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Frankreich, Ende der siebziger Jahre. Ein deutscher Journalist trifft im Wald von Vincennes, am Stadtrand von Paris, auf einen obdachlosen Streuner, wobei sich herausstellt, dass dieser ein Landsmann ist. Bevor sich die Spur des Fremden für eine Weile verliert, hat der Journalist, der im Auftrag eines deutschen Verlages in Paris arbeitet, noch den Eindruck, dass der junge Mann an einer rätselhaften Besessenheit mit psychotischen Zügen leidet, die seine Neugier weckt. Was sich zunächst entwickelt wie ein Vagabundenroman mit absonderlichen Wendungen wird allmählich als die Geschichte einer Psychose erkennbar, die den Protagonisten auf eine Irrfahrt durch eine Besessenheit schickt, in der wahnhafte Inhalte in fatal trügerischer Weise mit seiner persönlichen Wirklichkeit verflochten sind. Als sich die beiden Hauptakteure des Romans wieder begegnen, gehen sie eine Allianz ein, in der Besessene den Journalisten die Geschichte eines drogeninduzierten amour-de-tête dokumentieren lässt, vor dem Hintergrund von Kindheitstrauma, Bohème, Bürgertum und Abstürzen in den Bodensatz der Gesellschaft. Kultur und Subkultur, ebenso wie Wahn und Wirklichkeit stoßen kontrastierend aneinander, und die Grenzüberschreitungen der beiden Hauptpersonen lassen durch Enttarnung unserer ältesten Mythen ernüchternde Schlüsse zu, nicht zuletzt die, dass die Menschlichkeit endlich ist, und dass im Leben nichts ist wie es scheint.
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Prolog
Keiner soll behaupten, der Schlüssel zu dieser Geschichte sei aus Gold, und der Moment, sie zu öffnen, so einzigartig, dass es vermessen sei, ihn selbst zu bestimmen, als sei er ein heiliger Bogenschuss aus einem zeitlosen Impuls heraus, der nicht getan wird, sondern geschieht, wenn er dem Schützen gegeben ist. Da könnten wir lange warten, in Demut und Stille, und die Kunde von dem, was geschehen ist, und weiterhin geschieht, so unerhört sie auch ist, würde nie vernommen. Die Mächtigen haben zu allen Zeiten darüber gewacht, dass die Ereignishorizonte der Mitwisserschaft Zonen ohne Wiederkehr bleiben. Dennoch gibt es Grenzgänger. Werden sie gefasst, schüttet man ihnen flüssiges Blei in die Ohren: Gepriesen seien die Kulturen, und der blühende Zweig, der mit der Spitze in die Erde fährt, um zu den Wurzeln zurück zu wachsen. Sein Name ist Tradition.
Warum muss man durch einen Tunnel aus so viel Getöse, um zum Ursprung dieser Namenlosigkeit vorzudringen, wie ein Geschepper von tausend eisernen Bratpfannen, und dazwischen Fetzen von Gelächter, als käme es aus einer Grotte? Was ist das für ein Gebrüll, das sich da über uns wälzt, wie eine fette Magma aus dem Innern der Erde, und was für eine offene, stille Weite ist dieser endlose, sandige Strand mit den flachen Spiegeln der Priele, als seien wir durch eine Membran in die Dimension der einzig rettenden Einsamkeit geflüchtet!
Dass von jener winzigen, fernen Silhouette auf der Linie zwischen Meer und Land, in einer mehr geahnten als wahrgenommenen Wendung in seine Richtung, der stechende Blick einer bösen Macht sich fühlbar machte, war damals für ihn so sehr Gewissheit, dass sein zehnjähriger Verstand nicht einen Augenblick lang die sachliche Unmöglichkeit in Erwägung zog, sondern ihn nur bewog, sich mit einem Schauder davon zu machen. Erst später war es der Einfluss des heranwachsenden Rationalen, der die Erinnerung an diesen Moment oberflächlich zerstreute, bis sie irgendwann später, wenn auch in aufgeklärter Form, ihren ursprünglichen Platz in seinem Bewusstsein wieder eingenommen hat, zusammen mit der Erkenntnis, dass der böse Blick ein Produkt von Ausdruck und Wahrnehmung ist, und seine Wirkung auf den Betrachter abhängt vom Gefälle zwischen den beiden.
So hatte auch später, wenn der Schwarze Mann mit seinem eingefrorenen Ausdruck einer hörigen, geilen Besessenheit ihm in der einen oder der anderen persönlichen Identität begegnet war, dessen Wirkung auf den Grenzgänger viel von jener dunklen Drohung verloren. Seine Scheu vor dem schwarzen Mann verlor sich in dem Maße, wie er selbst aufhörte dessen Macht anzuerkennen. Was jedoch blieb war die Abscheu vor einem Menschen, der über der Welt thronte wie ein steinernes Denkmal, als Wächter einer Einheit, zu der zu gelangen Menschen nicht beschieden ist. Das, wodurch er zur Einheit findet, ist ein seltsames, oft unmoralisches Ding, die Integrität, welche, in Momenten der Vollendung, ihn mit Gewissheit sein lässt, was er ist und kund tut, wie zum Festtag in Schwarz gekleidet, wie aus dem Nichts auf den Dorfplatz hingestellt, wie eine Feldherrenstatue mit heruntergezogenen Mundwinkeln: Endlich böse! Und all die armen Menschen huschen vorüber, schwach und schwankend in ihrer Güte, und nicken ihm respektvoll zu: Jawohl, Herr Böse, jawohl, Herr Böse, und ein mancher hat sich verwundert gefragt, warum ihm so jeder Zweifel fehle, dass jener dort und in jenem Augenblick seinen rechtmäßigen Platz habe. Auch wunderte sich niemand, wie lange er dort schon stand und noch stehen würde, wie ein Fels in die Ferne blickend, vielleicht immer schon, oder für immer - gewiss würde er bei Einbruch der Nacht ohne viel Aufsehens mit der Dunkelheit verschmelzen, und ebenso im Morgengrau wieder zum Vorschein kommen, wie eine Telefonzelle oder eine Litfasssäule. Tatsache jedoch ist, dass das eherne Gewand seiner Fraglosigkeit mit der Zeit Löcher bekam, durch die manche der guten Leut gesehen haben wollen, wie er dann regelmäßig in die Kneipen schlurfte, sich voll soff, und dann auf dem Klo junge Männer anhielt, ihr Geschlecht vor ihm zu entblößen. Meist war er danach eine Weile nicht mehr zu sehen, aber dann, völlig unvermutet, war er wieder da, am selben Ort, in Hut und Anzug, legitim und wirklich, wie eine Festung aus Ganzheit. Von wem hier die Rede ist? Vom schwarzen Mann. Von dem daheim im Dorf. Von dem in einer kleinen Stadt, fern davon. Von dem in einer großen Stadt, in einem andern Land. Von dem ohne Obdach, unter einem nassen Brückenbogen, auf einen Krückstock gestützt, mit zerzaustem Haar und glühenden Augen, und reglos wie ein Monolith. Und die Penner strichen vorüber, wie seine leibeigenen Unterteufel, und nickten sich zu mit einem Schafsgrinsen:
”Schon gesehn? Er hats wieder. Ei, der Säckel!”
Was mag da im Dunkel alles geschehen sein, auf dem Weg zwischen Himmel und Hölle. Sicher ist nur, es gibt Kreaturen, denen ist kein Preis zu hoch für einen Augenblick lichter Gewissheit. Zwar war er jedes Mal ein bisschen anders, wenn man ihm wieder begegnete, aber immer in einem Alter, in dem ein Mann aussehen kann, wie ein verwitterter Fels, meistens schwarz gekleidet, oft mit einem Hut, Besessenheit verströmend mit der energetischen Schwere eines Neutronensterns, erfüllt vom lautlosen, lebendigen Triumph, genau die Mitte einzunehmen von seinem persönlichen Synchronfeld. Wie der Grenzgänger ihm einmal in einer Arztpraxis in einer hessischen Kleinstadt gegenübersaß, um sich von ihm ein Rezept gegen seine ständig wiederkehrende Haschischbronchitis ausstellen zu lassen, wusste er noch nicht, mit wem er es zu tun hatte, zumal der Doktor nichts schwarzes, sondern einen weißen Kittel trug. Er dachte nur: Was für ein Kauz, als spräche er nur zu sich selbst, und kommt niemals heraus, nicht mal um einen anzusehen. Aber da war ihm der eine kurze Blick entgangen, den der Schwarze Mann für jeden hatte. All seine Rede klang wie ein Nuscheln, oder ein Schnaufen, und wenn eine Weile nichts mehr kam, dann war es eine Aufforderung, den Raum zu verlassen, mit dem Papier in der Hand. Erst als der junge Patient seinen Hausarzt mitten auf dem Marktplatz stehen sah, verwegenen Hohn im Gesicht, wie ein glänzender Rabe in einem tiefschwarzen, sonntäglichen Gehrock und Schlapphut gekleidet, am hellen Mittwochnachmittag, da nahm er sich vor, auf weitere, ohnehin immer kürzer ausfallende Krankschreibungen zu verzichten, und verließ bald darauf die Stadt.
