernen Wirtschaftssystemen« und thematisiert den Zusammenhang zwischen Geldschöpfung und Wachstum, den ich dann viel später in dem Buch Geld aus dem Nichts (2015) ausführlich dargestellt habe. Auch liefert der Beitrag eine erste Begründung für den Wachstumszwang, allerdings hauptsächlich für Aktiengesellschaften, wo der Zusammenhang zwischen Wachstumserwartungen und Aktienkursen relevant ist.
Einige Jahre später wurde der Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück zu einem wichtigen Forschungsthema, was im Jahr 2006 zur Publikation meines Buches Die Tretmühlen des Glücks führte. Dort finden sich Daten und Erklärungen dafür, weshalb Menschen in hochentwickelten Ländern zwar weiterhin immer mehr Einkommen wollen, sie dieses Einkommen aber im Durchschnitt nicht mehr glücklicher macht. In dem Buch war auch ein Kapitel enthalten mit dem Titel »Das Dilemma moderner Wirtschaften: kein Wachstum ohne Tretmühlen« (Binswanger, 2006, S. 126-137). Dort formulierte ich den Widerspruch, dass Wachstum aufgrund des Wachstumszwangs immer weitergehen muss, obwohl die Lebenszufriedenheit oder das Glück der Menschen dadurch nicht mehr positiv beeinflusst wird. Die Tretmühlen des Glücks spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie sorgen dafür, dass die Menschen weiterhin an mehr Glück durch mehr materiellen Wohlstand glauben, auch wenn dieses Versprechen sich nicht mehr erfüllt. Diese Tretmühlen bilden einen wichtigen Input für Kapitel 8 dieses Buches, wo erklärt wird, wie der Konsum durch Intensivierung der Tretmühlen auch auf eigentlich gesättigten Märkten weiter ausgedehnt werden kann.
Im Jahr 2009 publizierte ich schließlich einen Fachartikel im Journal of Post Keynesian Economics unter dem Titel »Is there a growth imperative in capitalist economies?«. Dieser Artikel formuliert den Zusammenhang zwischen Wachstum und Gewinnen mit Hilfe eines Modells für eine einfache Kreislaufwirtschaft, die mit einer Reihe von linearen Differenzengleichungen beschrieben wird. Dieses Modell unterscheidet sich in mehreren Punkten vom Modell meines Vaters (Binswanger, H.C., 2006, S. S. 327-348), doch kommt es zur gleichen Schlussfolgerung: Es braucht Wachstum damit der gesamte Unternehmenssektor einer Wirtschaft Gewinne erzielen kann. Eine vereinfachte und etwas abgeänderte Form dieses Modells findet sich als Anhang in diesem Buch. Eine weitere Modellvariante erschien 2015 ebenfalls im Journal of Post Keynesian Economics als Reaktion auf zwei Artikel, die sich kritisch mit einzelnen Annahmen des ursprünglichen Modells auseinandersetzten. Die erwähnten Publikationen und weitere Reaktionen auf meinen Artikel2 bildeten eine wichtige Grundlage für die Ausarbeitung dieses Buches, welches versucht, den Wachstumszwang umfassend und allgemeinverständlich zu erklären. Doch darüber hinaus werden auch die Konsequenzen des Wachstumszwangs für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung dargestellt, welche im Zeichen der digitalen Transformation steht. Denn es stellt sich die Frage, ob und wie das Wachstum in Zukunft weitergehen kann und wird. Und da Menschen zunehmend durch Roboter und Algorithmen ersetzt werden, stellt sich auch die Frage, ob das zukünftige Wachstum überhaupt noch Beschäftigung schafft.
Letztlich befinden wir uns in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite gibt es große Befürchtungen, dass das Wachstum in Zukunft nicht mehr weitergehen wird, und Themen wie »Ende des Wachstums« oder »säkulare Stagnation« geistern als Schreckgespenster herum. Für Wachstumskritiker sind das aber keine Schreckgespenster, sondern erwünschte Entwicklungen. Ein Ende des Wachstums wäre der Beginn einer Postwachstumsökonomie, die als zukünftige Vision angestrebt wird. Während die einen Wachstumsschwäche beklagen, monieren andere, dass wir nach wie vor Wirtschaftswachstum anstreben, obwohl wir längst damit aufhören sollten. Solche Diskussionen finden oft gleichzeitig und völlig unabhängig voneinander in unterschiedlichen Medien, Foren und Blogs statt. Dabei werden sowohl von Wachstumskritikern als auch von Wachstumsbefürwortern meist nur die Aspekte des Wachstums gesehen, welche die vorgefasste Meinung zum Thema bestätigen.
