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Dieses Buch des angesehenen indianischen Autors Jack D. Forbes – im Original damals Columbus and Other Cannibals – war einer der Gründungstexte der zivilisationskritischen Bewegung, als es 1978 erstmals veröffentlicht wurde. Seine Geschichte von Terrorismus, Völkermord und Ökozid, erzählt aus der Sicht der amerikanischen Ureinwohner, inspiriert seit Jahrzehnten Amerikas einflussreichste Aktivisten. Erschreckenderweise ist seine radikale Kritik am modernen »zivilisierten« Lebensstil heute aktueller denn je. Diese durchgesehene Ausgabe enthält ein neues Kapitel des Autors. Forbes bezeichnet den westlichen Zwang, die Erde zu verbrauchen, als eine Krankheit, die er mit dem indigenen Wort Wetiko (auch Windigo) bezeichnet: »Brutalität kennt keine Grenzen. Die Gier kennt keine Grenzen. Perversion kennt keine Grenzen. […] Alle diese Eigenschaften drängen in Richtung eines Extrems, das immer weiter voranschreitet, sobald die erste Infektion einsetzt. […] Dies ist die Krankheit des Verzehrs des Lebens und des Besitzes anderer Kreaturen. Ich nenne sie Kannibalismus oder ›Wetiko‹«. Dieses Buch ist eine hervorragende Abhandlung darüber, wie ein Teil der menschlichen Familie, der seine Wurzeln in Europa hat, den Kontakt zu den Eigenschaften verlor, die uns menschlich machen, vor allem unser Mitgefühl und unsere Empathie für andere. Ähnlich wie Gabor Maté oder C.G. Jung spricht Forbes vom »psychopathischen« Charakter der westlichen Gesellschaft und ihrer Führung. Das Erschreckende ist, dass der Völkermord an den nordamerikanischen Ureinwohnern, den Afrikanern, den australischen Aborigines und den indigenen Völkern Neuseelands, Kanadas sowie Mittel- und Südamerikas, diese Gemetzel von »normalen« weißen Alltagsmenschen europäischer Abstammung verübt wurde. Dr. Forbes wirft einen unverblümten Blick auf diese Realität und ihre Bedeutung für die heutige katastrophale Lage der Menschheit. Dabei werden seine wahren Horrorgeschichten von sehr poetischen mythischen Bildern aus dem indigenen Erbe umrahmt, die um so deutlicher machen, welche Kluft uns von unserem wahren Menschsein trennt. Derrick Jensen schreibt in seinem Vorwort: »Das Buch ist kurz. Sie können es an einem Nachmittag lesen. – Tun Sie das. Und dann lassen Sie es wirken: in Ihrem Blutkreislauf und in Ihren Zellen. Wenn das Buch Sie auch nur zu einem Zehntel so weit öffnet, wie es mich geöffnet hat, werden Sie nie wieder derselbe sein. Und das ist eine sehr gute Sache.«
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2024
JACK D. FORBES
Es gibt heute unbedingt viele gute Gründe, das weibliche Geschlecht wieder besser sichtbar zu machen. Dies ist seit mehr als 40 Jahren auch Anliegen unseres Verlages. Ob dies durch Gendern erreicht wird, darf man jedoch hinterfragen, immerhin geht es um unsere Muttersprache. Sicher ist, dass der grammatische Genus nichts über das Geschlecht (Sexus) aussagt. Deswegen halten wir uns als Verlag beim Gendern bewusst zurück. Ausführliche Begründung dazu unter www.neue-erde.de/derdiedas
JACK D. FORBES
Ausbeutung, Imperialismus und die Zerstörung der Lebenswelt
Eine indigene Geschichte der Zivilisation
Überarbeitete Neuausgabe
Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Lentz
Bücher haben feste Preise.
1. Auflage 2024
Jack D.Forbes
Der Wetiko-Wahn
Originalversion copyright ©1979 von Jack D. Forbes
Veröffentlicht von D-Q University Press als Vorabdruck mit dem Titel
A World Ruled by Cannibals.
Überarbeitete Ausgaben copyright ©1992 und © 2008 bei Jack D. Forbes.
Erstausgabe bei seven stories press, 2008
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andreas Lentz.
© für die deutsche Ausgabe Neue Erde GmbH 2024
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Herausgebers vervielfältigt, in einem Datenabfragesystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, einschließlich mechanisch, elektrisch, durch Fotokopieren, Aufzeichnen oder auf andere Weise, übertragen werden.
Umschlag:
Motiv: Alte mexikanische Terrakottaplatten; Illustration von 1898,
Sammlung Christine Kohler/istockphoto.com
Klappenvignetten: Eroshka und d-e-n-i-s, beide shutterstock.com
Gestaltung: Dragon Design, GB
Lektorat: Fred Hageneder
eISBN 978-3-89060-494-7
ISBN 978-3-89060-873-0
Neue Erde GmbH
Cecilienstr. 29 · 66111 Saarbrücken
Deutschland · Planet Erde
www.neue-erde.de
Antonio del Buono gewidmet 1900–1975
Otomi …
Mexikaner …
Italiener …
Chicano …
Kosmischer Mensch …
Ein Mann, an den man sich erinnern sollte
Ein Mann, dem man nacheifern sollte:
Er kam auf diese Erde, um
Adler und Jaguar zu sein
Vorwort von Derrick Jensen
Danksagungen
Einführung Das zentrale Problem des menschlichen Lebens heute
einsDie Entstehung des Weltenalls und die Schöpfung der Liebe
zwei Das Leben eines anderen auffressen: Die Wétiko-Kannibalen-Psychose
dreiKolumbus: Kannibale und Held des Völkermordes
vier Betrug, Brutalität und Gier: Die Ausbreitung der Seuche
fünfDie Struktur des Wahnsinns des Kannibalen: Arroganz, Lust und Materialismus
sechsEin Raubtier werden: Der Vorgang der Korruption
sieben Das Mátchi-Syndrom: Die Faszination des Bösen
achtKolonialismus, Europäisierung und die Zerstörung der einheimischen (authentischen) Kulturen
neun »Wilde«, freie Menschen und der Verlust der Freiheit
zehn Terrorismus: Ein häufiger Aspekt des Wétiko-Verhaltens
elf Männliche Gewalt, weibliche Unterordnung und die Aufrechterhaltung von aggressiver Gewalt
zwölf Organisierte Kriminalität: Geplante Aggression, geplanter Raubbau
dreizehn Wenn Jesus wiederkommen würde
vierzehn Auf der Suche nach Vernunft: Den Prozess der Brutalisierung umkehren
fünfzehn Einen guten Weg finden, einen Weg mit Herz
Das Weltenall ist unser heiliges Buch
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Quellennachweise und Abdruckgenehmigungen
Über den Autor
Stichwortregister
Der Wetiko-Wahn ist meiner Meinung nach das wichtigste Buch, das je über eines der wichtigsten Themen geschrieben wurde, mit denen sich die Menschheit je auseinandersetzen musste: Warum ist die herrschende Kultur so entsetzlich, unbarmherzig, wahnsinnig, warum neigt sie zum Völkermord, gar zum Ökozid, warum ist sie so selbstmörderisch zerstörerisch?