Oder es begab sich ebenso, und doch wieder anders, in einer großen Stadt im Nachbarland. Es kann nur die Einsamkeit gewesen sein, die den Grenzgänger dazu getrieben hatte, an jenem, wie an vielen verregneten Sonntagen, endlose, zugige Boulevards abzulaufen, ebenso mechanisch wie unermüdlich, so lange, bis die Umgebung unvertraut aussah, sodass er anfing, aufzusehen, um sich zu orientieren. Da stand er vor einem schäbigen Kino, das sah aus, als zeige es nur Horrorfilme, eine Art, für die er eine Vorliebe hatte. Es gab “ Das Ungeheuer aus der Lagune”, ”Der gelbe Mann”, und “Das Ding aus dem All”, alle drei für siebzehn Francs.
Er trat näher, und sah sich die braunstichigen Bilder an. Man sah allerhand Fangarme mit Saugnäpfen und entsetzte Gesichter mit aufgerissenen Augen, und die Frau an der Kasse rauchte, sah aus wie die Dicke Lola aus einer Zirkusschau, und hatte Lockenwickler im Haar. Aus dem Regen kam er in das warme, trockene Dunkel mit den knarrenden Holzsitzen. Die fahl beschienenen Gesichter des spärlichen Publikums sahen starr und hungrig auf die Leinwand, wo gerade ein Mann mit einer Baskenmütze einen erregten Dialog mit einer Bäckersfrau führte. Der Grenzgänger setzte sich in die dritte Reihe von vorn, klemmte ein Knie in die Lücke zwischen den Sitzen vor sich, und rutschte mit dem Rücken tief hinunter, um leichter nach oben sehen zu können. Viele der Zuschauer husteten, und manche spuckten auf den Boden, auch roch es nicht gut. Auf einmal musste er heftig pissen, und sah, dass vorn neben der Leinwand eine Stiege zu den Toiletten führte. Er ging durch das flackernde Dunkel, dann die drei Stufen hoch, und musste noch durch einen schwarzen Vorhang, bis er eine rissige Holztür mit einer schiefen Messingklinke vor sich hatte. Er öffnete sie. Ein Schwall kalt und verpisst riechender Luft umfing ihn wie Gischt, aus unzähligen Hähnen troff und rauschte Wasser über Kacheln und fleckige, bröckelnde Wände, durch ein hohes Fensterluk fiel ein milchiges Zwielicht aus Grün, Gelb und Braun, und mitten darin, umgeben von viel unklarem Gewimmel und Bewegung, stand in Hut und Anzug der Schwarze Mann, und sein völlig lautloses Lachen drang dem Grenzgänger grell in die Sinne, wie der Triumph einer höllischen Macht. Das Gewusel ringsherum aber waren nur halbwüchsige Knaben, alle von derselben Größe und Altersgruppe, die dem Alten mit offenem Hosenladen und heraushängenden Schwänzen den Hof machten. Wenn welche hinausgingen, kamen neue herein, und suchten sich jeder einen Platz in dem Gedränge, von dem aus er dem Dämonen huldigen konnte. Keiner sagte ein Wort. Das Kommen und Gehen war vom Saal her nicht wahrzunehmen, vielleicht war irgendwo hinter dem Vorgang noch ein Zugang, der direkt nach draußen in den Hinterhof führte.
Dem Grenzgänger genügte die Sekunde, in der ihn der funkelnde Blick des schwarzen Mannes einfing, um in einer taumelnden Bewegung umzuschwenken dahin, wo neben dem höllischen Pissoir noch ein brüchiger Verschlag war, für den Abort, mit einem wackligen Riegel auf der Innenseite. Als er wieder herauskam, hechelte etwas an ihm vorbei, und stieß ihn gegen die Wand. Unten im Kino war alles normal. Auf der Leinwand glibberte ein pulsierender Schleimhaufen, und aus den Tiefen des Alls drang eisiges Gelächter zur Erde:
Ich bin. Sei mein. Ich bin
*
Nicht einmal das Land des Königs ist größer als der Abdruck seiner Füße. Setzte er sich hin, hätte er doppelt so viel.
Aus der "Sprache des Regens".
. 1. Kapitel
Grenzgänger
Ich war drei Mal bei Colette. An der käme man nicht vorbei, sagte ein Freund eines Nachmittags, was ich, mangels Erfahrung, als eine Art Gesetz verstand. Ihre vier Bilder waren sicher nicht der einzige Grund ihres Ruhmes. Sie hatte sie an einem Tag gemalt, und sie zeigten irgendetwas namenloses, was auf vier verschiedene Weisen ICH sagte, so laut, dass man sich keinen Gedanken darüber machen musste, was sie eigentlich darstellten. Sicher war, dass bei ihr die Seele im Handstreich die Macht über das Irdische errungen hatte. Derart in den Adelsstand erhoben hielt sie Hof auf einem Küchenstuhl, als säße sie auf einem Thron aus lichtem Blau, und nichts war wohlgeordneter, als ihr Haar und der fließende Fall ihrer schillernden Robe.
Ich trat ans Fenster, sah hinaus, und wandte mich wieder zu ihr um
“Da ist eine Katze auf dem Dach," sagte ich, ”sie ist ganz weiß.”
“Ich weiß," sagte sie, und lächelte. Es gab keinen Tee, nur den stillen Klang ihrer Gnade. In ihm fiel jedes Wort zu seiner Zeit, es gab keine Ursache und keine Wirkung und nur einen Grund für alles. Erst als wir wieder draußen waren fiel mir auf dass wir gegangen waren. Es war wohl Zeit gewesen. Diejenigen, die behaupten, Colette sei eine Hexe, seien gewarnt, denn sie selbst sind es, die gebannt in das Feuer starren, das es zu zähmen gilt.
“Colette ist eine Hexe," sagte der, der mich mit ihr bekannt gemacht hatte. Tatsächlich schien mir, als habe er damit einen Gedanken aus der Tiefe meines Bewusstseins geholt, der nur darauf gewartet hatte, geweckt zu werden. Ich war noch überrascht über meine stille Zustimmung, da gewahrte ich in meiner Erinnerung auch schon das Hexenhafte an ihrer Haltung, ihrem Ausdruck, den feinen, geordneten Linien in ihr Gesicht, und sah einen silbrigen Triumph irgendwo hinter ihren intensiven Augen.
“Kein Mann bleibt bei ihr,” fuhr er fort, “nur die Katzen.” Jetzt sah ich auch ihre Bilder vor mir. In hieroglyphenhaften Zeichen sprachen sie von Lust und Tod. Sie waren auf Glas gemalt.
“Katzen und Kinder sagen dir, ob deine Welt in Ordnung ist," sagte ich, ”ich schätze, sie ist viel allein.”
“Weißt du noch, warum wir gegangen sind?” Ich konnte mich nicht erinnern, auch nicht daran, wer zuerst den Entschluss gefasst hatte. Letzten Endes erinnerte ich mich nicht einmal an den Weg zur Tür, und hinunter durchs Treppenhaus.
“So ist es immer bei Colette," sagte er. ”Am seltsamsten ist es, wenn sie singt. Das heißt, sie summt eigentlich nur, und schwankt dabei vor und zurück. Unvermittelt verstummt sie und hält inne. Wenn sie wieder beginnt, ist es, als hätte ihr irgendetwas das Signal dazu gegeben, bis sie wieder stockt und lauscht.”
“Es singe wem Gesang gegeben," sagte ich, ”sie nimmt es halt genau. Sie hat ja sonst nichts zu tun.” Ich habe nie erfahren, wovon sie ihre Miete bezahlte. Ich glaube sie war mal verheiratet.