An dieser Stelle möchte ich deshalb festhalten, dass dieses Buch sowohl wachstumsfreundlich als auch wachstumskritisch ist. Wachstum hat wie viele Entwicklungen einen ambivalenten Charakter und ist sowohl »Segen« als auch »Fluch«. So hat das Wachstum einen ungeheuren materiellen Wohlstand für die meisten Menschen in vielen Ländern ermöglicht, der auch zu einer drastischen Verbesserung der Lebensbedingungen und der Gesundheit geführt hat. Andererseits besitzt Wachstum ein enormes Zerstörungspotenzial für die natürliche Umwelt und trägt nicht mehr zu weiterem Glück der Menschen in hochentwickelten Ländern bei. Das Versprechen des Wachstums auf mehr materiellen Wohlstand verliert so seine Attraktion, ohne durch etwas Besseres ersetzt zu werden.
Bis heute war, auch das sei hier klar gesagt, der »Segen« des Wachstums um einiges größer als sein »Fluch«. Doch je höher der materielle Wohlstand wird, umso mehr gewinnen negative Auswirkungen relativ zu den Vorteilen des Wachstums an Gewicht. Insofern ist es richtig, dass Wachstumskritik ein Wohlstandsphänomen ist (Fuster, 2017). Denn solange das Wachstum den Menschen in einem Land hilft, grundlegende Bedürfnisse zu decken, überwiegen die positiven Auswirkungen. Wenn das aber nicht mehr der Fall ist, macht es schon aus rein ökonomischen Gründen Sinn, das Wachstum kritisch zu hinterfragen. Denn in der ökonomischen Theorie ging es noch nie um ein maximales BIP pro Kopf, sondern um das subjektive Wohlbefinden des einzelnen Menschen. Und wenn Wachstum dieses nicht mehr verbessert, wird es im wahrsten Sinne des Wortes unökonomisch.
Allerdings erfreut sich Ambivalenz keiner großen Beliebtheit. Menschen sind lieber für oder gegen etwas, und das gilt auch für das Wachstum. Deshalb wird das Buch vermutlich bei einigen Leserinnen und Lesern auf Widerstand stoßen. Befürworter des Wachstums werden argumentieren, dass dieses Buch eine pauschale Wachstumskritik sei (was nicht stimmt!) und eine viel zu pessimistische Sichtweise der kapitalistischen Wirtschaft vermittle. Wachstumskritiker werden hingegen monieren, dass dieses Buch die Gefahren des Wachstums verharmlose (was auch nicht stimmt!) und dass es umgekehrt vielversprechende Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaft gäbe, die nur aus fehlendem politischen Willen nicht umgesetzt werden. Bevor wir aber vorschnell engagierte Meinungen zu Kapitalismus und Wachstum von uns geben, sollten wir versuchen, die Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft zu verstehen, die den Wachstumszwang miteinschließt.
Das Buch besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen. Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Phänomen des Wachstumszwangs und seinen Auswirkungen auf die Wirtschaft. Es wird aufgezeigt, weshalb die traditionelle Wachstumstheorie den Wachstumszwang nicht erkennen kann, und wie der Einbezug des Geldes in die Analyse des Wachstumsprozesses zum Wachstumszwang führt (Kapitel 2). Es wird auch genau definiert, was mit dem Wort »Wachstumszwang« gemeint ist und welche Merkmale einer kapitalistischen Wirtschaft für diesen Zwang verantwortlich sind. Heutige Wirtschaften können deshalb nicht auf einem bestimmten Niveau bleiben, sondern es gibt nur die Varianten Wachstum oder Schrumpfung. Der entscheidende Drang zum Wachstum kommt dabei von den Unternehmen, die mit ihrer ständigen Suche nach neuen Gewinnmöglichkeiten die Wirtschaft vorantreiben. Aus diesem Grund wird auch die Rolle der Unternehmen bzw. von Unternehmern und Managern genauer beleuchtet.
Um den Wachstumszwang präziser zu fassen, wird der Geldkreislauf einer einfachen Wirtschaft anhand von Zahlenbeispielen dargestellt (Kapitel 3). Dort sehen wir, dass Unternehmen auf aggregierter Ebene nur unter ganz bestimmten Bedingungen auf Dauer Gewinne erzielen können und dass diese Bedingungen unter realistischen Annahmen nur in einer wachsenden Wirtschaft erfüllt sind. In einem weiteren Kapitel (Kapitel 4) wird die Wirtschaft einer fiktiven Insel beschrieben, in der es ursprünglich keinen Wachstumszwang gibt. Das Kapitel zeigt auf, wie die Einführung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems auf dieser Insel mehr Wohlstand schafft, aber wie sie gleichzeitig in den Wachstumszwang gerät.