Ich habe viele Bücher zu genau dieser Frage geschrieben und muss zugeben, dass ich hier immer noch ebenso ratlos wie fassungslos bin. Wie können Gruppen von Menschen, wie verrückt oder wie dumm sie auch sein mögen, den Planeten zerstören, auf dem sie leben (oder besser gesagt, mit dem sie leben)?
Oft schüttle ich heftig den Kopf oder kneife mich, in der Hoffnung, aufzuwachen und festzustellen, dass diese Kultur und ihre Zerstörungswut nur ein sehr schlechter, unfassbarer Traum ist. Aber wenn ich aufwache, ist es derselbe Alptraum von getöteten Ozeanen, vom Aussterben der Lachse, von Sklaverei und Lohnsklaverei, von Dioxin in der Muttermilch, von indigenen Kulturen, die an den Rand des Abgrunds getrieben werden.
In meinen Büchern habe ich psychologische Gründe für die allgegenwärtige Zerstörungswut genannt und ich habe soziologische Gründe aufgeführt. Ich habe wirtschaftliche Gründe gefunden und ich habe philosophische Gründe angesprochen. Ich habe als Gründe erkannt, wie wir geschult sind, wahrzunehmen (oder besser gesagt, nicht wahrzunehmen). Aber so überzeugend mir alle diese Gründe manchmal auch vorkommen, es gibt immer wieder Momente, da sind diese Erklärungen bloß Worte, und sie genügen in keiner Weise.
Und natürlich kann es überhaupt keine wirkliche Erklärung oder Beweggründe geben für die Ermordung dieses Planeten.
Aber Jack Forbes’ Erklärung – Erkundung wäre ein besseres Wort – kommt dem, was ich erkannt habe, am nächsten. Er erfasst in diesem schmalen Band mehr als andere in Büchern, die zehnmal so dick sind.
Ich werde Ihnen nicht sagen, zu welchen Schlussfolgerungen er gekommen ist, und auch nicht, was sein Ausgangspunkt war.
Das Buch ist kurz. Sie können es an einem Nachmittag lesen.
Tun Sie das. Und dann lassen Sie es wirken: in Ihrem Blutkreislauf und in Ihren Zellen – in Fingerspitzen, Oberschenkel, Ellbogen, Gehirn, Herz, Magen, Lunge, Zehen, Zunge, Auge, Ohr. Wenn das Buch Sie auch nur zu einem Zehntel so weit öffnet, wie es mich geöffnet hat, werden Sie nie wieder derselbe sein.
Und das ist eine sehr gute Sache.
Kaufen Sie dieses Buch. Lesen Sie es. Und dann, bewaffnet mit Ihrem neu gewonnenen Verständnis, gehen Sie hinaus und halten Sie diese wahnsinnige kannibalische Zivilisation davon ab, den schönen Planeten, der unsere Heimat ist, vollends zugrunde zu richten.
Derrick Jensen
Es ist immer sehr schwierig, dieses Leben so zu leben, dass man keinen Schaden nimmt oder anderen schadet. Was wir erreichen, wenn wir ein guter Mensch sind, ein Mensch, der in Schönheit, Gerechtigkeit und Mitgefühl lebt, sind Dinge, die wir nicht uns selbst zuschreiben können.
Und auch konkrete Dinge, die wir erreichen, schaffen wir nicht allein. Dieses Buch hat, wie alles, was ich geschrieben habe, viele Urheber. Ich muss meinem Vater Dank sagen, einem ehrlichen, mitfühlenden, gerechten Mann, der mir in meinen ersten einundzwanzig Lebensjahren der lebende Beweis dafür war, dass ein Mensch aufrecht wie eine Pinie wachsen kann, ohne sich auch nur ansatzweise der Geschäftemacherei, dem Betrug oder der Oberflächlichkeit zu ergeben. Seine intellektuelle Neugier, sein Stolz auf die Arbeit seiner Hände und seine Wertschätzung der natürlichen Welt haben mein Leben stark geprägt. Er war ein hart arbeitender Mann, der materiell nie Erfolg hatte, aber sein Vermächtnis ist jene Authentizität, die ich hoffentlich an meine Kinder weitergeben kann.
Es ist schwer, meine Mutter getrennt von meinem Vater zu sehen, denn beide teilten die gleichen Werte: Ehrlichkeit, Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn. Aber vor allem meine Mutter hat Pflanzen und wachsende Dinge geliebt. Ihr fällt es genauso schwer wie mir, auch nur eine Pflanze, selbst einen Setzling, wegzuwerfen. Wir stecken beide ständig Dinge in die Erde, um sie wachsen zu lassen (was ein Grund dafür ist, dass ich von Berufs wegen eine Art Landwirt bin).
Aber nicht nur meine menschlichen Eltern und Großeltern, Tanten und Onkel haben die folgenden Seiten verfasst. Von klein auf inspirierten mich die Kämpfe meiner indianischen, keltischen und schweizerischen Vorfahren um Gerechtigkeit im Widerstand gegen den Imperialismus zu einer Vision dessen, was in einem politischen Sinne das gute Leben ausmacht. Ich kann gar nicht genug betonen, wie sehr die Geschichten von Powhatan und Opechkankanough oder von Sir William Wallace (»Braveheart«) und Arnold Winkler meinen frühen Sinn für das Rechtmäßige geprägt haben. Ich sehe noch immer die Bilder vor mir, wie der alte, gefangene Opechkankanough von einem englischen Soldaten ermordet wird, wie Bauern und Angehörige der Klans zur Unterstützung von Wallace ihre Schwerter und Sensen erheben oder wie Winkler Schweizer Bauern durch die Phalanx der österreichischen Speerträger führt.
Ich muss noch viele andere Urheber nennen, darunter die Ziegen, Enten, Gänse, Hunde, Katzen und andere Tiere, die mich viel über die Freude und Spontaneität eines wahrhaftigen Lebens gelehrt haben, das frei von Kleinlichkeit und Bosheit ist, wie man sie manchmal in der menschlichen Welt findet. Bäume und Pflanzen waren ebenso meine großen Freunde, vor allem eine riesige Eiche, die mich in vielen schwierigen Jahren beschützte, als ich mich von fremdartigen Schulen und fiesen Kindern gedemütigt fühlte. Und auch die mit Salbeisträuchern bewachsenen Hügel, die Canyons und die kahlen, felsigen Wüstenschluchten haben mir Zuflucht geboten und mich die Liebe von Mutter Erde gelehrt.
Es ist schwer, in der weißen Welt ein Indianer zu sein, aber in der Natur ein Indianer zu sein ist leicht, denn die Erde, die Pflanzen, die Tiere und die geflügelten Geschöpfe bieten Gesellschaft, Liebe oder einfach nur wahrhafte Spontaneität, die nicht von Übelwollen, Eifersucht oder Gier getrübt wird.
Viele andere Verwandte haben mir geholfen, dieses Buch zu schreiben, zu viele, als dass ich sie alle aufführen könnte, aber ich möchte meinen Adoptiv-»Onkel« Antonio del Buono erwähnen, einen Landarbeiter mit Wurzeln bei den Otomi, Italienern und Chicano; er war Organisator und Aktivist im Kampf für Gerechtigkeit. Seine Ehrlichkeit, seine Offenheit, sein Optimismus und seine absolute Immunität gegenüber Egoismus und Korruption werden allen, die sich durch raffinierten Betrug und Abzocke entmutigen lassen, immer ein Vorbild sein.
