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Wenn Sie die Zukunft der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung angesichts der Digitalisierung verstehen wollen, ist dieses Buch genau die richtige Lektüre für Sie!
Mathias Binswanger diskutiert in seinem neuen Buch die Digitalisierung in Zusammenhang mit der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft. Es eröffnet so einen anderen Zugang zur Thematik der Digitalisierung, der erstmals aufzeigt, warum diese die Wirtschaft zunehmend vom Menschen abkoppelt, die Produktivität in der Produktion weiter steigert, gleichzeitig aber zu immer mehr Bürokratie führt und dadurch weiterhin Vollbeschäftigung garantiert. Damit verbunden ist immer mehr Bequemlichkeit, aber auch immer mehr Überwachung und Kontrolle der Menschen und ein erhöhter Zwang zu konformem Verhalten.
Der Autor befasst sich mit grundlegenden Fragen, wie: Wollen wir eine solche Entwicklung tatsächlich? Ist es klug, sich von bestimmten digitalen Lösungen, Systemen oder Prozessen abhängig zu machen, die wir gar nicht mehr durchschauen? Und wie können wir gegensteuern?
Die Antwort lautet: Wir müssen analoge Systeme und Prozesse erhalten, damit Wirtschaft und Gesellschaft resilient bleiben. Es muss weiterhin möglich sein, mit Bargeld zu bezahlen, in selbstgesteuerten Fahrzeugen ohne Überwachungselektronik zu fahren, in nicht smarten Häusern zu leben, oder auf die Verwendung von Gesundheitsapps zu verzichten.
Die Aufrechterhaltung solcher analogen Lösungen ist aber gegen die Logik des Systems. Denn jeder nicht systemkonforme Akt stört die digitalen Optimierungsprozesse. Das wird in nicht allzu ferner Zukunft für erhebliche Konflikte sorgen.
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Print ISBN: 978‐3‐527‐51152‐5ePub ISBN: 978‐3‐527‐84299‐5
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Cover
Titelblatt
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Wohin steuert die Wirtschaft?
Teil I: FUNKTIONSWEISE UND DYNAMIK KAPITALISTISCHER WIRTSCHAFTEN IM HISTORISCHEN KONTEXT
1 Konstituierende Merkmale kapitalistischer Wirtschaften
Marktwirtschaft als Basis
Wettbewerb und das Zwangsgesetz der Konkurrenz
Innovation und schöpferische Zerstörung
Geldschöpfung durch Banken
Gewinne als Voraussetzung für wirtschaftliches Überleben
2 Wachstumsdynamik und Wachstumszwang
Notiz
3 Dynamik und systemische Zwänge kapitalistischer Wirtschaften: ein Rückblick auf die Kapitalismusanalysen von Karl Marx, Max Weber und Werner Sombart
Karl Marx und das Zwangsgesetz der Konkurrenz
Max Weber und das stahlharte Gehäuse des kapitalistischen Wirtschaftskosmos
Werner Sombart und der Geist des Kapitalismus
4 Der alte Traum der dauernden Optimierung: Jeremy Bentham und die digitale Wiedergeburt der sozialen Physik
5 Das ambivalente Verhältnis zwischen Kapitalismus und Freiheit
Teil II: DIE ENTSTEHUNG EINER NEUEN CONTROLLING‐BÜROKRATIE
6 Was ist Bürokratie und welche Tätigkeiten und Berufe sind damit verbunden?
Drei Ebenen der Bürokratisierung
7 Funktionen der Bürokratie in der kapitalistischen Wirtschaft
8 Der aussichtslose Kampf gegen Bürokratie
Notiz
9 Der Aufstieg einer neuen Controlling‐Bürokratie und ihre Wurzeln im New Public Management
10 Die Bürokratie als Beschäftigungsmotor
Zunahme der Beschäftigung in typischen Bürokratiebranchen
Fünf Beispiele für neue Bürokratie‐Jobs
Notiz
11 Die Controlling‐Bürokratie an Hochschulen und ihre Auswirkungen
Reformen und New Public Management
Zahlen zur Zunahme bürokratischer Tätigkeiten an Hochschulen
Anmerkungen
12 Bürokratie: Schaffung unproduktiver Bullshit‐Jobs ohne Mehrwert?
Teil III: DIE VERSELBSTSTÄNDIGUNG DES KAPITALISMUS DURCH KI UND SELBSTLERNENDE ALGORITHMEN
13 Die digitale Transformation und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung
14 Künstliche Intelligenz als Schlüsseltechnologie der Verselbstständigung
Anmerkungen
15 Entsteht ein neuer Kapitalismus? Zwei Sichtweisen aus der Literatur
Auf dem Weg zum Überwachungskapitalismus?
Auf dem Weg zum digitalen Kapitalismus oder zum Plattformkapitalismus?
Notiz
16 Algorithmen werden zu Shopping‐Agenten
17 Informationsasymmetrie und Marktmacht führen zu Algorithmenabhängigkeit
18 Manipulation durch Nudging und Pricing
Notiz
19 Der Staat als wohlwollender Big Brother: Wird China zum heimlichen Vorbild?
Notiz
20 Alles wird smart: vom smarten Kühlschrank zur smarten Stadt
Teil IV: DIE INTENSIVIERUNG DER BÜROKRATIE DURCH KI
21 KI und Bürokratie
22 Mehr Bürokratie durch Abklärung von Verantwortung und Haftung
23 Mehr Bürokratie durch Datenschutz und die Datenschutz‐Grundverordnung (DSGVO)
Notiz
24 Mehr Bürokratie durch Versuche der Gewährleistung von Fairness und Gleichbehandlung
Anmerkungen
Epilog: Ist die Verselbstständigung unausweichlich?
Die Entwicklung im Überblick
Können wir gegensteuern?
Literatur
Der Autor
Stichwortverzeichnis
End User License Agreement
Kapitel 10
Tabelle 10.1: Zunahme der Beschäftigung in Deutschland von 1991 bis 2020...
Tabelle 10.2: Zunahme der Beschäftigung in der Schweiz von 1991 bis 2022 in...
Tabelle 10.3: Veränderung der Beschäftigung in Bürokratie‐Jobs in den USA
Kapitel 11
Tabelle 11.1: Entwicklung des Hochschulpersonals in der Schweiz in VZÄ....
Tabelle 11.2: Entwicklung des Hochschulpersonals in Deutschland in VZÄ....
Tabelle 11.3: Zahl der Stellen (in VZÄ) im Managementbereich an dänischen ...
