Der Wahnsinn hat Spätschicht! - Tobias Kühnlein - E-Book

Der Wahnsinn hat Spätschicht! E-Book

Tobias Kühnlein

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Beschreibung

Nachdem er seine Ausbildung in einem kleinen PC-Fachgeschäft beendet hat, beginnt Tobias seine Laufbahn als gelernter Kaufmann im Einzelhandel in einem Elektro-Fachmarkt mitten im fränkischen Niemandsland. Dort stellt er schnell fest, dass im Alltag eines "Fachberaters" nicht immer alles so läuft, wie es ihm in der Berufsschule beigebracht wurde. Basierend auf wahren Erlebnissen erzählt der Autor in seiner Konsumsatire "Der Wahnsinn hat Spätschicht!" von den irrwitzigsten und absurdesten Erlebnissen während seiner Arbeit im Verkauf und stellt dabei alle vermeintlichen Klischees über böse Verkäufer und dreiste Kunden auf den Prüfstand. Erleben Sie den Auftakt zur "Wahnsinn"-Trilogie und lesen Sie, wie alles begann. Mit dieser überarbeiteten Neuauflage seines Debütwerks aus dem Jahr 2012 erweitert der Autor das Buch um mehrere, bislang unveröffentlichte Kapitel und zahlreiche Hintergrundinfos zur Entstehung. Darüber hinaus wurde die "Spätschicht" für einen besseren Lesefluss optisch überarbeitet und an die Folgewerke angeglichen.

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Mit "Der Wahnsinn hat Spätschicht!" hat sich für mich ein lange gehegter Traum erfüllt: Die Veröffentlichung eines eigenen Buches. Wenn Sie beim Lesen nur halb so viel Spaß haben, wie ich ihn beim Schreiben hatte, dann haben wir beide gewonnen.

Tobias Kühnlein

Über den Autor

Tobias Kühnlein wurde 1983 geboren und ist im südlichsten Zipfel Oberfrankens aufgewachsen. Nach seiner Ausbildung zum Kaufmann im Einzelhandel erreichte er im Jahr 2008 die Fachhochschulreife und begann parallel dazu mit der Arbeit in einem Elektrofachmarkt. Nebenbei schreibt er als freier Mitarbeiter für lokale Tageszeitungen und Online-Magazine. Er ist darüber hinaus als hobbymäßiger Grafiker aktiv.

Seit 2017 ist er als Station Voice und Kommentator der deutschen Wrestling-Liga New European Championship Wrestling (NEW) auf Rocket Beans TV zu hören.

Tobias Kühnlein

Der Wahnsinnhat Spätschicht!

Wahre Geschichten vom anderen Ende der Servicewüste

Überarbeitete Neufassung

© 2012, 2019 Tobias Kühnlein

Überarbeitete, zweite Auflage

Umschlaggestaltung: Tobias Kühnlein

Technische Unterstützung: Berthold Gaksch

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,

22359 Hamburg

ISBN:      978-3-7482-7378-3 (Paperback)

                978-3-7482-7379-0 (eBook)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Geschichten in diesem Buch basieren auf wahren Begebenheiten.

Alles, was Sie lesen, ist so oder ähnlich tatsächlich vorgefallen.

Kein Scheiß

Über diese Neuauflage

Jetzt dreht er komplett durch! Das ist es doch, was Ihnen so ganz grob durch den Kopf ging, als Sie gesehen haben, dass es zu diesem Buch aus dem Jahr 2012 eine überarbeitete Neuauflage geben würde, oder? Kommen Sie, Sie dürfen ehrlich sein… ich bin kritikfähig. Warum sollte ein mäßig erfolgreicher, ohne großen Verlag veröffentlichender Autor sein Erstlingswerk denn neu auflegen wollen? Ach, wissen Sie, dafür gibt’s tatsächlich Gründe.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz im Buchhandel: Der erste Teil läuft immer am besten. Und dieses Gesetz hat sich mir mehr als eindrucksvoll bestätigt. 2016 kam nach über vier Jahren der zweite Teil dieser Reihe mit dem Titel „Der Wahnsinn macht Kassensturz!“ in den Handel. Und er verkaufte sich ordentlich. Aber wissen Sie, was sich parallel noch besser verkaufte? Teil 1. Dieses Buch hier. 2018 habe ich dann die Trilogie, von der ich anfangs nie wusste, dass es eine werden würde, mit „Der Wahnsinn rechnet ab!“ zu einem Ende gebracht, Einem gelungenen Ende, wie ich finde. Lesen Sie’s! Und ja, auch dieser dritte Teil war von den Abverkäufen ganz okay. Zeitgleich wesentlich besser verkaufte sich aber, über sechs Jahre nach der Veröffentlichung – genau! - der erste Teil.

