Der Warenkörper - Oliver Decker - E-Book

Der Warenkörper E-Book

Oliver Decker

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Beschreibung

Die Ökonomisierung erfasst den menschlichen Körper, er wird zur Ware. Am deutlichsten ist das in der modernen Medizin. Sie braucht den Körper als Ressource, ob in der Stammzellforschung oder der Organtransplantation. So wird der menschliche Körper und werden seine Teile zum Handelsgut. Das war der Körper im historischen Umbruch zur Moderne schon einmal: Der ganz Europa erfassende Reliquienhandel machte menschliche Körperteile zum begehrtesten Handelsgut – und zum Heilsgut. Mit dieser Vorgeschichte wird auf einen Schlag sichtbar, dass der Griff nach dem menschlichen Körper keine ökonomische Landnahme ist: Waren-Gesellschaft und moderne Medizin verbindet mehr, als sie an ihrer Oberfläche zu erkennen geben. Der für die Psychoanalyse Freuds und für die Theorie Marx’ so zentrale Begriff des Fetischismus wirft ein Licht auf den »theologischen Glutkern« (Adorno) von kapitalistischem Markt und moderner Medizin. Die »untergründige Geschichte des Körpers« (Horkheimer/Adorno) ist an zentraler Position in einer Dialektik der Aufklärung.

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www.zuklampen.de

Informationen zum Buch

Markt und Medizin sind enger miteinander verbunden, als es einer auf Rationalität gehenden Gesellschaft lieb sein kann. Sie verbindet das sakrale Opfer. Und genauso wie das Opfer wiederholen Markt und Medizin mit ihren Versöhnungsversuchen, wovor sie schützen wollen.

Informationen zum Autor

Oliver Decker, Jahrgang 1968, studierte Psychologie, Soziologie und Philosophie, war als Diplom-Psychologe wissenschaftlicher Angestellter an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, wurde in Philosophie an der Universität Kassel promoviert und habilitierte sich 2010 an der Leibniz Universität Hannover in Sozialpsychologie. Zur Zeit ist er Vertretungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Siegen. Unter seiner Leitung entstanden die wegweisenden Studien zum Rechtsextremismus der »Mitte«.

Oliver Decker

Der Warenkörper

Zur Sozialpsychologie der Medizin

zuKlampen!

Impressum

©2011 zu Klampen Verlag • Springewww.zuklampen.de • [email protected]: Groothuis, Lohfert, Consorten • HamburgKonvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN 978-3-86674-124-9

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhaltsübersicht

Vorwort

Kapitel I: Zur Sozialpsychologie der Medizin

Kommodifikation – Der menschliche Körper als Rohstoff und Handelsware

Das Zeitalter der Organtransplantation

Knappe Ressourcen

Das Geschenk des Lebens

Psychische Reaktion auf eine soziale Praxis

Mangel und Ersatz

Vom Geben und Nehmen

Das Gesetz des Marktes

Für und Wider einer Marktlösung

Praxis des Organhandels

Sozialpsychologie und Medizin

»Sociology in Medicine« oder »Sociology of Medicine«

Die »Wurzelgründe« der modernen Medizin

Kapitel II: Beinverpflanzungswunder und Reliquienverehrung

Die Heiligen Cosmas und Damian – Ihre Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte

Vom göttlichen Zwilling zum heiligen Bruderpaar

Die wundersame Beinverpflanzung

Vom Wunder zum Mitwirkungswunder

Verehrte Körper

Gehandelte Körper

Ausnahmemensch und Fremdkörper

Erwähltheit und Akkumulation

Eucharistiefeier und der Leib des Herrn

Gnadenversicherung und Erwähltheit

Der »Glutkern«

Kapitel III: Fetischismus – Heilsgut, Ware, Körper

Fremde Körper – Gegen Unvernunft, Mohren und Katholiken

Boßmanns Reise nach Guinea

De Brosses’ Abhandlung über die Religion Nigritiens

Göttliche Körper – Entfremdung und Idolatrie

Facticius – Handelsware und bearbeitete Natur

Fetischismus – Fremdes und verdrängtes Eigenes

Fetischdienste und Reliquiare

Handelskörper – Entfremdung und Fetischismus

Der Warenfetisch

Die Substanz der Ware – corpus facticium: Vergötzung des Körpers und Bearbeitung der Natur