Tabelle 11.4: Was die Forschung behindert. Quelle: Allensbacher Archiv, If...
Kapitel 19
Tabelle 19.1: Beispiele für digitalen Paternalismus
Kapitel 2
Abbildung 2.1: Die Alternative: Wachstum oder Schrumpfung
Cover Page
Titelblatt
Impressum
Einleitung: Wohin steuert die Wirtschaft?
Inhaltsverzeichnis
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Epilog: Ist die Verselbstständigung unausweichlich?
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Warum arbeiten Menschen von Tag zu Tag? Über lange Zeit taten sie dies wohl in erster Linie deshalb, weil es für das Überleben notwendig war. Auch galt Arbeit im Christentum und in anderen Religionen als gottgefällig. Die Menschen sahen einen Sinn in der Mühsal ihres irdischen Daseins, weil ihre Existenz sich nicht auf dieses beschränkte. Nach dem Diesseits lockte ein ewiges Jenseits als Belohnung, im Idealfall in Form eines Paradieses. Doch seit der Aufklärung wurden Gott und das mit ihm assoziierte Jenseits nach und nach aus dem Alltag der Menschen verdrängt. »Alle Götter waren unsterblich«, schrieb der bekannte polnische Aphoristiker Jerzy Stanislav Lec. Der Traum vom ewigen Paradies im Jenseits machte der Aussicht auf ein schon im Diesseits verwirklichbares, aber endliches Paradies Platz. Reale Grundlage dieser Aussicht bildete das mit der industriellen Revolution einsetzende Wirtschaftswachstum, welches seither einen immer höheren Wohlstand ermöglichte. Man arbeitete, um das Leben angenehmer zu machen und damit die Kinder es dann später noch besser haben. Und das blieb kein Traum, sondern bewahrheitete sich für viele Menschen in vielen Ländern.
Dieser Traum vom besseren Leben durch mehr Wohlstand einte auch die politischen Parteien von links bis rechts seit dem Zweiten Weltkrieg. Unternehmer setzten sich genau so vehement für Wachstum ein wie Gewerkschaften. Es spielte auch keine Rolle, ob etwa in Deutschland die CDU oder die SPD an der Macht war. Alle wollten ein größeres Stück vom Kuchen, was funktioniert, solange der Kuchen selbst immer größer wird. Die großen politischen Kämpfe drehten sich mehr darum, wie man diesen Kuchen verteilt. Soll derjenige, der angeblich oder tatsächlich viel leistet, den größten Teil beanspruchen dürfen? Oder soll dieser Kuchen unabhängig von Leistung möglichst gleich verteilt werden? Über solche Fragen gab es harte Kämpfe, die bis heute andauern. Aber es gab keine Uneinigkeit in der Frage, ob man mehr materiellen Wohlstand will oder nicht. Das begann sich erst Anfang der 1970er Jahre zu ändern, als die erste Erdölkrise und das Erscheinen des Club‐of‐Rome‐Berichtes Die Grenzen des Wachstums der Euphorie einen ersten, allerdings letztlich kleinen Dämpfer versetzte.
Doch heute hat das Versprechen von immer noch mehr materiellem Wohlstand in hochentwickelten Ländern wie Deutschland oder der Schweiz an Strahlkraft eingebüßt. Wer schon im Wohlstand aufgewachsen ist, kann den Zweck seiner Arbeit kaum mehr in der Erreichung von noch mehr Wohlstand sehen. Das Streben nach ständig höherem Einkommen wird so zunehmend zu einem geistlosen Erfolgsstreben, dem ein kollektiv erkennbarer Sinn fehlt. Immer weniger Menschen glauben ernsthaft daran, dass sie der Konsum von noch mehr Gütern und Dienstleistungen dem Glück auf Erden näherbringt. Ihre grundlegenden materiellen Bedürfnisse sind gedeckt und die Statistiken zeigen, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen in hochentwickelten Ländern mit dem Wirtschaftswachstum nicht mehr weiter zunimmt (Binswanger, 2006). Andererseits ist vielen Menschen auch klar geworden, dass Wirtschaftswachstum zu erheblichen Umweltproblemen führt. Besonders die Treibhausgasemissionen und die damit verbundene Klimaerwärmung bieten Anlass zur Sorge.
Trotzdem stellen wir fest, dass der Konsum auch in hochentwickelten Ländern von Jahr zu Jahr weiterwächst, genauso wie auch die gesamte Wirtschaft. Dieses Wachstum wird nur manchmal durch Krisen für kurze Zeit unterbrochen. Woher kommt aber die Antriebskraft zu diesem ungebrochenen Streben nach immer mehr? Es sind in erster Linie die Unternehmen, welche in einer kapitalistischen Wirtschaft das Wachstum vorantreiben. Wenn sie längerfristig überleben wollen, dann müssen sie Gewinne erzielen, weil sie sonst in Konkurs gehen. Wie in dem Buch Der Wachstumszwang (Binswanger, 2019) aufgezeigt wird, kann der gesamte Unternehmenssektor auf die Dauer nur Gewinne erzielen, wenn gleichzeitig ein reales Wirtschaftswachstum stattfindet. Oder anders ausgedrückt: Nur solange das BIP wächst, ist eine Mehrheit der Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich. Findet kein Wirtschaftswachstum mehr statt, dann werden bei immer mehr Unternehmen aus Gewinnen Verluste, und die Wirtschaft gerät in eine Abwärtsspirale. Es gibt deshalb nur die Alternativen Wachsen oder Schrumpfen (siehe Kapitel 2).
Wie kann aber das Wachstum stets weitergehen, wenn die Menschen schon alles haben, was sie brauchen? Das funktioniert nur, wenn mit neuen Produkten und Dienstleistungen auch neue Bedürfnisse geschaffen werden, die ein noch besseres Leben versprechen. In dieser Hinsicht bietet die digitale Transformation eine Vielzahl neuer Optionen. Und nicht nur das. Der rasante technische Fortschritt bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) schafft gleichzeitig die Möglichkeit, die kapitalistische Wirtschaft zu perfektionieren, indem sich deren Wachstumsdynamik zunehmend verselbstständigt und vom Menschen emanzipiert. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklung liegt einerseits in der mit enormer Geschwindigkeit wachsenden Menge an verfügbaren Daten über Menschen, Systeme und Prozesse (Big Data). Diese Daten ermöglichen andererseits selbstlernenden, auf KI basierenden Algorithmen, Konsum‐ und Investitionsentscheide zu übernehmen. Sie können viel mehr Daten in viel kürzerer Zeit erfassen und verarbeiten, als Menschen dazu jemals in der Lage waren. Daraus lassen sich dann »optimale« Entscheidungen ableiten. Wirtschaftliche Prozesse verselbstständigen sich auf diese Weise und die Wirtschaft wird zu einem KI‐gesteuerten System, welches selbst entscheidet, was optimal und richtig ist. Je perfekter die KI funktioniert, umso weniger kontrollieren und steuern Menschen das System, aber umso mehr werden Menschen durch das System kontrolliert und gesteuert.