In der realen Welt ist es gar nicht einfach, Beispiele von Wirtschaften zu finden, die tatsächlich über ein paar Jahre nicht gewachsen sind. Denn aufgrund des Wachstumsdrangs streben Volkswirtschaften dieses Wachstum von sich aus an. Doch die Entwicklung in Griechenland von 2008 bis 2013 liefert uns ein Anschauungsbeispiel, wie sich sechs Jahre ohne Wachstum auf eine Volkswirtschaft auswirken (Kapitel 5). Das letzte Kapitel des ersten Teils (Kapitel 6) geht auf die in der Literatur vorgebrachten Argumente gegen die Existenz eines Wachstumszwangs ein. Dabei zeigt es sich, dass sich durchaus Modelle von hypothetischen Wirtschaften konstruieren lassen, in denen es keinen Wachstumszwang gibt. Doch all diesen Modellen fehlen Merkmale der kapitalistischen Wirtschaft, welche den Wachstumszwang ausmachen.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der Zukunft des Wachstums. Diese wird stark durch die sich abzeichnende digitale Transformation geprägt sein. Der mit dieser Transformation verbundene arbeitssparende technische Fortschritt wird viele traditionelle Arbeitsplätze vernichten (Kapitel 7). Wie wir aber zeigen werden, lässt sich gleichzeitig ein Trend zu mehr Bürokratie beobachten, welche für die Entstehung vieler neuer Jobs sorgt. Diese Bürokratie hängt vor allem mit der steigenden Komplexität der Wirtschaft zusammen, was insgesamt eine Verschiebung der Beschäftigung von der Produktion in die Organisation des BIP bewirkt.
Neben der Digitalisierung stellt die Sättigung vieler Märkte in hochentwickelten Ländern eine weitere Herausforderung dar (Kapitel 8). Auf gesättigten Märkten ist Wachstum schwierig. Nur durch konstante Anstrengungen zur Weckung weiterer Bedürfnisse wird man auch in Zukunft Menschen zum Kauf von immer noch mehr Gütern und Dienstleistungen verleiten können, obwohl ihre grundlegenden Bedürfnisse im Wesentlichen gedeckt sind. Doch in dieser Hinsicht haben kapitalistische Wirtschaften mittlerweile erstaunliche Fähigkeiten entwickelt.
Die ganze Geschichte der kapitalistischen Wirtschaft war auch immer begleitet durch Prognosen über ihr baldiges Ende und somit das Ende des Wirtschaftswachstums. In Kapitel 9 werden bekannte Prognosen vorgestellt, die von Malthus, über Marx, Schumpeter, den Club-of-Rome-Bericht bis zu heutigen Thesen einer säkularen Stagnation reichen. Die Begründungen für das Ende waren immer wieder andere, aber eines ist allen Prognosen gemeinsam: Sie waren falsch. Der Wachstumsdrang hat bis heute alle vermeintlichen Wachstumsbarrieren aus dem Weg geräumt.
Das abschließende Kapitel (Kapitel 10) zieht die wichtige Schlussfolgerung, dass Wachstum mangels Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaft vermutlich noch lange weitergehen wird. Stellt sich deshalb die Frage, inwieweit sich das zukünftige Wachstum in gewünschte Bahnen lenken lässt. Kann man es nachhaltiger, grüner und sozialer machen? Vieles spricht dafür, dass es noch viel Potenzial zur Entkopplung des Wirtschaftswachstums von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen gibt. Im Moment zeichnen sich keine unmittelbaren ökologischen Grenzen des Wachstums ab. Trotzdem bleiben Widersprüche zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit, die sich nicht auflösen lassen. Es bleibt jedoch die Möglichkeit, den Wachstumsdrang zu mildern, wenn man die heute in der Wirtschaft dominierende Unternehmensform der Aktiengesellschaft reformiert oder ersetzt. Von der Aktiengesellschaft geht ein besonders starker Wachstumsdrang aus, der bei anderen Unternehmensformen wie etwa Genossenschaften weniger ausgeprägt ist. Wachstum ist in einer kapitalistischen Wirtschaft zwar eine Notwendigkeit, aber es muss nicht zwingend ein maximales Wachstum sein.
»Wachstum um des Wachstums willen ist die Ideologie der Krebszelle.«
Edward Abbey, Notes from a Secret Journal (Vox Clamantis in Deserto), Santa Fe, 1990
Seit ungefähr 200 Jahren ist Wirtschaftswachstum gemessen als Wachstum des realen BIP pro Kopf zu einem Dauerzustand moderner Wirtschaften geworden. Das Wachstum begann in England am Anfang des 19. Jahrhunderts und dehnte sich in der Folge auf dem ganzen Europäischen Kontinent, nach Nordamerika und im letzten Jahrhundert auf die ganze Welt aus. Da dieser Zustand so lange andauert, haben wir uns dermaßen an ihn gewöhnt, dass schon ein kurzfristiges Ausbleiben von Wachstum als Anzeichen einer dysfunktionalen Wirtschaft empfunden wird.