Schatzbildung und Priesterbetrug

Traum und Rausch

Mangelhafte Körper – Entfremdung und Perversion

Narzisstische Plombe

Illusion

Opfer und Körper, Tausch und Versöhnung

Kapitel IV: Der Warenkörper

Anmerkungen

Literatur

Dank

|5|In Erinnerung an

Dr. med. Hans-Joachim Koraus

|9|O father Abram, what these Christians are […]

So do I answer you:

The pound of flesh which I demand of him

Is dearly bought; ’tis mine, and I will have it. Shylock

William Shakespeare, The Merchant of Venice

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, mit der Evidenz einer Erzählung etwas zu zeigen: die Verwurzelung der modernen Medizin und der auf Tausch und Warenproduktion basierenden Gesellschaft in ein und demselben Grund. Eine Verwurzelung, die dazu führt, dass mit dem Ergebnis beider Bemühen unterlaufen wird, was sie anstreben. Und das liegt am Wurzelgrund selbst: im sakralen Opfer. Nicht nur der Anforderung an eine wissenschaftliche Arbeit ist es geschuldet, wenn es trotzdem Wechsel in die Metatheorie gibt, mit der das erklärt wird, was eben noch erschlossen wurde. Mit dem Versuch eines erzählenden Anschmiegens an den Gegenstand verbindet sich seine Interpretation.

Die Arbeit ist als historische Rekonstruktion angelegt. Im Zentrum steht aber weniger die ideengeschichtliche Erfassung, als die Gegenwart der solcherart beschriebenen Vergangenheit. Dabei werden Widersprüche oder Bruchlinien in den zu Rate gezogenen Texten als eine aus der Sache selbst kommende Bewegung aufgefasst. Als Maßstab für die Interpretation gilt, ob es gelingt, eine spezifische Logik in der Praxis der modernen Medizin nachzuzeichnen.

Im ersten Kapitel wird die Ökonomisierung der Gesundheit und des Gesundheitssystems mit ihrem Bezug zum menschlichen Körper beschrieben. Der menschliche Körper nimmt in diesem Prozess eine doppelte Position ein, er ist Rohstoff und Handelsgut. Die Ökonomisierung der Gesundheit gerät dadurch als »Kommodifizierung |10|des menschlichen Körpers« in den Blick. In der Transplantationsmedizin kann am Beispiel des Organhandels diese Kommodifizierung und die damit verbundene Kontroverse pars pro toto für die moderne Medizin untersucht und zum Anlass genommen werden, die »Wurzelgründe der Medizin« (Tönnesmann) zu analysieren. Dieses Vorgehen ist nicht ohne Beispiel. Die Versuche, Soziologie und Medizin entweder als »Sociology of Medicine« oder als »Sociology in Medicine« zu verbinden, werden dargestellt und dienen der Entwicklung eines eigenen, um die Psychoanalyse ergänzten Zugangs. Die moderne Medizin wird als gesellschaftliche Praxis zum genuinen Untersuchungsgegenstand einer Sozialpsychologie der Medizin. Wenn dann mit Talcott Parsons’ Analyse die Wurzelgründe der modernen Medizin in der Religion ausgemacht werden, dann zeigt sich die in der Kontroverse um eine Kommodifizierung des Körpers präsente Gegenüberstellung von religiösen und ökonomischen Motiven medizinischen Handelns als irreführend.