Einerseits freute mich das. Denn dass die Nachfolgewerke den ersten Teil nochmal so derartig anschieben würden, überraschte mich. An diese Möglichkeit hatte ich naiverweise nicht gedacht. Und ich danke jedem Einzelnen von Ihnen, der sich diese Bücher zugelegt hat. Wirklich, ganz ohne Witz.

Dann aber habe ich nachgedacht. 2012, im Jahre der Spätschicht, war ich blutiger Anfänger. Ich hatte keine Ahnung vom Bücher schreiben und noch weniger Ahnung vom richtigen Satzbild oder einem ansprechenden Buchcover. Beides ging bei der originalen Spätschicht irgendwie schief. Das Cover war unspektakulär und auch noch im falschen Farbmodus angelegt, Schriftgröße und Zeilenabstand waren viel zu groß gewählt – mein Debüt war handwerklich also gar nicht mal so gut. Auf neudeutsch: I fucked up big time! Und das ärgert mich bis heute. Denn damit ist das meistverkaufte meiner Bücher gleichzeitig das, mit dem ich handwerklich – nicht inhaltlich! – am wenigsten zufrieden bin.

Um sicher zu gehen, dass also alle, die meine Reihe starten wollen, ein schönes, rundes und einigermaßen solides Leseerlebnis haben, habe ich mich zu dieser Neuauflage entschieden, die, abgesehen von den zusätzlichen Kapiteln, inhaltlich identisch mit dem Original ist. Wäre schlimm, wenn nicht. Kleine und größere handwerkliche Patzer wurden ausgemerzt, grobe Satzbau- oder Grammatikfehler nachjustiert, die Gesamtoptik des Buchinneren an die Nachfolgewerke angeglichen und die daraus resultierende, geringere Seitenzahl des ohnehin schon kürzesten der drei Bücher mit den eben erwähnten Zusatz-Kapiteln ein bisschen gestreckt. Im Zusammenspiel mit dem dezent attraktiveren Umschlagsdesign habe ich also endlich die Spätschicht geschaffen, die ich von Anfang an haben wollte.

Und um Ihnen zu versichern, dass ich hier wirklich nur einige Jahre alte Fehler ausmerzen wollte und nicht die Absicht habe, Ihre Geldbeutel zu melken, verspreche ich Ihnen hier und jetzt in die Hand, dass es von Teil 2 und Teil 3 keine Neuauflage geben wird. Denn die passen so, wie sie sind. Überzeugen Sie sich gerne selbst. Nein, hier ging es wirklich nur darum, diesen Grauschleier aus meinem Kopf zu kriegen, der über der originalen Spätschicht lag. Ich denke, das Experiment ist gelungen.

Und jetzt? Jetzt legen wir los mit der Spätschicht, so wie sie 2012 begann. Mit einem furztrockenen und – in der angepassten Schriftgröße – erstaunlich kurz geratenen Prolog. Also, noch einem.

Und nicht vergessen: Alles, was Sie lesen, ist so oder so ähnlich wirklich passiert.

Ich wünsche Ihnen ganz viel Vergnügen!

