Der Zauberlehrling - Erich Kästner - E-Book

Der Zauberlehrling E-Book

Kästner Erich

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Beschreibung

Erich Kästners erstaunlichstes Buch enthält zwei unvollendete Romane und zwei Briefe über Menschen, die sich im Leben plötzlich selbst über den Weg laufen. Der Kunsthistoriker Professor Mintzlaff reist in die Schweiz, um einen Vortrag zu halten. In einer Teestube setzt sich ein gewisser Baron Lamotte an seinen Tisch und berichtet, Gedanken lesen zu können. Irritiert versucht Mintzlaff, den seltsamen Mann loszuwerden. Lamotte lässt sich aber nicht abschütteln und begleitet den Professor ins schneeglitzernde Davos, wo die beiden nicht nur Mintzlaffs ewiger Liebe begegnen, sondern auch seinem Doppelgänger. Mintzlaffs Welt steht Kopf. Als Lamotte immer öfter wahrhaft olympische Kräfte spielen lässt, macht Mintzlaff eine verblüffende Entdeckung... Enthält:Der Zauberlehrling, Die Doppelgänger, Briefe an mich selber

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Seitenzahl: 156

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Erich Kästner

Der Zauberlehrling | Die Doppelgänger | Briefe an mich selber

Der Zauberlehrling

Ein Fragment

(1936)

Erstes Kapitel

Mintzlaff setzte langsam die Tasse nieder, lehnte sich in dem sanftgeblümten Ohrenstuhl zurück und blickte, während er die Lider senkte, hinter den kleinen freundlichen Empfindungen, die in ihm schwebten, drein, als wären es bunte Kinderballons an einem inwendigen Himmel.

›Du müsstest öfter reisen‹, sprach er zu sich selber. ›Nicht aus geographischen Erwägungen; nicht wegen irgendwelcher Fernsichten, Gletscher, Gemäldegalerien, Tropfsteinhöhlen und Ritterburgen. Du müsstest öfter reisen, um zuweilen nicht daheim zu sein. Nur unterwegs erfährt man das Gefühl märchenhafter Verwunschenheit. Nur der Fremdling ist einsam und fröhlich in einem!‹

Ihm war nicht ganz klar, ob diese einigermaßen romantische Deutung des Reisens nur für Menschen Geltung hatte, die, wie er, eigentlich lieber zu Hause blieben; es reizte ihn im Augenblick auch gar nicht, der Frage auf den Grund zu gehen.

Er musterte stattdessen die anheimelnd eingerichtete Teestube, in der er seit zehn Minuten saß, schaute dann durch die Fensterscheiben und nickte anerkennend; denn draußen schneite es still vor sich hin, und er liebte seit seiner Kindheit das schwerelose weiße Zauberballett der Flocken, als werde es von Anbeginn eigens für ihn getanzt. Ach, und niemand konnte in dieser Stadt, wo ihn keiner kannte, kommen, ihm auf die Schulter klopfen und, ob nun klug oder dumm, entbehrliche Mitteilungen machen! Es war, um allein im Chor zu singen!

Belustigt zog er die Brauen hoch. ›Rubrik römisch eins‹, ging es ihm durch den Kopf. ›Seelischer Tatbestand: Der Mensch im natürlichen Einklang mit Eigenschicksal und Umwelt. Antwort des Gemüts: Je nach Temperament, Empfindungstiefe und -dauer abgewandelt; alle heiteren Stimmungen von Glückseligkeit bis Zufriedenheit möglich; Nullpunkt, wie in sämtlichen Sparten des Mintzlaff’schen Systems, die Indolenz. Künstlerische Antwort: Die apollinische Haltung und das harmonische Werk, vom Hymnischen bis zum Idyllischen.‹

Er griff mit ironischem Schwung in die innere Rocktasche und zog etwas hervor, das einem vielfach gefalteten Stadtplan glich. Es war freilich nichts dergleichen; außer man brächte es zuwege, Seelen und Städte einander für ähnlich zu erachten.

Nein, es war das Mintzlaff’sche Schema, und das bedeutet: ein System, in dem die Skala der menschlichen Gemütslagen und das Spektrum gewisser künstlerischer Kategorien – wie beispielsweise des Tragischen, des Komischen, des Satirischen, des Humoristischen – einander rechtwinklig und übersichtlich zugeordnet wurden. Das Ganze war, wenn man so will, eine Klima- und Wetterkarte wichtiger ästhetischer Grundbegriffe; und der Herr Begriffsstutzer, wie Mintzlaff sich selber nannte, tat sich, im Rahmen des Statthaften, mitunter einiges darauf zugute.