Im zweiten Kapitel kommt die Transplantationsmedizin selbst zur Sprache. Sie gibt mit einem häufigen Verweis auf das Heilige Brüderpaar Cosmas und Damian selbst Auskunft über ihre Wurzelgründe. In der Legenda Aurea, der mittelalterlichen Sammlung von Wundern und Martyrien, wird dem Brüderpaar die erste wundersame Beinverpflanzung zugeschrieben. Mit dem Verweis auf diese Beinverpflanzung wird von der gegenwärtigen Medizin die zeitliche Tiefe des Wunsches zu transplantieren illustriert. In den Zeugenstand ruft man Cosmas und Damian tatsächlich zu Recht, allerdings zeigt sich erst bei der Rekonstruktion alle Hypothek ihrer Bedeutung. Sie standen an der Wiege der modernen Medizin, weil sie bereits im Mittelalter hoch verehrte Heilige waren. Ihr Verbreitungsgrad ist heute kaum mehr vorstellbar, ihre Reliquien wurden europaweit verehrt. Diese Reliquien waren als menschliche Körperteile nicht nur Heilsgut, sondern das wertvollste Handelsgut, welches im ausgehenden Mittelalter im Umlauf war. Diese doppelte Erscheinung des menschlichen Körpers als Heils- und Handelsgut liefert den Kontext, in dem das Verpflanzungswunder |11|in der Bildsprache des Mittelalters zu verstehen ist. Das Wunder wird damit gleichzeitig zu einem Scharnier oder mit den Worten Walter Benjamins zu einem Kristall, in dem Vergangenheit und Zukunft für einen Augenblick zusammentreten. Entlang der bildlichen Darstellung des Verpflanzungswunders wird die Entwicklung vom Wunder zum Mitwirkungswunder und dann zur ärztlichen Handlung skizziert. Damit zeigt sich die moderne Medizin in einer Tradition des christlichen Heilsversprechens als eine Erneuerung der »Wegzehrung auf dem langen Marsch« (Türcke) nachdem der Gläubige »von der Hand im Mund« (Weber) nicht mehr leben konnte.

Diese Reliquienverehrung hat aber einen weiteren historischen Rahmen, der im dritten Kapitel aufgespannt und untersucht wird. Die Regelung des Verhältnisses zum menschlichen Körper ist nicht erst seit dem Christentum eine zentrale Aufgabe der Religion. Dabei ist die Reliquie mit einem andren Begriff aufs engste verbunden: dem des Fetischismus. Er ist der Schlüsselbegriff zum Verständnis des Verhältnisses von Ökonomie, Sakralem und menschlichem Körper in der europäischen Kulturgeschichte. Mit ihm wird die »Untergründige Geschichte des Körpers in Europa« (Horkheimer & Adorno) rekonstruierbar. Dieser historisch-anthropologische Zugang zum kommodifizierten Körper als Heils- und Handelsgut führt über die Rekonstruktion des Fetisch-Begriffs. Vom römischen Autor Plinius und dem Kirchenvater Tertullian führen seine Spuren in die Kolonien, um dort die verfemte Praxis der »Wilden« zu beschreiben und schlussendlich nach Europa zurück. Der außereuropäische Fetisch diente als Projektionsfläche für verdrängtes Eigenes in der europäischen Aufklärung. Die Rückkehr nach Europa mit der ökonomischen Theorie von Karl Marx und der Theorie des Psychischen von Sigmund Freud macht den Fetisch zu einer Schlüsselkategorie der modernen Gesellschaft. In diesen Theorien wird nicht nur die enge Verbindung von Ware, Körper und Sakralem sichtbar und die Transformation des Opfers in die moderne Medizin nachvollziehbar. Sondern es wird auch die Wirkung der medizinischen Intervention als gesellschaftliche |12|Handlung verständlich. Diese Selbsterhaltung auf Kosten des Selbst lässt sich als Dialektik aus Versöhnungswunsch und Beschädigung des Individuums beschreiben.

Im vierten und letzten Kapitel wird das solcherart gewonnene Verständnis der fetischisierenden Praxis auf den menschlichen Warenkörper zurückgeführt. Am Beispiel der Transplantationsmedizin wird der »Glutkern« der modernen Medizin sichtbar, die die sakrale Opferpraxis am menschlichen Körper wiederholt. Sie ist der Versuch der Versöhnung, der doch im Moment der Verleugnung des körperlichen Mangels unterlaufen wird.

|13|Kapitel I: Zur Sozialpsychologie der Medizin

Seit mehr als 20 Jahren ist die öffentliche und wissenschaftliche Debatte von einer Kontroverse um die Finanzierung des Sozialsystems geprägt. Was für die Altersvorsorge und die Unterstützung im Falle der Erwerbslosigkeit gilt, kann erst recht für das Gesundheitssystem beobachtet werden. Es gerät zunehmend mehr unter Druck. Hier wie dort werden zunächst ökonomische Gründe ins Feld geführt, denn das gesamte Sozialsystem basiert einerseits auf einer prosperierenden Wirtschaft, andererseits auf der Lohnquote, also auf den in das Gesundheitssystem abgeführten Lohnnebenkosten.1 Sinkt die Zahl der sozialversichert Beschäftigten, sinkt die Nettoeinzahlung in das Solidarsystem (Kaufmann 1997; Amelang, Glied & Topan 2001).

