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Funktionierendes Ökosystem als Beispiel für Gemeinwohlökonomie Der Autor Erwin Thoma hat eine besondere Beziehung zu Bäumen und Holz. Als Holzbauunternehmer kennt er die Vernetzung der Bäume im Wald. In seinem Buch wird der Kirschbaum vor seinem Fenster zum Symbol einer Gemeinwohlökonomie: Im Gegensatz zu unserem neoliberalen Kapitalismus zeigt er, wie etwas, das angeblich so verschwenderisch ist und so viele ernährt wie ein Kirschbaum, Früchte tragen und für die Zukunft gerüstet sein kann. - Das neue Buch von Erwin Thoma: Der Kirschbaum als Hoffnungsträger für mehr Kollektivbewusstsein und sozialen Zusammenhalt - Wirtschaft und Gesellschaft: Was die Ökonomie von einem funktionierenden Ökosystem lernen kann - Krisen der Gegenwart: Plädoyer für eine Abkehr von einer wettbewerbsorientierten Wirtschaftspolitik hin zu mehr Ressourcenorientierung - Gemeinwohlökonomie: Von gemeinschaftlichem Wirtschaften profitieren alle - Humanistische Werte als Grundlage für ein lebenswertes Leben Gemeinschaftliches Handeln als Weg aus den Krisen der Gegenwart Der Kirschbaum ist eine echte Sharing Economy: ein funktionierendes Ökosystem, das von vielen Wesen getragen, ernährt und vermehrt wird, in dem Intelligenz und Bildung dezentral organisiert sind, Wertstoffe in den Kreislauf zurückfließen und Schwächephasen im Kollektiv überwunden werden. Der studierte Ökonom Thoma weiß, wovon er spricht: Er analysiert, wie bisher intakte Wirtschaftssysteme durch Marktgiganten zerschlagen wurden, und erzählt anhand seines positiven Modells, wie es auch anders geht. Ein wichtiges politisches Buch, das für mehr Miteinander und Menschlichkeit plädiert. Und das Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht – die wir alle mitgestalten können!
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Seitenzahl: 141
Erwin Thoma
Wie wir gemeinschaftlich leben und arbeiten können
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1. Auflage
© 2023 ecoWing Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – Wien, einer Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagmotiv: IMAGO/Arnulf Hettrich
Autorenillustration: Claudia Meitert/carolineseidler.com
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
ISBN: 978-3-7110-0329-4
eISBN: 978-3-7110-5353-4
Einleitung
Kapitel 1
IM JAHRESKREIS DES KIRSCHBAUMS
Kapitel 2
DIE BILANZ DER BÄUME
Kapitel 3
IM WALD GIBT ES KEINE VERLIERER
Kapitel 4
ANGSTFREI UND LEBENSFROH
Kapitel 5
DIE WÄHRUNG DES WALDES
Kapitel 6
VOM WETTBEWERB ZUR QUELLE DES LEBENS
Kapitel 7
DEN WEG GEHEN
Kapitel 8
UNBEIRRT
Nachwort
Der Autor
Es gibt zwei Möglichkeiten, auf die Welt, in der wir leben, zu schauen. Einmal können wir fühlen und erleben, dass wir in ein vollkommen verbundenes System des Lebens hineingeboren worden sind. In ein Leben, in dem alles dynamisch miteinander vernetzt ist. Die Menschen, aber auch die Bäume, jede Pflanze und jedes Tier – wir alle kommen aus dem geheimnisvollen Ursprung allen Lebens. Und wir alle werden wieder dorthin zurückkehren. Jetzt aber, jetzt ist uns das Zeitfenster geschenkt, in dem wir das gemeinsame Spiel spielen, das wir Leben nennen. Unsere Verbundenheit, Zusammengehörigkeit und Abhängigkeit bleiben dabei unveränderbar. Sie sind die festen und gegebenen Regeln in dem Spiel.