Einige Tage später, es war ein milder Spätsommerabend, ging ich an der Reihe der großen Straßencafes entlang über den belebten Boulevard. Über die breiten Fahrbahnen floss in beide Richtungen ein dichter Verkehrsstrom, unter der Lichtflut der Straßenlaternen und der glitzernden Pracht der erleuchteten Fassaden. Eine schlanke Frauengestalt, die mir in einem wehenden Kleid entgegenkam, zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und einen Moment lang war ich sicher, Colette erkannt zu haben. Als sie näher gekommen war, erkannte ich jedoch, dass ich mich getäuscht hatte, und als sie, umgeben von einer Gruppe von Personen, auf meiner Höhe war, vermochte ich nicht einmal mehr zu sagen, von welcher von ihnen der Eindruck der Ähnlichkeit ausgegangen war. Ein Stück weiter sprang irgendwo vor mir eine Ampel auf Rot, und auf beiden Seiten des Überwegs staute sich dicht an dicht der Fluss der Fahrzeuge. Es war ungewöhnlich genug, dass sich nur eine einzige Person anschickte, die Fahrbahn zu betreten, um sie zu überqueren. Im Licht der Scheinwerfer aber erkannte ich, diesmal zweifelsfrei, Colette im langen Sommerkleid, einen hinterdrein wehenden Umhang um die Schultern. Während ich überlegte, ob es richtig sei, ihr zu folgen, um sie anzusprechen, hatte sie schon die Straßenmitte erreicht. Kaum war sie an der Gegenfahrbahn angekommen, da löste sich aus dem dunklen Wall der stehenden Fahrzeuge ein schweres Motorrad, und bot ein seltsames Schauspiel, indem es mit einem Satz nach vorn preschte, entweder einer optischen Täuschung oder einem irrigen Reflex des Fahrers folgend, während alle anderen reglos stehen blieben, da die Ampel noch nicht umgesprungen war. Ohne den fließenden Lauf ihres Schrittes zu ändern, oder auch nur den Kopf zu wenden, hob Colette gleichzeitig auf der dem Motorrad zugewandten Seite die Hand, und machte damit eine leichte, kreisende Bewegung wie um es zu dirigieren. Anstatt mit ihr zusammenzuprallen, fuhr das Motorrad kurz vor ihr über den Überweg, umkurvte sie in einer engen, fast anmutigen Pirouette, und kehrte zurück zu dem Pulk, aus dem es gekommen war, wo es dann, nach einer weiteren Drehung, wieder Aufstellung nahm. Alle Augen folgten der Frau. Als diese den Fuß auf den gegenüberliegenden Gehsteig setzte, erlosch für etwa eine Sekunde die gesamte Straßenbeleuchtung, um gleich darauf wieder zu erstrahlen, als habe das Licht für einen Moment die Augen geschlossen, und wieder geöffnet. Die Ampel sprang auf Grün, und der Verkehr zog wieder rauschend seine Bahn. Drüben ging Colette auf das große Café zu, in dem noch andere ihrer Art verkehrten. Ich stand noch da, von wo sie die Straße überquert hatte. Als sie den Eingang erreichte, blieb sie stehen, und drehte sich um. Trotz der großen Entfernung traf mich der klare Blick ihrer Augen. Dann ging sie hinein.
An einem trüben Tag im Frühherbst war ich zum zweiten Mal bei Colette. Auch dieses Mal war ich nicht allein, sondern in Gesellschaft von zwei verschrobenen Künstlern, die immer von Colette sagten, es lohne sich zu ihr zu gehen, immer wenn man wieder ging, sei man nicht mehr der, der man gewesen ist, als man kam. Ich verstand nicht, ob sie nicht sein, oder nicht werden wollten, was sie waren, aber ich ging mit, weil ich Colettes Großmut schätzte, und fühlte dass ich in ihrer Gunst stand. Der graue Vorhang hinter der Glastür glitt beiseite, und ein ausgemergelter Typ mit zugekifften, sumpfigen Augen, in einer indischen Batikhose und einer zerschlissenen Jeansjacke, öffnete, und wandte sich sogleich wortlos von uns ab. Am Boden lagerte allerhand Volk in einer Landschaft aus Aschenbechern und überquellenden Mülltüten. Die Fenster waren geschlossen, die Luft waberte bläulich, es roch schwer nach Wein, Cannabis und Räucherstäbchen. Colette lag auf dem Sofa, wandte kurz den Kopf, zog die Wolldecke etwas höher, und machte eine Bewegung mit den Schultern, als ob sie fröstelte. Die beiden, die mit mir gekommen waren, ließen sich irgendwo nieder, ich stieg über eine Rotweinpfütze und einige Paar Beine, und gelangte ans Fenster. Auf dem Schieferdach hockte missmutig eine fette, graue Katze mit gelben Flecken. Colettes Stimme rief mich zurück ins Innere, indem sie mich bat, ihr vom Tisch eine Flasche Rotwein zu reichen. Ich gab sie ihr, sie setzte sie an, trank und gab mir die Flasche zurück. Ihr Gesicht war alt und fleckig von verschmiertem Rouge, sie sah niemanden an, nur in sich hinein. Niemand sprach. Die einzige Autorität im Raum war das Fanal ihrer vier Bilder, wie ein unbewegtes Banner des Sieges über einer elenden Zuflucht geschlagener Truppen.
Ich überlegte, was wohl geschehen würde, wenn ich laut zu ihr sagte, dass sie nun, da ihre Hexenseele den Schirm zugeklappt hatte, anstatt im Kreis der Pharaonen in der goldenen Stadt zu sitzen, sie wohl genötigt sei, auch billige Kundschaft zu bedienen, mit Wein, Pizza und einer Lagerstatt, und ihrem letzten Rest von Integrität und Selbstlosigkeit, wie das Gesetz es befiehlt. Im übrigen, der Müll ziehe die Ratten an, und lasse sie wachsen, bis sie zu groß sind, um sie abzuwehren. Da fragte sie einer aus der dösenden Runde mürrisch nach einem Hunderter, um Pizza zu holen für alle, und weil sie nicht antwortete, wälzte er sich schwerfällig herum, und zog an ihrer Wolldecke, die zu Boden glitt. Sie kam hochgeschossen, in ihrem bunten, seidenen Morgenrock, der vorne offen war, so dass man ihre schwankenden Brüste sah, und ihr greller Mund spie Verwünschungen, wie ein Drache das Feuer, und wir sollten uns alle zum Teufel scheren, schleimiges Gewürm und Blutsauger die wir seien. Überall erhoben sich blöd glotzende Gesichter, mit offenen Mündern und trunkenen Augen, und sahen ungläubig auf ihre zerzauste Silhouette, die sich im Gegenlicht des Fensters erhob, um nach einigen schwankenden Gehversuchen längelang hinzuschlagen. Ob sie irgendetwas zu Fall gebracht hatte, oder ob sie nur das Gleichgewicht verloren hatte, konnte ich nicht erkennen. Mit verdoppelter Wut kam sie wieder hoch, und begann, herumliegende Gepäckstücke ihrer Gäste durch die geöffnete Tür in den Flur hinauszuwerfen, wobei sie ein irres Keuchen ausstieß, und die Worte:
”Raus, alle raus, sonst schleif ich euch an den Haaren bis auf die Straße!” Selbst der letzte kam nun aus schweren Träumen zurück, und es dauerte eine ganze Weile, bis die lahmen Beschwichtigungsversuche erstarben, und einer nach dem anderen im Treppenhaus verschwunden war. Keiner setzte ihr Gewalt entgegen, es gab nur halbherziges Aufbegehren, sprachlose, betäubte Überraschung, und schließlich eilige Flucht. Ich war der letzte.
“Du auch, aber schnell," zischte sie, und knallte die Tür hinter mir zu. Beim Hinuntergehen prägte ich mir die ausgetretenen, bleichgescheuerten, hölzernen Treppenstufen ein, und ein buntes Glasfenster zum Hof. Auf einem Schild stand, man solle keine Fahrräder abstellen. Monate vergingen, bis es wieder einen Grund gab, zu ihr zu gehen. Einer ihrer Bekannten, derselbe, der mich beim ersten Mal mitgenommen hatte, sprach mich auf der Straße an, ob ich Geld für Blumen hätte, Colette würde heute aus dem Krankenhaus entlassen. Ich fragte, wieso, was sie denn gehabt habe. Sie habe sich die Pulsadern aufgeschnitten, und ein paar Valium zuviel genommen, das mache sie einmal im Jahr. Wir gingen mit den Blumen zu ihr, um alles schön herzurichten, und zu ihrem Empfang etwas zu essen zu kochen. Ein paar saßen schon da, und rauchten. Auf dem Dach war keine Katze zu sehen. Die Wand war leer.
“Wo sind die Bilder?” fragte ich.
“Sie hat sie mit dem Hammer zerschlagen," sagte einer. Ich machte mich daran, ihre Wohnung zu putzen, während andere die Blumen auf den Tisch stellten, und das Essen vorbereiteten. Das Saubermachen war sehr schwierig. An manchen Stellen, besonders in der Küche, lag der Dreck wie eine Glasur in mehreren Schichten, sodass man mit dem Crêpewender darunter fahren musste, um ihn abzuheben. Die zwei, die von ihr den Hausschlüssel bekommen hatten, waren losgezogen, um sie abzuholen. Aber nach zwei Stunden, wir saßen schon lange vor einem Haufen Couscous mit Lamm, waren sie immer noch nicht zurück. Ich glaube, wir warteten noch eine Weile, dann aßen wir fast alles auf. Dann tranken wir den Wein, und rauchten wieder. Niemand kam. Ich ging, als es dunkel wurde. Im Treppenhaus war das Licht kaputt. Etwas wischte an mir vorbei, es war wohl eine Katze, aber welche Farbe sie hatte, konnte ich nicht erkennen.
