Sinnlose Wettbewerbe - Mathias Binswanger - E-Book

Sinnlose Wettbewerbe E-Book

Mathias Binswanger

4,3

Beschreibung

"Je mehr Wettbewerb - umso besser": Schließlich soll sich doch der, die oder das Beste durchsetzen. Also versucht man, auch dort, wo es keinen Markt gibt, künstliche Wettbewerbe zu inszenieren. Diese Produktion von Unsinn schafft zwar Arbeitsplätze, hat jedoch fatale Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft: Sinn wird durch Unsinn verdrängt, Qualität durch Quantität.

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Mathias Binswanger

Sinnlose Wettbewerbe

Warum wir immer mehr Unsinn produzieren

Verlag Herder

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Inhaltsübersicht

[Vorspann]1. Einleitung: Ein neues Gespenst geht um in EuropaTeil I Künstliche Wettbewerbe ohne Markt und die damit verbundenen Illusionen2. Der Idealfall des Marktwettbewerbs3. Die Marktillusion: Wo kein Markt ist, sorgen künstliche Wettbewerbe für Effizienz4. Die Messbarkeitsillusion: Qualitative Leistungen lassen sich mit Kennzahlen messen5. Die Motivationsillusion: Menschen brauchen Zuckerbrot und Peitsche, um Hochleistungen zu erbringenTeil II Die Produktion von Unsinn aufgrund künstlicher Wettbewerbe und ihre Folgen6. Wo überall Unsinn produziert wird7. Beispiel Wissenschaft: Immer mehr unsinnige Publikationen8. Beispiel Gesundheitswesen: Immer mehr Untersuchungen und Medikamentenvergaben statt individueller Heilung9. Ausblick: Wenn keine künstlichen Wettbewerbe, was dann?[Nachspann]
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Vorwort

Als in der Wissenschaft tätiger Mensch habe ich die in diesem Buch beschriebenen sinnlosen Wettbewerbe und den dabei entstehenden Unsinn selbst erlebt und anfänglich auch mitgemacht. Während der Zeit des Schreibens an meiner Habilitation Mitte der 90er Jahre war ich mehrmals versucht, die ganze Wissenschaft an den Nagel zu hängen. Es kam mir vollkommen absurd vor, den größten Teil meines Lebens mit dem Verfassen von Fachartikeln zu verbringen, die weder mich noch sonst jemand interessieren, aber notwendig sind, um eine akademische Karriere zu verfolgen. Zum Glück fanden sich dann doch immer wieder Nischen, die es mir erlaubten, mich mit spannenden Themen zu beschäftigen. Das ist heute zu einem großen Luxus geworden. Denn Wissenschaftler werden immer mehr dazu gezwungen, sich in staatlich initiierten Wettbewerben um Forschungsgelder zu balgen und einen möglichst großen Publikationsoutput zu produzieren.

Doch die Wissenschaft ist keineswegs ein Einzelfall. Künstlich erzeugte Wettbewerbe ohne Markt finden wir auch im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen und nicht zuletzt in privaten Unternehmen, in denen intern eine kleine Planwirtschaft herrscht. Mir wurde immer stärker bewusst, dass es sich hier um ein allgemeines Phänomen handelt, das statt zu mehr Effizienz zur Produktion von immer mehr Unsinn führt.

Bei der Entstehung dieses Buches wurde ich von einigen Menschen und Institutionen unterstützt. Mein Vater Hans Christoph Binswanger, selbst emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen war wie schon oft der erste kritische Leser meines Manuskripts. Von seinen Kommentaren und Anregungen habe ich viel profitiert und möchte ihm an dieser Stelle herzlich für diese familiäre Unterstützung danken. Ein spezieller Dank geht auch an Karin Walter vom Herder Verlag, die dieses Buchprojekt von Anfang an begleitet und vorangetrieben hat. Aufgrund eines mir von meinem Arbeitgeber, der Fachhochschule Nordwestschweiz im Frühjahrssemester 2010 gewährten Sabbaticals konnte ich das bereits vor zwei Jahren begonnene Werk in einer intensiveren Schreibphase bei mehreren Auslandaufenthalten in sozial verträglicher Art und Weise zu Ende bringen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, da das Schreiben eines Buches gerade in der Schlussphase oftmals erhebliche Kollateralschäden im engsten Familien- und Freundeskreis verursacht.

1. Einleitung: Ein neues Gespenst geht um in Europa

Völker und Kulturen haben zu allen Zeiten immer wieder an und für sich wertlose Dinge und sinnlose Normen als erstrebenswert oder sogar sakrosankt erklärt. Und die Menschen waren dann jeweils angehalten, sich einen Wettkampf bzw. Wettbewerb um deren Erfüllung oder Besitz zu liefern. Angenehm war das selten. Schlimmstenfalls war ein solcher Wettkampf mit großen persönlichen Opfern und Leid verbunden und führte bestenfalls einfach zu einer Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Diese fehlten dann aber bald einmal für wirklich wichtige Dinge.