Schauen wir weiter zurück in die Geschichte, dann stellen wir allerdings fest, dass es vor dem 18. Jahrhundert nie längere Phasen von Wirtschaftswachstum gab. Zwar wuchsen Wirtschaften von Zeit zu Zeit, wenn Menschen in neue Gegenden einwanderten oder ein starkes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen war. Doch dies führte nie zu einem länger anhaltenden Wachstum. Der Normalzustand war nicht eine wachsende, sondern eine stationäre Wirtschaft, bei der die Produktion an Gütern und Dienstleistungen pro Kopf mehr oder weniger konstant bleibt. Natürlich haben wir keine präzisen Zahlen für frühere Jahrhunderte und können beispielsweise nachschauen, wie hoch das Wachstum im Jahr 1723 war. Aber Wirtschaftshistoriker haben versucht, das Wachstum für frühere Jahrhunderte aufgrund vorliegender Daten abzuschätzen, und fanden keine Hinweise darauf, dass ein Wachstum oder Wachstum pro Kopf irgendwo über länger andauernde Phasen stattgefunden hätte (siehe Tabelle 1.1).
Zeitraum
Jährliche Wachstumsrate des BIP
Jährliche Wachstumsrate des BIP pro Kopf
Jährliche Wachstumsrate des Energieverbrauchs
1000-1500
0.1%
0.0%
1500-1600
0.3%
0.1%
1600-1700
0.1%
0.0%
1700-1820
0.5%
0.1%
1820-1870
0.9%
0.5%
0.6%
1870-1900
1.9%
1.3%
1.2%
1900-1920
3.1%
2.2%
2.0%
1920-1940
1.1%
0.1%
1.2%
1940-1950
1.7%
0.8%
2.2%
1950-1960
4.7%
2.8%
3.9%
1960-1970
5.0%
3.1%
5.2%
1970-1980
3.8%
2.0%
2.6%
1980-1990
3.1%
1.4%
1.8%
1990-2000
3.1%
1.6%
1.3%
2000-2010
3.5%
2.3%
2.3%
Tabelle 1.1: Ungefähre Wachstumsraten der Weltwirtschaft und des Energieverbrauchs(Quelle: Bevölkerung und BIP basierend auf Schätzungen von Angus Madison (Maddison Historical Statistics); Energieverbrauch basierend auf Schätzungen von Vaclav Smil in Energy Transitions: History Requirements, and Prospects, adjusted by recent information from BP’s 2012 Statistical Review of World Energy.)
Der Anfang des Wirtschaftswachstums als Dauerzustand moderner Wirtschaften steht in engem Zusammenhang mit dem Beginn der industriellen Revolution anfangs des 19. Jahrhunderts. Zuvor lebten die Menschen hauptsächlich in Agrarwirtschaften, in denen die landwirtschaftliche Produktion die dominierende wirtschaftliche Tätigkeit war. In einer solchen Wirtschaft war neben Arbeit Boden der wichtigste Produktionsfaktor. Die Bauern säten, pflanzten, pflügten und ernteten, was immer einer Kombination der Produktionsfaktoren Arbeit und Boden entsprach. Allerdings lässt sich die Produktion in einer solchen Wirtschaft nicht beliebig ausdehnen, denn es gibt natürliche Grenzen. Werden die Böden, die sich für die landwirtschaftliche Produktion eignen, einmal genutzt, dann lässt sich die Produktion nur noch in dem Ausmaß steigern, als die Böden intensiver genutzt werden. Das wurde zwar häufig versucht, doch führte dies schnell zur Übernutzung der Böden und damit längerfristig zu keiner nachhaltigen Steigerung der Produktion.
Die industrielle Revolution führte zu einer radikalen Veränderung des Produktionsprozesses. Jetzt wurde Kapital, das heißt Maschinen, Anlagen, Fahrzeuge oder später Computer, Roboter und Algorithmen, zum wichtigsten Produktionsfaktor neben der Arbeit. Der Boden verlor hingegen zunehmend seine Bedeutung. Kapital ist aber im Unterschied zum Boden menschengemacht und über Investitionen lässt sich die Menge an Kapital immer mehr ausdehnen. Damit war die natürliche Grenze der Produktion aufgehoben, und von nun an war es möglich, die Produktion von Jahr zu Jahr zu erhöhen. Denn nicht nur wurde die Produktionskapazität der Wirtschaft durch immer mehr Kapital, sondern auch durch immer besseres Kapital erhöht. Der technische Fortschritt machte das Kapital produktiver und differenzierter und ermöglichte so auch die Produktion einer stets größeren Vielfalt von Gütern und Dienstleistungen.
Verbunden mit dem Wachstum des Kapitals war auch eine stetige Zunahme des Ressourcenverbrauchs und vor allem des Energieverbrauchs. Die industrielle Revolution sorgte dafür, dass Maschinen nicht mehr mit physischer Arbeit, sondern mit Energie betrieben wurden. Die Nutzbarmachung stets neuer Energiequellen war somit ebenfalls eine Voraussetzung für den stetigen Wachstumsprozess. Zu Beginn waren dies erneuerbare Formen von Energiequellen wie Wasserkraft, Wind oder Holz. Das im 19. Jahrhundert einsetzende Wirtschaftswachstum war aber vor allem gekoppelt an nicht-erneuerbare Energiequellen wie Kohle, Erdöl, Erdgas aber auch Kernenergie. Diese Energiequellen waren jeweils so reichlich vorhanden, dass die Energiekosten nicht ins Gewicht fielen. Denn solange man Kapital mit billiger Energie betreiben kann, arbeitet die Natur fast gratis am Wachstumsprozess mit. Eine natürliche Grenze schien erst in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der Erdölkrise wieder in Sicht. Aber heute sprudelt das Erdöl wieder reichlicher denn je und ist nach wie vor relativ billig. Der technische Fortschritt hat die natürlichen Grenzen des Wachstums einmal mehr in eine fernere Zukunft geschoben.