Ästhetiker sind seltsame Leute. Sie lieben die Künste und die Ordnung und bringen deshalb Ordnung in die Kunst. Sie rücken der Kultur zu Leibe wie Linné seinerzeit den Blumen und Bäumen. Nun täte man solchen Fanatikern der Ordnung schweres Unrecht, wenn man sie für Pedanten halten wollte. Nein, sie wissen um das Urgeheimnis der ordnenden Tätigkeit, und das lautet: Wer Ordnung schafft, schafft!

Wer Ordnung schafft, gewinnt Einblick in die Zusammenhänge und Einsicht in die Bedeutung der Gegenstände. Indem er die Vielfalt ordnet, findet er ihre Gesetze. Die Kenntnisse kristallisieren sich zur Erkenntnis, und diese zeugt aus sich heraus oft überraschende, vorher nie gewusste, durch bloßes Suchen niemals auffindbare neue Kenntnisse. Nun, solch ein Kauz war Herr Mintzlaff, der Vater des Mintzlaff’schen Schemas. Man sah es ihm nicht an. Seine äußere Erscheinung entsprach kaum der Vorstellung, die man sich unwillkürlich von einem Kunstgelehrten macht. Weit eher glich er einem melancholisch angehauchten Eishockeyspieler.

Er war vor knapp zwei Stunden in München eingetroffen, hatte die Koffer in einem Hotelzimmer untergebracht und wollte am nächsten Tag die Reise, deren Ziel Davos war, über Stuttgart und Zürich fortsetzen.

Er liebte an München besonders, dass er es so gut wie gar nicht kannte. Als Student hatte er während dreier Tage die Münchner Museen heimgesucht. Später, als Dreißigjährigem, war ihm in dieser Stadt, im Verlauf eines halbwöchigen Aufenthaltes, eine Art Braut, ein bildschönes und unkluges Mädchen, mit einem feurigen Bildhauer durchgegangen, und die beiden hatten diesen Schritt sowie die folgenden Schritte später noch sehr bereut.

Weiter kannte Mintzlaff München nicht. So konnte er heute recht von Herzen den ersten Tag der Reise, jenes friedvollen Untertauchens in der Anonymität, auskosten.

Er lehnte sich wieder in den bequemen Ohrenstuhl zurück. Draußen schneite es noch immer. Der Himmel zuckerte die Hüte der Damen und Herren in der Brienner Straße ein, als seien’s keine Kleidungsstücke, sondern kandierte Früchte.

Da! Einem würdigen Passanten flog die eingezuckerte Melone vom Kopf! Hatte der Wind Appetit?

Der Passant setzte sich in Trab. Wenn er nun, nach vielen höchst unwilligen Sprüngen, den Hut wiederfände und feststellen müsste, dass ein unsichtbares Wesen ein Stück Krempe abgebissen hätte?

Mintzlaff streckte die Beine von sich. Wie schön, wie unheimlich schön das Leben war, empfand man doch wohl erst, nachdem man erfahren hatte, wie schlimm, wie abgründig schlimm es war, dieses selbe Leben!

Da nahm jemand an Mintzlaffs Tische Platz.

Ausgerechnet in einem so einsichtsvollen Augenblick! Es war ein Mann, schön wie ein Schrank. Mit lackschwarzem, nach hinten gekämmtem Haar und einem jener ein wenig zu eleganten Schnurrbärte, denen man am ehesten in Südamerika und im Film begegnet. Mintzlaff griff hastig nach dem Mintzlaff’schen Schema, faltete es zusammen und verstaute es sorgfältig in der inneren Rocktasche. Er beschloss, die Teestube umgehend zu verlassen.

Der Fremde schien davon, dass er störte, nichts zu spüren. Er bestellte etwas zu trinken, rieb sich das Kinn, musterte die manikürten Nägel, schnippte ein Stäubchen von seinem sehr neuen Anzug und blieb eine Weile sinnend sitzen. Dann beugte er sich über den Tisch und fragte: »Haben Sie einen Spiegel bei sich?«

Mintzlaff schüttelte den Kopf und sagte unnötig laut: »Nein!«

»Schade«, erwiderte der Fremdling. »Sie müssen wissen, dass ich bis vor einer halben Stunde einen wunderschönen Vollbart trug. Der Friseur nahm daran Anstoß; und das junge Mädchen, das mir die Nägel kurzschnitt, fand sogar, ich sähe unmöglich aus.«

Mintzlaff schwieg und dachte bitter: ›Daran hat sich mittlerweile nicht das mindeste geändert!‹

Da lachte der Fremde.

