Der Wasserbaumeister - Magdalena Wede - E-Book

Der Wasserbaumeister E-Book

Magdalena Wede

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Beschreibung

Ein Märchen, eine Parabel, ein Abenteuerroman: Die Geschichte des arabischen Wasserbaumeisters Sayid erzählt von Aufstieg und Niedergang einer sagenhaft reichen Stadt und von der kostbarsten aller Ressourcen: dem Wasser. Sultan Ahmed, der Thronräuber Hussein, der Baumeister Nadim und Nasrin die Lautenspielerin durchleben mit dem Auf und Ab ihrer Schicksale dieses Werden und Vergehen, während Sayid einen anderen Weg beschreitet. Er ist von der Wandlungsfähigkeit des Wassers so fasziniert, dass er sich schließlich auf die Suche nach seiner wahren Gestalt macht, nach seinem Woher und Wohin, und nach dem, was von allem bleibt ...

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Inhalt

Vom Ende

Vom Schönen und Nützlichen

Vom Lautenspiel

Vom Duft der Rose

Vom Träumen

Vom Ehrgeiz

Von der Hilfe

Vom Abschiednehmen

Von den Früchten der Voreiligkeit

Von den Tauben

Von der Großzügigkeit

Vom Krieg der Vögel

Vom Hunger

Vom Wetten

Vom Atem der Zeit

Von der Wiederkehr

Die Qasida des Wasserbaumeisters

Die Sprache des Sandes

Die Stadt der Steine

Das Meer der Tränen

Der Durst des Pilgers

Die Hüterin der Quelle

Die Stadt der Bäume

Von der Wasserbaukunst

Vom Anfang

Anmerkung

Erläuterungen

Ein kleiner Ring

Begrenzt unser Leben,

Und viele Geschlechter

Reihen sich dauernd

An ihres Daseins

Unendliche Kette.

Goethe

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.

Dort treffen wir uns.

Rumi

Vom Ende

Es gibt keinen Beginn,

ohne dass er ein Ende hat.

Arabisches Sprichwort

Nicht endenwollend erstrecken sich die heißen und trockenen Weiten der Wüste. Ihre gewaltigen Dünenkämme wandern vom Nichts ins Nichts, und endlos ist ihr Werden in der gesichtslosen Weite.

Unter dem unbarmherzigen Flimmern der glühenden Luft breiten sich in der Leere da draußen Ansammlungen einsamer Straßen aus, schwarz geteerte, regelmäßige Raster, die mit Sand überweht sind, als habe man vergessen, an ihnen weiterzubauen. Vom Flugzeug aus gleichen sie den Blattgerippen seltsamer Pflanzen, wie von einem fernen Baum in den Himmeln gefallen, von unsichtbarem Getier abgenagt und darauf wartend, absehbar bald von der Wüste wieder verschluckt zu werden.

Zwischen manchen dieser Straßengerippe ragen hier und da auch nackte Betonwände empor, Quader, Würfel, Türme, unendliche Duplikate einer einzelnen, fantasielosen Idee. Sieh sie dir an: Ohne Fenster, ohne Türen, leer und ausdruckslos wie die schattenlose Weite des Himmels, stehen diese Betontürme, als erwarteten sie ihre Vollendung schon selbst nicht mehr. Kein einziges Baugerüst legt Zeugnis ab davon, dass dort etwas im Werden begriffen ist.

Einer wuchernden Flechte gleich beanspruchen Beton und Asphalt Monat um Monat neue, ausgedehnte Areale der gleißend hellen Ebene, verschlingen großflächig den Sand, nur um, wie in einem ständigen Kampf begriffen, doch wieder von ihm verschlungen zu werden. Vergessene Häuser säumen vergessene Straßen, und sie umzingelnd wartet die Wüste, die sich zusammen mit dem Wind kaum Mühe geben muss, die Konturen der Zivilisation rieselnd zu verwehen und schließlich unter sich zu begraben.

Innerhalb dieses Gürtels aus neuzeitlichen Ruinenfeldern stehen, roh und schnell errichtet und ebenso schnell alt und armselig geworden, die Häuser einer modernen Stadt. Im Unterschied zu jenen äußeren Siedlungsflecken, die bereits vergehen, noch bevor sie eigentlich bestehen, sind diese kaum jemals mehr als zweistöckigen Häuser jedoch bewohnt, und sie drängen sich eng und ungeordnet aneinander, als fürchteten sie den Wind. Flachdach schachtelt sich in Flachdach und die Wege dazwischen sind in ihrer Mehrzahl kurz und schmal. Flächig wie ein Zeltlager breitet sich das labyrinthische Häusermeer aus, und auf den betongrauen Dächern schlingen sich Kabelgirlanden ineinander, wellen von Haus zu Haus. Wenn der Blick zum Hügel mit den historischen Überresten einer alten Zitadelle schweift, schiebt sich der eine oder andere gläserne Monolith eines modernen Hochhauses dazwischen.

Nur wo die Straßen im Zentrum krumm und schief und alt werden, als hätten sie sich einst um heute vergangene Hindernisse winden müssen und nur vergessen, sich wieder gerade zu richten, da ragen mancherorts gestaltlose Wälle auf, die schon seit Jahrhunderten dem Verfall trotzen, halb eingestürzte Lehmziegelmauern, unter dem Ansturm der Witterung zerbröselnd, hegen sinnlos gewordene, dachlose Räume ein. Die Straßen dort sind an vielen Stellen staubig und fast menschenleer, und nur selten verirrt sich ein schwitzender Tourist hierher. In den Ecken häuft sich allgegenwärtig der gelbe Sand, von erbarmungslosen Sandstürmen, ohne dass ihnen Einhalt zu gebieten jemand sich in der Lage sähe, herbeigetrieben und achtlos fallengelassen.

Stell dir diese Stadt einmal vor, wie sie früher ausgesehen haben mag ... Ein vielstufiges, vielstöckiges Gebilde aus Häuserwürfeln mit flachen Dächern, von denen keines dem andern gleicht ... Das Würfelkonstrukt scheint, weißgekalkt und lehmbraun, einen Hügel hinaufzuwachsen, bis es die krönende Zinne desselben erreicht ... eine mächtige Zitadelle aus gelblichem Kalkstein. Die Stadt ist ein buntes, organisch entstandenes, geräuschvolles Gebilde, in dessen Gassen ... als seien es Adern ... das Leben mit all seinen sinnlichen Aromen fließt und pocht ... umgeben von grünenden Feldern und einem Palmenhain, wo sich die Blattwedel in einem kosend warmen, abendlichen Windzug dehnen und strecken und wieder zurückschnellen ... und ein freundliches Licht über allem steht ... so klar wie Glas ....

Weit hinter dem verdorrten Gestrüpp von Antennenmasten und müde durchhängenden Stromleitungen weiß ich am Rand der Stadt noch ein paar alte Dattelpalmen. An jener Stelle erstreckt sich entlang eines alten Wadis ein staubbraunes Gebiet der Verödung, wo salzverkrustete Gräben mit Brackwasser garstig aufgerissene Lehmbrachen durchschneiden, die zu trocken sind, als dass auch nur Unkraut darauf wachsen würde. Und die wenigen graugrünen Palmwedel, welche die trostlose Eintönigkeit dieser Flächen unterbrechen, hängen schmal und dürr in der stickigen Luft von den schrundigen Stämmen herab, als seien sie stumme Zeugen eines Verlustes, der sich einst leise heranschlich, bis er unaufhaltsam wurde.

Ich stehe auf dem Balkon meines Hotels und schaue hinaus, nach Westen, über die Betonwüste und das Graugrün der Dattelpalmen. Am Horizont erstreckt sich eine Bergkette. Ich will warten, bis die Sonne untergegangen sein wird und die glühende Luft den Anschein erweckt, leichter atembar zu werden. Der Kühlschrank summt, in der Hitze knackt irgendwo eine Holzleiste. Während die Sonne langsam den Berggipfeln entgegensinkt, kündigt sich der Abend auf ganz eigene Weise an. Jeder spürt es, wie es scheint: Der Verkehr schwillt an, die Geräusche werden lauter, die Gerüche werden stärker. Aus einer Garküche in einer Nebenstraße unter mir erreichen mich Schwaden von Frittierfett und Kreuzkümmel.

Erst am Abend vermag sich das schmerzende Auge zu entspannen, das in der grellen Leere des Tageslichtes keinen Halt mehr fand. Es beobachtet, wie mit dem fortwandernden Licht sich die Konturen der Landschaft aufwölben und beginnen, Schatten zu werfen und sich allmählich in ihrer eigentlichen Gestalt offenbaren. Sanft gewellte Anhöhen, die man in der Landessprache ›Gazellenhügel‹ nennt, ziehen sich von dem Hügel mit der Zitadelle aus in Richtung Westen, den Bergen entgegen, und werfen einander bläuliche und violette Schatten über die kahlen Flanken. Wie der treibende Sand dämpft auch eine versinkende Sonne die Umrisse mancher Formen ins Weiche und Idyllische. Andere wieder klären sich durch sie und werden wahrhaftig: Das Gebirge aus rotem Fels am Horizont wird in Kürze zu stummem Leuchten erwachen, wenn die Sonne es berühren und dahinter verschwinden wird, und die eben noch wabernde Luft wird langsam zur Ruhe kommen. Jene unwirklichen Momente werden folgen, wo der Hitzedunst sich auflösen wird und die Konturen selbst der weit entfernten Umgebung sich klar und deutlich abzeichnen. Die Umrisse der Palmen, die roten Felsenberge im Westen, die Dünenkämme und -hänge da draußen im Osten, am Horizont der Großen Leere – ganz kurz wird sich die Sicht in alle Richtungen ins Unbegrenzte und Geläuterte steigern, bevor die Welt fast übergangslos aus azurner Abendbläue in samtschwarze Dunkelheit versinken wird.