*
Ich kannte in jener Zeit einige Leute, die mehr Bilder gemalt hatten als Colette, aber einige hatten auch weniger, so zum Beispiel einer mit dreien, allerdings sehr großen, die er Mühe hatte, mit sich herumzutragen, da er keine feste Unterkunft hatte, und jede Nacht woanders schlief. Ich kannte niemanden mit zwei Bildern, aber mehrere mit einem, in den meisten Fällen nicht allzu großen, das jederzeit zur Hand war, und überall vorgezeigt werden konnte. Der mit den drei Bildern wurde gelegentlich von Dämonen heimgesucht, die ihn zwangen, irrational zu handeln. Er hatte ein gut versorgtes Leben gelebt, bei einer Frau, die ihn ausgehalten hatte, bis sie sich von ihm trennen wollte, worauf er ihr die Wohnung in Brand setzte, und nackt auf die Straße lief, seine Blöße mit den drei großen Bildern bedeckend. Dabei hielt er zwei übereinander vor sich, und eins hinter sich, so dass es aussah, als ob er für etwas Reklame liefe, einen Scheich auf einem Thron, und ein schwarzes Ross, das durch ein buntes Glasfenster sprang. Das dritte Bild, das vom zweiten verdeckt war, zeigte ein paar Gestalten mit dreieckigen Köpfen, die in einem blauen Äther schwammen, in dem es kein Oben und kein Unten gab. Er kam nur sehr langsam voran, da an seinen Bildern keine Griffe waren, und man brachte ihn noch am selben Tag in die Psychiatrie, wo man ihn eine Woche lang zur Beobachtung festhielt. Als er wieder herauskam, hatte er ein paar schöne Buntstiftzeichnungen angefertigt, von seinen Mitpatienten. Dazu wusste er jeweils die passende Krankheitsgeschichte zu erzählen. Die von dem schrecklich dreinschauenden arabischen Greis, den alle wegen seiner Wutanfälle fürchteten. Die von einem hageren Jüngling der, ein Fremdling vor sich selbst, auf alle Hinweise auf seine Unvernunft mit besserwissender Entrücktheit reagierte, und den er in einer Laube im Anstaltsgarten sitzend gezeichnet hatte. Und schließlich die Darstellung einer gebeugten, jungen Frau mit schwarzen Rändern unter den Augen, die der Schwermut verfallen war.
Alle diese Portraits waren auf Löschpapier angefertigt, das vom vielen Begrabbeln und Herumzeigen schon nach kurzer Zeit zu faserigem Staub zerfiel. So blieben ihm nur seine drei großen Ölbilder, die er nun von Unterkunft zu Unterkunft schleppte. Er übernachtete auch bei Colette, und hoffte wohl, bei ihr Fuß zu fassen. Offenbar waren jedoch ihre Dämonen den seinen überlegen, sodass sie ihn hinauswarf, bevor er ihr die Wohnung anzünden konnte. Ich wohnte damals noch in einem zentralen Bezirk der Stadt, und an einem klirrend kalten Dezemberabend war die Reihe an mir, ihm Unterkunft zu gewähren. Ich tat dies nicht ohne ein Gefühl der Beklommenheit, und eigentlich nur, um Colettes Beispiel zu folgen. Ich musste mir dann viel anhören, von seiner schicksalhaften Berufung zur Malerei, und dass ihm damit der Schlüssel versprochen sei zu einer Schatzkammer mit unsäglichen Reichtümern. Doch immer wieder klang ein Ansinnen aus seine Visionen heraus, das in seiner Natur so fremd und widerwärtig war, dass ich ihn fragte, ob nicht zum Erlangen der von ihm angestrebten Vollendung eine entschlossenere Ausrichtung auf die schönen Dinge im Leben notwendig sei, worauf er entgegnete, sein Leben sei der Weg durch eine schillernde Welt verborgenen Zaubers, dessen Schönheit zu schätzen einer besonderen Gabe des Erkennens bedürfe. Was immer ich davon erkennen konnte, ließ mich auf der Hut sein. Seine großen Bilder waren in der engen Wohnung überall im Weg, sodass ich sie im Klo abstellte. Am Morgen verließ er das Haus, und als er am Abend wiederkam, um eine weitere Nacht bei mir zu verbringen, ließ ich ihn nicht herein, und reichte ihm seine Bilder durchs Fenster hinunter auf die Straße. Er hatte aus Gewohnheit keine große Mühe, sich damit abzufinden, bat jedoch um einen Bindfaden, um sie zusammenzuschnüren, damit sie etwas handlicher würden. Dies schlug ich ihm nicht ab, und sah ihn mit seiner Last bald in der kalten Nacht verschwinden.
Manche jener Botschafter fremder Welten traten so kurz und unerwartet in meinen Gesichtskreis, dass sie dabei wie bleiche Geister wirkten, in deren weiten Augen, als einziger Gruß, ein Ausdruck des Bedauerns glomm, und die sogleich mit einem matten Seufzer wieder in der Nacht verschwanden, oder wie emporgestiegene Fische aus der Tiefsee, die sich an die Grenze zu einem feindlichen Element verirrt hatten, sodass sie, mit einer Drehung ihres weißen Leibes und einer stummen Klage in den Augen, in den Abgrund zurücktauchten. Ihnen war jedes Erwachen wie ein Schmerz, und das Vergessen eine Heimat, doch oft erklang ihr fernes Rufen aus der Tiefe, ihnen in ihre Welt zu folgen, damit endlich wahr würde, was sie stets aufs neue verkündeten: Es bedürfe nur der Erkenntnis, die wahre Gnade sei das Dunkel, und das Hinabsinken das Ende der Einsamkeit.
Als sich eines Nachts gegen drei die Tür zu meiner Wohnung öffnete, die ich meistens unverschlossen ließ, wenn ich zu Hause war, befand ich mich, wie immer um diese Zeit, in einem so hellwachen Zustand der Konzentration über meine Arbeit gebeugt, dass ich nicht einmal den Kopf wandte, um zu sehen, wer hereingekommen war, so sehr war das, was sich um mich herum abspielte, Teil meiner inneren Erlebniswelt, die mit meinem kreativen Willen in vollkommenem Einklang stand. Jemand grüsste leise, und näherte sich von der Seite, bis er im Lichtkegel meiner Lampe stand. Ich erblickte einen jungen Mann in schwarzer Kleidung, dem üppige, blonde Locken bis über die Schultern fielen. Ich entsann mich, dass ich ihm im Umfeld von Colette einmal begegnet war. Seine leicht schwimmenden, von einer tranigen Traurigkeit gefüllten Augen waren weit geöffnet, so, als bemühe er sich, den Himmel in sich hineinzulassen, nachdem er, ganz in Schwarz, soeben sein irdisches Dasein zu Grabe getragen hatte. Weil ich den Moment näher kommen sah da, ich ihm die Tür weisen würde, sah ich keinen Grund ihm entgegenzueilen.
“Sieh die Engel, die mich rufen," sagte der Besucher, und schlug ein Notizbuch vor mir auf, das er in der Hand hielt. In farbtrunkenen Collagen drängte sich ein apokalyptisches Getümmel von Ikonen des Wahnsinns, Zeugen seiner Schicksalskatastrophe, mit runden Mündern und Augen und Flügeln auf dem Rücken über den emporgereckten Händen schwarzer, kniender Mönchs - und Nonnenfiguren. Er zwang mich zum Nachdenken. Gleich würde er mich fragen, ob ich mitkäme zum Sportgelände hinter der Kirche, wo um Punkt Viertel vor das Raumschiff der Gorok landen würde, um uns und eine Handvoll Eingeweihter mitzunehmen nach Ahaldr`nath, dem dritten Planeten von Sirius. Meistens heißen sie Gorok, dachte ich noch, oder Shlibahim. Oder würde er einfach vorschlagen, dass wir uns die Atemöffnungen mit Plastiktüten bedeckten, um als erlöste Geistwesen zum fernen Hort der Glückseligkeit zu fliegen, wo wir für immer sicher wären vor den lästigen Zerfallsprozessen unserer organisch gebundenen Existenz? Ich hatte gehört, dass das Brauch sei bei gewissen Erlösungssekten. Unwillkürlich schaute ich, ob ihm Plastiktüten aus der Tasche quollen.
“Und dies," rief er mich zurück, indem er in seinem Buch weiterblätterte, ”ist die heilige Agnes, wie sie einen Seufzer ausstößt, unter der Offenbarung des göttlichen Hermaphroditen Waamash.”
Ich sah sie mir gut an. Sicher würde ich nie wieder eine Frau sehen, die vor einer derartigen Erscheinung einen Seufzer ausstößt. Durch das vergitterte Fenster ihrer Zelle drang ein Strahl goldenen Lichts, und traf die kniende Frau genau in der Mitte, dabei war ihr Mund rund und offen, als wenn sie ooooh sagte. Ihr verklärter Blick aber war auf eine Gestalt gerichtet, die über ihr schwebte, ein gelocktes, rosafarbenes Wesen, das entfernt an die Knabenbilder von Blake erinnerte, und mit so viel universeller Geschlechtlichkeit ausgerüstet war, wie sie nur infolge eines schweren genetischen Schadens in einer einzigen Person zusammentreffen konnte. Ich hatte genug gesehen, und wandte mich übergangslos wieder meiner Arbeit zu, die mich mit wohltuender Vertrautheit in ihrer Welt willkommen hieß. Obwohl er neben mir noch weiter blätterte und dazu sprach, hatte ich keine Schwierigkeiten, mich auf das zu konzentrieren, wonach mir der Sinn stand. Irgendwann hörte ich wie sich die Tür öffnete und schloss. Ich war wieder allein.