Der Kunstgelehrte schaute misstrauisch auf. In diesem Moment trat die Kellnerin herzu und bediente den neuen Gast. Ehe Mintzlaff den Wunsch zu zahlen geäußert hatte, war sie weitergeglitten.

Der Fremde trank einen Schluck, wandte sich dem gekränkten Nachbarn zu und sagte freundlich: »Entschuldigen Sie, dass ich gelacht habe. Ich halte es auf alle Fälle für angebracht, Ihnen beizeiten mitzuteilen, dass ich Gedanken lesen kann.«

Mintzlaff schaute dem anderen zum ersten Male voll ins Gesicht und wurde rot. Der Mann hatte große, herrliche Augen; Augen, denen so leicht kein Blick gewachsen war. Mintzlaff war verwirrt. ›Gedankenlesen ist ein höchst unanständiges Talent‹, dachte er noch. Da antwortete der Fremde, als habe der Nachbar den Satz nicht etwa nur gedacht, sondern laut und vernehmlich ausgesprochen: »Sie haben nicht ganz unrecht. Doch man mag von einem Talent, das man hat, halten, was man will – man besitzt es eben! Man kann es nicht fortwerfen, nicht verbrennen und nicht wegschenken. Ein Talent ist kein Vollbart.«

Mintzlaff war rechtschaffen unheimlich zumute. Was war das für ein Mann? Woher kam er? Gab es denn überhaupt Telepathie von solcher Sehschärfe? Noch dazu zwischen einander völlig unbekannten Menschen? Das Beste wäre, schnellstens zu zahlen und davonzulaufen!

»Bleiben Sie«, sagte der Fremde. »Der Gedanke, Sie verjagt zu haben, wäre mir recht ärgerlich. Bleiben Sie! Machen Sie mir die Freude!« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich heiße übrigens Lamotte. Baron Lamotte.«

Mintzlaff verbeugte sich und nannte seinen Namen. ›Eigentlich ist es blödsinnig, den Mund aufzutun‹, dachte er währenddem. ›Er weiß ja doch, was man sagen will, ehe man sich um die Erzeugung von Schallwellen bemüht.‹

Baron Lamotte nickte nachdenklich und meinte: »Trotzdem ist ein Zwiegespräch, bei dem nur einer den Mund auftut, eine etwas absurde Angelegenheit. Außerdem fällt Derartiges in einem Lokal natürlich auf. Und ich möchte, offen gestanden, keineswegs, dass mein, um mit Ihren Gedanken zu reden, unanständiges Talent bekannt wird.« Er unterbrach sich. »Sie wollten etwas denken«, sagte er. »Sprechen Sie es ruhig aus!«

»Ich habe eine Frage.«

»Bitte?«

»Bin ich, ohne es zu wissen, ein ungewöhnlich telepathisches Medium?«

»Nein, mein Herr.«

»Wenn Ihr Talent dann also wirklich vor keinem Menschen haltmacht …«

»Vor keinem, mein Herr.«

Mintzlaff griff sich an die Schläfen. »Es ist nicht auszudenken!« Er dämpfte seine Stimme. »Es ist eine überwältigende Vorstellung! Sie könnten in kurzer Zeit die Börsen aller Kontinente beherrschen, vielleicht um Millionär zu werden, vielleicht um die Pest der Spekulation auszurotten! Sie könnten der genialste Diplomat Ihres Landes werden, oder der unfehlbarste Kriminalist!«

»Ich könnte sogar im Varieté auftreten«, sagte der Baron. »Ich weiß. Aber, sehen Sie, ich mag nicht. Ich finde es zweitklassig, aus dem, was andere ängstlich verschweigen, Ruhm oder Geld zu münzen. Überdies besitze ich schon zu viel Geld und sowieso zu wenig Ehrgeiz. Liegenschaften habe ich auch; mit Seen, Wäldern und Tieren. Nicht einmal die Langeweile könnte mich also dazu überreden, ein Genie, ein Milliardär oder noch Schlimmeres zu werden.« Er blickte lächelnd zu seinem verstörten Nachbarn hinüber.