Doch in welcher Hinsicht sind die von der KI gesteuerten Entscheide optimal? Letztlich manifestieren sich in den selbstlernenden Algorithmen wirtschaftliche Interessen. KI, wie auch andere Technologien werden nie im interessenfreien Raum entwickelt und eingesetzt. Es geht letztlich darum, mit Innovationen Geld zu verdienen – egal, ob es sich um selbstfahrende Autos, smarte Häuser oder Pflegeroboter handelt. Die Logik der Gewinnmaximierung, welche die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft vorantreibt, bestimmt auch das Verhalten der Algorithmen und beeinflusst deren Entscheide. Diese Entwicklung stört eine Mehrheit der Menschen allerdings wenig. Schließlich bringt uns die digitale Transformation eine Menge an neuen Möglichkeiten, von denen wir früher nur zu träumen wagten. Texte schreiben sich von selbst, Autos fahren von selbst, die Temperatur in der Wohnung reguliert sich von selbst, und der Kühlschrank füllt sich von selbst. Die Begeisterung für KI wird von den Anbietern kräftig geschürt. Vor allem zwei große Versprechen sind damit verbunden: das Versprechen von mehr Bequemlichkeit (Convenience) und das Versprechen von mehr Sicherheit. Für diese Versprechen scheinen Menschen bereit zu sein, sich immer mehr überwachen und kontrollieren zu lassen und Freiheit und Privatsphäre aufs Spiel zu setzen. Solche Prinzipien werden zwar theoretisch hochgehalten, aber in der gelebten Praxis ist ihre Bedeutung bescheiden.
Die digitale Transformation fördert auch eine andere Entwicklung, die wir schon seit längerer Zeit beobachten: den Aufstieg einer neuen Controlling‐Bürokratie. Die Möglichkeit, immer mehr Daten in immer kürzerer Zeit zu erfassen und zu verarbeiten, erlaubt ein immer intensiveres und umfangreicheres Controlling. Auf diese Weise erweitern sich die Optimierungsmöglichkeiten, die sowohl von der Wirtschaft als auch vom Staat gerne wahrgenommen werden. Diese Optimierung erfasst auch den Menschen selbst. Auf KI basierende Algorithmen werden nicht nur verwendet, um Prozesse und technische Systeme zu optimieren, sondern auch, um menschliches Verhalten vorherzusagen, zu beeinflussen und in eine gewünschte Richtung zu lenken. Bei den Unternehmen geht es darum, Produktion und Nachfrage so zu steuern, dass möglichst hohe Gewinne erwirtschaftet werden. Der Staat hat hingegen andere Interessen. Er will seine Bürgerinnen und Bürger zu normierten »Gutmenschen« erziehen, welche Gesetze einhalten, brav ihre Steuern zahlen, Gesundheitsprävention betreiben und sich ökologisch und sozial richtig verhalten.
Weil Wirtschaft und Gesellschaft durch die digitale Transformation gleichzeitig aber immer komplexer werden, steigen wiederum die Anforderungen der Optimierung, was weiteres Controlling bedingt. Es entstehen immer mehr von den unmittelbaren menschlichen Bedürfnissen entfernte Tätigkeiten innerhalb der wachsenden Controlling‐Bürokratie wie beispielsweise Regulatory Compliance Manager, Zertifizierungsauditoren oder Datenschutzbeauftragte. Die Produktion von direkt konsumierbaren und damit von uns als nützlich empfundenen Gütern und Dienstleistungen wie Nahrung, Bekleidung oder Transport erfordert hingegen zunehmend weniger menschliche Arbeit. In modernen Fabrikhallen »arbeiten« hochproduktive Roboter in Symbiose mit immer intelligenteren Algorithmen, und Lastwagen oder Busse werden selbstfahrend. Viele traditionelle Jobs, die mit der Produktion zu tun hatten, sind bereits wegrationalisiert oder sie wurden in Entwicklungsländer mit niedrigen Löhnen ausgelagert.
Dieser kurze Abriss über Vergangenheit und Zukunft des Kapitalismus hat das wesentliche Thema dieses Buches bereits aufgezeigt. Der Kapitalismus wird sich durch den Einsatz von KI‐basierten Algorithmen zunehmend verselbstständigen und sich der menschlichen Kontrolle langsam entziehen. Gleichzeitig wird die Wirtschaft immer bürokratischer aufgrund zunehmender Komplexität und den damit verbundenen Herausforderungen an die Optimierung von Menschen und Prozessen. Aus diesem Grund kommt es auch nicht zu hoher Arbeitslosigkeit, obwohl viele traditionelle Jobs verschwinden werden. Aber das Wachstum der Bürokratie gleicht dies wieder aus mit ihrer hohen Nachfrage nach Tätigkeiten in Bereichen wie Verwaltung, Organisation, Controlling, Regulierung oder Beratung.
Die in dem Buch beschriebene Entwicklung ist heute in den Anfängen bereits spürbar, aber ihre volle Wucht werden wir erst in den nächsten Jahren erleben. Deshalb kann sich die Argumentation nur partiell auf vorhandenes Zahlenmaterial stützen. Es geht darum, wahrscheinliche Entwicklungen aufzuzeigen, was zum Teil spekulativen Charakter hat. Werden Autos in Zukunft tatsächlich selbstfahrend sein? Werden wir tatsächlich in smarten Häusern leben? Werden in Zukunft tatsächlich KI‐gesteuerte Shopping‐Agenten Konsumentscheide treffen? Aus heutiger Sicht lautet die Antwort auf solche Fragen mit hoher Wahrscheinlichkeit: Ja! Aber stets bleibt eine Restwahrscheinlichkeit, dass es anders kommt. Ich habe mich aber bemüht, auf dem Boden der Realität zu bleiben und nicht in technologische Fantasien abzugleiten. So gehe ich beispielsweise nicht auf Literatur ein, die den Übergang zu einem Neurokapitalismus vorhersagt. Im Neurokapitalismus wäre es möglich, direkt Einfluss auf das menschliche Gehirn zu erlangen, indem Wünsche und Gedanken steuerbar werden (siehe Fußnote 9). Damit betreten wir aber das Territorium von Science‐Fiction, wo Eintretenswahrscheinlichkeiten vernachlässigbar klein sind.