Doch die industrielle Revolution hätte für sich allein nicht ausgereicht, um ein dauerhaftes Wachstum zu ermöglichen. Notwendig war auch eine finanzielle Revolution, welche der industriellen Revolution voranging (siehe Ferguson, 2009, S. 50). Im London des 17. Jahrhunderts entstanden aus Goldschmiedewerkstätten die ersten modernen Banken, welche in der Lage waren, Geld nicht auszuleihen, sondern es gleichzeitig auch zu schaffen (Binswanger, 2015). Den Anfang dieses Prozesses bildeten einige Goldschmiede, die damit begannen, Goldmünzen und Goldbarren für Kunden in sicheren Lagerstätten aufzubewahren. Damit man nun wusste, wer wieviel Gold bei einem Goldschmied hinterlegt hatte, stellten diese dem Hinterleger sogenannte Goldsmith-Notes aus. Bei den Goldsmith-Notes handelte es sich im Grunde um Quittungen oder Geldaufbewahrungsscheine für hinterlegte Goldbarren oder Goldmünzen, die mit dem Namen des Goldhinterlegers versehen waren. Diese Goldsmith-Notes wurden mit der Zeit aber immer mehr selbst zum Zahlungsmittel, da es viel einfacher ist, ein Stück Papier für Zahlungszwecke zu verwenden, statt jedes Mal beim Goldschmied vorbeizugehen und sich Gold aushändigen zu lassen.
Doch die Goldsmith-Notes wurden nicht nur zum wichtigsten Zahlungsmittel, sondern die neu entstandenen Goldschmiedebanken begannen bald auch Kredite in Form von Goldsmith-Notes zu vergeben. Statt Goldmünzen wieder zu verleihen, welche die Kunden vorher bei ihnen hinterlegt hatten, beschrifteten Goldschmiede jetzt für die Kreditvergabe einfach weitere Papierstücke, welche dann als Zahlungsmittel verwendet wurden. Kredite führten auf diese Weise bereits im 17. Jahrhundert zu Geldschöpfung, da – wann immer ein Kreditnehmer der Goldschmiede einen solchen Kredit in Form von Goldsmith-Notes ausbezahlt bekam – die Geldmenge genau um diesen Betrag zunahm. Und heute läuft dieser Prozess ganz ähnlich ab. Nur vergeben Banken Kredite nicht mehr in Form von Papiergeld, sondern sie schreiben den Betrag direkt dem Konto des Kreditnehmers gut, was einer Geldschöpfung in Form von Giralgeld entspricht. Dieses Giralgeld oder Bankengeld ist das heute weitaus am häufigsten bei Zahlungen verwendete Geld, indem einfach Geld von einem Bankkonto auf ein anderes Bankkonto überwiesen wird.
Durch die Fähigkeit der Geldschöpfung wurde die Finanzierung von zusätzlichen Investitionen ermöglicht, ohne dass man zuerst sparen musste. Dies war eine Voraussetzung dafür, dass später im Rahmen der industriellen Revolution Kapital zum wichtigsten Produktionsfaktor in der wirtschaftlichen Produktion werden konnte. Der Hauptgrund, weshalb Geldschöpfung für das Wachstum eine so entscheidende Rolle spielt, ist leicht nachvollziehbar. Findet in einer Volkswirtschaft keine Geldschöpfung statt, dann kann nur das Geld wieder ausgegeben werden, das vorher eingenommen wurde. Wird deshalb mehr Geld für Investitionen ausgegeben, dann bedeutet dies zwangsläufig, dass weniger Geld für Konsum zur Verfügung steht. Denn mehr Investitionen können in diesem Fall nur durch zusätzliche Ersparnisse finanziert werden. Zusätzliche Ersparnisse gehen aber zulasten des Konsums, der dann entsprechend reduziert werden muss. Die gesamte Wirtschaft kann ohne Geldschöpfung somit gar nicht wachsen, da in diesem Fall mehr Investitionen nur möglich sind, wenn der Konsum entsprechend abnimmt.