Die Chinesen lieferten dafür schöne Anschauungsbeispiele, die uns, da sie aus einer anderen Zeit und einem anderen Kulturkreis stammen, besonders pervers oder absurd erscheinen. Über etwa 1000 Jahre, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts musste eine Frau idealerweise möglichst kleine Füße haben. Solche „Lotusfüße“ entsprachen dem weiblichen Schönheitsideal, das es unter allen Umständen anzustreben galt. Das Leben einer jungen Chinesin wurde dadurch zu einer erbarmungslosen Tortur, die schon im zarten Mädchenalter begann. Um die Füße der jungen Frauen auf die gewünschte Größe zu bringen, wurden beginnend vom Alter zwischen zwei und fünf Jahren die Zehen unter die Ballen gebunden. Die Binden mussten sowohl tags als auch bei Nacht getragen und mit jedem Tag fester angezogen werden, bis irgendwann die Knochen brachen und der Fuß in sich zusammenklappte. Und zehn Prozent der Mädchen überlebten diese Behandlung schon gar nicht, da sie an den Begleiterscheinungen starben.

Ein weiteres Beispiel aus China zeigt, wie falsche Anreize nicht zu körperlichen sondern zu geistigen Deformationen führten. Konfuzius, der Begründer der in China über lange Zeit maßgeblichen nach ihm benannten Lehre, hielt gelehrte Beamte für unabdingbar. Folglich etablierte sich ein System von kaiserlichen Examen für potentielle Beamte, das während 1300 Jahren beibehalten wurde. Eigentlich vernünftig, würde man da zunächst einmal sagen, denn welches Land wünscht sich nicht gebildete Beamte? Doch im Laufe der Zeit wurden die Prüfungen immer formaler und entfernten sich mehr und mehr von der Realität. Höhepunkt dieser Entwicklung bildete der sogenannte „Achtgliedrige Aufsatz“, eine streng in acht Teile gegliederte Form der Erläuterung der konfuzianischen Werke mit einer vorgeschriebenen Anzahl von Wörtern, die auf bestimmte Weise angeordnet zu sein hatten. Dies war für das Bestehen der Prüfung entscheidend. Diese Prüfungen wurden zu einem Wettbewerb im Auswendiglernen formaler Floskeln, welche der Qualität des chinesischen Beamtentums keinesfalls zuträglich waren. Erst im Jahre 1905 wurde dieses Prüfungssystem definitiv aufgegeben. Aber da war es auch mit dem Kaiserreich schon fast vorbei.

Weder die massenhafte „Produktion“ von Lotusfüßen noch die nach dem „Achtgliedrigen Aufsatz“ gestalteten Interpretationen des konfuzianischen Werkes machten wirklich Sinn. Im ersten Fall machten sie das Leben junger Frauen zur Hölle und im zweiten Fall führten sie zu jahrelangem Erlernen sinnloser Formalismen. Aus einer heutigen Perspektive taucht da die berechtigte Frage auf, warum dann trotzdem Jahrhunderte lang an diesem Unsinn festgehalten wurde, und warum Chinesinnen und Chinesen das so lange mitmachten.

Um das zu verstehen, muss man sehen, dass es auch Profiteure gab, die jeweils in mächtigen Positionen waren. So galten kleine Füße nicht nur als attraktiv, weil sie als erotisch galten, sondern sie schränkten auch erheblich die Bewegungsfreiheit ein. Auf diese Weise konnten die Männer ihre Frauen besser dominieren und kontrollieren. Und die in sinnlosen Formalismen erstarrten Beamtenprüfungen dienten dem Erhalt und der Zementierung von Macht, der Macht des Kaisers und seiner konservativen Beamtenschar. Angehende Beamte, die sich jahrelang nur noch darauf konzentrieren, Wörter auswendig zu lernen und in bestimmter Weise zu gruppieren, sind nach Abschluss dieser Ausbildung geistig so erstarrt und gezähmt, dass sie das bestehende System nicht mehr mit neuen Ideen gefährden.

Doch auch Europa weist eine reiche Tradition an Absurditäten auf, wenn wir nur an das System der Blutrache im Balkan oder die Verteidigung der männlichen Ehre durch Duelle in früheren Jahrhunderten denken. Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass wir sie aus der heutigen, aufgeklärten Perspektive als „pervers“, „absurd“ oder „lächerlich“ empfinden. Doch damals fanden es die Männer absolut normal, sich in Duellen gegenseitig umzubringen, wenn sie sich in ihrer Ehre verletzt fühlten. Und Frauen verachteten einen Mann, der nicht bereit war, sein Leben für die Verteidigung der Ehre aufs Spiel zu setzen.

Was wir als normal oder erstrebenswert erachten, ist zu einem großen Teil gesellschaftlich bzw. kulturell bedingt. Und erst wenn man mit andern Kulturen konfrontiert wird oder die Gesellschaft massiv unter ihren eigenen Normen zu leiden beginnt, werden sie als hohl entlarvt. Das ist inzwischen bei all den erwähnten Beispielen geschehen. Kein Mann würde sich heute mehr für einen abstrakten Begriff wie „Ehre“ duellieren und den modernen Chinesen sind sowohl die Fußgröße der Frauen als auch der achtgliedrige Aufsatz zur Interpretation konfuzianischer Werke herzlich egal. Doch das bedeutet keineswegs, dass wir uns vom Wettbewerb um sinnlose Dinge befreit haben. In dieser Hinsicht waren die Menschen immer sehr kreativ, und wir stehen unseren Vorfahren in nichts nach. Der Fortschritt liegt einzig darin, dass unsere heutigen Ideale keine physischen, sondern nur noch psychische Deformationen verlangen, wie das schon bei den konfuzianischen Beamten der Fall war.