Das Thema des Buches erscheint vielleicht mancher Leserin und manchem Leser als eine Art Dystopie. Man könnte vermuten, dass ein Kulturpessimist am Werk ist, der einmal mehr den Untergang des Abendlandes heraufbeschwört. Das ist aber nicht die Absicht. Die positiven Aspekte der digitalen Transformation werden keineswegs negiert. Doch diese werden von vielen Anbietern digitaler Produkte und Lösungen ausreichend propagiert. In diesem Buch geht es darum, die sich abzeichnende digitale Transformation als Teil der Evolution kapitalistischer Wirtschaften zu verstehen und konsequent weiter zu denken. Die Eigendynamik der Wirtschaft erlebt dank KI eine nie dagewesene Intensivierung, welche Menschen zunehmend in eine Nebenrolle drängt. Das kann man auch positiv sehen. Weiß KI nicht besser, was für uns gut ist, als wir es selbst wissen? Leben wir nicht besser in einer neuen Algorithmenabhängigkeit, weil wir uns dann auf die angenehmen Seiten des Lebens konzentrieren können? In diese Richtung denkt zum Beispiel Jürgen Schmidhuber, Universitätsprofessor und einer der Väter der fortgeschrittenen KI im deutschsprachigen Raum. Am 5. Evangelischen Medienkongress im Jahr 2018 verkündete Schmidhuber (Harmsen, 2018): »Ich möchte eine KI bauen, die nicht nur das kann, was heute Smartphones können, sondern die lernt, alle Probleme zu lösen, die ich selbst nicht lösen kann. Und dann kann ich in Rente gehen.«
Im gleichen Interview widerspricht sich Schmidhuber aber selbst. Er wird auch gefragt, wie man sicherstellen kann, dass sich KI‐gesteuerte Roboter bzw. Algorithmen ethisch verhalten. Da hätte doch Isaac Asimov vor 60 Jahren einmal Robotergesetze formuliert, von denen das erste lautet: »Ein Roboter darf keinem Menschen Schaden zufügen oder durch Unachtsamkeit zulassen, dass ein Mensch zu Schaden kommt.« Könnte man dieses Gesetz der KI nicht einprogrammieren? Die Antwort von Schmidhuber lautet: Nein. »[Das Gesetz] setzt voraus, dass der Roboter perfekt Muster erkennen und stets unterscheiden kann, wer Roboter und wer Mensch ist. Außerdem müsste er alle Konsequenzen seines Tuns vorhersagen können, und weder KI noch Menschen seien hierzu in der Lage.« Mit andern Worten. Wir können niemals garantieren, dass KI‐gesteuerte Algorithmen oder Roboter zu wohlwollenden Sklaven der Menschheit werden, die nur deren Wohl im Auge haben. Warum das so ist, wird in diesem Buch ausführlich beschrieben. Unter solchen Voraussetzungen ist es nicht klug, sich von KI abhängig zu machen. Man kann nicht beruhigt in Rente gehen, wenn KI unsere Probleme »löst«.
Solche Themen werden allerdings kaum diskutiert. Zwar gibt es tausende von Darstellungen, wie man KI zum eigenen Erfolg nutzt, wie uns KI hilft, bestimmte Probleme zu lösen, wie KI unser Leben bequemer macht und wie man möglichst schnell führend bei der Anwendung von KI wird. Der Einfluss von KI auf menschliches Wohlbefinden interessiert hingegen nur am Rande. Man wird dazu erzogen, die digitale Transformation und die Anwendung von KI als eine Art Naturereignis zu sehen, welchem wir uns zu fügen haben. Unsere Gesellschaft, die sonst nicht müde wird, die Souveränität des Individuums und die individuelle Freiheit zu betonen, wird bei diesem Thema fatalistisch und schicksalsergeben. Denn schließlich gilt die Entwicklung von KI als innovativ und soll für weiteren Fortschritt sorgen. Und sich gegen den Fortschritt zu stellen, ist moderne Blasphemie.
Das Buch umfasst vier Teile. Der erste Teil widmet sich der Frage, welche Faktoren für die Funktionsweise einer kapitalistischen Wirtschaft zentral sind (Kapitel 1). Es wird erklärt, woher die Wachstumsdynamik kapitalistischer Wirtschaft kommt, und weshalb diese Dynamik auch zu einem Wachstumszwang führt (Kapitel 2). Die spezifische Dynamik kapitalistischer Wirtschaften wurde in der Vergangenheit bereits von bedeutenden Ökonomen und Soziologen beschrieben, auf welche im dritten Kapitel eingegangen wird. Karl Marx, Max Weber und Werner Sombart haben wesentliche Beiträge zum Verständnis der Dynamik, aber auch der systemischen Zwänge kapitalistischer Wirtschaften geliefert, welche heute nur noch wenig bekannt sind. Dabei ging es stets auch darum, wirtschaftliche Prozesse, aber auch die in der Wirtschaft arbeitenden Menschen zu optimieren. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte der englische Philosoph Jeremy Bentham Ideen, wie man das Verhalten der Menschen durch Überwachung und Kontrolle »zu ihrem eigenen Wohl« optimieren kann. Aus solchen Ideen entwickelte sich später die soziale Physik, die heute in der digitalen Welt wieder auflebt (Kapitel 4). Auf diese Weise gab es stets eine Tendenz, die Freiheit der Individuen in kapitalistischen Wirtschaften einzuschränken, obwohl das System normalerweise mit Freiheit assoziiert wird. Diese Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Freiheit beleuchtet das fünfte Kapitel.