Wohl alle Urvölker der Menschheit haben ihre Verbundenheit zur Mutter Erde und den Lebewesen tief verinnerlicht. In verschiedensten Kulturformen wurde und wird das Eingebettetsein im großen Lebenskonzert zum Ausdruck gebracht. Auch alle großen Traditionen und Religionen weisen die Menschen darauf hin, dass nicht wir als Individuen der Mittelpunkt des Geschehens sind. Viel mehr dürfen wir uns freuen, Teil des endlosen Gebens und Nehmens, der ewigen Lebensflüsse auf Erden zu sein.
Wer so auf das Leben schaut, für den wird die Umwelt zur Mitwelt. Sich selbst eingebettet in allem Leben zu sehen, bedeutet Geborgenheit und Unterstützung zu spüren und Lebensängste durch Freude, Hoffnung und Zuversicht aufzulösen.
Die zweite Möglichkeit, das Leben und sich selbst darin zu betrachten und zu verorten, sagt: »Ich bin da! Solange ich lebe, geht es um mich. Ich bin also der Mittelpunkt meiner Existenz. Ich stütze mich auf meine Fähigkeiten. Auf mein Wissen, auf meine Kraft, auf meine Macht. Je weiter etwas von meinem Mittelpunkt entfernt ist, desto unwichtiger ist es. Meine Mitwelt, die mich umgibt, wird zur Umwelt, die ich benutze. Sei es, dass ich die Natur lediglich zur Erholung und Ertüchtigung meines Körpers nutze oder zur Ausbeutung aller Stoffe und Ablagerung von allem Müll, der entsteht, wenn ich meine Fantasien wahr werden lasse.«
In dem Augenblick, in dem wir unsere Umwelt als Gegenstand betrachten, den es optimal zu nutzen gilt, geraten wir in die Rolle des Weltenlenkers. Dann sind wir es, die gestalten und schaffen, wir haben die Kontrolle und die Macht. Unsere Ratio, unsere Wissenschaften, alle Möglichkeiten des Geistes werden in diesen Dienst gestellt. Ehrfurcht vor dem Leben, Urvertrauen und vor allem Verbundenheit mit allem Lebenden stehen diesem egozentrischen Rationalismus jedoch im Wege. Aber auch in unserem Inneren wirkt sich so eine Haltung aus. Sobald wir vergessen, dass alle Lebewesen aus demselben Ursprung kommen und innig verbunden sind, ist Angst fast unvermeidlich. Wie könnte ein Mensch, der sich ganz allein im Leben wiederfindet, ohne Ängste bleiben? Wenn dir kalter Rationalismus zuflüstert: »Sobald du schwach wirst und dein Körper versagt, ist alles aus!«, dann kommt die Angst. Doch das »Ich bin der Mittelpunkt« in uns, unser einsames Ego, sträubt sich gegen diese Angst. Es wird aggressiv, es sucht nach Sicherheit. Die wird vermeintlich in Macht und Kontrolle über andere und über das umgebende Leben gefunden. Plötzlich geht es darum, sich über die anderen hinaufzuarbeiten, sie zu unterdrücken und sie auszunutzen. Mangelgefühle gehören ebenso zu diesem Teufelskreis, der so auch die Zerstörung unserer Mitwelt und unserer Beziehungswelten bewirkt.
Die Furcht, die aus dem Verlust der Verbundenheit mit allem Leben entspringt, ist die Ursache für alles, was im großen Lebensspiel danebengeht. Es gilt daher unser Ego als das zu sehen, was es ist, und es zu heilen. Das verkümmerte, verängstigte und verwirrte »Ich bin«-Ego, das müssen wir an die Hand nehmen und zurückbringen in den großen Lebensfluss der Verbundenheit. In eine Welt, in der sich die Ängste auflösen wie der letzte Schnee in der Frühjahrssonne. Die Sonnenstrahlen, die hier die Ängste schmelzen lassen, sind Verbundenheit und Brüderlichkeit, gegenseitige Hilfe und Solidarität, Vertrauen und Liebe.