Viele von ihnen haben nur ein einziges Bild. Es erinnert seinen Besitzer an den einen Weg, das eine Versprechen, das eine Gesetz und die eine Hoffnung, die fortan sein Leben bestimmt. Es ist die einzige von ihm selbst als wahr anerkannte Botschaft, die je aus seinem Kern nach außen gedrungen ist, so wichtig wie die Geburt der Welt aus einem Ei, dessen Schale nicht gemacht war, um seinen Inhalt zu bewahren, sondern um zu gegebener Zeit unter dem Druck einer Lichtflut zu zerreißen. Vor der verheerenden Kraft dieser Botschaft zerstieben wie Spreu die relativen, naturbedingten Wahrheiten, die durch alltägliche Notwendigkeit und differenzierende Vernunft ein irdisches Leben bestimmen. Die Inquisition hat nie aufgehört ihr Werk zu verrichten, und was bleibt, sind elende Relikte einer missachteten Menschlichkeit, missachtet am fernen Ursprung der Katastrophe, missachtet, und der blinden Majestät der Mitte ausgeliefert, bei ihrem späten, unausweichlichen Ausbruch. Denn nur die gleißende Mitte des Lebens beherrscht zu allen Zeiten den Tod, und mächtiger als die Furcht vor diesem ist nur das Versprechen der ganzen Erlösung. Die misslungenen Versuche, dem Absoluten zu folgen, füllen seit Jahr und Tag die Friedhöfe, die Irrenhäuser und die Tempel, und manche der kauernden Gestalten hinter Pappkartons und Brückenpfeilern, den Blick in der Nacht auf die Lichter am anderen Ufer gerichtet, werden von unsichtbaren, goldenen Ketten gewürgt, in der Tasche ein zerknülltes, fleckiges Blatt: Den Plan des universellen Schatzsuchers, auf dem sein eigener Standort nicht verzeichnet ist, nur das Ende des Regenbogens hinter einem ständig zurückweichenden Horizont. Nicht immer ist dieser Plan aus Papier, oder aus Leinwand. Als es beides noch nicht gab, wurde er in Holz geritzt, das längst zerfallen ist, in Höhlenwände gekratzt, oder in Steinplatten graviert, während noch der flackernde Schein des Feuers darüber tanzte, aus dem die Stimme kam. Bekannte Namen zeichnen dieses Vermächtnis, und eine Unzahl von unbekannten, deren Glut erlosch, noch ehe sie Zeit hatten, sich mitzuteilen.
*
Dass ich meine Wohnung in der mondänen südwestlichen Innenstadt aufgegeben hatte, um an den östlichen Stadtrand zu ziehen, lag zunächst daran, dass es mit meiner Arbeit nicht so recht vorwärts ging. Zu bewegt waren die Tage und Nächte in dieser Welt eines Stammes, der sich ganz der Schatzsuche verschrieben hatte, ohne dabei auf ein gehöriges Maß an Lustgewinn verzichten zu wollen. Keiner entkam seinem Platz in der Hierarchie, so sehr er auch nach der Krone strebte. Es war eine rechte Rangelei, bei der man immer hörte: hier ist viel, aber wo ist mehr, und immer wieder blühte der Glanz im Rücken derer, die ihre Augen auf das Gleißen richteten, und es führte sie herum und herum, indem sie sich enttäuscht und überrascht hin und her wandten, ohne je aus ihrer Armut auszubrechen. Da die Arbeit nicht voranging, benötigte ich mehr Zeit für mein Projekt als vorgesehen. Mein Auftraggeber, ein Verlag in Deutschland, willigte ein, musste mir aber die Mittel kürzen, sodass ich gezwungen war, mich nach einer erschwinglichen Bleibe umzusehen. Über eine Wohnungsvermittlung geriet ich an die Familie M., die in einem der östlichen Vororte auf einem weitläufigen Waldgrundstück ein altes Landhaus besaß, nicht weit von einer Metrostation. An einem kühlen, klaren Oktobertag, nach einem kurzen Telefongespräch, fuhr ich hinaus, um mich vorzustellen. Ich wusste um den sozialen Status der Familie - der Mann bekleidete ein hohes Amt im Innenministerium - und ich hatte mich sorgfältig eingekleidet. Von den drei Sätzen, die die Frau am Telefon gesagt hatte, hielt ich nur den Klang ihrer Stimme fest: Kalt, herrisch, voller Ungeduld und Überdruss. Sie hätte mir genauso gut ein Foto schicken können: In den besten Jahren, attraktiv, unbefriedigt, bürgerlich und borniert. Der Preis und die Konditionen für die Miete eines Zimmers waren vergleichsweise verlockend, und wenn man die Regeln der Unterwerfungsrituale dieser Leute beachtete, war es leicht, sich mit ihnen zu arrangieren, ohne seine Unabhängigkeit zu verlieren. Menschlich gesehen war es sicher nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte, aber es kam meiner Lage gerade soweit entgegen, wie ich es brauchte, um die nächsten zwei Jahre zu überbrücken.
Das Schloss von Vincennes stand im vollen Fahnenschmuck: Hakenkreuzbanner überall, in den Fenstern, von den Zinnen, den Flaggenmasten, auf den rollenden Wehrmachtskübelwagen, die im Schritttempo die Parade abfuhren, Monokel tragende Generäle darin, die im Stakkatorhythmus die Arme hochrissen, rot-weiße Standarten und braun uniformierte Paradebataillone. Hacken knallten, Befehle wurden gebrüllt. Ich konnte zum Schloss hinübersehen, als ich von der Metrostation schon ein Stück gegangen war. Die Menge stand und gaffte. Gewiss, was wir da sahen lag schon vierzig Jahre zurück, hier wurde nur ein Film gedreht. Jahre später, in irgendeinem Kino, erkannte ich die Szene wieder, und versuchte mich zu erinnern, wie sich der Tag angefühlt hatte: Die kühle, klare Herbstluft, die Zuversicht, der Weg durch den Park, dann nach links die lange Zufahrt zum Haus der Familie M. hinauf, zwischen sorgfältig gestutzten Hecken hindurch. Ein hagerer, älterer Mann mit einer Schiebermütze, der unter mächtigen Buchen, Eichen und Kastanien das Laub zusammenharkte, und auf einen Karren lud, warf mir einen aufmerksamen Blick zu, bevor er mit einem Kopfnicken grüßte, und sich wieder seiner Arbeit zuwandte. Die altherrschaftliche Fassade, mit mehreren Balkonen und Erkern unter einem tief gezogenen Giebeldach, war mindestens zum Teil modernisiert worden, und was sicherlich einst ein eichenes Portal mit bronzenen Beschlägen gewesen war, war jetzt eine aluminiumgefasste Glasfront an die man gelangte, nachdem man ein übermannshohes, schmiedeeisernes Gittertor mit goldbronzeverzierten Spitzen durchschritten hatte. Ringsherum stand herbstlicher Wald, bis dahin wo hinter der Umzäunung ein streng gepflegter Hausgarten begann, mit einzelnen Nadelbäumen und den letzten Blüten der Jahreszeit, mit einer Art Jugendstilplastik in der Mitte, wohl ein Brunnen mit einem Fisch darauf, auf dem rittlings eine Gestalt saß. Es floss jedoch kein Wasser, denn es war nicht mehr lang bis zu den ersten Nachtfrösten.
Nachdem ich die Schelle gedrückt hatte, öffnete mir eine junge Frau, ich hatte jedoch keinen Zweifel, dass dies nicht die Hausherrin war, sondern offenbar eine Hausangestellte: Sie war von mediterranem Typus, dunkelblond, mit weichen, runden Zügen und sanften, braunen Augen, und bat mich mit einer scheuen Geste, ihr durch die Vorhalle zu folgen. Aluminium, Marmor und Messing waren hier reichlich verarbeitet, ebenso wie wertvolle Hölzer in den Türen und Täfelungen. Statt der in solchen Häusern üblichen Ahnenporträts waren einige überdimensionierte abstrakte Gemälde zu sehen und eine oder zwei Landschaften, die eine stark synthetische Stimmung vermittelten. Wir gingen jetzt auf einem tiefen, roten Läufer, und das Mädchen öffnete die Tür zum Salon. Obwohl noch Nachmittag war, drang kaum Tageslicht in den von einem Kronleuchter erhellten Raum, den ich jetzt betrat. Madame M. kam mir entgegen, reichte mir die Hand, und lächelte bemüht, während ich ihre Erscheinung mit dem Eindruck verglich, den ich von ihrer Stimme gehabt hatte. Ihr Haar war platinblond und hochgesteckt, und sogleich war da noch eine knabenhafte Gestalt neben ihr, mit pomadisiertem Scheitel, in einem dunklen Zweireiher, das war ihr Mann. Was sie bei dieser ersten Begegnung trug, weiß ich nicht mehr genau, ich glaube, es war ein himmelblauer, flauschiger Hausmantel und goldene Pantoletten, aber es kann sein, dass mich meine Erinnerung täuscht, denn das war es oft was sie trug, wenn ich vormittags, am Monatsanfang, hinaufging, um die Miete zu bezahlen.