Längerfristig ist das Wirtschaftswachstum also dadurch gekennzeichnet, dass sowohl Konsum als auch Investitionen gleichzeitig wachsen und mittlerweile auch der Staat immer mehr Geld ausgibt. Parallel dazu verzeichnet aber auch die Geldmenge einen permanenten Zuwachs, damit das Wachstum finanziert werden kann. Alle diese Prozesse wurden kurzfristig immer wieder durch Rezessionen oder Wirtschaftskrisen unterbrochen, aber diese dauerten nie länger als maximal ein paar Jahre. Und die Weltwirtschaft als Ganzes wächst praktisch immer. Seit Beginn der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde das globale Wirtschaftswachstum nur ein einziges Mal, im Jahre 2009 kurzfristig unterbrochen. Sonst waren die Wachstumsraten immer positiv selbst in den Jahren der Erdölkrise in den 1970er Jahren.
Abbildung 1.1: Reale Wachstumsraten der Weltwirtschaft und verschiedener Ländergruppen seit 1980 (Quelle: IMF)
Das stetige Wirtschaftswachstum hat in vielen Ländern einen materiellen Wohlstand geschaffen, von dem frühere Generationen nur träumen konnten. Gemäß Zahlen von Crafts (2000, S. 7) hat sich das Bruttoinlandprodukt pro Kopf in Ländern wie Deutschland, der Schweiz, aber auch den USA von 1870 bis 1995 ungefähr verzehnfacht und dies real, also nach Herausrechnung der Inflation.
Tatsächlich war der Beginn der Industrialisierung für einen Großteil der Bevölkerung eine höchst unerfreuliche Zeit. Es entstand damals ein neues Proletariat von schlecht bezahlten Industriearbeitern, die unter miserablen Bedingungen lange arbeiten mussten und alles andere als ein schönes Leben hatten. Doch auch die Arbeiter partizipierten zunehmend am Wirtschaftswachstum und kamen zu immer mehr Wohlstand. Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem ersten Weltkrieg erhöhten sich die Reallöhne in Deutschland um mehr als das Doppelte (König, S. 124). So wurden aus den Arbeitern auch immer zahlungskräftigere Konsumenten, die das Wirtschaftswachstum mit ihrer steigenden Kaufkraft vorantrieben.
Über lange Zeit leistete das Wirtschaftswachstum deshalb auch einen positiven Beitrag zum Wohlbefinden der meisten Menschen und in vielen Ländern der Erde ist dies auch weiterhin der Fall. Im Vergleich zu früher können wir uns heute eine unglaublich luxuriöse Lebensweise leisten, und wir leben im Durchschnitt wesentlich länger und gesünder. Doch in neuester Zeit wird es in den wohlhabenden Ländern in Westeuropa, Nordamerika und Japan zunehmend fraglich, ob das Wachstum noch einen weiteren Beitrag zum Wohlbefinden der Menschen leistet. Wie viele Untersuchungen aufzeigen, führt dort weiteres Wirtschaftswachstum nicht mehr dazu, dass die Menschen im Durchschnitt glücklicher oder zufriedener werden (siehe Easterlin, sowie Binswanger, 2006; Binswanger, 2011, gibt eine Übersicht zu der unter Ökonomen geführten Kontroverse zu diesem Thema).1
In diesen Ländern werden sich die Menschen zunehmend bewusst, dass Wirtschaftswachstum zwar das Versprechen von steigendem materiellen Wohlstand einlösen kann, aber trotzdem wesentliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Stillt Wirtschaftswachstum das Bedürfnis nach Liebe? Nach erfüllten Beziehungen? Nach Prominenz? Nach weniger Stress? Nach aufregendem Sex mit dafür nicht bezahlten Partnern? Nach Anerkennung für großartige Leistungen? Nach Flow-Erlebnissen im beruflichen Alltag? Nach spirituellen Erfahrungen? Oder nach Lebenssinn? Die Befriedigung solcher für das persönliche Glück zentralen Bedürfnisse, egal ob profan oder existenziell, kann eine Zunahme des materiellen Wohlstandes nicht gewährleisten. Wir stoßen in solchen Fällen an die Grenzen unserer physischen und geistigen Fähigkeiten, die durch mehr materiellen Wohlstand nur in sehr beschränktem Ausmaß aufgehoben werden können. Der Philosoph Alain de Botton hat dies in einem Artikel gut zum Ausdruck gebracht, als er schrieb (De Botton, 2014): »Man verspricht uns Freundschaft oder Liebe und gibt uns Geländewagen oder neues Grillbesteck.«
Tendenziell gilt: Je höher der materielle Wohlstand eines Landes bereits ist, umso weniger trägt ein weiterer Anstieg dieses Wohlstandes noch zur Steigerung der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit bei. »Wir sind zunehmend overspent, overconsumed, overweight, overworked und overstressed« (Bosshard, 2011). Dies wäre bereits Grund genug, das Wirtschaftswachstum in hochentwickelten Ländern ökonomisch zu hinterfragen. Denn das Glück, die Zufriedenheit, oder noch wissenschaftlicher ausgedrückt, das subjektive Wohlbefinden der einzelnen Menschen (bzw. Haushalte) bildet letztlich die zentrale Zielgröße in der ökonomischen Theorie, auch wenn es Ökonomen vorziehen, von »Nutzen« statt von »subjektivem Wohlbefinden« zu sprechen. Ökonomisch betrachtet macht Wachstum demzufolge nur solange Sinn, wie es einen positiven Beitrag zum subjektiven Wohlbefinden leistet.