Ich gieße mir ein Glas Eistee ein. Der Kühlschrank ist viel zu kalt eingestellt, ich kühle mir mit dem Glas Wangen und Hals, bevor ich trinke.

Ein leuchtender Sonnenaufgang vermag zu erhellen, was zuvor im Dunkeln ruhte, und vertreibt die noch kühlen Schlagschatten von den Wänden, die am Mittag vor Hitze und Licht glühen und zerspringen werden. Der Untergang des gleißenden Riesengestirns gewährt dann all diesen kaum gepflegten, rohen Betonflächen Erbarmen, indem er die Schatten auf ihnen wiederum anwachsen lässt. Es ist seit Urzeiten dieselbe Sonne, welche am Himmel auf- und wieder absteigt. Und es ist immer dieselbe Stadt, auch wenn sie sich selbst gar nicht mehr gleicht. Wo eigentlich begann das Ende in all dem Kreisen?

In der Gasse, auf die mein Balkon hinausgeht, ertönt ein blechernes Scheppern, das den ferne rauschenden Verkehr übertönt. Im Halbschatten einer schäbigen Mauer, von welcher der Putz in großen Brocken abgebrochen ist, treten zwei Jungen in staubigen, abgetretenen Turnschuhen eine verbeulte Konservendose gegen die Wand. Sie wechseln sich dabei ab, mit einer so konzentrierten Hingabe, als ob sie alles andere um sich her im Wettstreit um den höchsten, den besten, den weitesten Treffer vergessen hätten. Ihnen gehören zwei Wasserkanister, gerade gefüllt an der Pumpe, die vier Straßen entfernt liegt und nur wenige Stunden am Tag etwas Wasser gibt. Sie stehen neben der Gosse, einer Rinne im Sand, deren Verlauf nur noch anhand einiger wie zufällig hingeworfener Ziegel erkennbar ist, und daran, dass dort der Dreck sich schillernd auf einer schlammigen Pfütze sammelt. Die Luft da unten in der Gasse riecht nach Garküche und Müll, nach heißem Asphalt und Benzin.

Der Sand ist trocken, er staubt bei jedem Tritt, mit dem die Jungen die Blechbüchse gegen die Wand schmettern, und bald hängt ein gelblicher Schleier in der Luft. Der Jüngere der beiden muss husten. Ihm kommt eine Idee. Er nimmt einen der Wasserkanister, schraubt den Verschluss auf, trinkt einen Schluck und beginnt, den Sand mit dem Wasser, welches er aus dem Kanister in die hohle Hand gießt, zu besprenkeln.

»He, das dürfen wir nicht!«, sagt der andere, von Zwiespalt erfüllt. »Die Mutter braucht das Wasser.«

»Die Kanister sind ohnehin zu schwer, um sie ganz gefüllt zu tragen«, entgegnet der andere. »Und wir können ja neues Wasser holen.«

»Wenn noch welches kommt. Die Pumpe leckt. Und abends fällt sie immer aus.«

Der jüngere der beiden zuckt nur die Achseln und befeuchtet den Sand weiter mit Wasser. Dann stellt er die Kanister fünf Schritte weit auseinander vor die Mauer und räumt noch ein paar Plastikfetzen aus dem Weg, die der Wind hergetragen hat.

»So«, sagt er und wischt sich die Hände am T-Shirt trocken. Das Tor steht.

Sie spielen weiter, rangeln darum, wer die Büchse am schnellsten zwischen die Kanister treibt, wo sie scheppernd von der alten Mauer abprallt. Knirschend kollert sie in den angefeuchteten Sand und zieht dort ihre Spur. Der eine Junge ist sehr treffsicher, aber der andere ist dafür flinker und grätscht dem Älteren gekonnt zwischen die Beine. Mit lautem Johlen, anerkennenden Beifallsrufen, Pfiffen und Protestgeschrei kommentieren sie gegenseitig ihre Treffer.

Es wird Abend, der Gebetsruf gellt blechern aus Lautsprechern in der Nähe und es antworten von ferne mehrere Echos die immergleichen Worte. Die Dämmerung wird jetzt schnell fallen.

Die beiden Jungen unterbrechen ihren Wettstreit und machen sich auf den Heimweg. Sie schleppen jeder einen der noch halb gefüllten Kanister, humpeln und stolpern davon, von dem schweren Gewicht gebeutelt, den anderen Arm steif ausgestreckt, um sich ein Gegengewicht zu verschaffen.

Ruhe kehrt ein auf dem staubigen Platz, das Licht wird blau und unwirklich, gleich kommt die Nacht, so schwarz wie ein Gazellenauge, und ein bleichsilberner Mond wird milchig über die Mauern wachsen, sich aufhellend nach oben wandern und schließlich, vom Smog verschleiert, in einem fernen, unirdischen Glanz erstrahlen. Sein Spiegelbild wird in der einsamen Pfütze in der Abflussrinne erzittern, ab und zu wird ein Moped vorbeiknattern, sich zwischen den Schlaglöchern hindurchschlängeln und von neuem Benzingeruch hinterlassen.

Noch immer lockt die Wüste mit ihren Wundern und Zeichen, mit ihrem Horizont, der weiter ist, als eine Menschenseele fassen kann. Doch unter meinen Augen – armselig und bar jeder Schönheit zerfällt hier das graue Gerippe einer Zivilisation, die einst ihresgleichen suchte. Dahin sind die Zeiten eines Al-Muqaffa und Omar Khayyam, eines Rumi, Firdausi, Nizami und Al-Mutanabbi, dahin die Welten von Ibn Sina, Al-Ghazali, Ibn Hazm und Al-Farabi und hunderten anderen.

Ihr, die ihr einst diese Welt beschrieben, berechnet, bedichtet habt, die ihr Städte bewohntet, wie diese einmal war, euch stünde der Mund offen vor Erschrecken und Wehmut bei ihrem Anblick!

Nun denn, ihr Kenntnis- und Gedankenreichen, da ihr euch mit der nahenden Dunkelheit um mich zu scharen beginnt, seid mir willkommen. Setzt euch mit mir zu Füßen der beginnenden Nacht, trinkt einen Tee mit mir, und helft mir erkennen, was in dieser so veränderten Welt von der alten noch übriggeblieben ist, und was ein Erinnern an eine frühere Zeit überhaupt noch bedeutet, an Tage und Geschehnisse, die lang vorüber und deren Spuren bereits verweht sind.

Geschlechter sind erglüht wie helle Funken,

haben gelebt, geliebt, gehasst, getrunken,

sie leerten hier ein Glas und sind verlöscht,

sind in den Staub der Ewigkeit versunken.

Omar Khayyam

Wohl gesprochen, Omar der Zeltmacher! Jahrhunderte sind in den Staub der Ewigkeit versunken.

Wo begann das Ende?

Anstelle dieser Mauer, auf die ich von meinem Hotelbalkon hinabschauen kann, und die heute zu einer Garage gehört, ragten einst andere baufällige Mauern empor, die lange davor Bestandteil prächtiger Häuser gewesen waren. Diese hatte man einmal auf Ruinen erbaut, deren Bewohner niemand mehr zu benennen wusste, als die schäbigen Mauerreste niedergelegt wurden. In ihrer Glanzzeit hatten wiederum deren sorgfältig geziegelte Vorgänger andere Gebäude getragen, andere Menschen beherbergt, und abermals davor hatten noch frühere Mauern prächtige Arkaden und Wandelgänge gestützt, wo unter stuckverzierten Gewölben Kaufleute, Handwerker und schwarze Sklaven hin und her geeilt waren, wo Barbiere ihre Rasiermesser schärften, fliegende Händler laut feilschten und Kupferschmiede ihre Kessel dengelten. Davor aber war dort nichts gewesen, nur der gelbe Sand der Wüste hatte sich jahrtausendelang bis zum Horizont der Großen Leere erstreckt.

An einer dieser Mauern, welche in jahrhundertelanger Abfolge noch übereinander und ineinander wachsen sollten, saß einst ein uralter Mann im Schatten eines Torgewölbes. Er war in einen ärmlichen blauen Kaftan gekleidet und trug an den alterskrummen Füßen ausgetretene staubige Sandalen. Sein verwittertes Gesicht glich einem, dessen Besitzer stets draußen lebt, und er saß, den altersgebeugten Rücken an die Mauer gestützt, mit herrscherlichen Würde da, wie einer, den alle weit und breit kennen und achten. Bedächtig kämmte er sich mit den Fingern den langen grauen Bart und blickte wenige Schritte vor sich hin auf die Straße, ohne doch wirklich zu sehen. Seine Lider hingen schläfrig schwer über den runzligen Wangen, der Alte schien von des Tages Hitze und der Mühsal getaner Arbeit erschöpft, doch er wirkte nicht unzufrieden. Neben ihm lagen unter verschlissenem Gurtwerk ein lederner Wassersack und eine rotglänzende Kupferschale im Sand.

Niemand und nichts sonst war auf der Straße als die Hitze, das Licht und der Staub. Die alten, baufälligen Mauern buken in der spätnachmittäglichen Glut und verschwiegen, was sie von Rosenduft und sprühenden Wassernebeln auf glasierten Mosaikkacheln noch wissen mochten, vom Trippeln und Tappen samtbeschuhter Füße, welche beschwingten Herzens hin und her eilten oder schlurfend sich in schwärzester Trauer dahinschleppten, vom Geruch frisch gebackenen Brotes und von einsamen Lautenklängen, welche aus den gestorbenen Höfen dringen zu wollen schienen.