Die heutigen gesellschaftlichen Ideale kommen in abstrakten Begriffen wie „Effizienz“, „Exzellenz“, „Leistung“, „Markt“, „Wettbewerbsfähigkeit“, „Innovation“ oder „Wachstum“ zum Ausdruck und in unzähligen Wettbewerben versuchen wir uns gegenseitig mit diesen Idealen zu übertrumpfen. Immer noch effizienter, noch exzellenter, noch wettbewerbsfähiger und noch innovativer muss man werden, auch wenn man in Wirklichkeit gar nicht so genau weiß, warum und wozu. In unserer gründlich durchsäkularisierten Gesellschaft, sind diese Begriffe zu den letzten, nicht mehr zu hinterfragenden Werten geworden, denen zu dienen unser höchstes Ziel ist. Ein anständiger Bürger fragt nicht weiter, warum es immer mehr Wettbewerb oder mehr Wachstum braucht.

Vermeintlich muss man sich diese Frage auch gar nicht stellen, denn schließlich leben wir in einer Marktwirtschaft. Und ein Marktwettbewerb sollte automatisch dafür sorgen, dass diejenigen Dinge produziert werden, die am meisten Nutzen stiften. Mit der Produktion sinnloser Dinge käme man da, so scheint es, nicht weit. Dort wo sich mehr oder weniger vollständige Märkte entwickelt und etabliert haben, stimmt das auch. Wer ungenießbare Lebensmittel herstellt, wird bald vom Markt verschwinden. Doch in vielen Bereichen der Wirtschaft gibt es keine oder nur unvollständig funktionierende Märkte. Und da ist man im Zuge einer zunehmenden Markt- und Wettbewerbsgläubigkeit über die letzten Jahrzehnte auf die fatale Idee gekommen, künstliche Wettbewerbe zu inszenieren, um so die angebliche überlegene Effizienz der Marktwirtschaft bis in den hintersten Winkel jeder öffentlichen und privaten Institution voranzutreiben. Mit missionarischem Eifer werden überall Leistungsanreize gesetzt, doch was dabei als Leistung herauskommt, ist in Wirklichkeit ein gigantischer Unsinn. Ein neues Gespenst geht also um in Europa. Es ist das Gespenst des künstlichen Wettbewerbs, welches sich zu einer Ideologie entwickelt hat, in die wir uns verrannt haben.

Ein Markt lässt sich nicht künstlich inszenieren. Künstlich inszenieren lassen sich nur Wettbewerbe, aber diese sorgen im Gegensatz zu einem funktionierenden Marktwettbewerb nicht dafür, dass die Produktion optimal auf die Bedürfnisse der Nachfrager angepasst ist. Nur wo Wettbewerb und Markt zusammenfallen und Marktwettbewerb herrscht, kann die von Adam Smith erstmals beschriebene „unsichtbare Hand“ unter bestimmten Bedingungen über das Preissystem wirken und für Effizienz sorgen. Bei Wettbewerben ohne Markt ist das hingegen nicht der Fall. Statt an den Bedürfnissen der Nachfrager orientieren sich die Produzenten eines Produktes oder einer Leistung an irgendwelchen Kennzahlen oder Indikatoren, die für den Erfolg im Wettbewerb maßgebend sind. Die Ausrichtung an diesen Kennzahlen führt jedoch nicht zu Effizienz, sondern sorgt für perverse Anreize, die dann folgerichtig auch perverse Resultate ergeben.

Die beiden folgenden, schon etwas weiter zurückliegenden Beispiele zeigen mit besonderer Deutlichkeit, wie künstlich inszenierte Wettbewerbe ohne Markt das Verhalten der Menschen pervertieren. Während der Kolonialzeit hatten die Franzosen in Hanoi (Vietnam) mit einer Rattenplage zu kämpfen. Um deren Zahl zu reduzieren, beschlossen sie, den Bewohnern von Hanoi für jeden abgelieferten Rattenpelz eine Prämie zu bezahlen. Das Resultat dieses künstlich inszenierten Wettbewerbs: Die Bewohner von Hanoi begannen damit, Ratten zu züchten, was die Rattenplage wesentlich verschlimmerte. Mit andern Worten: der messbare Indikator (Zahl der abgelieferten Rattenpelze) stand bald einmal in einer negativen Korrelation zur tatsächlich erwünschten Leistung (Reduzierung der Zahl der Ratten), was zu einem perversen Anreiz führte.

Das zweite Beispiel betrifft wiederum China. Im 19. Jahrhundert wurden dort Knochen von Dinosauriern entdeckt; die mit diesen Knochen beschäftigten Wissenschaftler (Paläontologen) versuchten, die chinesischen Bauern dazu zu animieren, sich ebenfalls an der Knochensuche zu beteiligen. Zu diesem Zweck bezahlten sie ihnen für jeden abgelieferten Teil eines Knochens eine Geldprämie. Die Bauern ließen sich diese Chance zur Aufbesserung ihres Einkommens nicht entgehen. Wann immer sie jetzt einen größeren Knochen fanden, zerschlugen sie diesen in kleinere Teile, um auf diese Weise möglichst hohe Geldprämien zu kassieren. Auch in diesem Fall stand der messbare Indikator (Zahl der abgelieferten Knochenteile) nach kürzester Zeit in einer negativen Korrelation zur eigentliche erwünschten Leistung (Möglichkeit der Rekonstruktion von Dinosauriern).