Tobias Kühnlein, im Frühjahr 2019

Prolog

Ich freue mich sehr, dass Sie, werter Leser, sich dazu entschlossen haben, sich das zu Gemüte zu führen, was ich irgendwann zum Zwecke der psychischen Verarbeitung diverser Erlebnisse hier nieder geschrieben habe. Ich weiß nicht genau, was Sie dazu bewogen hat, sich ein Buch mit dem Untertitel „Wahre Geschichten vom anderen Ende der Servicewüste“ zu beschaffen und nun damit zu beginnen, es zu lesen. Letztendlich aber weiß ich auch nicht, was mich dazu bewogen hat, es zu schreiben. Vielleicht möchte ich Ihnen einen Einblick in das geben, was tagtäglich in der wunderbaren Welt der Waren auf wundersame Weise Wirklichkeit wird – an alle Deutsch-Abiturienten: Das war bereits das zweite Stilmittel dieses Absatzes – vielleicht will ich Ihnen aber auch nur einmal den Spiegel vorhalten.

Denn es sind Menschen wie Sie und ich, die tagtäglich als potentiell zahlende Klientel einen Markt wie den betreten, in dem ich tagtäglich zur Arbeit erscheine. Und, ganz unter uns Betschwestern, ohne Sie, den gemeinen Kunden an sich, gäbe es eine Vielzahl der hoffentlich unterhaltsamen Kapitel und Episoden in diesem Buch vermutlich gar nicht. „Gemein“ meine ich dabei natürlich nicht im Sinne von „hinterlistig“, wenngleich es in vielerlei Situationen durchaus nahe liegt.

Nicht aber nur der gemeine Kunde neigt hin und wieder zu bewussten oder unbewussten Gemeinheiten, wenn er sich auf dem Einzelhandels-Parkett bewegt, auch der Verkäufer, Einzelhändler oder Fachberater, wie er heutzutage gerne etwas euphemistisch bezeichnet wird, sympathisiert gerne mit kleinen und großen Ausbruchsversuchen aus der Lethargie der Arbeit. Ausbruchsversuche, die den Berufsalltag dann doch nicht so ganz alltäglich machen, wie er vielleicht zu sein scheint. Das Berufsleben eines gelernten Kaufmannes oder Verkäufers kann tatsächlich sehr erheiternd sein, wie Sie, so hoffe ich, auf den folgenden Seiten erkennen werden. Und dazu haben Sie alle auf irgendeine Art und Weise in der Vergangenheit schon beigetragen, das versichere ich Ihnen. Aber es ist lange nicht alles so unterhaltsam, wie es vielleicht scheint. Sie werden die Zwischentöne und Nuancen sicher bemerken und wenn am Ende des Buches die Uhr 12.09 Uhr zeigt, dann können Sie sich dessen bewusst sein, dass "5 vor 12" schon rum ist. Ein bisschen Moral darf da schon dabei sein, wenn Sie sich schon auf Kosten meiner wund getippten Finger hier amüsieren wollen. Lehnen Sie sich nun also zurück und genießen Sie den Ausflug in die unendlichen Weiten zwischen Wahnsinn und Werbekostenzuschuss.

Wo bin ich und wenn ja, wie spät ist es?

Ich stand gedankenverloren mitten in diesem unglaublich großen Raum. Rund 1.800 Quadratmeter groß, so sagte man es mir jedenfalls, als ich zum ersten Mal hier stand. Mein Wohnzimmer war dagegen ein Witz. Ich schaute mich um. Grob ein Dutzend weiß gestrichene Stahlbetonsäulen waren im Wortsinne die Grundpfeiler dieses architektonischen Durchschnittswerks. Unter der Decke hingen unzählige Halogen-Leuchtstoffröhren, diagonal, also in einem 45-Grad-Winkel zu den Seitenwänden angeordnet, um dem Raum optisch etwas mehr Dynamik zu verleihen.

Dynamik. Ha!

Um mich herum stand, nach einem grob erkennbaren System angeordnet, eine Vielzahl von Blechregalen, zusammengesteckt und aneinandergereiht in bis zu zehn Meter lange Monstren. Keines dieser Regale war höher als ein Meter fünfzig. Sie sollten den Blick nicht verbauen, den Weitblick.

Weitblick. Ha! Okay, zweimal auf einer Seite funktioniert das Stilmittel scheinbar nicht.

Zwischendrin in den langen Regalreihen - mal hier und mal da - Lücken, um hindurchzugehen, den Gang zu wechseln. Ganz ohne Kupplung. Der abgetretene Teppichboden unter meinen Füßen hatte den Charme von braunem, abgenutztem Bastelfilz.