Der alte Wasserträger erweckte den Anschein, all diesem Verschwiegenen lauschen zu wollen, denn er verharrte unbewegt mit halb geschlossenen Augen, bis die Sonne tief über den Bergen stand. Während sie sich immer weiter herabgleiten ließ, begannen die roten Felsen unter ihr zu erstrahlen, als sendeten sie ein Zeichen in die Ebene hinab. Dann leckten zwischen den Felsnasen bläuliche Schatten hervor, und der orangefarbene Himmel wich langsam einem blauvioletten Leuchten, welches die in weichem Dunkel ruhende Nacht wie mit einem erlösenden Aufseufzen anzukündigen schien.

Der Wasserträger hob den Kopf und blickte zur Seite. Er hatte das Klappern von Hufen vernommen.

Über die alte, endlos breite Straße, welche nurmehr ein langgestreckter leerer und sandiger Platz zwischen zerfallenden Mauern war, trottete ein Pferd heran. In einen weißen Umhang gehüllt, kauerte ein Reiter darauf. Das Pferd war staubig und knochig, seine Mähne sah wie zerfressen aus, und das Fell war ohne Glanz. Auch das Sattelleder schien alt und fleckig, brüchig sahen die Zügel aus, und abgezehrt der Reiter, den der Umhang bauschig umwölkte. Er wirkte geistesabwesend und war im Begriff, an dem alten Wasserträger vorbeizureiten. Mag sein, es war nur ein Aufmerken, wie das, wenn wir uns beobachtet fühlen, oder das kleine Flattern, als sich das zerrissene Kopftuch des Wasserträgers in einem leichten Abendhauch bewegte, und sich diese Bewegung in des Reiters Augenwinkel verfing – es bewirkte, dass er hinübersah und ihre Blicke sich begegneten.

Der Reiter wendete nach kurzem Zögern das Pferd und ritt die wenigen Schritte hinüber, deutete fragend auf den Wassersack. Der Wasserträger griff nach dem Ziegenbalg, in dem das Wasser gluckerte und füllte die kupferne Schale, die er zuvor mit etwas Sand reinigte. Zu müde, um aufzustehen, hielt er sie dem Reiter entgegen, der nun vom Pferd steigen musste, um die Schale entgegennehmen und trinken zu können. Durch die Schwingung schwappte und kreiste das Wasser in dem rotgoldenen Gefäß hin und her und glitzerte, Erfrischung verheißend.

Bis der letzte Schluck durch des Reiters ausgedörrte Kehle geronnen war, sprachen beide kein Wort. Dann seufzte der Reiter auf, wischte sich die Tropfen von den sonnenzerfressenen Lippen und war schon im Begriff, die Schale zurückzureichen, als er sie noch einmal genauer betrachtete. Sie war so groß, dass er sie auch mit vier Händen nicht hätte umgreifen können, mehr eine flache Schüssel denn ein Trinkgefäß. Ein sanft gekrümmter Rand, der das Trinken angenehm machte, senkte sich zum Boden hinab, welcher, einer sich darbietenden Handfläche gleich, in allmählicher Wölbung sich verflachte. Im Grund der Schale drehten sich kunstvoll gestichelte und gepunzte geometrische Sternen- und Sonnenmuster umeinander.

»Bei Allah, ich erinnere mich an diese Schale.«

Er sah auf und musterte den Wasserträger genauer.

»Du?«, fragte er verwundert. »Du, dem ich einst eben diese Schale schenkte? Sag bloß.«

Er lachte rau. »Der Narr, der ein Weiser war. Oder umgekehrt.«

Der Wasserträger forschte nun im Antlitz des Reiters nach Zeichen, studierte das von den Blattern zerfressene Gesicht, die seltsamen Augen, die scharfgeschnittene Nase, und nickte dann. Vor langer Zeit hatte er das Böse in ihm gesehen. Nun sah er nur noch einen Schatten des Damals, einen schwarzen Schatten in verhüllendem Weiß.

»Der bin ich. Der Narr, der deinen Zorn herausforderte. Der Weise, der tauben Ohren predigte. Salaam aleikum.«

»Wa aleikum salaam, Wasserträger. Was sitzt du dort so allein unterm Torbogen?«

»Ich tue das seit langem, oh Herrscher, der nicht mehr ist, einer Stadt, die ebenfalls nicht mehr ist. Ich beobachte. Erinnerst du dich nicht? Man erzählt mir viele Geschichten, von dem was war und von dem, was ist, und ich habe gelernt zu beobachten, ganz gleich, an welchem Ort.«

Er stemmte sich hoch.

»Wieso stehst du auf? Wovor hast du Angst? Ich trage schon lange kein Schwert mehr, und ich reite ein Pferd, das diese ehrenvolle Bezeichnung nicht mehr verdient«, spottete der andere und öffnete seinen Umhang, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.

»Ich bin erstaunt, dich hier zu sehen«, antwortete der Wasserträger ruhig.

»Nicht minder bin ich erstaunt, dich hier wieder anzutreffen. So hast du alles überlebt, was hier geschah. Die Schale brachte dir anscheinend Glück?«

»Auch du hast überlebt. Und der einst Schwarzgewandete kleidet sich nun in unschuldiges Weiß wie ein Pilger. Tatsächlich.«

Sie schwiegen, in Erinnerungen verharrend.

»Wie lange ist es her?«

»Auf den Tag genau zwanzig Jahre hat Allah verstreichen lassen.«

»Als ob ich es gewusst hätte! Eine innere Stimme zog mich her.«

»Und warum zieht es dich an diesen Ort, welcher keiner mehr ist? Zu diesen Mauern, zwischen denen Dschinni und Winde einander jagen? Kommst du, um deine Schulden zu begleichen? Allah ist mein Zeuge, ich habe nicht mehr mit dir gerechnet nach dem, was passiert ist. Fürchtest du nicht die Rache der Menschen?«, fragte der Wasserträger.

»Die, welche noch leben, haben mein Gesicht sicherlich inzwischen vergessen.« Der Reiter warf hochmütig den Kopf in den Nacken. »Und diese Stadt ist nur eine von vielen Stätten meines weit angelegten Scheiterns. Allah bestimmte, dass ich herkam, so wie er bestimmte, dass mein Leben zum Scheitern verdammt war.«

Der Wasserträger hob erstaunt die Augenbrauen und schwieg. Die alte Mähre des Reiters scharrte mit hängendem Kopf im Sand und schnaubte leise.

»Alles war immer nur ein Scheitern. Meine Reise bestätigte mich darin«, sagte der Reiter wie zu sich selbst. Dann richtete er den harten Blick seiner eigenartigen blauen Augen auf den Wasserträger und erklärte:

»Ich zog lange umher, ohne Ziel außer dem einen: Frieden zu finden. Macht fand ich und verlor sie wieder, Freiheit fand ich und hielt sie stets fest, so lange ich konnte. Frieden jedoch fand ich nirgends. Nun, da sich meine Zeit bald dem Ende entgegen neigt, wollte ich alle Stätten meines Lebens noch einmal aufsuchen und sehen, was aus ihnen geworden ist. Mein Stamm? Ihn fand ich nicht mehr. Er wurde vernichtet, in einer seiner blutigen Stammesfehden. Alle Krieger sind gestorben und ihre Gebeine bleichen in der Wüste. Die Burg der Ismailiten? Sie steht gleich einem hohlen Zahn auf ihrem Felssporn, von einem Erdbeben zerstört, und die Assassinen sind in alle Winde zerstreut. Die Räuber in den Bergen?«

Er blickte gen Westen, wo sich die Bergkette, nun immer dunkler werdend, vor den magisch leuchtenden Abendhimmel schob.

»Es gibt sie wohl noch. Aber für eine erneute Zähmung der Räuberbanden fehlt mir die Zuversicht. Und diese Stadt hier? Ein Schutthaufen.«

Er sah sich um und verzog abschätzig die Mundwinkel.

»Ich wollte sehen, was geblieben ist. Ich wollte sehen, ob wirklich alles zum Scheitern verurteilt war. Ich wollte wissen, ob es – ungeachtet meiner Kräfte – die Möglichkeit eines Neubeginns gäbe. Dieses Mal würde ich es besser machen.«

»Das sagtest du schon einmal«, erinnerte ihn der Wasserträger. »Vor zwanzig Jahren.«

»Und du erwidertest: Wie die Beduinen werden dann die Letzten wieder durch das Land ziehen und hier bleiben nichts als Ruinen zurück. In der Tat, du hattest recht damit. Es ist eine bittere Erkenntnis, aber was bleibt, ist immer nur das Scheitern.«

»Der Fortschritt, den du so gepriesen hattest, hat alles zerstört.« Der Wasserträger verschränkte die Arme. »Er hat sich am Ende selbst zerstört.«

»Nun, jede Handlung hat ihre Zeit, und die, welche nicht zu ihrer Zeit geschieht, wird eben ohne Erfolg bleiben«, seufzte der Reiter verdrossen. »So viele Pläne habe ich geschmiedet, aber die Vorsehung warf mir alle über den Haufen. Und der Vorsehung kannst du nicht zuwiderhandeln, denn sie ist Allahs Wille.«

»So ist es«, antwortete gelassen der Wasserträger. »Das Schicksal ist einen Tag auf deiner Seite, und am nächsten Tag schon stellt es sich gegen dich. Unterdrücke niemanden, sonst wird das Schicksal dich unterdrücken, sagte ich dir einst. Die Güter dieser Welt gehören uns nur zum Nießbrauch, der Körper ist nur ein gemietetes Kleid, das Leben nur ein Gasthaus. Die Welt ist eine Leihgabe, die uns nur anvertraut ist.«

Verbittert schüttelte der Reiter den Kopf und verschränkte unter dem Umhang nun ebenfalls die Arme, als habe er genug gesagt, getan, gelitten.