Heute ist man geneigt, die Naivität der französischen Kolonialregierung bzw. der Paläontologen zu belächeln. Doch wie wir gleich sehen werden, sind diese Beispiele hochaktuell. Ersetzen wir im ersten Beispiel die Ratten durch Krankheiten, die Bewohner von Hanoi durch Ärzte und die französische Kolonialregierung durch das staatliche Gesundheitssystem, dann haben wir eine ziemlich gute Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Natürlich ist es nicht so, dass Ärzte bzw. die hinter ihnen stehende Pharmaindustrie direkt Krankheitserreger züchten und dann die Bevölkerung damit verseuchen. Das brauchen sie auch gar nicht zu tun. Es reicht, immer neue Krankheiten zu „entdecken“, deren Bekämpfung oder Vermeidung (Prävention) man sich dann bezahlen lässt. So wie die Bewohner für abgelieferte Rattenpelze bezahlt wurden, so werden Ärzte für geheilte bzw. verhinderte Krankheiten bezahlt. Es lohnt sich also für diese, stets neue Gesundheitsdefizite zu entdecken und diese dann mit aufwendigen Behandlungen zu minimieren. Das Resultat davon sind stets steigende Gesundheitskosten und eine stets krank bleibende Gesellschaft.

Auch das zweite Beispiel (Dinosaurierknochen) ist hochaktuell. So werden Wissenschaftler heute danach beurteilt, wie viele Artikel sie in angesehenen Fachzeitschriften publizieren. Das führt zu einem gnadenlosen Publikationswettbewerb. Zuviel Inhalt in einen einzigen Artikel hineinzupacken wäre deshalb unklug. Also zerstückeln Wissenschaftler eine Idee in mehrere kleine Teilideen. Mit dieser „Salamitaktik“ werden neue Ideen oder interessante Datensätze so dünn wie Salamischeiben aufgeschnitten, um die Anzahl der Publikationen zu maximieren. Damit dann der einzelne Artikel trotzdem noch nach etwas aussieht, werden inhaltliche Belanglosigkeiten zu hochkomplexen formalen Modellen aufgeblasen oder in schwülstigen Wissenschaftsjargon verpackt, um von der Banalität des Inhalts abzulenken. Aufgrund dieses Zerstückelungsprozesses sind Inhalte in vielen wissenschaftlichen Artikeln zu einer Nebensache verkommen, was zählt, ist die Form: ein schönes Modell, ein komplexes Gleichungssystem, raffinierte Experimente, Daten, die mit ausgeklügelten statistischen Verfahren untersucht werden.

Wie in den eben geschilderten Beispielen wird heute aufgrund von künstlich inszenierten Wettbewerben massenhaft Unsinn produziert. Da werden von Wissenschaftlern mit Fleiß und Akribie jedes Jahr in Tausenden von Fachzeitschriften über Hunderttausende von Seiten Fragen beantwortet, deren Antwort niemand wissen will. In unzähligen Projekten werden von Planern und Strategen Konzepte für Reformen und Neuorganisationen entworfen, ohne dass jemand Bedarf dafür angemeldet hat. Immer mehr junge Menschen werden in Hochschulen über lange Jahre ausgebildet, um irgendwelche Bachelors und Masters zu erwerben, die kaum etwas zu ihrem Können in ihrem zukünftigen Berufsleben beitragen. Es werden immer mehr medizinische Untersuchungen und Tests für die Prävention von Krankheiten durchgeführt, die nie eintreten. Und wenn wir ein für uns geeignetes Joghurt oder eine geeignete Universität auswählen wollen, werden wir mit aufwendig erstellten Qualitätslabels und Zertifikaten konfrontiert, die uns bei der Auswahl keine Hilfe sind.

Diese Entwicklungen sind aber, so wird uns gesagt, zentral für unseren Wohlstand und unser persönliches Wohlbefinden. Je mehr Fachartikel publiziert werden, je mehr Reformen durchgeführt werden, je mehr Menschen studieren, je mehr medizinische Untersuchungen wir haben, je mehr Qualitätslabels ausgestellt wurden, umso besser gehe es uns. Nur leider ist das nicht der Fall. Die Produktion nutzloser Erzeugnisse schafft zwar Arbeitsplätze, doch verhindert sie gleichzeitig die Produktion der qualitativ wertvollen Erzeugnisse, die tatsächlich benötigt werden. Sinn wird durch Unsinn verdrängt, Qualität durch Quantität und die Freude an einer Tätigkeit durch Zuckerbrot und Peitsche. Auf diese Weise ist eine neue Wettbewerbsbürokratie entstanden, welche die alte Beamtenbürokratie abgelöst hat. Doch die neue Bürokratie ist viel raffinierter, da sie unter dem Deckmantel von Markt, Wettbewerb und Effizienz daher kommt. Es könnte einem fast der Verdacht kommen, dass da heimlich an einem gigantischen, international koordinierten Keynesianischen Beschäftigungsprogramm gearbeitet wird, welches uns die Nützlichkeit sinnloser Tätigkeiten vorgaukeln soll. Doch das ist nicht der Fall. Hinter diesem ganzen Unsinn steckt keine Keynesianische Weltverschwörung. Er ist das Resultat einer sich global ausbreitenden Pervertierung der Marktwirtschaft, die darin besteht, überall künstliche Wettbewerbe um messbare Kennzahlen zu inszenieren.