Es geht um den Weg von der einsamen Abgetrenntheit zurück zur liebevollen Verbundenheit mit allem Leben. Ein unerwartet klares und hilfreiches Vorbild für alle, die sich auf so einen Weg machen wollen, bekommen wir in nächster Nähe geschenkt. Der unvoreingenommene Blick auf die Natur, auf die Spielregeln, die sich dort immer schon bewährt haben und bewähren, der zeigt uns eine Welt voller Zuversicht und Hoffnung. Bei mir geht dieser unmittelbare Blick aus dem Fenster hinaus, auf den Kirschbaum vor meinem Haus. Sein Lebensweg stellt manches auf den Kopf, was wir Menschen für unverzichtbar halten. Ganz neue Denkmuster schenkt er uns, und die brauchen wir auch, wenn wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gut lösen wollen. Wir können den Kirschbaum als Vorbild sehen, als Analogie zu uns selbst und unserem Leben. Denn wir können mehr von ihm lernen, als wir auf den ersten Blick glauben.
Vor meinem Haus, am Weg zum Stall hinunter, steht ein Kirschbaum. Im Winter, wenn alle Äste kahl in die Höhe ragen, fällt er gar nicht auf zwischen der benachbarten Ulme und dem alten Holunder, der sich unter den Kirschzweigen an den dunklen Stamm seines Nachbarn schmiegt. Den ganzen Winter lang bilden die drei eine unscheinbare Schicksalsgemeinschaft, die sich an der Wand eines alten Nebengebäudes der Hofstelle gebildet hat. In dieser Jahreszeit fällt mein Blick manchmal dorthin, wenn ein Schwarm Krähen in den Ästen landet. Zunächst scheint es dann immer, als würden die schwarzen Vögel die Trostlosigkeit überallhin mitbringen. Wenn ich sie jedoch länger aus dem Küchenfenster beobachte, kann ich oft staunen, wie klug, wie wachsam sie den Aussichtsplatz in der Baumkrone nutzen. Wie sie sich untereinander genau abstimmen, und plötzlich, meist ohne ersichtlichen Grund, den Baum wieder so unversehrt verlassen, wie sie ihn vorgefunden haben. Dagegen wirken die winterlichen Singvögel viel unbefangener, wenn auch sie die Baumgruppe nutzen, um zwischen der Futterstelle am Haus und den geschützten Plätzen im dichten Astgewirr der wilden Kirsche hin- und herzufliegen. Dort können sie die ergatterten Futterkerne in Ruhe schälen und fressen. Denn das Futterhäuschen, die Quelle ihrer Winternahrung, ist ja auch ein Ort unentwegter Konkurrenz. Weiters gibt es noch die Spezialisten wie etwa den Kleiber, der seine Nahrung am Kirschbaum selbst findet. Von der Natur mit einzigartigen Kletterzehen ausgestattet, läuft er eifrig den Stamm auf und nieder und sucht unermüdlich jede Rindenritze nach Insekten, Larven, Milben und allem möglichen Futter ab.
Der Kirschbaum selbst, seine Nachbarn die Ulme und der Holunder sowie all die kahlen Laubbäume rundherum – sie bleiben den ganzen Winter lang für viele Menschen unerkannt in ihrer Art. Wer alle Laubgehölze nur anhand der Äste, Knospen und ihrer Erscheinungsformen sicher bestimmen kann, der darf sich schon Fachmann auf dem Gebiet nennen.
Das ändert sich mit einem Schlag, sobald der Schnee im Frühjahr geschmolzen ist und die Nächte wieder frostfrei sind. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der da draußen der Kirschbaum die Bühne für sich allein in Anspruch nimmt. Selbst wenn man es schon zigmal erlebt hat, beeindruckt es jedes Jahr wieder, wie binnen weniger Tage aus den unscheinbaren Knospen unvermittelt Tausende und Abertausende Blüten sprießen. Den ganzen Winter waren es schmucklose, unauffällige Astkronen, unerkannt unter all den entlaubten Bäumen, aber jetzt prägen sie als blühende Höhepunkte die ganze Landschaft. Kein Wunder, dass wir Menschen da mit Freude erfüllt werden. In vielen Kulturen werden zu dieser Zeit Feste der Fröhlichkeit und Zuversicht gefeiert.