Auch meine Frau Carolyn war Mitautorin dieses Buches, zum Teil, weil sie hilfreiche Kritik am Inhalt geübt hat, aber mehr noch, weil sie mir geholfen hat, viele der Dinge, über die ich schreibe, besser zu verstehen. Ihre Spiritualität, ihr ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und ihr tiefes Verständnis für Schmerz und Leid haben mein Bewusstsein nachhaltig beeinflusst. Schreiben ist nicht Carolyns Art sich auszudrücken, aber durch meine Worte haben vielleicht einige ihrer Einsichten eine Stimme gefunden.
All diesen Vorfahren und Verwandten und anderen Ungenannten danke ich. Wanishi!
Ein Indianer, der so schlecht ist wie die Weißen, könnte in unserem Land nicht leben; er würde getötet und … von den Wölfen gefressen werden. Die Weißen sind schlechte Lehrmeister; sie geben sich einen falschen Anschein und handeln falsch; sie lächeln den armen Indianern ins Gesicht, um sie zu betrügen; sie schütteln ihnen die Hand, um ihr Vertrauen zu gewinnen, um sie dann betrunken zu machen, um sie zu hintergehen und unsere Frauen zu schänden. Wir haben ihnen gesagt, sie sollen uns in Ruhe lassen, aber sie sind uns gefolgt und haben sich bei uns eigeschlichen wie Schlangen. Sie vergifteten uns durch ihre Berührung. Wir waren nie sicher. Wir lebten in Gefahr. Wir wurden wie sie, Heuchler und Lügner, Ehebrecher, faule Gesellen, die nur reden und nichts schaffen.1
Was die Taufe der Indianer und Schwarzen betrifft, so sind einige der [weißen] Leute dagegen, weil sie sagen, dass diese dann stolz werden und keine guten Diener mehr sind; aber diese und solche Einwände sind leicht zu widerlegen … denn das Christentum leitet sie an, demütig zu werden und bessere Diener, und nicht schlechter, als sie es als Heiden waren.2
Seit mehreren Tausend Jahren leidet der Mensch an einer Pest, einer Krankheit, die schlimmer ist als Lepra, einer Krankheit, die schlimmer ist als Malaria, einer Krankheit, die viel schlimmer ist als die Pocken.
Eine Frau wird von Männern überfallen, die sie brutal vergewaltigen und sterbend liegenlassen.
Indianer werden ermordet, und verarmte Halbblutindianer sind gezwungen, im Wald Kautschuk zu sammeln, und zwar unter Bedingungen, die diese Kautschuksammler zu einem erbärmlichen Tod verurteilen.
Kleine Länder werden überfallen, damit ein ganzes Volk und seine Ressourcen ausgebeutet werden können.
Menschen aller Couleur werden enteignet oder in Schulden verstrickt und sind gezwungen, ihr kurzes Leben als Sklaven oder Leibeigene zu verbringen.
Jungen werden dazu erzogen, Befehle zu befolgen und als Kanonenfutter zu dienen, während Mädchen dazu erzogen werden, ihre Kinder an Armeen, Fabriken oder Plantagen zu übergeben.
Menschen und andere Lebewesen werden auf die grausamste Art und Weise gefoltert, die man sich vorstellen kann.
Der »Kult der Aggression und der Gewalt« regiert, und die Gefängnisse und Irrenanstalten sind überfüllt.
Imperialismus, Kolonialismus, Folter, Versklavung, Eroberung, Brutalität, Lüge, Betrug, Geheimpolizei, Gier, Vergewaltigung, Terrorismus – all das sind bloß Worte, bis sie uns betreffen. Dann sind es keine Worte mehr, sondern sie werden zu einer bösartigen Realität, die uns überwältigt, auffrisst und unser Leben für immer verändert.
Dies ist also die Krankheit, mit der ich mich befassen möchte – die Krankheit der Aggression gegen andere Lebewesen oder, genauer gesagt, die Krankheit des Verzehrs des Besitzes und des Lebens anderer Lebewesen.
Ich nenne sie Kannibalismus, und ich werde versuchen zu erklären, warum. Aber wie auch immer wir sie nennen, diese Krankheit, dieses Wétiko, diese (kannibalische) Psychose, ist die größte epidemische Krankheit der Menschheit. Die Vergewaltigung einer Frau, die Vergewaltigung eines Landes, die Vergewaltigung eines Volkes, sie alle sind im Grunde dasselbe. Und sie sind dasselbe wie die Vergewaltigung der Erde, die Vergewaltigung der Flüsse, die Vergewaltigung des Waldes, die Vergewaltigung der Luft, die Vergewaltigung der Tiere. Brutalität kennt keine Grenzen. Gier kennt keine Grenzen. Perversion kennt keine Grenzen. Arroganz kennt keine Grenzen. Betrug kennt keine Grenzen. All diese Eigenschaften werden immer extremer und breiten sich immer weiter aus, sobald die Ansteckung stattgefunden hat: von der Vergewaltigung einer Frau über die Vergewaltigung eines Landes bis hin zur Vergewaltigung der Welt. Akte der Aggression, des Hasses, der Eroberung, der Errichtung von Imperien. Harems von Frauen und Harems von Menschen; Häuser der Prostitution und Häuser von Zuhältern.
Vor vielen Jahrhunderten sagte ein mexikanischer (aztekischer) Vater zu seinem Sohn:
Mein Sohn, mein Juwel, mein reiches Quetzal-Gefieder: Du bist ins Leben gekommen, du bist geboren, der Schöpfer und Meister hat dich auf die Welt kommen lassen.
Der Schöpfer hat dich gezeugt, er hat dich geformt, er hat dich geboren, der, für den alles lebt…
Nun gut: Für eine kurze Zeit bist du gekommen, um über Dinge nachzudenken, du bist gekommen, um dich zu entwickeln, du bist gekommen, um für dich einen Weg zu finden, du bist gekommen, um zu wachsen…
Was wird der Plan des Einen sein, für den alle leben? Wirst du etwas erreichen? Wirst du gut auf der Erde leben? Wenn nur, dass du friedlich und in süßer Ruhe wächst…
Sei sehr vorsichtig mit Lügen und Falschheit: Ein solcher Weg ist nicht gerade, nicht aufrecht, er ist nicht gut …
Bist du wohl wie eine Ähre, wie ein Maiskolben, und lässt deshalb frei, was in deinem Inneren ist? Kannst du sehen, was du in deinem Inneren hast? Gut ausgestattet, gut geführt, sehr geheimnisvoll bist du in deinem Inneren, wie eine Truhe oder ein Tresor…
Wenn du gut lebst, wenn du so handelst, wie es sein soll, wirst du sehr geachtet werden, und dein Leben wird anderen als Beispiel dienen…1
Viele Menschen haben sich mit den Themen Aggression, Gewalt, Imperialismus, Vergewaltigung und so weiter beschäftigt. Ich schlage vor, neu und anders heranzugehen: Erstens schlage ich vor, diese Dinge aus einer indianischen Perspektive zu betrachten; und zweitens, aus einer Perspektive, die so frei wie möglich von Annahmen ist, die durch die untersuchte Krankheit selbst geschaffen wurden. Schließlich werde ich diese Übel nicht einfach als »schlechte« Entscheidungen von Menschen beschreiben, sondern als eine echte, sehr reale epidemische Krankheit. Imperialisten, Vergewaltiger und Ausbeuter sind nicht nur Menschen, die auf einen falschen Weg geraten sind. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig (unrein). Sie sind geisteskrank, und tragischerweise ist die Form der Seelenkrankheit, die sie haben, ansteckend.