In den Regalen standen allerlei bunte Verpackungen mit kryptisch klingenden Namen und Begriffen darauf. Begriffe, die augenscheinlich willkürlich aus zufälligen Buchstabenfolgen zusammengesetzt wurden. Worte wie nVidia, Bluetooth, IEEE1394, Cat5e, RS-232, PCI Express oder USB-Dongle. Über die Lautsprecher, die oben an den Stahlbetonsäulen hingen, lief in dezenter Lautstärke zufällig ausgewählte Popmusik, die eine angenehme Atmosphäre schaffen sollte. Angenehm also… das würde erklären, warum ich dort nie „Je ne parle pas français“ hörte.

Ein großes, metallenes Rolltor trennte das Innere dieses Raumes, den man wohl fast als Halle bezeichnen müsste, von der Außenwelt ab. Während ich mich umschaute, fuhr das Rolltor mit einem mechanischen Geräusch nach oben und eine kleine Anzahl an Menschen kam in die Halle gelaufen. Es waren alle möglichen Arten von Menschen. Eltern mit Kindern, Senioren, Geschäftsleute, Jugendliche… manche von Ihnen liefen zügig in eine bestimmte Richtung, andere spazierten gemütlich und in ruhigem Tempo durch die Regalreihen.

Ein Mann Anfang 60 kam eilig auf mich zugelaufen und fragte mich:

„Moing! Errberrn Sie do?“

Um Ihnen die fränkische Lautschrift zu vereinfachen, übersetze ich Ihnen das kurz.

„Guten Morgen! Verrichten Sie hier in diesem Etablissement Ihre tägliche Arbeit?“

Ich blickte irritiert an mir herab. Die ausgetretenen Schuhe und die blaue Jeans gehörten definitiv mir. Das fragwürdig gefärbte Hemd aber habe ich auf keinen Fall freiwillig angezogen. Es war also mehr als offensichtlich, dass ich hier arbeitete. Spätestens das Schild mit meinem Namen und dem Logo des Unternehmens hätte diese Frage eigentlich überflüssig machen müssen.

Ich erinnerte mich zurück an meine Kindheit. An Weihnachten im Jahr 1988. Ich war gerade fünf Jahre alt und ich weiß noch sehr genau, was ich mir vom Christkind damals gewünscht hatte: eine Spielzeug-Supermarktkasse. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich so ein Teil haben wollte, aber es schien mich beim Einkaufen mit meiner Mutter immer unglaublich beeindruckt zu haben, wenn die Mitarbeiter an den Kassen auf diesen mysteriösen Tasten herum tippten und im LCD-Display lustige Zahlen erschienen. Das Christkind meinte es damals gut mit mir. Ich bekam nicht nur eine funktionierende Spielzeug-Kasse mit Spielgeld und - wenn ich mich recht entsinne - sogar einem echten Bondrucker für Kassenzettel. Nein, außerdem bekam ich noch ein aus Holz gefertigtes Kaufladen-Regal mit vielen kleinen Leerverpackungen realer Supermarkt-Artikel, wie Sie sie heute noch in jedem Spielzeug-Geschäft kaufen können. Kurzum: Ich war im siebten Gemischtwarenladen-Himmel und der Heilige Abend gipfelte darin, dass ich meinem Papa ganz stolz eine Packung Speisesalz und einen merkwürdig kleinen Karton Waschmittel verkaufte und den völlig utopischen Preis von zwei Mark fünfzig stolz in meine Plastikkasse eintippte. Bis heute glaube ich, dass mich das zumindest unterbewusst hinsichtlich meiner Berufswahl ein bisschen geprägt hatte.

Ich hätte gerne noch länger an meine unbeschwerte Kindheit zurück gedacht, doch der vor mir stehende Mann unterbrach meine nostalgischen Gedanken.

„Bassn’s auf, Sie Schloofkabbn“ - zu Deutsch: „Aufgemerkt, Sie ausgeschlafener Fuchs Sie!“ - „ich breichad a neie Maus“

Ich setzte mein freundlichstes Grinsen auf.