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: In einem ersten Teil geht es um das Verhältnis zwischen Markt und Wettbewerb und um die mit künstlichen Wettbewerben ohne Markt verbundenen Illusionen. In Kapitel 2 wird der Idealfall des Marktwettbewerbs dargestellt, auf dem die von Adam Smith beschriebene unsichtbare Hand des Marktes für Effizienz sorgt. Allerdings sind die Bedingungen für diesen Idealfall in der Realität immer nur mehr oder weniger erfüllt und real existierende Märkte demzufolge auch nur mehr oder weniger effizient. Solange jedoch eine vom Angebot unabhängige Nachfrage existiert und ein Preissystem Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmt, sorgt der Markt im Allgemeinen für eine bessere Lösung als jedes andere Verteilungssystem. Ohne ein funktionierendes Preissystem ist das aber nicht mehr der Fall und man kann sich die Markteffizienz nicht durch künstliche inszenierte Wettbewerbe ohne Markt herbeizaubern. In den Kapiteln 3 bis 5 werden die hinter dieser Idee stehenden Illusionen erläutert. Kapitel 3 beschreibt die Wettbewerbsillusion, die davon ausgeht, dass sich die Effizienz eines Marktwettbewerbs auch ohne Markt durch künstlich inszenierte Wettbewerbe erreichen lässt. Kapitel 4 handelt von der Messbarkeitsillusion, die uns glauben machen will, dass man qualitative Leistungen mit Kennzahlen messen könne. Und Kapitel 5 beschreibt die Motivationsillusion, die hinter der Idee steckt, dass man Menschen mit Zuckerbrot und Peitsche zu Höchstleistungen verführen kann.

Im zweiten Teil wird dann beschrieben, wo es überall zu Unsinnproduktion kommt und welche Folgen diese mit sich bringt. Kapitel 6 gibt eine Übersicht, wobei neben den drei Hauptbereichen Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen auch die Unsinnproduktion durch künstliche Wettbewerbe in Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung und bei privaten Großunternehmen angesprochen wird. In Kapitel 7 und 8 werden die beiden Bereiche Wissenschaft und Gesundheitswesen genauer analysiert. Kapitel 7 zeigt, wie künstlich inszenierte Wettbewerbe zur Förderung der Exzellenz in der Wissenschaft zu immer mehr Nonsens führen, was sich vor allem bei den Publikationen beobachten lässt. Kapitel 8 beschreibt die Unsinnproduktion im Gesundheitswesen, wo inszenierte Wettbewerbe zu immer mehr Untersuchungen und Medikamentenvergabe statt individueller Heilung führen. Das abschließende Kapitel 9 enthält einige wichtige Grundsätze für eine zukünftige Politik, die auf künstliche Wettbewerbe verzichtet. Und genau dieser Verzicht ist die wichtigste Forderung dieses Buches.

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Teil I Künstliche Wettbewerbe ohne Markt und die damit verbundenen Illusionen

2. Der Idealfall des Marktwettbewerbs

„Reine Marktwirtschaftler sind nicht nur emotionale Krüppel, sondern auch schlechte Ratgeber.“

(Paul A. Samuelson in einem Interview mit dem Spiegel, 10. 11. 2008)

Marktgläubigkeit und ihr metaphysischer Hintergrund: die unsichtbare Hand

Der freie Markt erfreut sich heute bei vielen Ökonomen, Managern, Unternehmern und „liberalen“ Politikern großer Beliebtheit. Es wird gepredigt, dass freie Märkte grundsätzlich gut sind und der Staat sich gefälligst nicht in diese einmischen soll. Daraus folgt, dass wir möglichst viel Markt und möglichst wenig Staat haben sollen. Denn Märkte bringen uns, so ist die Meinung, Effizienz, Innovationen und Wachstum, während der Staat für Ineffizienz, Verschwendung und Stillstand sorgt. Gemäß den Verfechtern der freien Marktwirtschaft gilt also, dass dort, wo sich Märkte frei und ohne Behinderung entfalten können, die Menschen in einer Welt leben, die zwar gut ist, aber noch nicht gut genug. Noch besser wird diese Welt nämlich, so wird behauptet, wenn zusätzlich noch künstliche Märkte in den Bereichen inszeniert werden, wo sich von Natur aus gar kein Markt bilden würde. Erst wenn überall Markt ist, leben wir in der besten aller möglichen Welten.

Der wohl populärste professionelle Vertreter dieses Gedankengutes war der kürzlich verstorbene Nobelpreisträger in Ökonomie des Jahres 1976, Milton Friedman. Im Verlauf seines langen Lebens (er wurde über 90) verbreitete er vor allem eine Botschaft: Markt ist gut und Staat ist schlecht.[1] Das Fatale an derart einfachen Botschaften ist, dass sie bei Politikern schnell auf offene Ohren stoßen. Diese lieben simple „Wahrheiten“, weil sie leicht kommunizierbar sind und klare Handlungslinien für die Politik vorgeben. So war dies auch in den Jahren 1979 und 1980, als Friedmans mit Staatshass kombinierte Marktverehrung in England von Margaret Thatcher und anschließend von Ronald Reagan in den USA auf die Politik übertragen wurde: Privatisierung, Deregulierung und Wettbewerb wurden zu den neuen Schlagwörtern einer neoliberalen Revolution.