Das zwanzigste Jahrhundert war in vielerlei Hinsicht die ernüchterndste Periode der jüngeren Menschheitsgeschichte. Wir waren Zeugen des Versagens der sogenannten »westlichen Demokratien« bei der Lösung ihrer dringlichsten inneren Probleme, des Versagens des Marxismus-Leninismus bei der Bewältigung der Probleme von Bürokratie, Autoritarismus und Eigeninteresse der neu an die Macht gekommenen Eliten; wir waren Zeugen des Versagens der sogenannten Allgemeinbildung, des Versagens der Technik, des Versagens der organisierten Religion und des Versagens der am besten ausgebildeten und »gebildeten« Generationen in der Geschichte der Menschheit, die nichts anderes tun, als die großen Probleme der Welt zu überspielen.
Wir haben verheerende Kriege erlebt, den Tod von Millionen und Abermillionen von Menschen, die Vergeudung der Ressourcen der Erde und die fortgesetzte Ausbeutung der kleineren Volkgruppen (insbesondere der Naturvölker) und der politisch Schwachen im allgemeinen.
Die Brutalität und Heuchelei des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wäre nicht so erschreckend, wenn die Führung der Welt in den Händen ungebildeter Soldaten (vom Typ Idi Amin) oder eindeutig krimineller Elemente läge. Aber das ist im großen und ganzen nicht der Fall. Und Leute wie Idi Amin und Saddam Hussein konnten sich nicht an der Macht halten ohne »Technokraten« und ausgebildete Beamte, die die notwendigen Steuern eintreiben und eine Regierungsstruktur aufrechterhalten. Weder Joseph Stalin noch Adolf Hitler, Huey Long, Ferdinand Marcos oder Augusto Pinochet konnten ohne die aktive Unterstützung oder Mitarbeit von vielen Tausenden »ausgebildeter« Experten, Technikern und Bürokraten regieren. Alle modernen Geheimdienste der Welt sind auf gut ausgebildetes Personal angewiesen, auf wissenschaftliche Ausrüstung, fortgeschrittene sozialwissenschaftliche Studien über menschliches Verhalten und bürokratische Verwaltungssysteme (auch schon vor dem Computer). Sogar das organisierte Verbrechen ist abhängig von gut ausgebildeten Juristen, Verwaltungsangestellten und Führungskräften sowie von der Technologie der modernen Gesellschaft.
Die Menschen, die heute die Welt regieren, sind zum größten Teil akademisch gebildet (oder zumindest gut ausgebildet). Sie sind Absolventen der »bedeutenden« Militärschulen oder Eliteuniversitäten ihrer jeweiligen Länder. Sie haben (allermeistens) einen »verfeinerten« Geschmack und pflegen die »feineren« Dinge des Lebens (zumindest für den öffentlichen Konsum). Trotzdem haben sie uns die brutalste Epoche der Geschichte und gegenwärtig eine ganze Zahl von Militärdiktaturen, totalitären Gesellschaften, rassistischausbeuterischen »repräsentativen« Republiken und ressourcenverschlingenden Staaten beschert, die so beschaffen sind, dass absehbar ist, dass es bald nur noch sehr wenige Orte auf der Welt geben wird, an denen ein nicht-aggressiver Mensch überleben kann, es sei denn als Lakai oder Sklave.
Die Wahrheit ist, dass beispielsweise Harvard- oder Yale-Absolventen durchaus in der Lage sind, Lobbyarbeit für eine »Konzession« von Gebieten in Brasilien, Kolumbien oder Bolivien zu leisten, deren Erschließung die völlige Vernichtung von Tausenden von amerikanischen Ureinwohnern zur Folge hat. Natürlich werden die feinen Herren nicht persönlich die Liquidierung der amerikanischen Ureinwohner anordnen, aber sie werden eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, die (unter den in Südamerika herrschenden Bedingungen) unweigerlich zur Versklavung, Vertreibung und zum Tod der indigenen Stämme führen.
»Bildung«, wie wir sie in der modernen Welt kennen, hat in der Regel wenig mit Ethik oder der Entfaltung des individuellen Potentials der Lernenden zu tun. Im Gegenteil, sie ist größtenteils technischer Natur (sei es in den Natur- oder Sozialwissenschaften oder was auch immer) und dient nur selten (an und für sich) dazu, an den klassenmäßigen und ethnischen »Interessen« der Absolventen zu rütteln. In jedem Fall hat sich die Wétiko-Krankheit, die Krankheit der Ausbeutung, in den letzten mehreren Tausend Jahren wie eine Seuche ausgebreitet. Und wie eine Ansteckung, die von den meisten Impfstoffen nicht aufgehalten wird, wird sie mit der Zeit eher schlimmer als besser. Immer mehr Menschen stecken sich an immer mehr Orten an, und sie werden zu den Lehrern und Vorbildern der jungen Menschen.
So wird die Jugend des 21. Jahrhunderts nicht in erster Linie von unterbezahlten Lehrern an öffentlichen Schulen oder von Professoren im »Elfenbeinturm« unterrichtet, sondern von ihren Eltern, von Filmen, vom Fernsehen und vom Internet, ja, von dem, was sie in der Gesellschaft beobachten. Und diese Art des Lernens wird oft durch die Struktur und den Inhalt von Schulfächern wie Geschichte verstärkt, die das Aggressive und das Ausbeuterische verherrlichen (Alexander der Große, Napoleon, Cecil Rhodes, James K. Polk, George Washington und Thomas Jefferson, der sowohl ein hingebungsvoller Sklavenhalter als auch ein unersättlicher Imperialist im Kampf gegen die amerikanischen Ureinwohner war). So werden Menschen, die nicht andere erobern oder große Mengen fremden Eigentums stehlen, als »rückständig« oder »uninteressant« eingestuft.
Auf jeden Fall sind die großen menschlichen Probleme des Imperialismus, des Kolonialismus, der Ausbeutung und der Gier nicht unter Kontrolle. Fragen Sie die Kurden oder die Tibeter oder die Bretonen oder die Tschetschenen oder die Ainu oder die Sioux oder die Inuit oder die Aché oder die Colla; oder fragen Sie die Wanderarbeiter in den Vereinigten Staaten oder die Afroamerikaner auf dem Lande im Süden oder die Fast-Sklavenarbeiter in Südafrika; oder fragen Sie die oft terrorisierte Bevölkerung in Guatemala, Palästina oder El Salvador.
Und in den Vereinigten Staaten und anderen sogenannten »fortschrittlichen« Gesellschaften werden Milliarden und Abermilliarden von Dollar für Gefängnisse und psychiatrische Anstalten ausgegeben, während die Kriminalitätsrate weiter steigt und immer mehr Menschen »verrückt« werden. Darüber hinaus floriert die Pornoindustrie, und die christlich-fundamentalistische Erweckung scheint Hand in Hand zu gehen mit Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Kinderpornografie, Sadismus und Frauenhass.