»In jedem Leben, wurde mir berichtet, gibt es eine Geschichte vom Scheitern«, versicherte der Wasserträger, nachdem er ihn eine Weile beobachtet hatte.

Der Reiter sah ihn prüfend an.

»Und wie war dann die deine?«, fragte er.

»Ich glaubte es einst, aber ich bin nicht gescheitert. So lange ich lebe, noch nicht. Und mein Leben blickt nicht mehr weit in die Zukunft. Es ist einfach nur, was es ist. Kein Planen und Hoffen mehr, kein Ziel, kein Sehnen. Das ist die Wahrheit.«

»Das ist deine Wahrheit. Aber lass mich an ihr teilhaben, oh weiser Narr – wie fandest du sie?«, forderte der Reiter, als befehle er es, und fügte dann höflicher hinzu: »Wenn es dir nichts ausmacht.«

»Es macht mir nichts aus. Ich werde dir von meiner Wahrheit erzählen. Es ist auch die wahre Geschichte der Wasserbaukunst, der Antwort auf die Frage nach dem Woher und Wohin von allem, und nach dem, was bleibt. Aber diese Geschichte muss erzählt werden, wie es sich gehört, und das braucht Zeit. Also setze dich her zu mir und lehne deinen müden Rücken an diese Wand, die älter ist als wir beide und uns doch besser stützen kann, als unsere morschen Knochen es tun. Wenn es dir nichts ausmacht«, grinste der Wasserträger.

»Ich habe keine Zeit mehr. Das Alter frisst mich auf«, knurrte der Reiter widerwillig.

»Bei Allah! Ein Mensch, der keine Zeit für Geschichten hat, hat auch keine Zeit, den Willen des Einzigen und Barmherzigen zu ergründen und seine Weisheit zu verstehen!«, rief der Wasserträger kopfschüttelnd aus. »Auch wenn nicht alle Geschichten gut enden – weißt du denn nicht, dass Allah, welcher unsere verschlungenen Lebenspfade lenkt, der beste Geschichtenerzähler ist? Also noch einmal: Setze dich her zu mir, sei still und höre von der Wahrheit meines Lebens, die mir von Allah geschenkt wurde, durch einen Mann, der einstmals des Sultans Wasserbaumeister war.«

Die Nacht war gekommen, und samtig ruhte die Luft über der stillen Straße. Die beiden Männer ließen sich an der Mauer nieder, entzündeten aus herumliegenden Holzresten ein kleines Feuer, das ihre alten, von Falten durchfurchten Antlitze flackernd beleuchtete, und der Wasserträger begann seine Erzählung.

Erstes Buch

Vom Schönen und Nützlichen

Wir Zwei sind einem Zirkel zu vergleichen:

Wenn auch die Spitzen auseinanderweichen,

sind wir doch nur ein Körper, und der Kreis

muss wieder seinen Ausgangspunkt erreichen.

Omar Khayyam

»Es gibt Baumeister und es gibt Wassermeister. Es gibt mehr Baumeister als Wassermeister, denn es gibt in einer Stadt stets mehr Gebäude als Wasser. Und es gibt die Wüste, das weite, hitzeglühende Land, gepriesen sei Allah, der ewig Währende und allvermögende Erbarmer«, begann der alte Wasserträger, und fuhr fort:

Wenn über der Wüste die Sonne versinkt, hüllt sich das Licht in einen safrangelben Dunst, gleich der mandeläugigen Schönheit, die sich den zarten Schleier ihrer Tugend errötend vor das Antlitz zieht. Jeder Sonnenuntergang gebiert eine solche Schönheit, ihrer Anzahl sind unendlich viele, vom Anbeginn der Zeiten an ... Unzählige Jahre ist es her, da warf eine dieser untergehenden Wüstensonnen ihre letzten, schon gnädigeren Strahlen auf die lehmfarbenen, ineinander verschachtelten Häuserwürfel einer Stadt, die vom Hange eines felsigen Hügels herabzuwachsen schien. Manche dieser Häuser lagen bereits im Schatten, denn bald schon würde das erbarmungslose Gestirn hinter den kahlen Steinwänden der westlichen Berge ins nächtliche Dunkel versinken. Aber noch leuchteten draußen in seinem warmen Licht in der von kleinen Hügeln durchsetzten Ebene vor der Stadt die schwankenden Wipfel der Palmen. Sie standen zahlreich in den Dattelhainen, welche die Stadt von einem alten, trocken gefallenen Flussbett trennten, und goldorange prangten zwischen ihren Wedeln große Büschel klebrigsüßer Früchte. Der Abendgesang der Zikaden zirpte hell durch den Hain.

Im Schatten unter einer der Palmen saß ein magerer Junge von kleinem Wuchs. Er hatte hochliegende Wangenknochen und dunkles Haar, das lang schon nicht mehr geschnitten worden war und sich in Wellen ihm um den schmalen Hals zu legen begann. Mit verträumten Augen starrte er in das fließende Wasser in dem schlammigen Graben zu seinen Füßen.

›Es gibt Baumeister und es gibt Wassermeister‹, dachte er.

Wisse, der du mir aufmerksam zuhörst: Der Junge hieß Sayid und sein Vater war der Baumeister des Sultans. Sayid hatte großen Respekt vor ihm. Die Baumeister wussten, wie man Steine richtig setzte und Lehmziegel miteinander vermörtelte, so dass sie Jahrhunderte überdauern würden, sie wussten, wie man die Zinnen auf den Stadtmauern vorkragen ließ, auf dass sie bedrohlich in die Wüste schauten, von wo der schwarze Feind drohte; sie verstanden sich darauf, Laibungen, Mauern und Säulen zu bauen und waren darin beschlagen, wie man heimliche Fenster setzte, welche verstohlenen Ausblick gewähren würden, ohne dass die Hinausblickende gesehen werden konnte. Die Baumeister hatten Kenntnis darüber, wie die kostbaren Fliesen in den steinkühlen Innenhöfen von Palästen hergestellt wurden, und welche Muster für welche Bewohner dieser prächtigen Behausungen schicklich waren, denn die Gemächer der Frauen hatten mit anderen Farben ausgeziert zu sein als die des Sultans, und ausschließlich der höchsten unter seinen Frauen gebührte die Farbe des Himmels, so wie Grün allein die Farbe des Propheten ist. Baumeister vermochten die Gänge und Treppenhäuser zwischen den Räumen eines Palastes ebenso geschickt und ausgeklügelt anzulegen wie sie die Straßen einer Stadt zu planen verstanden, die kleinen Sträßchen so gut wie die großen Hauptstraßen, welche die alten, verqueren Gassen durchkreuzten und in ihrem Verlauf begradigten. Baumeister beaufsichtigten ein Heer von Handwerkern: Maurer, Steinmetze und Zimmerleute, die Tagelöhner für das Brennen der Ziegel, die Holzschnitzer, Glasbläser, Fliesenleger, nicht zu vergessen die Eisengießer für die schweren Tore zu den Anwesen der Bauherren. Und Sayids Vater Abu Hamza, der Baumeister des Sultans, war der geschickteste und bedeutendste unter allen Baumeistern, auch wenn er furchteinflößend war und Sayid ihm lieber aus dem Weg ging.

Sayid grub mit seinen Füßen genussvoll im nassen Schlamm des schmalen Bewässerungsgrabens, er wackelte mit den Zehen und knetete den Schlamm mit ihnen. Dann tauchte er die Füße in das fließende Nass, um sie wieder reinzuspülen.

Das Wasser plätscherte hier entlang der aufgeworfenen Ränder, welche die Parzellen der Felder und Palmenhaine gleich kleinen Mauern umgaben, und verteilte sich gemächlich überall dort, wo der Wassermeister Bilal den lehmigen Wall aufgegraben hatte. Dieser stand im oberen Teil des Hains und häufelte den Schlamm von einer Seite des Grabens auf die gegenüber liegende, öffnete einen Zugang zu einem Feld, verschloss mit dem Gehäufelten einen anderen, trat ihn fest. Zwischendurch richtete er seine dünne Gestalt auf, die aussah, als könne sie ein Windstoß fortblasen, und wischte sich mit dem Zipfel des Kopftuches die schweißige Stirn. Sein sonnengegerbtes Antlitz glich einem alten Sattel aus Kamelleder, von tiefen Altersfurchen durchpflügt, aber die kleine, knollige Nase verlieh ihm einen jugendlich pfiffigen Gesichtsausdruck. Er pflegte jeden anzulächeln, dem er begegnete, und seine freundlichen Augen öffneten ihm die Herzen der Menschen. Bilal raffte den Kittel wieder höher, der ihm beim Hacken und Häufeln unter den Gürtel herausgerutscht war, da der schlammsaugende Stoff dem Wassermeister schwer um die Knöchel klatschte. Das Wasser plätscherte bereits munter durch die Öffnung auf das Feld und überflutete Elle um Elle die trockene Scholle. Die staubtrockene Fläche dahinter schluckte durstig alles, was gluckernd auf ihr verrann, zurück würde für ein paar Stunden dunkelbraune, feuchte Erde zurückbleiben, welche würzig und fruchtbar duftete. Der Wassermeister schulterte die Grabhacke, folgte dem rinnenden Nass und grub ein kurzes Stück näher an Sayid von Neuem. Gurgelnd schoss bald auch hier das Wasser auf den nächsten Abschnitt des Feldes.