Aber stopp! Bevor wir weiter in begeistertes Schwärmen verfallen, wollen wir ganz sachlich überlegen, was der Kirschbaum da eigentlich treibt. Aus der Sicht, mit der wir Menschen heute gewohnt sind, Aufgaben und Probleme zu lösen, ist es ja völlig verrückt, was so ein Baum im Frühjahr veranstaltet. Besonders die betriebswirtschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Spielregeln unserer Zeit empfehlen eine ganz andere Vorgangsweise.
Den größten Teil meines Berufslebens habe ich als Geschäftsführer in einer leitenden Position in der Wirtschaft verbracht, und ich habe Betriebswirtschaft studiert und dabei versucht, diese Welt und ihre Spielregeln zu verstehen. Aus dieser Erfahrung und dem dabei gesammelten Wissen weiß ich, dass die Lebensart des Kirschbaums gar nicht dieser Lehre entspricht. Nein, er macht so ziemlich alles verkehrt. An jeder Wirtschaftsuni würde er sicher durchfallen. Warum?
Das oberste Ziel jeder wirtschaftlichen Tätigkeit in unserer sogenannten freien Marktwirtschaft ist es ja, damit so viel Geld und Macht einzusammeln, wie es nur geht. Wenn das gelingt, wird es Erfolg genannt. Und damit das gelingt, ist es nötig, jeden Schritt, jedes Etappenziel mit dem geringstmöglichen Aufwand zu erreichen. Das nennt man »möglichst effizient sein«. Nun schauen wir einmal, ob der Kirschbaum das begriffen hat und effizient ist: Wozu er eigentlich im Frühjahr blüht, ist klar. Er blüht, damit er Früchte hervorbringen kann, die alle einen Samen beinhalten, der einen neuen Baum hervorbringt und süß verpackt ist, damit er in manchen Tiermägen herumgetragen wird und sich die Baumart so verbreiten kann. Fortpflanzung, das Heranwachsen einer nächsten Kirschbaumgeneration ist also Sinn und Zweck dieser Aktion. Nur, wenn unser Kirschbaum ordentlich an einer Wirtschaftsuni studiert und am Ende vielleicht sogar promoviert hätte, dann würde er vor Beginn der Arbeit das tun, was alle Menschen in einer verantwortungsvollen Wirtschaftsposition tun. Er würde zuerst mit Analysen und Statistiken beginnen: Was sind die größten Risiken, wie stehen die Chancen? Vielleicht würde er eine sogenannte SWOT-Analyse, Viereck-, Balken- oder Liniendiagramme erstellen. Und am Ende wüsste der Kirschbaum, wie er sich fortpflanzen kann und dabei so wenig Energie wie möglich einsetzen muss. In einem neoliberalen Wirtschaftssystem stünde er dabei auch immer im Wettbewerb mit allen anderen. Da kann und darf die Kriegskasse niemals für Leichtfertigkeiten geleert werden. Der Kirschbaum müsste also rasch feststellen, dass es vollkommen ausreicht, wenn aus seinen Samen jedes Jahr einige wenige junge Bäume nachwachsen. Dafür genügen 10, 20 oder sagen wir großzügig 50 Blüten. Die müssten dann nur geschickt verteilt werden. Sowohl zeitlich – sodass alle paar Tage einige Blüten erblühen, damit abgesichert ist, dass ein plötzlicher Frost nicht den ganzen Nachwuchs zerstört – als auch räumlich, die Blüten sollten also über die ganze Krone verteilt sein. Damit bestünde kein Risiko, dass mit einem abgebrochenen Ast alle Blüten und Samen untergehen. Das wäre eine wirtschaftlich effiziente Kirschblüte, die nebenbei die höchste Wettbewerbsfähigkeit erhält. Jede einzelne Blüte, die zusätzlich hervorgebracht wird, verbraucht ja wieder Wuchskraft und damit Stoffreserven des Baums. Für gutes Geld könnte er bei international angesehenen Wirtschaftsberatungskonzernen auch noch eine Studie in Auftrag geben. Er würde das Ergebnis ausgedruckt in einem hochwertig gestalteten Exposé erhalten und könnte damit in kurzer Zeit einen Vorsprung gegenüber allen Bäumen erreichen, zusätzlichen Lebensraum neu besiedeln. So würde er im ewigen, gnadenlosen Wettbewerb am Ende besser, schneller und stärker dastehen als alle seine anderen Baummitbewerber. Aber was macht der Kirschbaum stattdessen?