Mit anderen Worten: Die Ausbeutung blüht. Die Ausbeutung der Kinder, der Liebe, der Frauen, der Alten, der Schwachen, der Armen und natürlich die absichtliche kommerzielle Ausbeutung aller erdenklichen Dinge, von der Enthaarung im Vaginalbereich der Frauen über die Sorge um den natürlichen Körpergeruch, die Unsicherheit der Heranwachsenden, die Angst vor dem Älterwerden bis hin zum Durst (etwa indem man die Menschen dazu bringt, anstelle von Wasser oder natürlichen Getränken flüssige Chemikalien mit Zucker zu trinken).
Die Ausbeutung blüht. Die Ausbeutung der Kinder, der Liebe, der Frauen, der Alten, der Schwachen, der Armen und natürlich die absichtliche kommerzielle Ausbeutung aller erdenklichen Dinge.
Wir leben in einer modernen Gesellschaft, in der von Hochschulabsolventen erwartet wird, dass sie bereit sind, »alles zu geben«, um ein Produkt zu entwickeln oder zu verkaufen,
selbst wenn das Produkt schädlich oder wertlos ist; in der von Technikern erwartet wird, dass sie Tiere in Gefangenschaft töten und quälen, weil es ihnen von einem staatlichen Experimentator oder einem aufsatz-produzierenden Professor befohlen wird, und in der es nur wenige Möglichkeiten gibt, in einer nicht ausbeuterischen, nicht korrupten oder nicht erniedrigenden Rolle »sein eigener Chef« zu sein.
Menschen, die sich über Gewalt, Umwelt, Rechtschaffenheit und menschliche Authentizität Gedanken machen, müssen die Möglichkeit haben, die objektiven Bedingungen zu analysieren, die uns heute alle umgeben. Ich hoffe, dass ich diesen Menschen eine Hilfe sein kann, indem ich den Begriff der Wétiko-Krankheit näher erläutere und ihren Ursprung, ihre Epidemiologie und ihre Merkmale erörtere. Ich werde auch versuchen, ein paar Ideen zu Gegenmitteln für die Krankheit aufzuzeigen, aber ich kann nicht behaupten, alle Antworten auf das grundlegendste Problem des menschlichen Lebens zu haben.
»Wie soll man dieses Leben leben?« ist die eigentliche Frage, vor der wir alle stehen. Alle anderen Themen sind im Vergleich mit dieser Frage unbedeutend.
In den 1940er und 1950er Jahren konnte Leon Cadogan mehrere Überlieferungen von der Erschaffung der Welt veröffentlichen, die von den Mbyá, einer Guaraní sprechenden Gruppe von amerikanischen Ureinwohnern, die im Gebiet von Paraguay lebten, sorgfältig erhalten wurden. Die Mbyá hatten sich der spanischen Aggression hartnäckig widersetzt und sich in unzugängliche Gebiete zurückgezogen, um die Reinheit ihrer Traditionen zu bewahren.
Es ist bezeichnend, dass in diesen alten mündlichen Überlieferungen der Schöpfer aus dem ursprünglichen Nichts (der Dunkelheit) hervorgeht, und zwar im wesentlichen als Weisheit. Diese göttliche Weisheit entfaltet sich dann als ein geistiger Prozess, der die Dinge durch schöpferische Weisheit erschafft. Bezeichnenderweise überliefern auch viele andere amerikanische Ureinwohner diese Tradition der mentalen Natur der Schöpfung. Der Prozess der Schöpfung ist zugleich evolutionär, eine allmähliche Entfaltung von Schöpfungsstufen.
Den alten Mexikanern zufolge entstand der ursprüngliche Schöpfer Ometeotl (Zwei-Geist), der sowohl männliche als auch weibliche Kräfte in sich vereinte, auf ähnliche Weise wie Nande Ru bei den Mbyá. Ometeotl ist auch bekannt als Yohualli-ehecatl (Unsichtbarer Nacht-Luftwind), Ipalnemohuani (Derjenige, durch den man lebt), Moyocoyani (Derjenige, der die Existenz von sich selbst erfindet oder gibt) und Moyucoyatzin ayac oquiyocux, ayac oquipic (Derjenige, der von niemand anderem als sich selbst erschaffen wird, aber der selbst, durch seine Autorität und seinen Willen, alles tut). Das Verb yucoya bedeutet »erfinden« oder »geistig erschaffen«. Dies ist ein sehr bedeutsames Konzept, denn es besagt, dass das Weltenall durch einen mentalen oder gedanklichen Prozess geschaffen wird. Wie Miguel León-Portilla feststellte, » … besitzt er das gesamte Weltenall, das in den Augen des Menschen ›wie ein wunderbarer Traum‹ ist«.1
Das Volk der Uitoto im heutigen Kolumbien ist der Ansicht, dass »am Anfang das Wort den Vater hervorgebracht hat«. Sie sagen weiter:
Eine Einbildung, nichts anderes hat am Anfang existiert;der Vater hat eine Illusion berührt;er erfasste etwas Geheimnisvolles. Nichts existierte.
Durch die Vermittlung eines Traums behielt unser VaterNaimuena die Einbildung in seinem Körper.Und er grübelte lange und dachte tief nach…Dann ergriff er den Fata Morgana-Boden und stampfte wiederholtaufund kam endlich auf seiner erträumten Erde zu sitzen.2
Die Mbyá berichten, dass das Absolute, Nande Ru, sich selbst inmitten der ursprünglichen Dunkelheit verwirklichte. Später schuf er die menschliche Sprache, die Liebe zur Menschheit und eine heilige Hymne. Vier männliche Kräfte und ihre weiblichen Gegenstücke wurden dann die ersten Gefährten des Schöpfers, und die Welt entfaltete sich allmählich. Namandu, der Sonnengeist, erschien ebenfalls sehr früh und wurde zu einer der vier Mächte. Namandu scheint zusammen mit el Colibri (Kolibri) als direkte Entfaltung des Absoluten zu erscheinen, da das Absolute sich selbst erhält.
Die von Nande Ru geschaffene menschliche Sprache (lenguaje) stellt das zukünftige Wesen der den Menschen gegebenen Seelen dar, ein Wesen, das an der Göttlichkeit des Schöpfers teilhat. Die Liebe zu den Mitmenschen und ein heiliger Gesang (Hymne) sind weitere grundlegende Voraussetzungen für die Entfaltung der Welt.3
Nun möchte ich einige kurze Abschnitte aus dem ersten Teil der Entstehungsgeschichte, wie sie von den Mbyá erzählt wird, wiedergeben:
Unser Erster Vater, der Absolute,erhob sich inmitten der uranfänglichen Dunkelheit.
Die göttlichen Fußsohlen,den kleinen runden Sitz, inmitten der uranfänglichen
Dunkelheit,
er hat sie geschaffen,im Laufe seiner Entwicklung.
Der Widerschein der göttlichen sehenden Weisheit,das göttliche Hören aller Dinge,die göttlichen Handflächen mit
dem Stab und dem Zeichen,die göttlichen Handflächen mit
den blühenden Zweigen,
Namandu schuf sie im Laufe
seiner Entwicklunginmitten der uranfänglichen Dunkelheit.
Von der göttlichen kleinen erhabenen Krone waren
die Blüten des Federschmucks Tropfen
von Tau.
Denn inmitten der Blüten des göttlichen
Federschmucks flatterte der uranfängliche Vogel,
der Kolibri, umher.