Die Wassermeister waren wichtiger als die Baumeister, fand Sayid. Wassermeister wachten über das kostbare Nass, sie wussten einfach alles über Aufstauen und Fließenlassen, über Auffangen, Durchfeuchten, Kühlen und Versickern. Wassermeister beaufsichtigten die Zisternen und Brunnen, kümmerten sich um deren Reinhaltung und um die Verteilung der aufgefangenen Regenfluten auf die dürstenden Haine und Felder und ihre ebenso durstigen Besitzer. Sie hatten alle Parzellen und ihre Eigentümer zu kennen, maßen allen die jeweils richtige Menge an Wasser zu. Nicht zuletzt wegen der Streitigkeiten, die es dabei zwischen den Bauern gab, war der Wassermeister oft genug auch Streitschlichter.

›Sein Wort gilt so viel wie das eines Qadis‹, dachte Sayid voller Bewunderung.

Bilal al-Bustani, Bilal der Gärtner, den man so nannte, weil er wie kein anderer den Durst der Pflanzen löschen konnte, streckte den müden Rücken und sah nach dem Stand der Sonne, welche bereits den Kamm der Sandsteinberge berührte. Als er den Jungen unter der Palme sitzen sah, verzog sich sein runzliges Gesicht zu einem wohlmeinenden Grinsen, das seine wenigen, altersgelben Zähne entblößte. Sayid grüßte höflich, der Wassermeister hob die Hand und grüßte zurück. Dann wanderte er zum nächsten Graben. Seine alten braunen Sandalen schlappten bei jedem Schritt und saugten sich im Schlamm fest.

›Er wird sich sputen müssen, dass alle Berechtigten zur festgesetzten Stunde ihr Wasser bekommen‹, ging es Sayid durch den Kopf. Er sah Bilal nicht das erste Mal dabei zu, wie dieser das Wasser verteilte.

Sayids Zehen zappelten vergnügt im Wasser. Kitzelnd umschmeichelte das Nass seine Knöchel, kühlte die vom Barfußlaufen harten Fußsohlen. Sayid sah zu, wie es lebhaft weiterfloss, beobachtete die kleinen Wellenschläge und Verwirbelungen im Graben, die fortwandernden Schaumbläschen, lauschte dem eifrigen Murmeln und Gluckern. Verleitet von einer tiefen Lust auf seine feuchte Kühle, griff er hinein, bewegte die Finger, schwenkte die Hand, mit der Strömung tändelnd, und schöpfte das Wasser zu guter Letzt mit der hohlen Hand. ›Blaues Gold‹ sagten alle dazu, ihm schien es eher dem Silber zu gleichen. Das Glitzern sammelte sich erst schwankend in seiner Handmulde, bevor es wieder zwischen den Fingern versickerte, als sei es ein scheu flüchtendes Tier. Sayid schüttelte die Hand, dass die Tropfen umherspritzten, rieb sie über den Arm. Benässt glänzte seine Haut in dem gleichen warmen Braun wie die frischgepflügten Felder, wenn Bilal sie flutete. In der trockenen Hitze schwand die Feuchtigkeit jedoch schnell dahin, und Sayids Haut glich bald wieder der staubgrauen Rinde alter Dattelpalmen.

Er beobachtete dieses Dahinschwinden, legte sich dann die noch kühle Hand auf die heiße Wange und erschnüffelte den geradezu metallischen Geruch des gewässerten Lehms, der ihm an den Fingern hing. Danach lauschte er aufs Neue dem Geräusch, welches das Wasser zu seinen Füßen machte. Er versuchte es zischelnd, gurgelnd, schnalzend nachzuahmen, was ihm so wenig gelang, dass er kicherte. Das Wasser glitt ungerührt an ihm vorbei, gluckerte, plätscherte, rieselte, hüpfte und sprang, es schlich und quoll, tanzte und schäumte, kreiselte um sich selbst und strömte dahin, glänzend, glitzernd, sich verschwendend. Es glubbelte und göckselte und rauschte und rann. In Sayid schienen aus seinem Wandern manchmal Wörter zu entstehen, aber es waren Wörter einer Sprache, die er nicht verstand.

Wovon erzählte es, wenn es plätscherte?

Was berichtete es, wenn es gluckste?

Wenn es schnellte und rauschte? Was?

Er lauschte verzückt und versuchte, sich all die seltsamen, vielfältigen, womöglich unbegreiflichen, erderschütternden, weltallumfassenden Wahrheiten und Geschichten vorzustellen, die es ihm erzählen mochte, wo es doch so unbekümmert plauderte und dabei andauernd seine Form veränderte. Oh ja, Wasser war etwas Wundervolles, gepriesen sei Allah! Und der Wassermeister Bilal war fast ein heiliger Mann, weil er dieses Wasser zu bändigen und gerecht zu verteilen wusste.

›Wenn ich groß bin, werde ich das auch machen‹, beschloss Sayid zum wohl hundertsten Male. Bald würde es so weit sein, dann wollte er bei Bilal in die Lehre gehen. Eine verantwortungsvolle und geachtete Arbeit war das, und eine, die es einem ermöglichte, sich in der schattigen Abgeschiedenheit des Dattelhains aufzuhalten.

»Im Dattelhain ist Frieden, in der Stadt ist es laut, unübersichtlich und heiß«, seufzte Sayid.

»In der Stadt ist Leben«, widersprach da jemand hinter ihm. »Hier gibt es nur Palmen und Dreck.« Sayid drehte sich um.

Der da gesprochen hatte, war ein hochgewachsener Junge, wohl zwei, drei Jahre älter, mit wildem Lockenschopf, aber noch nacktem Kinn. Unter seiner Haut zeichneten sich deutlich die Muskeln ab, die er der Festigung durch körperliche Arbeit verdankte, und sein Brustkorb war bereits auf dem Wege, sich zu dem eines kräftigen Mannes zu entwickeln. Er trat näher, wie zufällig herbeischlendernd, die Daumen in den Strick eingehakt, der ihm als Gürtel diente. Mit den Füßen schob er einige trockene Palmwedel beiseite und setzte sich dann neben Sayid in den Schatten der Palme, die Unterarme lässig auf die Knie gestützt. Seine sehnigen, etwas groben Hände gestikulierten kraftvoll, als er wegwerfend behauptete:

»Und dieser lausige Ort hier ist noch weniger als eine Stadt.«

Sayid musste seinem Freund Nadim beipflichten. Die vereinzelten Bauerngehöfte, die am Rand der sandigen Ebene verstreut lagen, welche sich zwischen Stadt und Palmenhainen erstreckte, waren kaum mehr als eine Ansammlung von Hütten aus dünnen Strohmatten und Lehm. Ihre Dächer deckten sonnengedörrte Palmwedel, und auf den ungepflasterten Sandwegen trödelten die Ziegen auf der Suche nach Essbarem herum oder lagen im spärlichen Schatten einzelner, windzerfetzter Palmen in den staubtrockenen Höfen. Dahinter wuchs erst jenseits der Ebene die eigentliche Stadt den Hügel hinauf. Sie klebte auf schmalen Terrassen am Felshang unterhalb der Zitadelle, welche den Palast des Sultans beherbergte, und besaß für Sayid nichts Verlockendes. Für ihn war die Stadt am Hügel ein fremdes Ding, das ihn nicht weiter berührte. Sein Herz hatte er zwischen die Palmen im grünen Gürtel der Siedlung gepflanzt. Für Nadim hingegen war die Stadt ein Sehnsuchtsort, in dessen verwinkelten Gassen mit den steilen Treppen er tagtäglich herumstromerte, das dichte Gedränge der Kaufleute, Händler, Handwerker, Träger mit allen Sinnen genießend, die Gesten und Gesichter, Farben, Gerüche, Laute aufsaugend wie die Tropfen eines wundersamen Lebenselixiers.

»Du wirst es schon noch verstehen«, sagte Nadim gönnerhaft. »Wenn du eines Tages bei deinem Vater in die Lehre gehen wirst, so wie ich. Abu Hamza ist ein berühmter Baumeister, er errichtete so viele kleine und große Gebäude im Auftrag des alten Sultans, und machte die Stadt dadurch ordentlicher und schöner.«

Er formte mit beiden Zeigefingern und Daumen ein Rechteck, durch das er hindurch spähte, die Stadt auf dem Hügel aufs Korn nehmend, und schwärmte von Maßwerk und Mauern, von Kuppeln und Kapitellen, ohne zu bemerken, wie sehr er Sayid damit langweilte.

Dieser schwieg zunächst, dann ergriff er das Wort und pries seinerseits das grüne Gefilde des Hains um sie herum, schon aus der Not heraus, sich des erdrückenden Redeschwalls von Nadim auf irgendeine Weise erwehren zu müssen. Jedoch des Freundes Begeisterung für Linien und Lotrechtes kannte keine Grenzen – sein Mund floss eben von dem über, wessen sein Geist und sein Herz voll waren! Und ist es nicht so, wie es uns die berühmten Mathematiker und Philosophen wie Al-Chwarizmi und Fithaghurs gelehrt haben – die Ordnung und Harmonie der Welt besteht zunächst aus Zahlen, worin ihre Schönheit begründet liegt?

Die beiden stritten und erhitzten sich leidenschaftlich, denn jeder hatte nur den Gegenstand seiner Schwärmerei im Blick und erachtete den des anderen für unbedeutend. Ihr Wortwechsel war nicht der erste seiner Art, und er fand niemals sein gerechtes Ende, Allah ist mein Zeuge. Zwischen den beiden jugendlichen Philosophen fielen stets Sätze wie:

»Die Stadt ist voller lebendiger Dinge, sie ist das Leben selbst. Siehst du das nicht?«

»Die Stadt ist eng, stickig und stinkt. Sogar das Wasser stinkt dort, kannst du es nicht riechen? Hier draußen jedoch ist das Wasser sauber und schön. Schau hin, sieh, wie klar es ist«, wies Sayid auf den Graben. »Rieche, wie frisch und gut es duftet!«

Das Wasser im Graben hatte sich inzwischen geklärt. Es floss rein und lauter dahin und tränkte die durstigen Palmen im Hain. Feuchtwürzig roch die nasse Erde, nach Fruchtbarkeit und Erfrischung.