Um Himmels willen, er verstößt gegen alle Regeln der wirtschaftlichen Vernunft. Von Effizienz, Sparsamkeit und gezieltem Ressourceneinsatz kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Er schmeißt eine orgienhafte Party. Tausende Blüten werden im Überfluss gebildet. Das verbraucht gerade im Frühjahr jede Menge kostbare Energie. Jedem Wirtschaftsprofessor müssten bei so viel Leichtsinn die Haare zu Berge stehen, lernen wir doch, dass die Natur im ewigen, grausamen Wettbewerb steht. Da kann es auf jede Zelle ankommen. Jetzt, wo geklärt ist, dass der Baum auch mit 50 Blüten seine Nachkommen aussäen könnte, ist ja auch vollkommen klar, dass so ein Blütenmeer eine reine Verschwendung darstellt. Auch von Charles Darwin kann der Baum noch nie etwas gehört haben. Dessen Erkenntnisse sind wissenschaftlicher Konsens, die oftmals daraus abgeleitete Rechtfertigung für gnadenlosen Wettbewerb und Konkurrenz hingegen, die beeindruckt unseren Kirschbaum wenig. Wie soll es da einen Platz geben für Party-Kirschbäume mit Tausenden Blüten? Und als wäre das noch nicht schlimm genug, kommt es noch ärger. Wer meint, die Kirschblütenparty sei halt ein einzelner Ausrutscher, sozusagen ein pubertärer Störfall in der Hitze der aufsteigenden Säfte im Frühjahr, der irrt. Denn in derselben wirtschaftlichen Unvernunft geht es weiter durch das Jahr.
Sobald die Blüten aus den Knospen brechen, erscheint aus nah und fern ein ganzes Heer an Insekten. Was Flügel oder sechs Beine hat, sucht die Kirschbäume auf, betrinkt sich dort am Nektar und füllt die Mägen prall mit frischen, köstlichen Blütenpollen. Es summt und brummt, als wären die Äste zur größten Partymeile verwandelt. Wen wundert es, dass es dem gestandenen Betriebswirt da schon wieder den Magen zusammenzieht? Die trinken, essen, feiern und zechen zu Tausenden – und bezahlen nichts! Was ist das für ein Wirtshaus? Wer kommt auf die Idee, so etwas zu veranstalten? Na gut, die Insekten bestäuben die Blüten und sorgen so dafür, dass auch schöne Kirschen heranwachsen. Aber erstens braucht kein Mensch so viele bestäubte Blüten und zweitens könnte man das auch billiger haben. Wären tüchtige Konzernmanager am Werk, würden sie sofort herauskriegen, welche Insektenart bereit ist, diese Arbeit am billigsten zu erledigen. Dann sind die anderen rasch überflüssig. Sie müssten dann nicht auch noch teuer gefüttert und mit Nektar getränkt werden. Aber auch von billigen Arbeitskräften versteht der Kirschbaum offenbar nichts. Wie geht es nun weiter?