Im zweiten Teil des Buches wird die Entstehung einer neuen Controlling‐Bürokratie beschrieben. Um dieses Phänomen zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick zurück auf die letzten Jahrzehnte zu werfen. Das sechste Kapital liefert eine Definition von Bürokratie und zeigt, welche Tätigkeiten, Berufe und Branchen mit Bürokratie verbunden sind und inwieweit sich diese messen lässt. Kapitel 7 beschreibt die Funktionen der Bürokratie in einer kapitalistischen Wirtschaft, welche mit der Reduktion von Komplexität, der Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit, sowie mit der permanenten Optimierung von Prozessen und Menschen zu tun haben. Schon seit langer Zeit wird versucht, der sich ausbreitenden Bürokratie mit verschiedenen Maßnahmen entgegenzuwirken, aber der Kampf gegen Bürokratie hat bisher stets zu weiterer Zunahme der Bürokratie geführt (Kapitel 8). In Kapitel 9 wird der Aufstieg der neuen Controlling‐Bürokratie genauer beleuchtet. Diese hat ihre Wurzeln im New Public Management, welches seit den 1980er Jahren zum Ideal öffentlicher Verwaltungen wurde. Seither ist Daueroptimierung auch ein Imperativ beim Staat, was wiederum eine entsprechende Bürokratie erfordert. Allerdings beschränkt sich die Controlling‐Bürokratie nicht auf den Staat, sondern findet sich genauso bei großen Unternehmen. Kapitel 10 zeigt, wie die Controlling‐Bürokratie zu einem enormen Beschäftigungsschub führte, welcher dafür sorgte, dass trotz ständiger Anstrengungen zur Einsparung von Arbeit keine Arbeitslosigkeit entstand. Die ganze Entwicklung wird in Kapitel 11 anhand des Beispiels von Hochschulen nochmals verdeutlicht. Der Anteil der Beschäftigten, die nichts mit Bildung oder Forschung zu tun haben, ist dort seit Beginn dieses Jahrtausends immer weiter angestiegen, und auch Hochschullehrer und Forscher müssen einen wachsenden Anteil ihrer Arbeitszeit für bürokratische Tätigkeiten aufbringen. Kapitel 12 fragt nach der Natur der in der Bürokratie entstandenen Jobs. Auch wenn wir diese Jobs oft als wenig sinnvoll empfinden und teilweise von »Bullshit‐Jobs« gesprochen wird, tragen sie in Wirklichkeit erheblich zur gemessenen Wertschöpfung bei, da sie meist gut bezahlt sind.
Teil III ist dem Hauptthema des Buches gewidmet und beschreibt die Verselbstständigung des Kapitalismus durch KI und selbstlernende Algorithmen. Kapitel 13 beschreibt verschiedene Aspekte der Entwicklung, die mit dem Begriff der digitalen Transformation umschrieben werden, und wie sich diese auf die Beschäftigung auswirken. Die Schlüsseltechnologie hinter dieser Entwicklung ist die KI in Form von Machine Learning bzw. Deep Learning. Die auf diesen Prinzipien aufbauenden, selbstlernenden Algorithmen sind zentral für die Verselbstständigung des Kapitalismus (Kapitel 14). Kapitel 15 geht auf die bestehende Literatur ein, welche die Entstehung eines neuen Kapitalismus aufgrund der digitalen Transformation bzw. der Anwendung von KI heraufbeschwört. Einige Autoren/Autorinnen wie Shoshana Zuboff gehen davon aus, dass wir den Übergang zu einem Überwachungskapitalismus erleben, in dem die Verwertung von persönlichen Daten ganz neue Gewinnmöglichkeiten schafft. In Kapitel 16 wird die zentrale Rolle von KI‐basierten, selbstlernenden Algorithmen hervorgehoben. Es wird aufgezeigt, wie Konsumentscheide zunehmend an diese Algorithmen delegiert werden, welche sich dadurch zu selbstständigen Shopping‐Agenten entwickeln. Kapitel 17 zeigt, dass diese Shopping‐Agenten aber nicht einfach zu wohlwollenden Sklaven der Konsumenten werden, welche in deren Interesse handeln. Die für KI‐Anwendungen wichtigen Märkte sind durch Informationsasymmetrie und Marktmacht charakterisiert. Dies ermöglicht es Big‐Tech‐Unternehmen wie Apple, Amazon, Alphabet (Google) oder Meta (Facebook), über diese Anwendungen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen, während sie für die übrigen Akteure zur Black Box werden. Kapitel 18 beschreibt, wie Manipulation durch individuelle Preissetzung und kundenspezifisches Nudging funktionieren kann. In Kapitel 19 wird auf die Rolle des Staates eingegangen, der ebenfalls versucht, Menschen mit Hilfe von KI zu steuern und zu überwachen. Beim Staat geht es weniger um wirtschaftliche Optimierung, als vielmehr darum, Menschen zu normierten Gutmenschen zu erziehen, die brav ihre Steuern zahlen und sich sozial und ökologisch korrekt verhalten. Dabei wird auch auf das soziale Kreditsystem in China eingegangen, wo diese Entwicklung am weitesten fortgeschritten ist. Kapitel 20 beschreibt die Ausbreitung von KI, die zu zunehmender Smartness auf allen Ebenen führt. Vom smarten Kühlschrank über das smarte Haus bis hin zur smarten Stadt werden KI‐Anwendungen allgegenwärtig.
Im vierten Teil wird schließlich aufgezeigt, wie sich die digitale Transformation und KI auf die bereits entstandene Controlling‐Bürokratie (siehe Teil II) auswirken. Kapitel 21 erklärt, wie und warum sich eine digitale Intensivierung der Controlling‐Bürokratie abzeichnet, da die rasant wachsenden Kapazitäten der Datenverarbeitung (Big Data) Messung und Überwachung in nie dagewesenem Ausmaß ermöglichen. Dadurch wird die Controlling‐Bürokratie aber selbst immer komplexer. Die folgenden Kapitel liefern Beispiele für diese Entwicklung. Kapitel 22 beschreibt, wie die Digitalisierung dazu führt, dass Fragen nach Haftung und Verantwortung neu gestellt werden müssen und zu einem Ausbau der Bürokratie führen. Kapitel 23 zeigt, wie das immer wichtiger werdende Problem des Datenschutzes nach neuen Regulierungen verlangt, die aber statt mehr Datenschutz vor allem mehr Datenschutzbürokratie erzeugen. Und Kapitel 24 illustriert, wie Regulierungen, welche faires und nichtdiskriminierendes Verhalten von Algorithmen gewährleisten sollen (zum Beispiel der in der EU eingeführte AI Act), der Bürokratie weiteren Schub verleihen.