»Wasser ist nicht schön, es ist nützlich«, befand Nadim sachlich.

»Aber in der Stadt gibt es zu wenig davon. Deswegen stinkt dort alles.«

»Dafür gibt es Stände mit Melonen und Orangen und fremde Kaufleute mit ihren Waren, und Edelsteinschleifer und Leinwandhändler und Kupferschmiede, und Musik tönt aus den Höfen, und Leben ist überall. Schau dir doch das alte Kamel hier am Brunnen an! Es ist das Einzige, was hier lebt, und es muss mit verbundenen Augen immer im Kreis gehen und Wasser schöpfen! Dagegen die Stadt ...«

Sie ereiferten sich weiter über dies und das, bis alles für heute gesagt schien, ihre Kehlen trocken geworden waren und sie hungrig und durstig nach Hause rannten.

Am Wasser waren einzig und allein die Bauwerke zu seiner Verteilung interessant, fand Nadim. Die gewaltige Talsperre im Westen der Stadt beispielsweise, du erinnerst dich an sie? Wohl ist sie nun dahin, aber sie war damals wohl mehr als tausend Ellen lang und mindestens vierzig Ellen hoch, und sie riegelte das tiefe Wadi zwischen den Berghängen zur Ebene hin ab. Sie sorgte dafür, dass sich der rare Segen der Regenschauer, welche weiter oben in den Bergen niedergehen, in einem ausladenden See hinter dem Damm sammeln konnte, bevor er maßvoll dosiert durch die mächtige Doppelschleuse in das Tosbecken und von dort in den Verteilerkanal den Feldern entgegenfließen durfte. Oder der gemauerte Brunnen. Das arme Kamel und sein Schicksal interessierten Nadim nicht wirklich, spannend fand er hingegen die kreisrunde Einfassung der imposanten Wassersammelstelle und ihre keilförmigen Ziegel, welche sich makellos ineinanderfügten, und die glatten, regelmäßigen Wände, die weit hinunter in die dunkle Kühle reichten. Der Baumeister hatte ihm erklärt, wie es gelingen konnte, so tief zu mauern, ohne dabei zu ertrinken oder abzustürzen, und Nadim hatte aufmerksam zugehört.

Natürlich war das Wasser wichtig. Wasser war eine zweckmäßige Notwendigkeit, fand Nadim. Die Stadt und ihre Bauwerke aber war ihm ein einziger, köstlicher Quell des Lebens.

Dies stellte er wohl zum hundertsten Male begeistert fest, als er dem Meister anderntags durch die verwinkelten Gassen folgte. Hier drängten sich die Menschen, stiegen die steilen Treppenfluchten hinauf und hinab, gingen ihren verschiedenartigen Geschäften und Obliegenheiten nach, an vielgestaltigen Gebäuden und Moscheen mit grün glasierten Kuppeln vorbei, und über den belebten Markt, welcher nicht viel mehr war als eine etwas breitere Straße, um die sich Häuser mit fünf und mehr Stockwerken türmten. Nadim schleppte Setzwaage, Zirkel und Visierkreuz in einem sperrigen Bündel mit sich, der Baumeister in seinem besten Gewand trug weihevoll die neuen Pläne, und gemeinsam ertrotzten sie sich so ihren Weg durch die bunte Menschenmenge aus Händlern, Wasserträgern, Pilgern auf der Hadj und Taschendieben, um zu dem Anwesen ihres derzeitigen Auftraggebers vorzustoßen. Nadim genoss das Geschiebe und Gedränge auf dem Markt weidlich, und er hielt sich hie und da auf, trödelte zwischen den Ständen der Eierhändler und Honigverkäufer herum, erfreute sich an den farbenfrohen Bergen von Zwiebeln, Trauben, Granatäpfeln und Gurken und schnupperte in die Luft, die nach Kreuzkümmel, Zimt und gegerbtem Leder roch. Laut und heiß war es, er rempelte und schob vergnügt in der Menge mit, narrte einen streunenden Hund, ärgerte einen Esel, der ergeben neben einem Karren voller Melonen und Eierfrüchte wartete, blieb auch einmal ganz stehen und beobachtete neugierig eine Gruppe von Geldwechslern, die sich heftig stritten, die Hände voller Münzen und Lederbeutel. Dann lugte er hinter die Mauer eines umfriedeten Anwesens, dessen eiserne Pforte einen Spalt offenstand. Er fand es herrlich hier – nach jeder Ecke erwartete ihn etwas Neues! Ein Stand stürzte plötzlich um, Protestrufe brandeten auf, die Menge schob sich zusammen, verknäulte sich um das neue Hindernis. Nadim machte, dass er fortkam, eilte dem Baumeister nach – war er es gewesen, der mit seinem sperrigen Bündel den wackeligen Stand zum Umstürzen gebracht hatte? Dies zu entscheiden, überlasse ich deinem gerechten Urteil ...

Der Meister wartete schon vor dem Haus des reichen Mannes, sah zurück, die Hand auf dem bronzenen Türklopfer des mit Schnitzereien verzierten Tores. Sein Blick forschte in der aufgeregt streitenden und gestikulierenden Menge nach seinem Gesellen und sah ihn nach längerem Warten herbeistolpern, im Sack klapperten die Geräte. Des Baumeisters Stirnrunzeln mündete in eine barsche Ermahnung, Nadim duckte sich und gelobte aufrichtig Besserung. Dann klopfte Abu Hamza dreimal gewichtig an das Tor.

Du musst wissen: Für Nadim war der Baumeister ein Objekt umfassender Bewunderung, schon deswegen, weil er ihm den Vater ersetzte. Sein eigener Vater war vor Jahren umgekommen, im Krieg, wie die Mutter manchmal wehklagte, ihr schwarzes Kopftuch hinter die Ohren schiebend, während sie die Körner mit der einfachen Steinmühle zerrieb oder aus dem Mahlgut ungesäuerte Fladen buk, wobei sie ihre sonst fortwährende Schweigsamkeit durch gebetsmühlenartige Beschwerden ersetzte. In einem Krieg, hatte Nadim erfahren, manchmal nannte seine Mutter es auch einen Feldzug, den der alte Sultan gegen die Räuber in den Bergen angeführt hatte, waren beide umgekommen, der alte Sultan genauso wie Nadims Vater. Den Leichnam des Sultans hatte man ehrenvoll nach Hause eskortiert und begraben, die Gebeine des Vaters hingegen waren auf dem Schlachtfeld liegengeblieben und bleichten nun zusammen mit vielen anderen unter der brennenden Wüstensonne. Seitdem lebten die Witwe und ihr Sohn mehr schlecht als recht in ihrer armseligen Lehmhütte am Rande der Felder und träumten von besseren Zeiten. Die Mutter – möge ihr Allah seine Wohltaten erweisen – sehnte sich nach der Vergangenheit zurück, Nadim aber hoffte auf eine verheißungsvolle Zukunft.

Die Räuber in den Bergen. Nadim fürchtete sich vor ihnen, obzwar sie, namenlos und gesichtslos, wie sie stets geschildert wurden, einer alten Legende gleichkamen, welche gleichwohl nichts von ihrer Bedrohlichkeit verloren hatte. Daher träumte er auch davon, dereinst die alten Stadtmauern zu verstärken, die fast völlig darniederlagen, und auf dem Hügel eine neue, gewaltigere Zitadelle zu bauen, welche gemeinsam seine Stadt vor allen Räubern und Schnapphähnen zu schützen in der Lage sein würden. In seiner Vorstellung trugen diese Säbel und Keulen und taten schreckliche Dinge, raubten, plünderten, brandschatzten, doch die festen Mauern seiner visionären Bollwerke würden ihn und alle Stadtbewohner beschirmen. Mauern, wie sie Sayids Vater schuf. Vielmehr, wie er sie plante und vermaß, und wie seine Maurer und Steinmetze sie schufen und seine Mosaikenleger sie verzierten. Denn die oberflächliche Schönheit von Alabasterschnitzereien und bemalten Zedernholzsäulen verbarg doch nur, dass eigentlich alle Mauern dem Schutze dienten, der Abschirmung und Abgrenzung von der restlichen Welt. Wollten die reichen Auftraggeber sich etwa nicht abheben von der Menge und sich nicht gleichsetzen lassen mit den Nadims und Sayids der Stadt und den Händlern auf dem Markt? Ihren Besitz wollten sie verbergen vor dem neugierigen Geglotze des einfachen Volkes, und suchten diesem ebenso wenig Zutritt zu gestatten, wie die Stadt des Sultans den säbelschwingenden Räubern aus den Bergen sich verschließen wollte.

In ein solches Anwesen waren sie im Begriff, eingelassen zu werden. Nadim bestaunte den Reichtum, welcher dem Bauherrn die Macht gab, derlei hohe und fest gegründete Mauern – und solche geschmückten dazu! – aufführen zu lassen und einen angesehenen Baumeister wie Sayids Vater damit zu beauftragen. Diese Mauern atmeten Ordnung und Schutz, und hinter ihnen floss der Reichtum gleich dem Duft des Paradieses durch kostbar verzierte Arkadenhöfe, leise plätscherten kühlende Brunnen. Eines Tages würde er, Nadim, ebenfalls solche Mauern und Höfe bauen.