In der Zwischenzeit schuf unser Urvater
im Laufe seiner Entwicklung,
seinen göttlichen Körper,
der inmitten der uranfänglichen Winde war,bevor er sein künftiges Firmament,sein künftiges Gebiet, das ursprünglich entstand, erdacht hatte,der Kolibri pflegte den Mund zu erfrischen;er, der Namandu mit paradiesischen Gaben versorgte,war der Kolibri.
[Der Kolibri war der Schöpfer selbst, der sich im Akt der Selbstzeugung als erster Vogel erschuf.]
Unser Vater Namandu, der Erste, bevorer sein künftiges Paradies geschaffen hatIm Laufe seiner Entwicklunghat er keine Dunkelheit gesehen:obwohl die Sonne noch nicht schien,Er war da erleuchtet vom Widerschein
seines Herzensso, dass sie als Sonne diente, die
Weisheit enthieltin seiner Göttlichkeit…
Er hat den Ursprung der künftigen menschlichen Sprache erdacht, aus der Weisheit seiner Göttlichkeit
und aufgrund seines schöpferischen Wissens schuf er die Grundlage für die Liebe zu seinen Mitmenschen,
Bevor es die Erde gab,
inmitten der ursprünglichen Dunkelheit, bevor er um die Dinge wusste, und kraft seines schöpferischen Wissens, ersann er den Ursprung der Liebe…
In seinem Alleinsein schuf er die Grundlage der menschlichen Sprache;
in seinem Alleinsein schuf er einen kleinen Teil der Liebe;
in seinem Alleinsein schuf er eine kurze heilige Hymne,
Er dachte tief darüber nach, wer sich an der Schaffung
der menschlichen Sprache beteiligen sollte;
wen er an dem kleinen Teil der Liebe teilhaben ließe;
wen er an den Wörtern beteiligen sollte, die
die heilige Hymne bildeten.
Als er so tiefgründig nachgedacht hatte,
mit der Weisheit seiner Göttlichkeit und kraft seines schöpferischen Wissens,
entschied er, wer die Gefährten seiner Göttlichkeit sein würden…
Indem sie sich die göttliche Weisheit ihres Urvaters aneignen;
nachdem sie sich die menschliche Sprache angeeignet hatten;
nachdem sie angeregt wurden, ihre Mitmenschen zu lieben;
nachdem sie die Worte der heiligen Hymne verinnerlicht hatten;
nachdem sie in die Grundlagen des schöpferischen Wissens eingeführt wurden,
nennen wir sie die erhabenen wahren Väter der Wortseelen;
die erhabenen wahren Mütter der Wortseelen.4
Die »Norm« für die Menschheit ist die Liebe.
Grausamkeit ist eine Abweichung.
Wir sind nicht von Natur aus Sünder.
Wir lernen, böse zu sein.
Man lehrt uns, von unserem guten Weg abzuweichen.
Mehrere Dinge sind an der Mbyá-Tradition sehr bedeutsam, abgesehen von ihrer außerordentlichen Schönheit und ihrer lebenswichtigen Bedeutung für »wissenschaftliche« Ansichten über die Evolution. Erstens muss die Heiligkeit der menschlichen Sprache und ihre Bedeutung in heiligen Liedern als Mittel der direkten Kommunikation mit dem Schöpfer und der Geistigen Welt erwähnt werden. Zweitens, dass die menschliche Sprache einen Teil des Wesens unserer Seele darstellt (mit großen Auswirkungen auf die heilige Natur von Ideen und Sprache als Kernbestandteil unseres Menschseins und die Bedeutung, Worte nicht missbräuchlich oder für böse Zwecke zu verwenden). Am bedeutsamsten für unseren heutigen Zweck ist die frühe Erschaffung des Prinzips der Liebe für die menschlichen Wesen. Kurz gesagt, die Liebe ist nicht zufällig in einem späten Stadium der Evolution entstanden, sondern wurde als wesentliches Attribut des Weltenalls vor der Existenz der Menschen geschaffen. Der Schöpfer ließ die geistigen Kräfte und die Menschen entstehen, zum Teil, um die Idee der Liebe zu verwirklichen, die bereits als grundlegendes Prinzip geschaffen wurde. Das Weltenall wurde in Liebe geboren. Wie kommt es dann, dass wir heute so viel Hass erleben? Sind wir alle einfach für immer »Sünder«, weil ein früher Vorfahre ein Gebot Gottes missachtet hat?
Ich werde darlegen, dass gesunde, geistig gesunde Menschen weiterhin dem Prinzip der Nächstenliebe folgen, während Ausbeuter geisteskrank sind.
Kurz gesagt, der Schöpfer hat uns allen gute Wege gewiesen, denen wir folgen sollen, die auf guter Rede, Liebe und heiligen Liedern beruhen. Ein geistig gesunder Mensch ist jemand, der sich noch auf einem solchen Weg befindet.
Die »Norm« für die Menschheit ist die Liebe.
Grausamkeit ist eine Abweichung.
Wir sind nicht von Natur aus Sünder.
Wir lernen, böse zu sein.
Man lehrt uns, von unserem guten Weg abzuweichen.
Wir werden von anderen Menschen, die ebenfalls verrückt sind, dazu gebracht, verrückt zu sein, und die für uns ein Bild der Welt malen, das hässlich, negativ, angstvoll und verrückt ist.
Wir müssen keine Kannibalen sein, die einander auffressen! Der Schöpfer und unsere Vorfahren haben uns andere Wege des Lebens gewiesen. Wie der verstorbene Nichidatsu Fujii, Leiter des buddhistischen Nihonzan-Myohoji-Tempels und Teilnehmer am Longest Walk der amerikanischen Ureinwohner von 1978, sagt: »Zivilisation bedeutet nicht, dass elektrisches Licht installiert wird. Es bedeutet auch nicht, Atombomben zu bauen. Zivilisation bedeutet, Menschen nicht zu töten.«5
Die indianischen Traditionen sagen deutlich, dass alle Lebensformen, einschließlich der Menschen, die Tiere, Vögel, Pflanzen und Insekten, Kinder derselben Eltern sind. Die Erde ist unsere Mutter und das Große Mysterium oder die Große Schöpferische Kraft wird als unser Großvater oder Großmutter-Großvater angesehen.
Wie Standing Bear, ein Lakota, 1931 sagte, ein altes Gebet wiedergebend:
Zu Mutter Erde heißt es … du bist die einzige Mutter, die ihren Kindern Barmherzigkeit erwies … Seht mich an, die vier Viertel der Erde, verwandt wie ich bin …
Überall auf der Erde sind die Gesichter aller Lebewesen gleich. Mutter Erde hat diese Gesichter mit Zärtlichkeit aus der Erde herausgearbeitet. Oh Großer Geist, sieh sie an, all diese Gesichter mit Kindern in ihren Händen.
In sehr alten Zeiten, vielleicht vor tausend Jahren und bevor sich die verschiedenen Völker der nördlichen Prärie in verschiedene Gruppen aufgeteilt hatten, lehrte sie ein weiser Mann namens Slow Buffalo: »Erinnert euch … an diejenigen, auf die ihr euch verlassen werdet. Oben in den Himmeln, der Geheimnisvolle, das ist euer Großvater. Zwischen der Erde und dem Himmel, das ist euer Vater. Diese Erde ist eure Großmutter. Der Erdboden ist eure Großmutter.