Im Schlusskapitel (Kapitel 25) werden die wichtigen Erkenntnisse des Buches noch einmal zusammengefasst. Es wird deutlich, dass selbstlernende Algorithmen zu einer Perfektionierung des Kapitalismus führen, aber nicht zu einer Perfektionierung des menschlichen Wohlbefindens. Auch mit cleverer Regulierung lassen sich Algorithmen nicht zu wohlwollenden Sklaven der Menschen zurechtstutzen. Es ist nicht intelligent, sich von künstlicher Intelligenz abhängig zu machen. Deshalb wird zum Schluss die Frage aufgeworfen, ob der Trend zur Verselbstständigung des Kapitalismus unausweichlich ist. Die Antwort lautet: Nein, dem ist nicht so, aber der Verzicht auf ihre Nutzung wird stets weiter erschwert. Umso wichtiger ist es, dass wir auch in Zukunft die Möglichkeit haben, auf smarte und damit KI‐gesteuerte Kühlschränke, Autos, Häuser oder Gesundheits‐Apps zu verzichten, ohne dass wir dadurch Nachteile im täglichen Leben erfahren. Denn der Erhalt einer Vielfalt von technischen Lösungen ist ein Gebot der Resilienz, welche für die zukünftige Wirtschaftsentwicklung immer wichtiger wird.
“We shape our tools and, thereafter, our tools shape us.”
(John Culkin)
Was genau ist eine kapitalistische Wirtschaft? An einer Definition dieses Wirtschaftssystems haben sich schon viele Historiker, Ökonomen oder Soziologen die Zähne ausgebissen, und hier soll kein weiterer Versuch einer umfassenden Definition erfolgen. Trotzdem ist es wichtig, zu Beginn dieses Buches festzuhalten, welche Merkmale für die Funktionsweise einer kapitalistischen Wirtschaft entscheidend sind und ihre Dynamik bestimmen. Denn nie in der gesamten Menschheitsgeschichte hat ein anderes Wirtschaftssystem auch nur annähernd eine solche Bedeutung und Dominanz erlangt. Und diese Dominanz ist stärker, als wir uns dessen im Alltag bewusst sind. Oder wie es Max Weber schon vor mehr als hundert Jahren formulierte: »Der Kapitalismus ist die schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« (Weber, 1963, S.4).
Historisch betrachtet bezeichnet der Kapitalismus ein bestimmtes Wirtschaftssystem, welches im 18. Jahrhundert in Europa mit der industriellen Revolution beginnt und seither die gesamte Weltwirtschaft erfasst hat. Ausgehend von England hat sich der Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert zuerst in Europa und dann in der ganzen Welt verbreitet, so dass wir heute von einer kapitalistischen Weltwirtschaft sprechen können (Allen, 1947). Die zwischenzeitlich in einigen sozialistischen Ländern praktizierte kommunistische Planwirtschaft erlangte nie größere Bedeutung und funktionierte mehr schlecht als recht. Nur in ein paar Nischen wie Nordkorea oder Kuba halten sich heute noch degenerierte Formen davon am Leben, ohne für den Gang der Weltwirtschaft eine Rolle zu spielen.
Doch was zeichnet den Kapitalismus aus? In der Literatur wird unter einer kapitalistischen Wirtschaft meist ein Wirtschaftssystem verstanden, dass durch Privateigentum an den Produktionsmitteln gekennzeichnet ist. Diese Produktionsmittel werden als Kapital (Maschinen, Anlagen, Computer etc.) bezeichnet und sind im Kapitalismus neben Arbeit der wichtigste Produktionsfaktor, der sich über Investitionen stets weiter ausdehnen lässt. Getrieben wird die wirtschaftliche Tätigkeit durch den angestrebten Gewinn. Unternehmer bzw. Unternehmen sind bestrebt, aus den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital Profite zu erwirtschaften, über deren Verwendung sie weitgehend selbst verfügen können. Dabei erfolgt die Steuerung von Produktion und Konsum großenteils über den Markt, auf dem Angebot und Nachfrage über den Marktwettbewerb den Preis bestimmen.
Die eben erwähnten Merkmale sind zentral für eine kapitalistische Wirtschaft. Doch reichen sie nicht aus, um wirklich zu erfassen, was die Essenz dieser Wirtschaftsform und ihrer Dynamik ausmacht. Es sollen deshalb weitere Aspekte dieses Wirtschaftssystems hervorgehoben werden, welche seine Dynamik entscheidend bestimmen. Diese Merkmale werden in traditionellen Kapitalismusdefinitionen oft vernachlässigt, oder als selbstverständlich abgetan. In Wirklichkeit sind sie aber systemnotwendige Bestandteile des Kapitalismus. Vor allem Karl Marx, Max Weber und Werner Sombart haben in ihren Arbeiten grundlegende Erkenntnisse zu dessen Funktionsweise herausgearbeitet, die heute zum Teil in Vergessenheit geraten sind. In Kapitel 3 werden diese Erkenntnisse ausführlich dargestellt.
Es ist auch wichtig festzuhalten, dass kapitalistische Wirtschaften in unterschiedlichen Ausprägungen existieren. So haben wir in westlichen Ländern seit der industriellen Revolution einen liberalen Kapitalismus, der politisch auf einer mehr oder weniger stark ausgestalteten Demokratie beruht. In China hat sich hingegen in neuster Zeit ein staatlich gesteuerter politischer Kapitalismus herauskristallisiert, in dem ein autoritärer Staat in die Wirtschaft eingreift, ohne aber die Marktwirtschaft außer Kraft zu setzen. Auf alle diese unterschiedlichen Ausprägungen treffen die im Folgenden erwähnten Merkmale zu. Und alle diese Systeme unterliegen demselben, für kapitalistische Wirtschaften typischen Wachstumszwang (Binswanger, 2019), auf den in Kapitel 2 noch genauer eingegangen wird.
Folgende Merkmale sind zentral für die Dynamik kapitalistischer Wirtschaften:
Kapitalistische Wirtschaften sind Marktwirtschaften, in denen eine Steuerung von Produktion und Konsum zu einem großen Teil dezentral über Märkte erfolgt. Angebot und Nachfrage bestimmen den Marktpreis, zu welchem Güter und Dienstleistungen gehandelt werden. Das heißt aber nicht, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft identisch sind. Marktwirtschaften gibt es schon viel länger als kapitalistische Wirtschaften, welche durch weitere Merkmale gekennzeichnet sind, die auf Marktwirtschaften nicht zutreffen müssen. In neuerer Zeit gibt es aber kaum noch Marktwirtschaften, die nicht gleichzeitig kapitalistische Wirtschaften sind.