Ich weiß auch nicht mehr, warum so wenig Tageslicht in den Raum fiel. Ich denke, die hohen Fenster waren irgendwie verhängt, und überall, so schien es mir, war Brokat und andere, schwere Stoffe, wie ich sie gelegentlich in den Wohnungen älterer, wohlhabender Leute gesehen hatte. Viele Möbel und Gegenstände, deren Natur ich nicht gleich ausmachen konnte, machten den großen Raum eng. Berge von Kissen und einige Plüschtiere lagen herum. Ein dunkelhaariges, kleines Mädchen wurde von der Hausangestellten hinausgetragen, und hielt, bis sie durch die Tür verschwunden war, ein Paar großer, fragender Augen auf mich gerichtet.
Madame sprach jeweils kurz und knapp, mit einer spürbaren Betonung auf Unmissverständlichkeit, und erklärte gleich, dass sie es nicht nötig hätte, zu vermieten, aber sie meine, dass es schade wäre um vergeudeten Wohnraum, was heißen sollte, sie war reich, habe aber ein soziales Gewissen. Ob diese Eigenschaften auch für ihren Mann galten, ließ sie offen, da sie stets in der Ich-Form sprach. Die Einwürfe von Monsieur kamen eilig dazwischen, wie ein warmer, feuchter Schwall, und er hörte nicht auf zu lächeln, und immer wieder glitt sein Blick frohlockend über meine Kleidung. Ich hatte mir Mühe gegeben. Innerlich zog es mich ein wenig zusammen, aber es verlief alles wie erwartet: Ich hatte meine Bleibe gefunden, ein schlichtes Zimmer mit Dusche und Toilette im Tiefparterre, wo das Mädchen Felice und der Gärtner Gaston meine Nachbarn waren. Mit ihnen lebte ich in gutem Einvernehmen, meine Arbeit fasste wieder Tritt. Ich verbrachte die Tage in den einschlägigen Instituten und Bibliotheken, und bevor ich mich abends an den kleinen Tisch in meinem Zimmer setzte, um das Material aufzuarbeiten, kam es oft zu einer Begegnung mit einem meiner Mitbewohner, oder mit beiden, wobei wir rauchten, und auf der Bank im rückwärtigen Hof saßen, der durch eine Hecke an der Seite des Hauses vom vorderen Garten getrennt war, und die Gemüsebeete, einige Gerätschaften und eine alte, von Brombeerbüschen halb überwucherte Laube enthielt. Gespräche über die Familie M. gab es kaum, und wenn, dann nur in zurückhaltenden Andeutungen, außer, wenn Felice in ihrem holprigen Französisch von einem der Kinder erzählte. Ihre Unbeholfenheit in der Landessprache mag ein Grund gewesen sein, weshalb sie wenig sprach, ihre ständige, nach innen gekehrte Versonnenheit ein anderer. Dass ich sie an Tagen, an denen ich zu Hause war, gelegentlich von einsamen Spaziergängen durch den Wald heraufkommen sah, ließ meine Neugier in unverhohlenes Interesse an ihr umschlagen. Jeder Versuch aber, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, als die unserer Zigarettenpausen im Hof, scheiterte jeweils an ihrem brüsken Rückzug auf sich selbst, sodass ich sie schließlich in Ruhe ließ. Gaston überging diese Momente mit nicht viel mehr, als einem wissenden Blick in meine Richtung, meist stand er dann auf, um irgendwas zu richten, ein hängendes Stück vom Drahtzaun, eine verrutschte Steinplatte vom Gartenweg, oder er sammelte irgendein liegen gebliebenes Gerät auf, und schloss es in die Laube ein. Auch er sprach wenig, war aber in Haltung und Ausdruck so beredt wie nur wenige die ich kannte.
Meine Miete zahlte ich in bar, und ging dafür einmal im Monat die Kellertreppe hoch, durchquerte die Halle mit den gläsernen Schwingtüren, und klopfte schließlich an die weißlackierte, goldgeränderte Tür zum Salon. Es war immer Madame, die mir öffnete. Ich war stets aufs Neue betroffen von der herben Strenge in ihrem schönen Gesicht, und von dem herrischen Ausdruck ihrer Augen. Meistens stand das jüngere der beiden Mädchen im Hintergrund, und heftete reglos seinen ernsten Blick auf mich. So kurz ich mich zu fassen suchte, gelang es mir doch selten, mich zurückzuziehen, ohne irgendwelche Ermahnungen zur Instandhaltung und Pflege meiner bescheidenen Bleibe zu hören zu bekommen. Ihr Mann, den sie sich vielleicht wegen seines hohen Amtes als zu ihr passend ausgesucht hatte, ohne recht zu erkennen, was für ein Mensch er war, schien, abgesehen von seinem materiellen und gesellschaftlichen Beitrag zur Lebensführung der Familie, einen Status völliger Entbehrlichkeit zu haben. Einen halben Kopf kleiner, bübchenhaft und pomadisiert, schien er stets winselnd um seine Herrin herumzutapsen, die zumindest in meiner Anwesenheit nicht ein einziges Mal mit einer persönlichen Reaktion zeigte, dass sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahm, und ihn sich stets durch einen Schild kalter Verachtung vom Leibe hielt. Nie erinnerte mich ein Mann mehr an eine Drohne mit ihrer Königin, und ich fragte mich oft, warum sie ihn nicht nach der erfolgreichen Zeugung zweier Kinder nicht einfach getötet hatte. Sie schien allein wohlhabend genug zu sein, durch ihr Familienvermögen, und es gab auch einen Kreis lebenslustiger Freunde. Deshalb war mir nicht klar, bei all der Selbstbestimmtheit ihrer Art, wozu sie ihn überhaupt noch brauchte.
Die Rasenflächen vor dem Haus wurden von Gaston regelmäßig so kurz geschoren, dass die Ameisen sich ducken mussten, wenn sie nicht gesehen werden wollten. Später, in der warmen Jahreszeit, stand dort eine Sitzgruppe aus seidenbezogenen Plastikstühlen, einem Gartentisch und hawaigemusterten Baldachinen vor der Wasser speienden Marmorstatue eines sich aufbäumenden Fisches, der von einer Nixe mit prallen Brüsten geritten wurde. Das Wasser stürzte in ein flaches Auffangbecken, in dem im Sommer die Mädchen planschten. Madame saß dann in einer der überdachten Hollywoodschaukeln, und stöberte in Stapeln von Papieren, während eine goldrandige Brille ihrer gouvernantenhaften Erscheinung den letzten Schliff gab. War an den Wochenenden ihr Mann dabei, dann sah man diesen in ständiger Bewegung, kleine, unverständliche Laute des Entzückens ausstoßend, bis er unweigerlich in ihren Gravitationsbereich geriet, und damit an ihre Duldungsgrenze stieß, wie ein Ochse an den elektrischen Weidezaun, und, ohne dass dabei ein Wort fiel, daran erinnert wurde, dass er sich um sich selbst zu scheren habe, wonach er sich wieder reflexartig von ihr entfernte, um kopflos mit irgendwelchen Utensilien zu hantieren, oder bei den Kindern Zuflucht zu suchen, bis alles von vorn begann. Diese Eindrücke erhielt ich nur im Vorübergehen, und anlässlich einiger weniger Einladungen zum Nachmittagskaffee. Da sich ansonsten für mich ein Aufenthalt in diesem Teil des Grundstücks nicht schickte, und ich auch kein Bedürfnis danach verspürte, ging ich oft an den brusthohen, exakt geometrisch gestutzten Hecken entlang auf einem längeren Plattenweg in den verwilderten Park hinaus. Dabei tauschte ich gelegentlich, wenn sie im Garten waren, mit den Eheleuten einen förmlichen Gruß. Irgendwann hörte der gepflasterte Weg einfach auf, die letzten Platten waren zerbrochen, und halb im Erdreich versunken.
Das Anwesen war sehr weitläufig, und nur in unmittelbarer Nähe des Hauses gepflegt und übersichtlich. Gaston hat mir erzählt, dass es von unschätzbarem Wert sei, und durch Vererbung der Hausherrin zugefallen war. Trotz seiner bisherigen Randlage im Osten der Stadt wurde der Besitz doch in zunehmendem Maße interessant für Spekulanten, und geriet immer öfter ins Visier städtebaulicher Planungsämter, Madame M. hatte es aber immer verstanden, mit juristischen und anderen Mitteln eine Zerstückelung des Geländes oder einen Teilverkauf zu verhindern. In der Nähe des Hauses stand ein Gemisch von Laub- und Nadelbäumen, vereinzelte Pinien und Kiefern wechselten sich ab mit Buchen, Eichen und Kastanien, dann begann reiner Laubwald, und zwischen den Bäumen waren große Flächen zugewuchert von Brombeeren, Brennnesseln und allerhand üppig gedeihendem Unkraut. Es war jedes Mal von neuem ein Abenteuer, einen Weg da hindurch zu finden, denn nur ab und zu waren Reste alter Pfade zu erkennen. Hier und da lag verrostetes Gerät im Gebüsch, ein eisernes Bettgestell vielleicht, oder die Trümmer eines Karrens. Ich nahm an, dass die Besitzer des Geländes nie hier spazieren gingen, denn sie hätten sicherlich ihrem Gärtner aufgetragen, Ordnung zu schaffen.