„Na guten Morgen, junger Mann. Was brauchen Sie? Eine neue Maus? Aber gerne. Was für eine soll’s denn sein?“

„Aana die funktioniert wär‘ guud!“, antwortete der Mann schnippisch.

„Gut, dass Sie mir DAS jetzt noch gesagt haben, ich hätte Ihnen ansonsten womöglich eine defekte Maus verkauft!“, antwortete ich hörbar genervt, während ich mein Grinsen professionell beibehielt.

Spätestens jetzt haben Sie es erkannt. Also, wirklich spätestens jetzt. Wenn Sie das Buch noch nicht kannten, den Klappentext nicht gelesen haben, den Prolog übersprungen und das Buch völlig blind gekauft haben, selbst dann haben Sie spätestens jetzt erkannt: Ich bin ein so genannter „Fachberater“. Diese Bezeichnung ist eine Art Euphemismus, ähnlich wie „Facility Manager“ für den Job des Hausmeisters. Es gibt nämlich keinen Ausbildungsberuf „Fachberater“. Nein, ich bin tatsächlich ein gelernter Einzelhandelskaufmann und bin als eben solcher mitten in einem Elektro-Fachmarkt gelandet. In Franken.

Aber wie ist es so weit gekommen? Was ging auf dem Weg hierhin schief? Und warum glaube ich, dass Sie das alles witzig finden könnten? Die meisten dieser Fragen möchte ich Ihnen in den folgenden Kapiteln sehr gerne beantworten.

Klugscheißer-Wissen:IEEE1394 bezeichnet den Standard, der landläufig als „Firewire“ bekannt ist. Benutzt nur fast niemand mehr. Genauso übrigens wie RS-232, besser bekannt als „serieller Anschluss“.

Die Ausbildung – Fürs Leben verdorben

Beginnen wir mit zunächst einer Definition: Landläufig wird der Beruf des Verkäufers gerne mit dem des Kaufmanns im Einzelhandel, so die offizielle Bezeichnung, gleichgesetzt. Grundsätzlich ist das auch nicht völlig falsch, beginnen doch beide ihre Ausbildung in ein und derselben Berufsschulklasse. Der Unterschied kommt am Ende des zweiten Berufsschuljahres. Während die Verkäufer ihre Schullaufbahn nun endgültig ad acta legen und nach der erfolgreichen Abschlussprüfung in den Beruf starten, lernen die Kaufleute im dritten schulischen Lehrjahr noch etwas mehr Buchführung, Bestellwesen und Lagerkennziffern – sie bekommen also auf gut Deutsch etwas mehr Theorie ins Hirnkastl gepresst. Mehr Theorie bedeutet also mehr Kompetenz? Guter Gott, nein. Die Leistung und das Knowhow eines Verkäufers möchte ich an dieser Stelle in keiner Weise schmälern, überschneiden sich seine theoretischen Kenntnisse doch immerhin zu zwei Dritteln mit denen eines Kaufmannes. Nur die Werdegänge beider Berufe sind vielleicht etwas anders.

Nehmen wir den Verkäufer: Er beginnt seine berufliche Laufbahn nach der Ausbildung gerne in einem Lebensmittelmarkt, einer Bäckerei oder einer Tankstelle. Hören Sie auf zu buhen, das sind keine böswilligen Klischees, das sind Tatsachen aus meiner einstigen Berufsschulklasse. Der gelernte Kaufmann und natürlich auch die gelernte Kauffrau hingegen – und der Kaufdiverse natürlich, um aktuell zu bleiben - finden Sie nach der Ausbildung eher in deutlich beratungsintensiveren Geschäften wieder. In einem Autohaus beispielsweise, in einem Fachgeschäft für Instrumente und Musikzubehör oder in einer gehobenen Parfümerie. Das heißt nicht, dass der Verkäufer nicht die Fähigkeiten besitzt, ein umfassendes Verkaufsgespräch zu führen. Das heißt nur, dass es von einem Verkäufer in der Regel nicht erwartet wird und es auch nicht zu seinen regelmäßigen Aufgaben gehört, seine Kunden über eine bestimmte Ware besonders umfangreich zu beraten. Warum auch? Dass an Säule 2 Super bleifrei getankt wird und die Joghurts im mittleren Kühlregal stehen, sehen Sie doch auch so.