Moderne kapitalistische Wirtschaften sind aber auch dadurch gekennzeichnet, dass gewisse Güter und Dienstleistungen durch den Staat angeboten werden bzw. der Staat in Märkte eingreift. Dies führt zu den schon erwähnten unterschiedlichen Ausprägungen des Kapitalismus. Die soziale Marktwirtschaft mit ihren Umverteilungsmechanismen ist genauso eine Ausprägung des Kapitalismus wie der chinesische Staatskapitalismus (Milanovic, 2021). Die immer wieder vorgebrachte Aussage, dass der Staat in einer kapitalistischen Wirtschaft wenig oder gar nicht in das Wirtschaftsgeschehen eingreift, lässt sich unter dieser Perspektive kaum aufrechterhalten. Vielmehr kommt es immer mehr zu Mischformen von staatlichen und privaten Institutionen. Private Unternehmen wie auch Märkte werden vom Staat reguliert, und bestimmte Marktakteure befinden sich teilweise oder ganz in staatlichem Besitz. All diese Entwicklungen tun der Funktionsweise des Kapitalismus aber keinen Abbruch. Der Kapitalismus kann mit mehr oder weniger Staat funktionieren, solange die Allokation von Gütern und Dienstleistungen hauptsächlich über Märkte erfolgt.
Markt und Wettbewerb gehören eng zusammen in kapitalistischen Wirtschaften. Unternehmen sind gezwungen, sich im Wettbewerb gegenüber der Konkurrenz zu behaupten, wenn sie nicht untergehen wollen. Karl Marx hat den ständigen Zwang zum Verdrängungswettbewerb als »Zwangsgesetz der Konkurrenz« beschrieben (1983, S. 337). Dieses Gesetz verhindert jeglichen Stillstand. Unternehmen versuchen stets, besser zu werden als die Konkurrenz, um so Marktanteile zu gewinnen und die Konkurrenten im Idealfall vom Markt zu verdrängen. Unter diesen Bedingungen kann man nie lange im Status quo verharren, denn das System zwingt zur Daueroptimierung. Gerade aus diesem Grund gehen Ökonomen davon aus, dass der Kapitalismus allen anderen Wirtschaftssystemen überlegen ist. Durch den Wettbewerb sind alle Anbieter gezwungen, ihre Produkte immer noch besser zu machen, noch effizienter zu produzieren, um so die Bedürfnisse der Kunden optimaler befriedigen zu können. In diesem Fall wirkt die von Adam Smith beschriebene »unsichtbare Hand des Marktes«. Allerdings erzeugt Wettbewerb auch den Anreiz, eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen, um die Konkurrenz möglichst auszuschalten. Deshalb braucht es den Staat als Garanten für einen funktionierenden Wettbewerb, der mit Anti‐Monopol‐Gesetzen, Kartellgesetzen oder Gesetzen gegen Ausnutzung von Marktmacht eine Ausschaltung des Wettbewerbs zu verhindern versucht.
Mit dem Begriff »Wettbewerb« ist im Allgemeinen nicht die vollständige Konkurrenz gemeint, wie sie als Idealfall der ökonomischen Theorie beschrieben wird. In diesem Modell treffen viele kleine Anbieter, die alle dasselbe Produkt anbieten, auf viele kleine Nachfrager. In dieser Situation kann kein einzelner Marktakteur Marktmacht erlangen und Einfluss auf den Preis nehmen. Diese Idealvorstellung von vollständiger Konkurrenz ist im Kapitalismus aber selten. Im Normalfall finden wir Märkte, welche Ökonomen als Oligopole oder monopolistische Konkurrenz bezeichnen. Einige wenige Anbieter bestimmen das Angebot und versuchen sich durch Differenzierung ihrer Produkte und bessere Produktionsverfahren von den Mitkonkurrenten abzuheben. Dabei ist es auch möglich, dass nicht allen Kunden der gleiche Preis verrechnet wird. Unternehmen sind bestrebt, jedem Kunden und jeder Kundin den Preis zu verrechnen, welcher der jeweiligen individuellen Zahlungsbereitschaft entspricht, denn auf diese Weise lässt sich ein höherer Gewinn erzielen.
In entwickelten Volkswirtschaften dominiert somit ein stetiger Verdrängungswettbewerb der Anbieter untereinander, um eine Oligopol‐ bzw. Monopolposition auf dem Markt zu erreichen. Man kämpft um Marktanteile und um die Erschließung neuer Märkte, was die Anbieter, die in einer modernen Wirtschaft häufig Großunternehmen sind, zur dynamischen Triebkraft des real existierenden Marktwettbewerbs macht. Dies hat der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter bereits Anfang des letzten Jahrhunderts erkannt. Er beschrieb die Konkurrenz zwischen den Unternehmen als einen oligopolistischen Wettbewerb im Prozess permanenter Bewegung (Schumpeter, 1942). Einen Zustand des ökonomischen Gleichgewichtes gibt es bei diesem Wettbewerb nicht.
Schumpeters Analyse des Wettbewerbs unter Anbietern ist für eine heutige Wirtschaft wesentlich realistischer als das Modell des Marktwettbewerbs der vollständigen Konkurrenz, wo der Anbieter nur eine »Jammergestalt ohne Ehrgeiz, ohne Unternehmungsgeist« ist (Schumpeter, zitiert nach Swedberg, 1994, S. 49). Allerdings hat diese Annäherung an die Realität erhebliche Konsequenzen. In diesem Fall gibt es keine Garantie mehr dafür, dass durch den Wettbewerb und den mit ihm verbundenen Innovationen (schöpferischen Zerstörungen) auch das Allgemeinwohl gefördert wird. Einzelwirtschaftliche Anstrengungen zur Verbesserung der Marktchancen können sich gegenseitig neutralisieren, ohne gleichzeitig für den Konsumenten Nutzen zu stiften. Der von Schumpeter beschriebene dynamische Wettbewerb mit seinem kämpferischen Element ist der für kapitalistische Wirtschaften charakteristische Wettbewerb.
Wie vorhin erwähnt gibt es im Kapitalismus keinen Stillstand und Unternehmen versuchen sich im Wettbewerb stets von der Konkurrenz abzuheben. Das ist aber nur möglich, wenn es auch technischen Fortschritt gibt, und es zu Innovationen kommt. Deshalb müssen kapitalistische Wirtschaften auch innovativ sein. Unternehmen sind stets bemüht, neue und bessere Produktionsverfahren und Produkte zu entwickeln. Dieses Verhalten führt zu permanentem technischem Fortschritt und damit zu einer stetigen Veränderung des Kapitalstocks, der Produktionsmethoden und der Produkte. Dieses Merkmal des Kapitalismus wurde von Joseph Schumpeter mit dem Begriff der »schöpferischen Zerstörung« beschrieben (Schumpeter, 1912, S. 157).