Ganz von ungefähr kam diese Wende im Jahre 1979 allerdings nicht. Die Wirtschaft Englands war damals in einem desolaten Zustand: Hohe Inflation, kombiniert mit ständigen, durch die mächtigen Gewerkschaften inszenierten Streiks bei den Staatsbetrieben, machte den Bürgern das Leben schwer. Gering war deshalb die Freude an der damals regierenden Labour Party, deren sozialistische Politik zu Recht für die Misere mitverantwortlich gemacht wurde. So empfanden viele Engländer die von Thatcher propagierte Abkehr vom Staat als eine Art Befreiungsschlag, der dann auch tatsächlich einige Probleme beseitigte (Inflation, Streiks). Dass dabei weit über das Ziel hinausgeschossen wurde und man sich nach der Staatsverehrung mit der Marktverehrung erneut ideologisch verrannt hatte, erkannte man erst, als die ersten Privatisierungsleichen (vor allem die Bahn) zum Vorschein kamen.

Woher kommt nun aber der Glaube an die Wirksamkeit von freien Märkten, den Milton Friedman zwar propagierte aber keineswegs begründete? Dieser Glaube beruht letztlich auf der von Adam Smith (1723–1790) in die Ökonomie eingeführten Idee der unsichtbaren Hand. Diese sorgt angeblich dafür, dass das eigennützige Handeln der Menschen im Mechanismus des Marktes immer auch das Gemeinwohl steigert. Diese Idee hat einen religiösen Ursprung, denn sie beruht auf einem Glaubensbekenntnis, das bei Adam Smith ganz explizit erwähnt wird.[2] Es ist der Glaube an die Stoa, wie dies mein Vater, der Ökonom Hans Christoph Binswanger (1998; S. 47–64) in seinem Artikel „Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen“ deutlich herausgearbeitet hat. Die Stoa war die dominierende Weltanschauung der gebildeten römischen Bürger von etwa 200 v. Chr. bis 300 n. Chr. und ging davon aus, dass sich die Welt dank eines göttlichen Planes stets zum Guten entwickeln würde. Adam Smith selbst beschreibt dieses Glaubensbekenntnis in seinem ersten Hauptwerk, der 1770 erschienen Theorie der ethischen Gefühle (Smith 1985, S. 47 ff.) folgendermaßen: „Die alten Stoiker waren der Meinung, dass wir – da die Welt durch die alles regelnde Vorsehung eines weisen, mächtigen und gütigen Gottes beherrscht werde – jedes einzelne Ereignis als einen Teil des Weltplanes betrachten sollen, als etwas, das die Tendenz habe, die allgemeine Ordnung und Glückseligkeit des Ganzen zu fördern.“

Bei Epiktet (50 bis ca. 140 n. Chr.), dem Hauptvertreter der späteren Stoa, findet sich denn auch die religiöse Begründung der unsichtbaren Hand, wenn er schreibt, dass Zeus (der griechische Gott, der als Synonym für die Weltvernunft steht) die Natur der vernünftigen Wesen (also der Menschen) so eingerichtet hat, dass sie keinen Reichtum erlangen können, wenn sie nicht zugleich etwas zum allgemeinen Nutzen beitragen. Daher sei es auch keine Sünde wider das Gemeinwohl, wenn man alles um seiner selbst willen tut.

Dieses stoische Glaubensbekenntnis ist sowohl wirtschaftsfreundlicher als auch bequemer als das Christentum. Dort werden vom Menschen nämlich so schwierige Sachen verlangt, wie seinen Nächsten zu lieben und alles mit ihm zu teilen. Anforderungen, bei denen keine rechte Freude am Reichtum aufkommen kann. Gemäß der Stoa darf man sich jedoch ohne Gewissensbisse und in bester Laune eigennützig verhalten, denn man fördert damit ja automatisch das Gemeinwohl. Adam Smith übernahm nun dieses Glaubensbekenntnis und übertrug es systematisch auf die wirtschaftlichen Handlungen der Menschen. In seinem zweiten und noch bekannteren Hauptwerk, dem 1776 erschienen Wohlstand der Nationen (1990, S. 370/371) führt Adam Smith aus, dass der Einzelne, wenn er nur nach seinem eigenen Gewinn strebt, „er in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet wird, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. … Gerade dadurch, dass der einzelne ein solches Ziel [die Förderung des Gemeinwohls] nicht bewusst anstrebt, ja, gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun.“

Da hätten wir sie nun also, die Idee der unsichtbaren Hand, die seit Adam Smith zum Credo der modernen Ökonomie geworden ist. Diese geht somit von einer Art „Intelligent Design“ der Welt aus (James Galbraith 2005), ganz ähnlich wie dies auch die sogenannten Kreationisten in den USA tun.[3] Der Unterschied liegt nur darin, dass die unsichtbare Hand nicht vom Gott der Bibel stammt, sondern das intelligente Design eines griechischen Vernunftgottes (Zeus) darstellt, der sich, sobald er einmal vernünftige Wesen geschaffen hatte, von dieser Welt zurückzog. Er konnte sie ja getrost sich selbst überlassen, denn die Entwicklung hin zur „Ordnung und Glückseligkeit des Ganzen“ war durch das im großen Weltenplan verankerte Prinzip der unsichtbaren Hand bereits gesichert. Die Stoa und auch Adam Smith brauchten keinen aktiv in die Welt eingreifenden Gott mehr, denn dieser hatte mit seinem perfekten Weltenplan bereits alles Notwendige geschaffen. Seither darf er im Vertrauen darauf abwarten, dass die unsichtbare Hand ihre Wirkung auf allen Märkten dieser Welt entfaltet. Da dieser Gott aber nie in Erscheinung tritt, ist er inzwischen auch in der Ökonomie fast völlig in Vergessenheit geraten und einem heutigen Ökonomen käme es deshalb kaum je in den Sinn, dass die unsichtbare Hand einen religiösen Hintergrund besitzt.