Daher werden selbst bei gleich bleibender und erst recht bei steigender Belastung für das Solidarsystem Strukturveränderungen auch in der Finanzierung der Gesundheitsversorgung als unvermeidlich angesehen. Dabei ist diese Debatte nicht neu. Mit dem Verweis auf eine steigende Belastung der Erwerbstätigen hat früh eine Kontroverse um die Legitimität des Sicherungssystems begonnen (Moran 1988) und sie hält bis heute mit ähnlichen Argumenten an. Für die Kontroverse sorgte von Anfang eine Gegenposition, die mit der Gesundheitsversorgung wie überhaupt mit dem Solidarsystem die Voraussetzung einer demokratisch verfassten Gesellschaft bedroht sah und mit einer Kritik des Marktes und der auf ihm basierenden Gesellschaft reagierte (Habermas 1973, 106 ff; Mishra 1984).

Bis heute stellt sich die Frage, wodurch das Gesundheitssystem unter Druck geraten ist. Ist es die primär immer wieder angeführte |14|Kostendeckungslücke oder gibt es noch andere Motive? Die Rahmendaten des Gesundheitswesens zeigen einen Anstieg der Gesundheitsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt von 10,1 % im Jahr 1995 auf 10,6 % im Jahr 2006 (Preusker 2008, 433), weisen damit aber keine so deutliche Steigerungsrate aus, wie die anschwellende politische Auseinandersetzung um die Kosten im Gesundheitswesen es hätten vermuten lassen. Dabei bestimmt die Diskussionen um eine Reform des Gesundheitssystems im selben Zeitraum und damit seit mehreren Legislaturperioden die Politik mit.

Die angestrebten Veränderungen betreffen allerdings eine gesellschaftspolitische Institution, deren Bedeutung für den Einzelnen über die finanzielle Belastung hinausgeht. In einem weit höheren Maße als es im ersten Moment sichtbar wird, ist sowohl das Selbstverständnis der Gesellschaft, wie auch das Verhältnis vom Allgemeinen zum Besonderen, das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Mitgliedern betroffen.

Das Gesundheitssystem in Deutschland ist seit mehr als 120 Jahren, seit den Bismarckschen Sozialistengesetzen, durch ein fast die gesamte Bevölkerung einbeziehendes Versicherungssystem auf gesetzlicher Basis charakterisiert. Zugleich wird die Ausgestaltung der Versorgungsleistungen in die Selbstorganisation von Krankenkassen und Ärzteschaft gegeben. Rosenbrock differenziert drei international verbreitete Grundkonzepte der Krankenversicherung und -versorgung, die sich vor allem in der Art der versicherten Risiken, der Einbeziehung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und der Form der Leistungsgewährung unterscheiden (Rosenbrock 2003): Wirtschaftsliberales Modell (USA, Neuseeland, Australien), Sozialstaatliches Modell (skandinavische Länder), Korporatistisches Modell (Frankreich, Österreich). Auch für Deutschland sieht er bisher eine »korporatistische« Variante der Organisation des Gesundheitssystems gegeben. Neue Dynamik in die alte Diskussion um die Finanzierung des Gesundheitswesens ist gerade durch diese unterschiedlichen Modelle gekommen, denn |15|im Zuge des so genannten Lissabon-Prozesses in der Europäischen Union sind nun seit dem Jahr 2000 die Weichen für ein gemeinsames Gesundheitssystem in der EU gestellt worden. Politisches Ziel ist es, die Gesundheitssysteme anzugleichen – und zwar unter gleichzeitiger Vereinheitlichung des Vorzeichens. Denn mit dieser Europäisierung ist auch eine Ökonomisierung des Gesundheitssystems verbunden (Gerlinger & Urban 2006). »Vielfach sind die Anstrengungen der Brüsseler Kommission mit harmlos klingenden Bezeichnungen überschrieben. In der ›Sozialpolitischen Agenda‹ im Rahmen der so genannten ›Lissabon-Strategie‹, mit der die EU die USA als dynamischen Wirtschaftsraum überholen will, bekannten sich die EU-Regierungschefs im Jahr 2000 mit Formulierungshilfe Brüssels zu einer ›Modernisierung des Sozialstaates‹, wobei das Gesundheitssystem ausdrücklich einbezogen wurde.« (Klusen 2006, 19)

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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