Doch es geht nicht nur um den fehlenden Einfluss des Wachstums auf das subjektive Wohlbefinden der Menschen in reichen Ländern. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts traten zunehmend auch die Schattenseiten des Wachstums in Erscheinung vor allem in Form von Umweltbelastungen und Übernutzung von natürlichen Ressourcen (siehe auch Reuter, 2014). Zwar gelang es in der Folge das Wachstum umweltschonender und weniger ressourcenintensiv zu gestalten, doch es hatte seine ökologische Unschuld verloren. Vor allem die CO2-Emissionen aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen und die damit verbundene Klimaerwärmung sind seit mehr als 30 Jahren ein Dauerthema, welches die ökologische Kritik am Wachstum am Laufen hält. Denn trotz enormen Fortschritten bei der Reduktion der CO2-Intensität des Wachstums lassen sich die Treibhausgas-Emissionsreduktionsziele auf globaler und regionaler Ebene gemäß Prognosen nicht erreichen.
Deshalb fordert eine ganze Reihe von ökologisch orientierten Ökonomen eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum aus ökologischen Gründen.2 Vereinfacht wird dabei meist folgendermaßen argumentiert. Wir haben heute einen so hohen materiellen Wohlstand erreicht, dass ein weiteres Wirtschaftswachstum nicht mehr notwendig ist. Auf der anderen Seite nehmen aber negative Folgen dieses Wachstums immer mehr zu, da wir mit dem Wirtschaftsprozess Raubbau an der Natur betreiben und die Umwelt schädigen. Also, so argumentiert man weiter, sollte die Wirtschaft in einer zukünftigen Postwachstumsgesellschaft nicht mehr auf Wachstum ausgerichtet sein, sondern stattdessen andere Ziele wie Nachhaltigkeit oder Lebenszufriedenheit der Menschen in den Vordergrund stellen. Einige Autoren gehen sogar noch weiter und fordern ein negatives Wachstum (Degrowth) und möchten somit einen Schrumpfungsprozess des BIP einleiten (siehe D’Alisa et al. 2015).
Solche Kritik am Wirtschaftswachstum setzt stillschweigend voraus, dass Wirtschaftswachstum für heutige Wirtschaften eine Option aber keine Notwendigkeit darstellt. Die Wirtschaft würde auch ohne Wachstum funktionieren, und eine Abkehr ist nur eine Frage des politischen Willens beziehungsweise der richtigen Setzung von Anreizen. Die zentrale Botschaft dieses Buches lautet aber gerade, dass dies in heute existierenden kapitalistischen Wirtschaften nicht möglich ist. Diese funktionieren nur solange, wie es auf makroökonomischer Ebene ein Wirtschaftswachstum gibt.3 Die Betonung »auf makroökonomischer Ebene« ist deshalb wichtig, weil der Wachstumszwang für das einzelne Unternehmen nicht in gleicher Weise gilt. Auf Unternehmensebene geht es vor allem darum, möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Wie das Buch aber aufzeigen wird, kann der gesamte Unternehmenssektor auf die Dauer nur dann Gewinne erzielen, wenn gleichzeitig ein reales Wirtschaftswachstum stattfindet. Oder anders ausgedrückt: Nur solange das BIP wächst, ist eine Mehrheit der Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich. Findet kein Wirtschaftswachstum mehr statt, dann werden aus Gewinnen Verluste und die Wirtschaft gerät in eine Abwärtsspirale. Es gibt also nur die Alternativen wachsen oder schrumpfen!
Der eben erwähnte Wachstumszwang wird gleichzeitig durch einen Wachstumsdrang komplementiert (Binswanger, H.C., 2006, S. 317ff). In kapitalistischen Wirtschaften wirken sowohl Zuckerbrot als auch Peitsche. Eine Wirtschaft, die auf die Dauer nicht wächst, wird mit Verlusten und Arbeitslosigkeit bestraft. Das ist die Peitsche, welche die Wirtschaft zum Wachstum zwingt. Doch gleichzeitig besteht auch ein ständiger Anreiz zum Wachstum. Geld wird investiert, um in Zukunft Gewinne zu erzielen, welche die Belohnung und damit das Zuckerbrot für erfolgreiches Wirtschaften sind. Solange die Erzielung von Gewinnen attraktiv ist, reißt das Wirtschaftswachstum nicht ab. Denn über gewinnbringende Investitionen wird auch die produktive Kapazität in der Wirtschaft erweitert, was zur Produktion von mehr Gütern und Dienstleistungen führt. Die Kombination von Wachstumszwang und Wachstumsdrang ist charakteristisch für die Funktionsweise einer »kapitalistischen Wirtschaft«.4 Über den Investitionsprozess ist sie stets auf zukünftiges Wirtschaftswachstum ausgerichtet. »Zukunftsorientiert« bedeutet in einer kapitalistischen Wirtschaft somit auch »wachstumsorientiert«. Gesamtwirtschaftliches Wachstum ist sowohl notwendig als auch erstrebenswert.