Allahs wohlgefälliges Auge möge auf ihm ruhen und ihm eine glänzende Zukunft schenken, aber vorläufig waren noch der Mangel und Sayids gestrenger Vater seine unnachgiebigen Lehrmeister. Er senkte also das Haupt, tat schuldbewusst und demütig und folgte Abu Hamza ins Haus.

Sayid war ein Träumer, den man in der Familie ›den Schüchternen‹ nannte, was noch das geringste Übel war. Die gleichaltrigen Jungen auf der Straße, die Nachbarn und entfernt Verwandten pflegten wenig Freundliches über ihn zu denken. Manch einer übersah ihn einfach, die andern sagten mit wegwerfender Geste:

»Lasst doch diesen Dummkopf!«

Oder sie lachten ihn aus:

»Seht den Toren, was steht er schon wieder und starrt in das Wasser! Er spielt mit dem Schlamm wie ein kleines Kind. Was er wohl denkt? Ob er überhaupt denkt? Ach, was kümmert uns das!«

Sayid hatte zwei ältere Brüder. Sie waren nacheinander bei dem Vater in die Lehre gegangen und hatten als seine Gesellen gearbeitet, bevor sie ihrer eigenen Wege zogen. Würde der Baumeister eines Tages den Zirkel und das Senkblei aus der Hand legen, so würde einer der älteren Brüder zurückkommen und die Geschäfte übernehmen, und falls nicht, so gab es immer noch die Lehrlinge und Gesellen. Für Sayid war der berühmte Baumeister des Sultans einfach nur sein Vater, und überdies ein gestrenger Mann, welcher tote Steine mehr zu lieben schien als seine eigene Familie, da er wenig sprach und sie für gewöhnlich nur maßregelte. Nichts wäre aber Sayid ferner gelegen, als von Steinen zu schwärmen, und er fand, dass Nadim zwar wohl nicht ganz bei Sinnen, aber am richtigen Ort war, um ihn, Sayid, würdig zu ersetzen, und aus alledem erschloss er sich, dass sein Vater daher nicht auf ihn als einem weiteren Lehrling angewiesen war.

Er hatte richtig vermutet. Daher hatte Sayid, nachdem er seine Schüchternheit bekämpft und den Versuch unternommen hatte, dem Vater seinen Wunsch zu gestehen, bei Bilal und nicht bei ihm in die Lehre zu gehen, nicht wirklich zu kämpfen, um den Gestrengen davon zu überzeugen. Mit einem gleichgültigen Achselzucken winkte Abu Hamza ab und gab sein Einverständnis. Mit dem Kopf war er bei den Plänen für die Hofmoschee mit offener Säulenhalle im Haus des reichen Mannes. Seinem jüngsten Sohn, einziges Kind einer seiner Nebenfrauen, brachte Abu Hamza auch kaum mehr Interesse entgegen als den Töchtern seiner anderen Kebsweiber. Der Arbeitsvertrag wurde bald mit einem Handschlag zwischen dem Baumeister und dem Wassermeister besiegelt und nach dem Fest des Fastenbrechens sollte Sayids Ausbildung beginnen.

Am Morgen jenes Tages war Sayid schon früh wach. Türen quietschten, Hähne krähten, Esel schrien, es roch nach dem Feuer der Herde, die zu dieser Stunde überall angefacht wurden, damit der neue Tag beginnen konnte.

Er beobachtete von seiner Matte aus, die ihm als Schlaflager diente, wie Krähen vor dem Fenster vorbeiflogen, und wie die Sonne über den Horizont stieg. Die Schatten begannen zu wandern und sich zurückzubilden. Sie würden mittags zu einem Nichts geschwunden sein, und die erbarmungslose Glut des feurigen Balles, zu dem das freundlich in den Tag hinauslockende goldene Gestirn sich verwandelt haben würde, würde Sayid das Hirn braten. Seine Haut würde mit Schweiß und Schmutz und salzigem Schorf bedeckt sein, so wie er das bei den Ziegelarbeitern oben am See und bei so manchem Bauern gesehen hatte. Doch Sayid focht das nicht an. Er freute sich so sehr auf die Arbeit, dass er vor Aufregung vergaß, seine neuen Schuhe anzuziehen, als er sein Stirntuch umband, nach der Wasserflasche griff und zum vereinbarten Ort hinauslief.

Dort gesellte er sich zu seinem neuen Lehrmeister und ging ihm mit Fleiß zur Hand, wo immer es ihm geraten schien zuzupacken, auch wenn er nicht jedes Mal gleich verstand, wofür dieses und jenes gut und nützlich war. Er häufelte in den Zuckerrohr- und Kürbisfeldern eifrig den Schlamm um, grub neue Gräben für die Orangenhaine und ließ anderswo stehendes Wasser ab, und wenn er abgehetzt innehalten musste, um Atem zu schöpfen, beobachtete er, wie Bilal mit sparsamen Gesten und weniger Kraft stets mehr bewirkte als Sayid mit all seinem wilden Hacken und Schaufeln. In aller Seelenruhe erklärte ihm der Wassermeister dann den richtigen Griff und den hilfreichsten Einsatz seiner Körperkraft, und bald arbeitete Sayid in einer ähnlich geruhsamen und beständigen Geschwindigkeit wie sein Lehrherr, oder bemühte sich doch zumindest, ein Gleichmaß zu finden, ohne allzu sehr außer Atem zu geraten. Dennoch klopfte ihm das Herz zum Zerspringen, wenn er innehielt, um zu trinken. Er keuchte und schwitzte, sein Hemd klebte ihm am Leibe, erschöpft sog er die heiße Luft des Mittags auf dem ungeschützten Felde ein, welche ihm in den Lungen brannte. Seine Wasserflasche war bald leer, aber wenigstens die klebrigen Hände hin und wieder in das kühle Wasser in den Gräben zu tauchen und mit ihm die schweißglänzende Stirn zu benetzen und die Haare zu tränken, war überaus herrlich.

Bilal gönnte sich weniger Pausen und trank selten. Er wirkte unangestrengt und hatte bei der Arbeit sogar noch Atem genug, um Sayid zu belehren und ihm die uralten Regeln für die Wasserverteilung beizubringen.

»Die Gräben werden nach einem genau festgelegten System geöffnet und geschlossen. Das ist seit Jahrhunderten so. Jeder bekommt, was er braucht, und kein Tropfen Wasser wird verschwendet.«

Er schritt zum nächsten Feld und fuhr fort, grabend und redend, ohne sich nach Sayid umzusehen, welcher hinter ihm in dem zähen Matsch umherstolperte, der sich an seinen nackten Füßen festsaugte.

»Ehe die Äcker bestellt werden können, öffne die Bewässerungsgräben das erste Mal, aber ertränke die Felder nicht. Nur ein wenig Wasser gib jedem Feld. Bewache dieses erste Durchfeuchten des Erdreichs, das eben wie eine Tafel sein muss, sonst rede mit dem Bauern und ermahne ihn, seinen Acker besser vorzubereiten. Des Weiteren muss auf der Seite, auf der das Wasser zugeleitet wird, ein Streifen ohne Gefälle vorhanden sein. So wird sich das Wasser erst auf die ganze Breite des Feldes verteilen, ehe es entlang des Gefälles abfließt. Schau her.«

Bilal hackte und schaufelte.

»Öffne die Felder, die wenig beschattet sind, früh am Morgen oder spät am Abend. Je größer das Feld ist, desto mehr Wasser bekommt es. Wenn die Felder zu sehr in der Sonne brennen, teile sie in mehrere Teile und benetze einen Teil um den anderen, sonst trinkt alles die Sonne. Da, wo die neuen Furchen quer zu denen der vorigen Ernte gezogen wurden, gib zuerst Wasser hin. Nutze das breite Ende der Hacke, um die Wälle der Bewässerungsgräben aufzuwerfen, und das spitze, um grobe Brocken zu zerkleinern. Sonst werden sie auf das Feld hinausgespült und verunstalten dort die sorgfältig bearbeitete Fläche. Die Bauern werden sich dann beschweren, weil die Klumpen der Saat das Sprießen schwer machen. Und wenn das Korn so hoch ist wie eine Hand, und die Melonenpflanzen erste Blätter entwickeln, gib ihnen wieder Wasser. Noch fünf weitere Male sollst du die Bewässerungsgräben öffnen, insgesamt also sieben Mal bis zur Ernte.«

Der Schlamm schnalzte und schmatzte, die trockene Scholle brockte und bröselte, wo er die Hacke hineinfallen ließ, und Sayid versuchte, sich das alles zu merken.

»Geh sparsam und so gerecht mit dem Wasser um, als sei es dein bester Freund. Ist es doch nirgendwo im Überfluss zu haben, wird aber überall gebraucht. Es löscht den Durst von Mensch und Tier, es löscht raubgierige Flammen, es tränkt die Pflanzen, die uns Nahrung spenden, und hilft dadurch, uns vor der Armut und dem Hunger zu bewahren. Es spendet Linderung bei Fieber und Heilung, wenn dir der Kopf schmerzt oder die Eingeweide zwicken, es hilft gegen mancherlei Unwohlsein und Verunreinigungen, daher hilf du dem Wasser, auf dass es seinen richtigen Weg finde und weder Schaden anrichte noch verschmutzt werde.«

Sayid nickte ehrfürchtig, und so wahr wir hier sitzen und du, inzwischen neugierig geworden, geduldig meiner Erzählung lauschst, während das Feuer uns wärmt, ist an diesem Mahnwort eines kundigen Wassermeisters nichts falsch oder muss hinzugefügt werden.