Das war nicht so abfällig gemeint, wie es vielleicht klang. Ich bin weiß Gott kein Akademiker oder halte mich für was Besseres, nur weil ich Einzelhändler gelernt habe. Ich bin mit einer Ärztin liiert, daher habe auch ich eine gesunde Überdosis Minderwertigkeitskomplexe. Ich weiß lediglich ein wenig mehr über handschriftliche Buchführung - die heutzutage ohnehin kein Mensch mehr braucht -, mir wurden ein paar komplexere Lerninhalte im Umgang mit dem Kunden vermittelt und ich habe einen Wandertag, Entschuldigung, einen Verfügungstag mehr an der Berufsschule mitgemacht, als die Verkäufer. Das war es dann aber auch. Alles andere lernt man in der Praxis oder man bringt es von Haus aus bereits mit. Denn die Berufsschule sensibilisiert die Azubis lediglich für den Beruf des Kaufmannes im Einzelhandel, aber sie formt sie nicht von Grund auf. Ein gewisses Grundverständnis, eine angeborene Freundlichkeit und eine Freude am Reden, am Umgang mit anderen Menschen, sollten von Vornherein gegeben sein, ansonsten ist man in diesem Beruf schlicht und einfach falsch. Eine Prise schwarzer Humor und Sarkasmus kann dabei für zusätzliche Erheiterung sorgen, aber das haben auch Sie, lieber Leser, vielleicht schon erkannt.

Ich bin, wie schon erwähnt, exakt so ein Kaufmann im Einzelhandel. Ich habe diesen Beruf in den Jahren 2000 bis 2003 in der Siemens-Stadt Erlangen erlernt und habe eben dort die Staatliche Berufsschule Erlangen, offizielle Abkürzung „BSE“ - kein Witz! - besucht. Bis heute arbeite ich, größtenteils sehr engagiert, in diesem Beruf. Glauben Sie nicht? Na hören Sie mal, so viel verdient man mit seinem ersten Buch auch nicht.

Meine schulische Ausbildung an der BSE wurde nachhaltig durch zwei Lehrkräfte geprägt, zwei alte Hasen, die in ihrem Job schon fast jedes Extrem erlebt hatten und in jeder Situation die richtige Reaktion parat hatten. Die eine Lehrkraft war zwei Jahre lang meine Klassenlehrerin und hatte den blumigen, französischen Namen Babette Gerard. Frau Gerard war eine unscheinbare, hagere, kleine und dünne Gestalt Anfang 50 mit einem Pagenschnitt in der Tradition von Mireille Mathieu. Ich hatte meine Zweifel, ob sich dieses winzige Persönchen gegen die Egos von zwanzig angehenden Berufsschülern zwischen 15 und 22 Jahren durchsetzen könnte. Die Zweifel waren unbegründet. Frau Gerard konnte sehr wohl auf den Tisch hauen, wenn es nötig war. Das war es allerdings nicht sehr oft, denn sie zeigte schnell, dass sie an die Intelligenz und den Lernwillen eines jeden einzelnen, noch so rüpelhaften Schülers glaubte. Damit konnte sie in kürzester Zeit eine sehr herzliche und vertrauensvolle Bindung zwischen sich und den Schülern erzeugen. Sie war zweifellos der Good Cop, der gute Bulle dieses Lehrergespanns.