Nach einer Weile gelangte man so an die südliche oder südöstliche Grenze des Grundstücks, was sich durch das schwache Rauschen des Verkehrs von einer nahen Ringstrasse ankündigte. Man sah dann unvermutet durch das Dickicht die dunklen Brocken einer alten Mauer, die streckenweise ganz oder teilweise eingestürzt war, und oft durch einen windschiefen Zaun ersetzt wurde, und auch in diesem klafften große Lücken, bis schließlich in südlicher Richtung außer ein paar im Laub liegenden, morschen Pfosten und verrosteten Drähten nichts mehr davon übrig war, und das private Grundstück stufenlos in das angrenzende Waldgebiet überging. Im Sommer herrschte hier auch bei prallem Sonnenschein nur ein grünes Dämmerlicht, und der Boden war ein dicker Teppich von moderndem Laub, nur unterbrochen von Buschwerk, mannshohen Farnen, den bemoosten Leibern gefallener Stämme und morschem Astwerk.
Eines Tages im Spätherbst, wenige Wochen nach Beziehen meines neuen Domizils, versuchte ich, dem kaum mehr wahrnehmbaren Verlauf der Grundstücksgrenze in südwestlicher Richtung zu folgen, und stieß plötzlich auf einen grasgrün lackierten, offenbar metallenen übermannshohen Kubus, etwa von der Form eines größeren Kiosks, der etwas schief und mit halb geöffneter Tür auf dem unebenen Waldboden stand. Ob es als ehemaliges Gerätehaus der Forstverwaltung für Waldarbeiten genutzt wurde, vermochte ich nicht zu sagen, wusste aber dass dieser entlegene Teil des Grundstücks nicht zu Gastons Arbeitsbereich gehörte. Mein erster Impuls war, die Tür weiter zu öffnen, um hineinzusehen, da sah ich an der Seite, etwa in Kopfhöhe, ein kleines Glasfenster. Ich sah hinein, ohne eine andere Erwartung, als im Innern altes Gerümpel oder einen Berg hineingewehtes Laub vorzufinden, oder einen leeren, durchgerosteten Boden. Wie groß war meine Überraschung, als ich im Inneren einen jungen Mann in einem Korbstuhl sitzen sah, vertieft damit beschäftigt, einer alten Weste mit Nadel und Faden einen Flicken aufzunähen. Wie er da so saß, in einer ruhigen, ebenso konzentrierten wie arglosen Haltung, ohne den Hauch einer Ahnung, dass er beobachtet wurde, da er mir den hinteren, seitlichen Teil seines Kopfes zuwandte, schien er mir, in seiner seltsamen Kleidung und der Art seiner Bewegungen, gleichzeitig von unerhörter Fremdheit, und doch solcher Vertrautheit, dass ich einen Moment der Ratlosigkeit überwinden musste, um zu verstehen, was ich sah. Irgendwie unterstrich die Jugend in seinem glatt rasierten Gesicht seine Seltsamkeit, auch die Mütze, die er trug, mit einer hohen, hochgeklappten Krempe über der Stirn, und ein buntscheckiges, wollenes Wams, das ihm bis zu den Schenkeln reichte und nicht viel mit einem modernen Pullover gemeinsam hatte. Er trug dunkle Hosen und an dem einen Fuß, der mir sichtbar war, einen derben, hohen Schnürstiefel.
Hätte ich einen Waldarbeiter bei der Vesper oder einem Nickerchen vorgefunden, oder einen verschissenen Penner, der seinen Suff ausschnarcht, und sich im Schlaf den Schorf von der Krätze pult, meine Überraschung hätte sich schnell gelegt, und ich wäre gleich meines Weges gegangen. Ich kam schnell auf den Grund der Vertrautheit mit dem was ich sah. Er bestand darin, dass der Junge nähte, und in seiner fleckig geröteten Gesichtsfarbe, die ich deutlich erkennen konnte, da durch ein zweites Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Häuschens genügend Licht hereinfiel. Er war zweifellos einer von denen, in denen das Feuer einer Besessenheit brannte, einer Besessenheit, die Leute wie ihn zu ausgestoßenen Kindern machte. Ich hatte schon viele von ihnen getroffen: Gesichter voller gläubiger Schicksalsergebenheit, aber wie getrieben von einem fiebernden inneren Zwang. Und da sie keine gewöhnlichen Vagabunden sind, und nicht aus purer Gewohnheit regelmäßig karitative Hilfe in Anspruch nehmen, halten sie ihre Sachen instand, so gut sie können. Oft mit skurrilen Ergebnissen. Bindfäden und Flicken aller Art halten auseinander fallende Teile zusammen, Fundstücke kommen hinzu, einst alltägliche Kleidungsstücke werden der Notwendigkeit angepasst, ändern ihre ursprüngliche Form, und verleihen ihrem Träger schließlich jenes ebenso eigene wie fremdartige Aussehen zwischen Zirkus und Freibeutertum, in dem Kinder gern, lässt man sie gewähren, an die Verwirklichung ihrer Träume gehen. Eine erlernte Kühnheit kommt hinzu, und ein immer irgendwo im Innern mitgesummtes Heldenlied, das die alte Geschichte vom tapferen Wagnis und dem versprochenen reichen Lohn erzählt.
Während er still an seiner Arbeit saß, sah ich mir seine Umgebung an. Am Boden lag ein offener Leinensack, eine Anzahl verschieden weit abgebrannter Kerzen waren auf einer Kiste aufgestellt. Einen Gaskocher konnte ich erkennen, Konservendosen und mehrere Wasserflaschen. Längs der Wand, der er zugewandt war, lag so etwas wie eine Schlafstatt aus einem Schlafsack und zwei sauber aufgerollten Wolldecken. Außerdem sah ich eine Menge voller und leerer Plastiktüten, ein halbes Brot, einen Tee- oder Wasserkessel, Blechgeschirrteile und Konservengläser, die wohl als Tassen dienten. Ich hatte mir inzwischen, mehr aus Neugier, vorgenommen, ihn zu fragen, ob er irgendwelche Hilfe brauchte, um mehr über ihn zu erfahren, als ich bemerkte, dass er seine Position verändert hatte, und mir jetzt mehr von seinem Gesicht zuwandte. Er hielt in seiner Arbeit inne, und schien irgendwie in emotionelle Bewegung zu geraten. Sein zuvor sanftes und ruhiges Gesicht geriet in einen Zustand der Angespanntheit, und er sah fixiert vor sich hin, als habe etwas seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wenn er hinten keine Augen hatte, konnte er mich unmöglich bemerkt haben, und ich hatte auch kein Geräusch gemacht.
Während sein Blick sich weitete, verzog sich sein Mund wie zu einem Fletschen, und, von einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes unterstrichen, schien er einen kurzen Laut auszustoßen. Ich meinte etwas wie ein Knurren zu hören, gefolgt von mehreren unverständlichen Silben, die mir wie eine Folge von Zischlauten klangen. Dann kam ein hartes, bellendes Lachen, böse und triumphierend, und er bewegte einige Male den Kopf hin und her, wie ein Raubtier, das ein gepacktes Opfer schüttelt. Dabei rutschte ihm der Seeräuberhut vom Kopf, und gab den Blick frei auf einen ziemlich verfilzten, dichten, roten Haarschopf. Wie der Hut zu Boden kollerte, schien er zu sich zu kommen, und stierte noch einen Moment lang blöd in die Luft, wobei er allmählich eine entspanntere Haltung annahm. Seine Schultern hoben und senkten sich deutlich, als er ein paar Mal tief durchatmete, dann schloss er den Mund, setzte sich den Hut wieder auf, und nahm in derselben gefassten und konzentrierten Weise wie vorher seine Arbeit wieder auf.
Ich ließ von meiner Absicht ab, ihn anzusprechen, obwohl ich nicht sonderlich schockiert war von dem was ich gesehen hatte, und entfernte mich vorsichtig von dem Häuschen, wobei ich mich bemühte, nicht auf verräterisch knackende Zweige zu treten. Ich gelangte bald auf die südliche Zufahrt zum Haus, und wandte mich heimwärts. Schon nach wenigen Metern musste ich über den Graben bis dicht an den Maschendrahtzaun ausweichen, weil der silberne Roadster von Madame M., der die schmale Straße hoch kam, die gesamte Breite der Auffahrt einnahm. Als sie neben mir hielt, und mir erklärte, sie nehme ja normalerweise keine Anhalter mit, würde aber in meinem Fall eine Ausnahme machen, täuschte mich ihr gut gelaunter Tonfall kaum über die reglose Forderung in ihren Augen hinweg, obwohl ich diese durch die Gläser ihrer Sonnenbrille mehr ahnte, als dass ich sie sehen konnte. Mit der Brille und dem hochgesteckten Blondhaar sah sie am Steuer ihres Cabrios aus wie ein Filmstar der sechziger Jahre, irgendwas zwischen Grace Kelly und Doris Day. Sie fragte nach dem Fortgang meiner Arbeit, und ich erzählte etwas von einer schöpferischen Pause und einem ausgedehnten Spaziergang durch das südliche Waldstück.