Wie die unsichtbare Hand des Marktes im Idealfall wirkt

Kehren wir zurück zur Ökonomie. Wie lässt sich das segensreiche Wirken der unsichtbaren Hand dort genau erklären? Um das auf Eigennutzen ausgerichtete Verhalten der vernünftigen Wesen (die Ökonomie spricht hier vom homo oeconomicus) besser klassifizieren zu können, werden diese in der ökonomischen Theorie in zwei Gruppen aufgeteilt: in die Produzenten bzw. Anbieter (daraus werden dann Unternehmen) und die Konsumenten bzw. Nachfrager.[4] Bei den Produzenten führt eigennütziges Verhalten zu Gewinnmaximierung. Und bei den Konsumenten führt eigennütziges Verhalten zur Nutzenmaximierung, was nichts anderes bedeutet, als dass die Menschen versuchen, ihre individuellen Bedürfnisse optimal zu befriedigen.

Die Argumentation lautet nun wie folgt: Die Produzenten werden versuchen, möglichst kostengünstig zu produzieren, um ihren Gewinn zu maximieren. Das heißt, sie werden die knappen Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, natürliche Ressourcen) so einsetzen, dass sich daraus ein Maximum an Gütern und Dienstleistungen produzieren lässt. Auf diese Weise wird ein effizienter Einsatz der Produktionsfaktoren gesichert. Gleichzeitig werden sie aber auch genau die Güter und Dienstleistungen produzieren, für die sie möglichst hohe Preise erzielen. Hier kommen nun die Konsumenten mit ihrer Nutzenmaximierung ins Spiel. Diese versuchen, ihre Bedürfnisse optimal zu befriedigen und sind nur bereit für solche Güter und Dienstleistungen einen hohen Preis zu zahlen, die ihnen einen entsprechend hohen Nutzen bringen. Gibt es nun einen Markt, auf dem das Angebot der Produzenten auf die Nachfrage der Konsumenten trifft und sich entsprechende Preise bilden können, dann führen die Prinzipien von Gewinnmaximierung und Nutzenmaximierung dazu, dass auch genau das produziert wird, was die Bedürfnisse der Konsumenten am besten befriedigt. In diesem Fall haben wir das bestmögliche Ergebnis: optimale Produktion und optimale Bedürfnisbefriedigung.

Auf diese Weise, so die Schlussfolgerung, führt der Wettbewerb auf dem Markt (der sogenannte Marktwettbewerb) über das Preissystem zur Wirkung der von Adam Smith postulierten unsichtbaren Hand (siehe Ménard 1995, S. 170). Die freie Preisbildung auf dem Markt gibt Produzenten und Konsumenten die Möglichkeit, ihre Eigeninteressen optimal durchzusetzen, da die Preise dann sowohl die Knappheit als auch den Nutzen der Güter widerspiegeln. Das Allgemeinwohl wird gesteigert, indem die Produktion exakt auf die Bedürfnisse ausgerichtet ist und gleichzeitig die größtmögliche Menge an Gütern und Dienstleistungen mit den vorhandenen Produktionsfaktoren produziert wird. Märkte sind somit effizient[5], die Effizienzsteigerung ist auch ethisch gerechtfertigt, denn diese verschafft allen einen Vorteil. Es ist also kein Wunder, dass der Begriff der Effizienz zum eigentlichen Schlüsselbegriff heutiger wirtschaftlicher Diskussionen geworden ist und von vielen Marktenthusiasten wie ein goldenes Kalb angebetet wird.

Ein ethisches Problem bleibt allerdings bestehen: nämlich die zufällig gegebene Anfangsverteilung des Eigentums. Es gibt Reiche und Arme mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten zur Produktion und zum Konsum. Dieses Problem ist jedoch für Adam Smith nicht gravierend. Die Reichen können nämlich, so Adam Smith, trotz ihrer „eitlen und unersättlichen Begierden“ nur wenig mehr als die Armen verzehren. Sie sind deshalb gezwungen, ihren Ertrag mit den Armen zu teilen. „Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre.“ (Smith 1985, S. 316). Die unsichtbare Hand wird also zum großen Teil auch das Problem der ungleichen Anfangsverteilung beseitigen.

Das klingt alles wunderbar. Doch die eben beschriebene Effizienz und damit grundsätzliche Überlegenheit des Marktes gilt a priori nur für eine hypothetische Idealwelt, in der eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein müssen, von denen wir in der Realität oft meilenweit entfernt sind. Wenn wir die oben zitierte berühmte Passage von Adam Smith zur unsichtbaren Hand genau lesen, dann wird schnell deutlich, dass bei ihm nicht von einem allgemeingültigen Prinzip die Rede ist. Smith spricht nur davon, dass das Gemeinwohl durch die unsichtbare Hand häufig gefördert werde. Aber er macht daraus kein allgemeingültiges Gesetz. Ein solches Gesetz entwickelte erst die neoklassische allgemeine Gleichgewichtstheorie (vor allem Walras 1874), welche auch die dafür notwendigen Bedingungen festlegte. Auf diese Weise befreite sich die ökonomische Wissenschaft zwar vom religiösen Charakter der unsichtbaren Hand, aber um den Preis, dass diese jetzt nur noch in der hypothetischen Idealwelt der allgemeinen Gleichgewichtstheorie wirksam ist. Allgemeingültige, exakte Gesetze erhält man in den Sozialwissenschafter eben nur, wenn man die Realität vorher wegdefiniert.