Als Nächstes werden die Kirschen im Frühsommer reif. Da rücke ich mit meiner Leiter aus, um mir für einen köstlichen Kuchen oder einige Gläser Marmelade Kirschen zu pflücken. Aber was muss ich jetzt entdecken? Zusätzlich zu den Insekten, die neuerdings auch summend an den roten Früchten knabbern, lutschen und saugen, sind auch noch Heerscharen von Vögeln dazugekommen. Vögel, Hunderte Vögel, als wären es zuvor nicht schon genug Gäste gewesen, die kostenlos zechen. Amseln, Stare, Drosseln und all die anderen, die offensichtlich auch noch eine ausgesprochen schlechte Erziehung hatten. Als Kinder haben wir stets gelernt, dass man sich nicht mehr auf den Teller nimmt, als man aufessen kann. Was man anfängt, soll auch beendet werden. Würden das auch die Vögel beherzigen, dann gäbe es kein Problem. Aber was machen diese Tiere bloß? Sie pecken an dieser Kirsche und dann an der nächsten, und sofort werden drei andere ausprobiert, um hinterher zum nächsten Ast zu springen und wieder eine süße Frucht nach der anderen anzupecken. Gustierend erfreuen sie sich am Geschmack der verschiedenen Kostproben. Was für eine Verschwendung! Wieso kann so ein Vogel nicht artig zwei oder drei Kirschen sauber und zur Gänze auffressen? Dann wäre sein kleiner Magen randvoll und er könnte sich zum Ausruhen in eine Astgabel begeben. So aber dauert es nicht lange, bis nach der Reifung der Früchte ein großer Teil angepeckt und zu Boden gefallen seine Gärung beginnt. Die nächste Verschwendung – obwohl es wenigstens viele Insekten gibt, die auf diese Weise an den süßen Saft gelangen, der sonst unerreichbar für sie wäre.
Indirekt bringt mich all das immer wieder zum Lachen. Wenn ich Glück habe, dann schaue ich in einer Vollmondnacht gerade dann aus dem Fenster, wenn Mama Dachs mit ihren Jungen den Baum aufsucht. Die Vögel haben mit den angepeckten Früchten für einen betörend süßen, halb angegorenen Früchteteppich unter dem Baum gesorgt. Für die Dachse ist das mehr als ein gefundenes Fressen. So erscheint die Mutter mehr oder weniger regelmäßig mit ihrer immer hungrigen Schar der Jungdachse. Für sie ist das sicherlich ein Schlemmerhöhepunkt des Jahres. Und lachen muss wohl jeder, der das Glück hat, das Treiben einer Dachsfamilie bei so einem Festmahl zu beobachten. Die Kleinen rangeln und raufen, balgen und rülpsen. Sie treiben einfach alles, was unseren Menschenkindern bei Tisch verboten ist. Da entlädt sich im Mondschein unterm Kirschbaum dann einfach ungehemmte Lebenslust. Dass dabei nicht nur säuberlich das Fruchtfleisch verzehrt, sondern auch mancher Kern gierig verschluckt wird, versteht sich von selbst. Im Bauch wird die Ladung nach dem Festmahl nach Hause getragen. Jahre später wächst dann aus einem inzwischen verlassenen Dachsbau ein junger Kirschbaum fröhlich seiner ersten Blütezeit entgegen …
Wer so einen Kirschbaum im Jahresverlauf beobachtet, der kann es drehen und wenden, wie er will. Es bleibt dabei, dass der Baum auf eine andere Strategie setzt als wir Menschen. Er ist weder sparsam noch effizient. Vielmehr zeigt er sich als überaus gastfreundlich. Ja, eine geradezu verschwenderische Unterstützung für alle lebt er uns vor. Aber welchen Sinn hat die Fülle der Blüten, der Überfluss an Früchten, die Freigiebigkeit an alle vorbeikommenden oder -fliegenden Lebewesen? Gerade scheinbare Widersprüche in der Natur sind für uns Menschen wertvolle Gelegenheiten, zu lernen und unseren eigenen Weg besser gehen zu