“Passen sie auf, da gibt es noch Wölfe," sagte sie neckisch, und ich lächelte, sagte ihr aber nicht, wie recht sie hatte. Ich hob ihr die beiden Designerstühle, die sie in der Stadt gekauft hatte, vom Rücksitz, und trug sie ihr direkt in die Veranda, wo sie ihren Platz haben sollten. Sie waren aus Stahl und tropischem Holz, und würden dort herumstehen wie Museumsstücke aus der Zukunft, denn ich hatte noch nie jemanden in der verglasten Veranda sitzen sehen, und bezweifelte, dass die neuen Stühle daran etwas ändern würden.
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Wie alle, die für ihren Broterwerb auf freiwillige Zuwendungen angewiesen sind, legte Maria Wert darauf, zu verhindern, dass bei der Kundschaft der Eindruck entstand, in dem Korb auf ihrem Tisch habe sich bereits ein kleines Vermögen angesammelt. Zwar waren die Tarife ordentlich und für alle sichtbar auf einer Tafel aufgelistet, aber wenn sie regelmäßig den Korb in die Tasche unter ihrem Tisch entleerte, vor allem dann, wenn bereits ein paar Silbermünzen darin lagen, dann gaben viele, mit einem mitfühlenden Blick auf die ebenso verhärmt wie wachsam und würdevoll dasitzende Frau, die meistens an einem Schal oder einem Pullover strickte, mehr als den Pflichtbetrag, in der Meinung die armseligen Almosen, die nicht einmal den Boden des Korbes bedeckten, seien das einzige, was sie an diesem Tag eingenommen hatte. Denjenigen aber, die sich ihrer Schuld ganz entzogen, indem sie mit eingezogenem Kopf vorübereilten, sei es weil sie kein Kleingeld hatten, oder weil sie der Auffassung waren, dass schon genug südländisch aussehendes Volk versuchte, sich etwas vom Wohlstand der Hauptstadt abzuzweigen, flog von hinten manch derbes Schimpfwort in Marias Heimatsprache an die Ohren, wobei immer sicher war, dass die Nachricht den erreichte, für den sie bestimmt war, und mit ihrem ganzen Sinngehalt. Die wenigsten von diesen entkamen ihr ein zweites Mal, weil es schien, dass Maria immer im richtigen Moment aufschaute, um sie schon beim Eintreten zu erkennen. Manche kauften sich dann mit einer größeren Münze frei, um einen Skandal zu vermeiden, oder sie kamen gar nicht erst in die Metrotoiletten, sondern pinkelten irgendwo oben in die Büsche.
Während Felice an diesem ihrem freien Nachmittag ihrer Mutter beim Stricken eines Schals zusah, hoffte sie inständig, er sei nicht wieder ein Geschenk für sie, da der Geruch seiner Herkunft, trotz oftmaligen Waschens, hartnäckig haften blieb, und gleichzeitig der Wunsch, ihre Mutter nicht zu kränken, indem sie ihn nicht trug, sie, wie schon oft, in arge Verlegenheit bringen würde. Um sich selbst von diesem störenden Gedanken abzulenken, erzählte sie, nicht ohne reichliche Ausschmückungen, wie sie am Vorabend, als Monsieur noch spät zu einem überraschenden Treffen ins Ministerium gerufen worden war, ihm in letzter Minute noch einen Knopf angenäht hatte, nachdem sie ihn auf sein Fehlen aufmerksam gemacht hatte. Beim Hinausgehen hatte er sie väterlich in die Wange gekniffen, und sie seinen Engel genannt. Ein solches Rollenspiel stand Monsieur selbst beim Umgang mit seinem Dienstmädchen schlecht zu Gesichte, aber das wusste ihre Mutter nicht. Diese ließ nun für einen Moment die Stricknadeln ruhen, und ihre braunen Augen waren mit innigem Glanz auf ihre Tochter gerichtet.
Felice, die der Eingangstür zugewandt saß, schaute ab und zu auf zur eintretenden Kundschaft, während sie an ihrer Zigarette zog, und wenn die Leute an ihrem Tisch vorüber waren, die Frauen nach links, die Männer nach rechts, dann machte sie oft mit einer Bewegung ihres Kinns ihre Mutter auf einzelne aufmerksam, die ihr aufgefallen waren. Meistens war es Stammkundschaft, über die sie dann hinter vorgehaltener Hand Kommentare tuschelte, sodass ihre Mutter das ständig spielende Kofferradio leiser stellen musste, um sie zu verstehen. Hinterher stellte sie es wieder lauter, da es dazu diente, ihr den Tag erträglicher zu machen indem es die Geräusche aus den Kabinen übertönte. Der Ausdruck jäh erwachter Aufmerksamkeit, der nun auf dem Gesicht ihrer Tochter erschien, veranlasste Maria, ihrem Blick zu folgen, und zur Tür zu sehen. Der junge Mann, der hereingekommen war, ging mit seinen zwei Plastiktüten geradewegs auf den Wasserhahn in der Ecke zu, nachdem er den beiden Frauen einen scheuen Blick zugeworfen hatte. Wäre er in seinem Aufzug vor zweihundert oder fünfhundert Jahren über den Marktplatz der Stadt gegangen, ohne seine Plastiktüten, er hätte kaum Aufsehen erregt. Solche Hüte mögen Turmwächter getragen haben, solche groben, ausgebeulten Hosen und Jacken, mit seltsamen Falten, Borten und Knöpfen, wie man sie an der Kleidung von Landsknechten oder Handwerksleuten fand, zu allen Zeiten seit dem Mittelalter. Er war ziemlich unrasiert, und trug schon den Ansatz eines rötlichen Bartes, und ebensolche Haare, die ihm bis auf den Kragen fielen. Sein Blick war der eines Kindes, voller Gleichmut und Ergebenheit, und wenn man versuchte sein Alter zu schätzen, dann schien es, als ob er die dreißig noch nicht erreicht hatte.
Der Wasserhahn in der Ecke diente dazu, zur Reinigung des gekachelten Raumes die Eimer zu füllen, und einen Schlauch anzuschließen. Nun stand der Fremde dort, ohne sich noch einmal umzusehen, und füllte etwa ein Dutzend großer Mineralwasserflaschen, wie sie in der freien Natur in diesem Land allzu reichlich vorkommen, mit Wasser, worauf er sie eine nach der anderen wieder in den Tüten verstaute. Maria hatte sich wieder dem Stricken zugewandt, ohne in der gewohnten Weise auf den fragenden Blick ihrer Tochter zu antworten, die jetzt nur noch Augen für den Fremden hatte. Ob es seine ernste Bestimmtheit war, die sie fühlte, oder aber seine Einsamkeit, oder seine Bestimmung zur Einsamkeit, irgendetwas drängte sie dazu, die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich zu ziehen. Er war es selbst, der ihr Gelegenheit dazu gab. Als alle Flaschen gefüllt waren, ließ er die Tüten in der Ecke stehen, und kam zu ihrem Tisch herüber, um eine Münze in den Korb zu legen. Sein Blick ging zwischen den beiden Frauen hin und her, als sei ihm aufgefallen, dass sie Mutter und Tochter waren. Als Felice ihm jetzt mit einem koketten Lächeln eine Zigarette anbot, erschien ein verlegener Ausdruck um seine Augen, dann schüttelte er den Kopf, während der einen Fünfziger in den Korb legte, worauf ihm Maria freundlich zunickte. Ob er denn nicht rauche? Doch, aber nicht jetzt. Er murmelte einen Dank, und ging seine Tüten holen. Sie waren jetzt so schwer geworden, dass es aussah, als ob gleich die Griffe reißen würden. Während er sie hinaustrug, schaute er noch einmal herüber, und grüßte zum Abschied.
Nun erst ließ Maria ihr Strickzeug sinken. Einen Moment lang sahen die beiden einander an, als wartete jede darauf, dass die andere zuerst sprach. Dann lachte Maria, und begann wieder zu stricken.
“Der kommt jede Woche einmal, holt sein Wasser, und zahlt dafür. Ich glaube, er ist sehr arm, und schläft irgendwo draußen.”
“Draußen? Vielleicht macht er Musik in der Metro. Oder er jongliert.”
“Braucht man dazu Wasser?” wandte Maria ein, “Der ist obdachlos, und hat sich irgendwo eingenistet, vielleicht unter einer Brücke, oder in einem Abbruchhaus.”
“Er ist noch jung und scheint gesund zu sein. Er könnte doch arbeiten.”
“Es ist immer dasselbe," entgegnete Maria mit einem Schulterzucken, “ohne Wohnung kriegst du keine Arbeit, und ohne Arbeit keine Wohnung. Und außerdem vielleicht will er gar nicht arbeiten. So wie er rumläuft.“ Felice war nicht einverstanden, und wollte noch etwas entgegnen, aber sie fühlte bereits, dass ihre Gedanken über den Sonderling ihre Privatsache waren. Sie ging am frühen Abend, da sie zu Hause noch gebraucht wurde, merkte sich aber den Wochentag.