Alles, was in der Erde wächst, ist eure Mutter. Es ist wie ein Baby, das an seiner Mutter nuckelt … Denkt immer daran, dass eure Großmutter immer unter euren Füßen ist. Ihr seid immer auf ihr, und euer Vater ist oben.«1
Es ist ganz klar eine erfahrbare, beobachtbare Tatsache, dass wir alle in jedem Moment unseres Lebens vollkommen und absolut abhängig von unserer Erdmutter sind und von Wasser, Luft, Sonne und anderen Elementen.
Der Große Geist schuf die Blumen, die Bäche, die Kiefern, die Zedern – er kümmert sich um sie … Er kümmert sich um mich, bewässert mich, ernährt mich, lässt mich mit den Pflanzen und Tieren als einer von ihnen leben … Die ganze Natur ist in uns, wir sind alle in der Natur.2
Da wir alle Kinder derselben Eltern sind, liegt es auch in der Natur des Lebens, dass wir uns gegenseitig aufessen. Auf die eine oder andere Weise essen alle Lebensformen ein anderes Lebewesen und werden dann ihrerseits von einem anderen gegessen. Unser Tod ist in der Regel traurig für uns selbst, aber, wie Juan Matus, der Yaqui-Nagualli von Carlos Castaneda, so treffend feststellt, ist unser Tod auch ein Geschenk für jemand anderen, wenn auch nur für Mikroorganismen.3
Wir Menschen zum Beispiel machen uns an alle möglichen Pflanzen, Tiere und Vögel heran und essen sie, aber wir werden wiederum von anderen Tieren sowie von Bakterien und anderen winzigen Lebewesen verfolgt und gefressen. Letztendlich ernähren sich natürlich auch Würmer, Käfer und Pflanzen von unseren Körpern und helfen unserer Mutter, der Erde, uns zu verdauen.
Die Oberfläche unserer Mutter besteht größtenteils aus den umgewandelten Körpern unserer Verwandten, die seit Millionen von Jahren sterben. Die »Bodenfruchtbarkeit« ist zu einem großen Teil nichts anderes als ein Maß dafür, wie sehr ein bestimmtes Stück Boden mit unseren toten Vorfahren und Verwandten gesättigt ist. Der Tod ist also ein notwendiger Bestandteil des Lebens.
Die meisten Lebewesen zeigen keine Anzeichen von Grausamkeit oder übermäßiger Gier (mit Ausnahme einiger »Haustiere«, die grausam oder gefräßig werden können). Im allgemeinen fügen sie einem anderen Lebewesen nur dann Schmerzen zu, wenn dies im Rahmen der Nahrungsaufnahme notwendig ist. Die überwiegende Mehrheit der Lebewesen greift nur sehr selten in die Bewegungsfreiheit oder »Freiheit« anderer Lebewesen ein, außer im Augenblick der direkten Tötung. Normalerweise töten sie auch niemanden ihrer Art oder ernähren sie sich von ihm.
Die amerikanischen Ureinwohner und viele andere Stammesvölker haben lange und hart mit dem Widerspruch gerungen, der dem Aufessen anderer Lebewesen innewohnt. Die Philosophie der Ureinwohner, die sich auf die Erkenntnis stützt, dass alle Lebewesen Brüder und Schwestern sind, kam ganz einfach zu dem Schluss, dass das Töten und Essen zwar unvermeidlich ist, aber auf eine Art und Weise erfolgen kann, die es weniger hässlich und grausam macht. Wie Juan Matus sagt, »müssen wir mit allen Lebewesen der Welt ein gutes Verhältnis haben. Aus diesem Grund müssen wir mit den Pflanzen, die wir töten wollen, sprechen und uns dafür entschuldigen, dass wir sie verletzen; dasselbe müssen wir mit den Tieren tun, denen wir etwas anhaben wollen.4
… heute haben wir eine kleine Schlange genommen. Ich musste mich bei ihr dafür entschuldigen, dass ich ihr Leben so plötzlich und endgültig beendet habe; ich tat, was ich tat, weil ich wusste, dass auch mein eigenes Leben eines Tages auf die gleiche Weise plötzlich und endgültig beendet sein würde.5
Ruby Modesto, eine Cahuilla-Heilerin, hat gesagt:
Du kannst mit den Pflanzen reden … Ich meine, sei aufrichtig. Sei bescheiden. Die Pflanzen sind wie Freunde. Einige von ihnen haben mächtige Geister.6
Nach Luther Standing Bear fühlten sich die Lakota eng mit allen Lebewesen verwandt:
Das Tier hatte Rechte – das Recht auf den Schutz des Menschen, das Recht zu leben, das Recht, sich zu vermehren, das Recht auf Freiheit und das Recht, dass sich der Mensch ihm verpflichtet fühlte … die Lakota versklavten das Tier niemals und verschonten alles Leben, das nicht für Nahrung und Kleidung benötigt wurde.
Dieses Verständnis des Lebens und seiner Beziehungen war menschlich und gab dem Lakota beständig Liebe. Es erfüllte sein Wesen mit der Freude und dem Geheimnis des Lebens; es gab ihm Ehrfurcht vor allem Leben …7
Diese Ehrfurcht vor dem Leben und der Respekt vor Vögeln und anderen Tieren wird durch eine Geschichte der Pawnee veranschaulicht, die von einem jungen Heilkundigen handelt, der vor langer, langer Zeit lebte. Er wurde von einem eifersüchtigen Arzt vergiftet. Das Opfer wandte sich an Ti-rá-wa, die Höchste Macht, und an Nahúrac (die Tiere). Ein kleiner Botenvogel führte ihn zur Hütte der Anführer der Tiere, unter eine Klippe und unter das Wasser eines Flusses. Er musste mehrere Hütten aufsuchen und wurde schließlich von Präriehunden und Bären geheilt, nachdem er zum ersten Nahúrac zurückgekehrt war. Das Oberhaupt der Bären sagte dann:
Nun, Nahúrac, das ist es, was ich tun kann. Es ist mir egal, wie schwer ich verwundet sein mag, denn ich weiß, wie ich mich selbst heilen kann …
Der oberste Heiler der Tiere sagte dann zu dem jungen Mann:
Jetzt kannst du sehen, wer wir sind. Ich bewege mich im Wasser. Ich habe keinen Atem, aber ich existiere. Wir, jeder einzelne von uns, werden alle sterben, außer Ti-rá-wa. Er hat uns erschaffen, genau wie er dich erschaffen hat.