Bedingungen für die Wirksamkeit der unsichtbaren Hand

Was sind nun aber genau die Bedingungen, unter denen die Markteffizienz durch das Wirken der unsichtbaren Hand garantiert ist? Zunächst muss Eigentum an allen Gütern und Dienstleistungen möglich sein (vollständige Verfügungsrechte), denn sonst kann sich auf dem Markt gar kein Preis bilden. Das ist nur für private, nicht aber für öffentliche Güter wie etwa „saubere Luft“ möglich, die damit von der Markteffizienz ausgeschlossen sind. Wenn wir uns also auf diese Güter und Dienstleistungen beschränken, dann müssen im Weiteren folgende Bedingungen erfüllt sein: (Arrow and Debreu 1954; Geneakoplos 1982).[6]

Es muss unbeschränkter Marktzutritt möglich sein, und es muss eine große Zahl von Anbietern und Nachfragern auf dem Markt vertreten sein. In diesem Fall herrscht das Prinzip der vollständigen Konkurrenz, welches den Marktwettbewerb ermöglicht.

Alle Marktteilnehmer müssen vollständige Informationen über die Marktbedingungen besitzen, wodurch die Märkte vollständig transparent werden.

Die Marktteilnehmer dürfen keine sachlichen oder persönlichen Präferenzen gegenüber anderen Marktteilnehmern besitzen. Nur der Preis entscheidet darüber, wo und bei wem ein gleichartiges Gut gekauft wird.

Alle Marktteilnehmer müssen sich rational verhalten. Das bedeutet, dass alle Anbieter den Gewinn und alle Nachfrager den Nutzen maximieren – und das unabhängig voneinander (jeder schaut nur für sich selbst). Dabei wird weiter vorausgesetzt, dass die Kosten der Produktion eines Gutes mit jeder zusätzlich produzierten Einheit zunehmen (steigende Grenzkosten) und dass der Nutzen eines Gutes mit jeder zusätzlich konsumierten Einheit abnimmt (abnehmender Grenznutzen).

 

Schon wenige Überlegungen genügen, um festzustellen, dass im Allgemeinen keine dieser Bedingungen erfüllt ist. Dass eine große Anzahl von Anbietern dasselbe Produkt anbieten, hat heutzutage geradezu Seltenheitswert. Typisch sind ein paar wenige Anbieter (Oligopol), die sich krampfhaft darum bemühen, nicht exakt dieselben Güter oder Dienstleistungen wie die Konkurrenz anzubieten, um sich so von dieser abzuheben.

Aber auch die übrigen Bedingungen sind kaum je erfüllt. Auswahl von Produkten unter vollständiger Information und Kenntnis des gesamten Marktangebots sind heute angesichts der Vielzahl der Optionen und der beschränkten Zeit der Konsumenten frommes Wunschdenken. Zudem versuchen viele Anbieter diese Informationstransparenz aktiv zu verhindern, damit möglichst keine Preisvergleiche zwischen ihnen angestellt werden können. Der Mobilfunkmarkt ist dafür in den meisten Ländern ein gutes Beispiel. Ein paar wenige Anbieter bieten dasselbe Produkt an, nämlich Mobilfunktelefonminuten. Doch um die Preisvergleichbarkeit zu erschweren, werden diese Mobilfunkminuten in die unterschiedlichsten Angebote und Abonnements mit Gratistelefonen und Rabatten verpackt und zudem ständig verändert.

Sachliche und persönliche Präferenzen sind ebenfalls gang und gäbe. Man geht immer zu demselben Coiffeur oder immer ins selbe Restaurant, obwohl die gleiche Dienstleistung anderswo vielleicht billiger und besser angeboten wird. Und damit sind wir auch schon beim rationalen Verhalten, mit dem es im Allgemeinen auch nicht weit her ist. Ein ganzer Zweig der ökonomischen Theorie, die sogenannte „Behavioral Economics“, befasst sich heute mit irrationalem Verhalten und kommt damit der Realität wesentlich näher als die auf Rationalität aufbauende, „platonische“ allgemeine Gleichgewichtstheorie. Zum Beispiel werden Ausgaben je nach Kategorie von Menschen ganz unterschiedlich bewertet. So können sich Menschen darüber aufregen, dass das Joghurt im Supermarkt zehn Cents teurer geworden ist, was sie im Monat vielleicht zwei Euro kostet. Den gleichen Menschen ist es aber egal, 1000 Euro an der Börse zu verlieren, denn dieses Geld ist im Gehirn in einer anderen Schublade untergebracht. Das ist zwar sehr menschlich, aber nicht rational.[7]

In Wirklichkeit sind die Bedingungen für die Existenz eines allgemeinen Marktgleichgewichts immer nur unzureichend erfüllt. Und damit ist auch die Effizienz des Marktes immer nur mehr oder weniger gewährleistet. Zwar führt der Markt meistens zu besseren Lösungen als jedes andere Verteilungssystem und insbesondere als eine planwirtschaftliche Zuteilung von Gütern. Aber das gilt nicht a priori. Es muss jeweils im Einzelfall abgeklärt werden, ob Märkte tatsächlich die beste Lösung für ein bestimmtes Verteilungsproblem darstellen.

Marktwettbewerb in Theorie und Praxis