Aufgrund der permanenten Innovationstätigkeit befinden sich Märkte in kapitalistischen Wirtschaften stets im Ungleichgewicht, weil innovative Unternehmer pausenlos mit schöpferischer Zerstörung beschäftigt sind, welche die Wirtschaft irreversibel verändern. Setzen sich neue Produkte oder Verfahren am Markt durch, so folgen für die entsprechenden Unternehmen Monopolgewinne, da sie für kurze Zeit die Einzigen sind, welche das neue Produkt anbieten oder mit dem neuen Verfahren arbeiten. Der Erfolg ruft jedoch unweigerlich Nachahmer auf den Plan, womit die Gewinne oftmals wieder sinken, wenn nicht weitere Innovationen folgen. Dieser ständige Anreiz zu Innovation und deren erfolgreiche Umsetzung bedingt immer weitere Investitionen, welche das Wachstum der Wirtschaft vorantreiben. Innovationen sind somit untrennbar mit dem im vorherigen Abschnitt beschriebenen dynamischen Marktwettbewerb kapitalistischer Wirtschaften verbunden.
Damit kontinuierlich weitere Investitionen finanziert werden können, muss der Wirtschaft stets weiteres Geld zufließen. Dieser Zufluss erfolgt über Bankkredite, mit denen Geschäftsbanken zusätzliches Geld schaffen und damit gleichzeitig die Finanzierung von immer mehr Investitionen ermöglichen (Binswanger, 2015). Auf diese Weise wird makroökonomisch die Voraussetzung geschaffen, dass eine Mehrheit der Unternehmen tatsächlich Gewinne erwirtschaften kann. Das heißt: Ihre in Geld gemessenen Einnahmen übersteigen die Ausgaben. Ohne die Fähigkeit der Banken, Geld über Kredite »aus dem Nichts« zu schaffen, sind kapitalistische Wirtschaften nicht funktionsfähig.
Die Möglichkeit der Geldschöpfung durch Kreditvergabe entwickelte sich im London des 17. Jahrhunderts. Dort entstanden aus Goldschmiedewerkstätten die ersten modernen Banken, welche in der Lage waren, Geld nicht auszuleihen, sondern es gleichzeitig auch zu schaffen. Durch die Fähigkeit der Geldschöpfung wurde die Finanzierung von zusätzlichen Investitionen ermöglicht, ohne dass man zuerst sparen musste. Dies war eine Voraussetzung dafür, dass später im Rahmen der industriellen Revolution Kapital zum wichtigsten Produktionsfaktor in der wirtschaftlichen Produktion werden konnte. Findet in einer Volkswirtschaft keine Geldschöpfung statt, kann nur das Geld wieder ausgegeben werden, welches vorher eingenommen wurde. Wird deshalb mehr Geld für Investitionen ausgegeben, bedeutet dies zwangsläufig, dass weniger Geld für Konsum zur Verfügung steht. Denn mehr Investitionen können in diesem Fall nur durch zusätzliche Ersparnisse finanziert werden. Zusätzliche Ersparnisse gehen aber zulasten des Konsums, der dann entsprechend reduziert werden muss. Die gesamte Wirtschaft kann ohne Geldschöpfung gar nicht wachsen, da in diesem Fall mehr Investitionen nur möglich sind, wenn der Konsum entsprechend abnimmt. Das Wachstum wiederum ist eine Voraussetzung dafür, dass eine Mehrheit der Unternehmen auf Dauer Gewinne erzielen kann und somit auch immer weiter investiert, was wiederum zu weiterem Wachstum führt.
In kapitalistischen Wirtschaften ist das Erwirtschaften eines Gewinns längerfristig für jedes private Unternehmen überlebensnotwendig. Ein Unternehmen, welches keine Gewinne erwirtschaftet, kann seinen Zahlungsverpflichtungen auf die Dauer nicht nachkommen und geht entweder Konkurs oder muss von einem anderen Unternehmen aufgekauft werden. Dadurch ergibt sich ein Zwang zum wirtschaftlichen Erfolg, dem sich auf die Dauer kein Unternehmen entziehen kann, solange es nicht subventioniert wird. Im Kapitalismus ist wirtschaftlicher Erfolg ein Muss, genauso wie der Glaube an den wirtschaftlichen Erfolg.
Das Streben nach Gewinn ist somit die treibende Kraft hinter der gesamten Unternehmenstätigkeit in der kapitalistischen Wirtschaft, der alle anderen Ziele untergeordnet sind. Joseph Schumpeter schrieb dazu zu Beginn der 1940er Jahre, »die Produktion ist eine Nebenerscheinung beim Erzielen von Profiten« (Schumpeter 1942, S. 448). Das Gewinnstreben des Unternehmens wirkt unabhängig davon, ob der einzelne Unternehmer den Erwerb als seinen Lebenszweck betrachtet oder nicht. Das Unternehmen muss Gewinne machen. Der Unternehmer wird also durch seine kapitalistische Unternehmung in Gewinnerzielung zwangsweise eingereiht (Sombart, 1931a, S. 90). Wie in diesem Buch aufgezeigt wird, erhält das Prinzip der Gewinnmaximierung durch die Digitalisierung einen neuen Schub. Das Erfolgsstreben löst sich vom einzelnen Menschen bzw. Manager ab und wird durch die Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) Teil eines Wirtschaftssystems, welches die Menschen mehr oder weniger sanft vor sich hertreibt (siehe Kapitel 3).
Alle geschilderten Merkmale führen in ihrem Zusammenwirken dazu, dass eine kapitalistische Wirtschaft längerfristig nur erfolgreich ist, wenn auch ein Wirtschaftswachstum stattfindet. Es herrscht ein Wachstumszwang, der immanenter Bestandteil kapitalistischer Wirtschaften ist. Ohne Wachstum gibt es auf die Dauer keinen Kapitalismus. Aber genauso kann man aufgrund bisheriger Erfahrungen sagen, dass es ohne Kapitalismus auf die Dauer kein Wachstum gibt. Dieser Zusammenhang ist ausführlich dargestellt in meinem Buch Der Wachstumszwang aus dem Jahr 2019. Im folgenden Kapitel wird dieser Wachstumszwang in zusammengefasster Form kurz wiedergegeben, weil er zentral ist, um die Dynamik kapitalistischer Wirtschaften zu verstehen.
Wie in Kapitel 1