Er hat dich geschaffen, in der Luft zu leben. Wir leben dort, wo es keine Luft gibt. Du siehst den Unterschied. Ich weiß, wo das große Wasser ist, das uns umgibt [der Ozean]. Ich weiß, dass der Himmel das Haus von Ti-rá-wa ist, und wir leben in ihm. Ihr müsst uns nachfolgen. Tut, was wir tun. Ihr müsst euch auf uns stützen, aber wenn etwas sehr Schwieriges auftaucht, müsst ihr euch auf Ti-rá-wa stützen. Bittet den Oberherrn um Hilfe. Er hat uns gemacht. Er hat alles erschaffen. Es gibt unterschiedliche Wege für verschiedene Geschöpfe. Was du tust, tue ich nicht, und was ich tue, tust du nicht. Wir sind verschieden. Wenn ihr uns nachfolgt, müsst ihr immer zu jedem dieser vier großen Heiler einen Rauch blasen, zu jedem einmal; aber zu Ti-rá-wa müsst ihr vier Mal den Rauch blasen …8
Auf diese Weise lernten die Pawnee von den Tieren das Heiler-Sein und erfuhren mehr über die Abhängigkeit eines jeden Menschen von der Höchsten Macht. Die Philosophie der amerikanischen Ureinwohner erkennt das Recht jedes Lebewesens auf Leben an und darauf, sein Leben ohne äußere Einmischung zu leben. Aus diesem Grund vermeiden es die Ureinwohner traditionell, lebende Bäume zu fällen, trampeln nicht auf Pflanzen herum und töten selten, wenn überhaupt, ein Lebewesen, es sei denn, es dient der Nahrungsbeschaffung. Als Brennholz, Bauholz und so weiter wird zum Beispiel in der Regel abgestorbenes Holz verwendet. Sitting Bull war sehr genau:
Die Philosophie der amerikanischen Ureinwohner erkennt das Recht jedes Lebewesens auf Leben an und darauf, sein Leben ohne äußere Einmischung zu leben.
Ich möchte, dass alle wissen, dass ich nicht vorhabe, irgendetwas von meinem Land zu verkaufen, und ich werde auch nicht zulassen, dass die Weißen unser Holz entlang der Flüsse abholzen, vor allem die Eichen. Ich mag die kleinen Eichenhaine ganz besonders. Ich sehe sie gerne an und empfinde Ehrfurcht vor ihnen, weil sie die winterlichen Stürme und die sommerliche Hitze aushalten und – nicht anders als wir – dadurch zu gedeihen scheinen.9
Wenn eine Pflanze, ein Baum oder ein Tier getötet werden soll, muss erstens die Not groß sein; zweitens wird um Erlaubnis gebeten, wenn es die Zeit erlaubt; drittens wird der Pflanze oder dem Tier gedankt; und viertens wird mit Tänzen, Gebeten und Zeremonien den getöteten Kreaturen gedankt und denen, die noch leben, geholfen, zu wachsen und zu gedeihen. In den 1920er Jahren zeichnete Cora DuBois diese Prophezeiung einer mächtigen Heilerin, Kate Luckie, von der Wintu-Nation auf:
Wenn die Indianer alle sterben, wird Gott das Wasser aus dem Norden herabströmen lassen. Alle werden ertrinken.
Das liegt daran, dass sich die Weißen nie um Land, Hirsche oder Bären gekümmert haben. Wenn wir Indianer Fleisch töten, essen wir alles auf. Wenn wir Wurzeln graben, machen wir kleine Löcher. Wenn wir Häuser bauen, machen wir kleine Löcher. Wenn wir Gras für Heuschrecken verbrennen, machen wir nichts kaputt. Wir schütteln Eicheln und Pinienkerne ab. Wir fällen keine Bäume. Wir verwenden nur totes Holz. Aber die Weißen pflügen den Boden um, reißen die Bäume aus und töten alles. Der Baum sagt: »Lass das. Ich bin wund. Tut mir nicht weh.« Aber sie fällen ihn und zerschneiden ihn. Der Geist des Landes hasst sie. Sie sprengen Bäume weg … Sie zersägen die Bäume.
Das tut ihnen weh. Die Indianer haben nie etwas verletzt, aber die Weißen zerstören alles … Wie kann der Geist der Erde den Weißen Mann lieben? … Überall, wo der Weiße Mann etwas angerührt hat, ist es wund.10
Kurz gesagt, die Ureinwohner ziehen nicht einfach mit einem Hochleistungsgewehr los, töten ein Tier, schlagen ihm den Kopf als Trophäe ab und werfen die Leiche auf eine Müllkippe (wie es viele heutige Jäger tun). Die Ureinwohner sind keine Barbaren oder Wilden, die für den »Nervenkitzel« oder aus »Angeberei« töten. Das Töten ist eine ernste Angelegenheit und erfordert eine spirituelle Vorbereitung. Außerdem sollte man den Schmerz und die Trauer fühlen, wenn man einen Bruder oder eine Schwester tötet, ganz gleich, ob es sich um ein Unkraut, einen Baum oder ein Reh handelt. Wenn man diesen Schmerz nicht spürt, ist man verroht und »krank« geworden. Man ist, kurz gesagt, nicht mehr im Einklang mit dem Weltenall.
In jedem Fall waren die amerikanischen Ureinwohner, von wenigen Ausnahmen abgesehen, (wie die meisten anderen Lebewesen) achtsam beim Töten. Wie Juan Matus seinem Schüler Carlos Castaneda erklärt, ist es besser, zwei Wachteln zu essen und drei freizulassen, als alle fünf wie ein Vielfraß zu verspeisen.11
Religion ist in Wirklichkeit Leben. Unsere Religion ist nicht das, was wir bekennen, was wir sagen oder was wir verkünden; unsere Religion ist das, was wir tun, was wir wünschen, was wir suchen, wovon wir träumen, was wir phantasieren, was wir denken.
Gier und Völlerei sowie das grausame Ausnutzen des Lebens anderer ohne Reue werden als zerstörerisch für das eigene geistige Vermögen und als eine Art Krankheit angesehen. Die grausame Ausbeutung anderer Lebewesen findet sich normalerweise auch nicht bei Tieren oder bei traditionellen Stammesvölkern. Old Man Hat, ein Ältester der Navajo, verbrachte zum Beispiel viele Monate damit, seinem Neffen Who Has Mules beizubringen, wie man sich um das Vieh kümmert:
Wenn du alles aufgezogen hast, Schafe, Pferde und Rinder, und viel Besitz erworben hast, solltest du nicht fluchen und schimpfen über dein Eigentum und dein Vieh … diese Dinge sind wie deine Kinder. Du musst sie schonen, dann hast du immer etwas davon … Und rede nicht grob. Wenn du das tust, wirst du diese Dinge nicht bekommen, denn alle Tiere und der Besitz werden wissen, dass du grob mit ihnen umgehst. Sie werden Angst haben und nicht zu dir kommen wollen. Wenn du freundlich denkst und freundlich redest, dann werden sie wissen, dass du ein freundlicher Mensch bist, und dann wird alles zu dir kommen.12
Das Leben der amerikanischen Ureinwohner dreht sich um Heiligkeit, Schönheit, Kraft und Verbundenheit aller Daseinsformen. Kurz gesagt, die ethischen oder moralischen Werte der Ureinwohner sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Kosmologie oder ihres Weltbildes. In den meisten indigenen Sprachen gibt es kein Wort für »Religion«, und es mag sein, dass ein Wort für Religion erst dann gebraucht wird, wenn ein Volk sie nicht mehr hat. Wie Ohiyesa (Charles Eastman) sagte: »Jede Handlung in seinem [des Indianers] Leben ist in einem sehr realen Sinne eine religiöse Handlung.«13
Religion ist in Wirklichkeit Leben. Unsere Religion ist nicht das, was wir bekennen, was wir sagen oder was wir verkünden; unsere Religion ist das, was wir tun, was wir wünschen, was wir suchen, wovon wir träumen, was wir phantasieren, was wir denken – all diese Dinge – vierundzwanzig Stunden am Tag. Die eigene Religion ist also das Leben, nicht das ideale Leben, sondern das Leben, wie es tatsächlich gelebt wird.