Später ging Bilal mit seinem neuen Lehrjungen zu den Brunnen der Stadt, in die es zu klettern galt, um zu prüfen, ob das Wasser noch rein war und das Mauerwerk nicht schadhaft. Ein Wassermeister hatte auch die Zisternen zu reinigen und ihre Zu- und Abläufe zu überprüfen. Sayid folgte Bilal auf Schritt und Tritt und versuchte begierig, über das Aufstauen und Fließenlassen, über Durchfeuchten, Umleiten und Versickernlassen, über Wasserrechte und Wassergesetze sich so viel zu merken, wie es ihm nur möglich war.

Sie standen an dem Brunnen, den das alte Kamel wasserschöpfend umkreiste, die Augen verbunden, damit es nicht merkte, dass es immerfort nur im Kreise ging. Aus den Schöpfern des mächtigen Wasserrades, welches sein gemächliches Schreiten knarrend antrieb, plätscherte fortwährend das Wasser in den Graben, der zu den Feldern führte. Bilal beugte sich vor und sah prüfend in die Tiefe. Auch Sayid krümmte sich weit über den Rand des Brunnens.

»Woher kommt das Wasser in dem Brunnen?«, fragte er. Seine Stimme hallte in der dunklen Kühle unter ihm von den gemauerten Wänden wider.

»Vom Damm«, antwortete Bilal und wies gen Westen. »Das hier ist kein Brunnen, es ist eine alte Zisterne mit einem Brunnenrand. Alles Wasser hier kommt vom Damm her, Tropfen für Tropfen, durch einen verdeckten Kanal. Sieh hinunter, dort befindet sich eine Öffnung an der Wand, kaum zu erkennen.«

Tags drauf wanderte er mit Sayid hinauf zu dem Stauwerk, einer vor Jahrhunderten errichteten Ziegelmauerkonstruktion, die einen eher flach auslaufenden Erd- und Lehmwall stützte und damit den dahinter aufgestauten See sicherte.

»Der Monsun bringt das Wasser. In den Bergen des Hochlandes fällt er zweimal jährlich, im Herbst und dann noch einmal, für kürzere Zeit, im Frühjahr, und alles fließt in den großen See hinter diesem Damm.«

Bilal zeigte seinem Gesellen die klug erdachte Vorrichtung des Tosbeckens, welches als weiterer Speicher diente, wenn plötzliche Regenfälle die steilen Hänge des Wadis herabschossen und den See heftig zum Überlaufen brachten. Von dort her also kam das Wasser. Es floss an der rechten Seite des Dammes durch eine doppelte Schleuse, deren Öffnungen jede mehr als Toresbreite besaß, schoss heraus, als bräche es durch Gestein. In einem steten Schwall stürzten die glatten Bahnen über den Rand. Das Rauschen des geteilten Wasserfalles, mit dem das gelblichbraune Wasser sich hinab in das Tosbecken warf und dort strudelnd schäumte, klang Sayid fremd und ungewohnt in den Ohren. Diese donnernde Wand mit ihrem Saum aus spritzender Gischt war laut, aber in ihrer Nähe war es angenehm kühl, und ein erfrischender Lufthauch ließ die Zipfel von Sayids Stirnband flattern.

»Das Wasser«, sagte Bilal. »Sieh, wie es fließt.«

Er deutete auf den Verlauf des steinernen Verteilerkanals, der vom Tosbecken aus mit lediglich schwachem Gefälle seinen Weg zu den Feldern und Palmenhainen nahm.

»Es fließt immer in eine Richtung, von oben nach unten. Nie kehrt es um. Wasser nimmt stets den kürzesten Weg zum tiefsten Punkt.« Er nickte nachdenklich. »So wie manche Menschen es tun, wenn sie von unrechter Wesensart sind.«

Bilal belehrte Sayid über die Zusammenhänge von Wasserdruck, Gefälle und Fließgeschwindigkeit, während sie über ausgetretene Wartungstreppen aus gebrannten Ziegeln hinaufstiegen. Andächtig standen sie dann auf der mächtigen Krone der Talsperre. Kein Windhauch ging in der drückenden Hitze, die Luft war so klar, dass die Augen schmerzten. Vor ihnen lag, eingebettet in die stürzenden Hänge der roten Felsenlandschaft eine weite, blaue Wasserfläche, welche sich um viele Vorsprünge des steilen Ufers herum durch ein ausgedehntes Wadi erstreckte. Ein lichter Bestand aus Steineichen und Schirmakazien wuchs auf den abschüssigen Hügeln rund um den See bis an das lehmige Ufer hinunter, und bildete nicht gerade einen dichten Wald, doch war er ausreichend grün und schattig, um das Rot und Blau zu einem kraftvollen Farbendreiklang zu erweitern, wie du ihn auf den elegantesten Miniaturen in unseren alten Handschriften nicht prächtiger sehen könntest. In der stehenden Hitze duftete das Holz nach Harz und knackte, nur an einigen Stellen, welche das Wasser nicht erreichte, reckten abgestorbene Bäume ihre kahlen Aststümpfe gegen den Himmel. Die unbewegte Oberfläche des Sees glänzte unter den Strahlen der unbarmherzigen Sonne wie ein Spiegel. Er fing den Himmel auf und verdoppelte dessen blaue Kuppel zu einer Kugel. In diesem Spiegel schien die Unendlichkeit zu schimmern gleich einem Sinnbild des ewigen Lebens und der Verheißung des Paradieses.

»Blaues Gold«, sagte Bilal, und es bedurfte keiner weiteren Erklärung.

Sayid blickte staunend über die Wasserfläche.

»Aber was passiert, wenn der See leergelaufen ist?«, fragte er dann.

»Das wird nicht passieren«, antwortete Bilal. »Wenn der Monsun den Regen bringt, läuft das Wasser von all den Bergen, die du hier siehst, herab und sammelt sich wieder im See.«

»Und wenn es nicht regnet?«

»Es wird immer wieder regnen. Wenig, und selten genug, aber es reicht. Denn wenn es nicht mehr regnet, gibt es nichts mehr zu essen, und das möge Allah verhindern«, erwiderte Bilal und sah mit zusammengekniffenen Augen prüfend zum wolkenlosen Himmel.

»Vergiss das nie: Der Wassermeister sorgt für das Wasser wie Allah für seine Kinder. Dein Freund, der Baumeister werden will, wird sich um den Damm und die Gebäude der Stadt kümmern, und du wirst für die Verteilung des Wassers und die Brunnen und Zisternen sorgen. Ihr werdet Hand in Hand arbeiten, dein Freund und du.«

Er nickte, und sein faltenreiches Antlitz zeigte erneut sein wohlwollendes Lächeln. Dann wurde er ernst:

»Vergiss gleichfalls nie, dass du nur in der Mühe dein Leben genießen kannst. Denn den Regen schickt Allah, um alles andere müssen die Menschen sich kümmern. Wenn die Menschen hier eines Tages ihrer Verantwortung nicht mehr nachkommen würden und vergäßen, was sie dem Damm und dem Wasser zu verdanken haben, müsste alles zugrunde gehen. Die Welt ist klug geordnet, und unser Überleben und Wohlergehen hängt daran. Doch langsam, sehr langsam nagt die Zeit an allem, daher sei auf der Hut und komme deinen Verpflichtungen stets sorgsam nach, auch wenn du sie für unbedeutend hältst. Ein loser Ziegelstein in einer Brunnenwand mag leicht übersehen werden, doch wehe, wenn durch ihn der ganze Brunnen einstürzt. Das Wasser wäre dahin, möge Allah es verhüten.«

Sayid drehte sich um und ließ seinen Blick nach unten gleiten. Am Fuß des Dammes trat unvermittelt das alte Wadi zu Tage, wurde zwischen den Ausläufern der Gazellenhügel immer flacher und lief in östlicher Richtung in einem weiten Bogen gleich einer Mondsichel aus. Hier war seit Jahrhunderten kein Wasser mehr durchgeflossen, denn alles wurde über das Tosbecken in den Verteilerkanal geleitet, welcher sich am alten Flussbett entlang schlängelte, bis er in der Ferne die Zisterne-die-kein-Brunnen-war erreichte, um die das geblendete Kamel seine Kreise zog. Sayid konnte vage noch die Palmenwipfel des Hains erkennen. Vom Hitzedunst verschleiert, thronten die Zitadelle und das Häusergewirr der Stadt auf dem äußersten der Gazellenhügel, welche sich zu seiner Linken vom Gebirge entfernten, wie der ausgestreckte Arm eines Standartenträgers seine Fahne dem Herrscher zuträgt.

Sie gingen zurück, zur Zisterne-die-kein-Brunnen-war. Sayid streichelte das Kamel, das erstaunt grunzte und weiterschritt, von einem Bauernjungen angetrieben. Der kauerte gelangweilt auf dem knarrenden Schöpfrad und stieß von Zeit zu Zeit das Tier mit einem Stecken an, bis er dessen überdrüssig wurde und davonlief. Das Kamel setzte auch ohne Aufseher würdevoll und gemessenen Schrittes seine Reise fort. Sayid kletterte mit Bilal hinab in die Zisterne, um dort nach dem Zulauf zu sehen. Aus dem Verteilerkanal floss das Wasser, jetzt geklärt und frei von Sand, murmelnd und gluckernd in das unterirdische Becken, köstlich frisch und süß. Sayid schöpfte etwas davon und stillte seinen quälenden Durst, der in der Glut des Mittags auf der Dammkrone unter den gleißend grellen Sonnenstrahlen und angesichts der riesigen Wasserfläche des Sees schier unerträglich geworden war, und er dankte Allah für seine Gnade.