Der andere Lehrer, im Prinzip der Bad Cop, auch wenn das nie wirklich zutraf, war Oskar "Ossi" Koll. Während "Ossi" in den meisten Gegenden Deutschlands eine abfällige Bezeichnung für ostdeutsche Mitbürger ist, ist "Ossi" gerade in Franken die gern und vor Allem respektvoll genutzte Kurzform für Oskar oder Oswald. Ossi Koll war in vielen Dingen das krasse Gegenteil zu Frau Gerard. Er war knapp über zwei Meter groß, durchaus im Ansatz muskulös gebaut, hatte grau meliertes, volles Haar und - sein wohl markantestes Markenzeichen - kam stets in einem weißen Feinripp-Shirt und einer Zimmermannshose mit passender, ärmelloser Weste zum Unterricht. Herr Koll war ein Hüne, der mit einer unfassbaren Schrittlänge im Stechschritt durch die Gänge lief, und damit im geselligen Treiben der Erlanger Berufsschule zu jeder Zeit auffiel, wie ein bunter Hund. Wie Frau Gerard hatte auch Herr Koll ein gewisses Durchsetzungsvermögen, was aber aufgrund seiner tiefen, fränkischen Stimme und seines Körperbaus wenig verwunderte. Als er am ersten Schultag das Klassenzimmer betrat, hatte er bereits den Respekt jedes einzelnen Schülers, ohne dass er auch nur ein Wort gesagt hatte. Dabei war Herr Koll nicht annähernd so furchteinflößend, wie er auftrat. Im Gegenteil, er war im Umgang mit den Schülern sehr locker, wenn auch direkt. Als einer meiner Mitschüler eines Tages partout das Plappern nicht einstellen wollte, sagte Herr Koll sehr direkt

"Hast du ein Glück, dass ich dei Lehrer bin, da darf ich dich nämlich net Arschloch nennen. Nein… nein, dich nenn' ich net Arschloch. Dich net."

Subtil, oder? Ich mochte Herrn Koll, wie die meisten von uns. Er war ein wahrer Kumpeltyp und er gab uns in diesen Jahren der schulischen Ausbildung auch zahlreiche praktische Tipps mit auf den Weg. Warum erwähne ich diese beiden Lehrer so nachdrücklich? Weil sie wunderbar ehrlich waren und weil sie an uns und im Speziellen auch an mich glaubten. Jahre nach meiner Berufsausbildung, als ich mich entschloss, das Fachabitur an der Berufsoberschule in Angriff zu nehmen, sagten alle, ich könne das nicht schaffen. Die IHK sagte im Beratungsgespräch "Ach, das schaffen Sie doch nie!", die Arbeitsagentur meinte "Das ist viel zu schwer für Sie!" und selbst meine Eltern hatten ihre Bedenken. Es gab nur zwei Personen - neben meiner Freundin -, die der festen Überzeugung waren, ich hätte das Zeug dazu, das zu packen. Und das waren Herr Koll und Frau Gerard. Sie waren letztendlich der Auslöser, dass ich diesen Schritt wagte und dafür werde ich den beiden ewig dankbar sein.

Die schulische Ausbildung war allerdings nur die eine Hälfte, die andere Hälfte der Ausbildung fand im Betrieb statt. Mein Ausbildungsbetrieb war ein kleines, meine Freundin würde sagen „muckeliges“ Computerfachgeschäft - im Wesentlichen ein Vier-Mann-Betrieb. Ein winziger Fachhändler ohne Anschluss an eine große Kette oder eine Einkaufsgemeinschaft. Hätte man als sportlich begabter Mensch etwas Anlauf genommen, wäre man mit einem Satz vom Verkaufsraum, am Lager vorbei, durch das Büro in die Werkstatt gesprungen. Na gut, mit einem Dreisprung vielleicht. Der Vorteil an dieser geringen Größe: Es war ein sehr persönlicher, kleiner Laden. Man kam als Kunde rein und kannte die Mitarbeiter, man wusste, was man kriegt und konnte sich auch mal dreißig Minuten ausführlich und meist auch halbwegs kompetent beraten lassen, ohne dass sich dahinter eine Schlange ungeduldiger und nörgelnder Folgekunden gebildet hätte.

Ja, dieser Laden hatte Charme und zweifellos einen ganz eigenen Charakter. Das fing schon bei meinem damaligen Chef und Ausbilder an. Eigentlich hieß er Joseph und wir waren mit ihm vom ersten Tag an per du. Joseph wollte aber nicht Joseph genannt werden, sondern bestand auf eine amerikanisierte Abwandlung seines Namens, weswegen er sich mir gleich am ersten Tag vorstellte mit den Worten "Hallo, ich bin der Joe!". Warum man ihn so nannte, ich gestehe, ich weiß es bis heute nicht. Aber egal ob es seine Lebensgefährtin, Verwandte oder Freunde waren, es wurde immer gefragt, ob der Joe grad da sei.