Der eben beschriebene Zwang zum Wachstum wurde über lange Zeit kaum als Zwang empfunden, denn das Wachstum war willkommen. Es ermöglichte einen allgemeinen Wohlstand für die breite Bevölkerung, den es früher nie gegeben hatte. Mit der steigenden Produktion von Gütern und Dienstleistungen wuchsen auch die Bedürfnisse, und es schien so, als ob wachsende Bedürfnisse den wichtigsten Treiber des Wachstums darstellten. Mit dem Wachstum war ein Heilsversprechen auf eine bessere Zukunft verbunden, das sich in großen Teilen auch bewahrheitet hat. Doch aus diesem Heilsversprechen wird in hochentwickelten Ländern in Westeuropa, Nordamerika und Japan zunehmend eine Zwangshandlung. Für eine steigende Zahl von Menschen in diesen Ländern ist mehr materieller Wohlstand kein glaubhaftes Versprechen mehr auf ein noch besseres zukünftiges Leben. Und trotzdem zwingen uns kapitalistische Wirtschaften dazu, weiter zu wachsen, ob wir es wollen oder nicht. Denn kaum bleibt das Wachstum einmal ein paar Jahre aus, sinken die Investitionen, weil die zukünftigen Gewinnerwartungen ausbleiben. Die Folge davon ist Arbeitslosigkeit und ein Rückgang des Konsums, was zu einem weiteren Rückgang der Investitionen mit nochmals steigender Arbeitslosigkeit führt.
Dazu ist es aber bis heute längerfristig nie gekommen, da der Wachstumsdrang stets dazu geführt hat, dass Wirtschaften nach Krisen relativ schnell wieder auf einen Wachstumspfad zurückgelangen. Dabei hilft heute meist auch der Staat, dessen Rolle im Wirtschaftsprozess vor allem im 20. Jahrhundert immer bedeutender wurde. So werden Wachstumseinbrüche schnell mit wirtschaftspolitischen Eingriffen bekämpft, indem entweder die Zentralbank die Zinsen senkt und/oder der Staat mehr Geld ausgibt und so das Wachstum wieder ankurbelt. Aber der Staat kann auf die Dauer nur dann immer mehr Geld ausgeben, wenn die Wirtschaft tatsächlich wächst. In diesem Fall verfügt er über stets höhere Steuereinnahmen, was ihm die Rückzahlung früherer Schulden ermöglicht. Auch der Staat ist in einer modernen Wirtschaft auf Wachstum angewiesen und verstärkt so den Wachstumszwang. Und je mehr der Staat sich fiskalpolitisch in Szene setzt und für ein dauerhaftes Wachstum verantwortlich gemacht wird, umso stärker wird der Wachstumszwang auch für den Staat selbst.
Die mit der kapitalistischen Wirtschaft verbundenen Zwänge und die dadurch ausgelöste Eigendynamik dieses Wirtschaftssystems hat Marx bereits erkannt, auch wenn damals noch nicht von Wachstum die Rede war. Er schrieb, dass das Wesen der herrschenden Gesellschaft [der kapitalistischen Wirtschaft] darin bestehe, dass in ihr keine Menschen mehr wirklich herrschen und ihren (guten oder bösen) Willen durchsetzen, sondern sich Strukturen entwickelt haben, in denen »ihre eigne gesellschaftliche Bewegung … für sie die Form einer Bewegung von Sachen (besitzt), unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.« (Marx, 1983, Band I, S. 89)
Wir sind also letztlich Gefangene eines Systems, welches uns zu permanentem Wachstum zwingt. Immer weniger sind es ungesättigte Bedürfnisse, welche das Wachstum in entwickelten Volkswirtschaften antreiben, sondern das Bemühen der Unternehmen, stets neue Wachstumspotenziale zu schaffen. Rein technologisch ist dies kein Problem. Der technische Fortschritt ermöglicht eine ständige Mehrproduktion, und die kommende Digitalisierung der Wirtschaft wird die Arbeitsproduktivität aller Voraussicht nach noch einmal gewaltig erhöhen. Der Engpass liegt bei den Konsumenten, die von Treibern zu Getriebenen des Wachstums geworden sind, indem man ständig versucht, sie zu weiterem Konsum zu animieren. In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz wird Wachstum deshalb auch immer weniger damit begründet, dass es den Menschen in Zukunft noch bessergehen soll. Stattdessen wird uns das Wachstum als Zwang präsentiert, denn bei geringem oder ausbleibendem Wachstum