Mintzlaff, der sich schon wieder durchröntgt fühlte, zuckte verlegen die Schultern.

Lamotte kniff belustigt das rechte Auge zu. »Es gibt auch andere Gründe, zu arbeiten, nicht nur die Flucht vor der Langeweile? Gewiss, mein Herr. Aber ich erinnere mich nicht, gesagt zu haben, dass ich ein notorischer Faulenzer bin. Oder habe ich es etwa gedacht?« Er drohte mit dem Zeigefinger. »Sollten Sie mir das Gedankenlesen schon abgeguckt haben?«

»Es ist allen Ernstes schrecklich«, erklärte Mintzlaff. »In Ihrer Gegenwart müsste man sich aus purer Höflichkeit das Denken abgewöhnen! Oder man müsste bereits lügen können, während man denkt – doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit.«

»So unzulänglich sind die Menschen«, meinte der Baron. Doch schien es ihm nicht allzu nahezugehen. »Und von einer Unzulänglichkeit soll ich profitieren?«, fragte er. »Man sollte nie durch Schlüssellöcher schauen, auch nicht, wenn sie sich in leeren oder schlecht möblierten Schädeln befinden! – Außer zum eigenen Vergnügen. Da haben Sie recht!« Er lachte entwaffnend. Mintzlaff stimmte schüchtern ein. »Entschuldigen Sie, Herr Baron«, sagte er dann. »Sie sind der erste Mensch, dem ich den Vorschlag gemacht habe, auf unmoralische Weise vorwärtszukommen.« »Aber, aber!« Baron Lamotte hob beschwörend beide Hände. »Machen Sie keine Geschichten! Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen! Ich weihte Sie in ein Geheimnis ein, und Ihre Phantasie spielte Ihnen einen Streich – das ist doch nur natürlich!« Er schwieg einige Sekunden, beugte sich dann vor und fragte leise: »Sehen Sie den Mann mit der grünen Jägerjoppe?«

»Gewiss.«

»Haben Sie zufällig gehört, was der Kerl eben gedacht hat?«

Ehe Mintzlaff etwas erwidern konnte, schüttelte der andere den Kopf. »Pardon, ich vergaß ganz, dass Sie ja gar nicht … Da sitzt also ein Mann in einer grünen Joppe mit beinernen Knöpfen harmlos am Nebentisch, macht Augen wie ein verfrühtes Veilchen und wird seinem Gegenüber noch heute Abend zwanzigtausend Mark abpressen wollen!«

»Man sollte den anderen ins Bild setzen!«, meinte Mintzlaff.

»Zu spät«, erklärte Lamotte und betrachtete angelegentlich die Nymphenburger Vase, die, mit Alpenrosen gefüllt, auf dem Nebentisch stand.

»Zu spät?«

»Ja. Er weiß schon Bescheid. Durch die Gemahlin des Mannes in der Joppe. Aha, eine echte Rotblondine.« Der Baron lächelte nachsichtig. »Männer sind komische Leute. Während sie einander an der Gurgel packen, denkt der eine an die Haarfarbe der Frau des anderen!«

Mintzlaff versank in Schweigen. Über seiner Nasenwurzel erschien eine senkrechte Falte, schmal und tief wie eine Fechternarbe. »Halt!«, sagte der Baron hastig. »Vorsicht, mein Herr! Denken Sie rasch etwas anderes! Ich möchte mich unter keinen Umständen in Ihre augenblicklichen Gedanken mischen!«

Der Kunstgelehrte zuckte zusammen. Und eine schlanke Dame namens Hedwig, die eben noch, schön und bloß, durch sein Innenleben geschwebt war, verschwand erschrocken in einer unzugänglichen Dimension, fortgehext wie durch einen Zaubertrick. Und aus Angst, die junge Dame könne, womöglich noch immer unbekleidet, erneut hinter der Wolke des Unterbewusstseins hervorschweben, nicht ahnend, dass die Erinnerung an sie von einem wildfremden Herrn mitgedacht würde, begann Mintzlaff angestrengt das Einmaleins mit der Dreizehn in Gedanken herzubeten. ›13, 26, 39, 52, 65, 88 …‹

»Falsch«, sagte der Baron. »78!« Er wandte den Kopf und zog die Brauen hoch.

Die beiden Männer am Nebentisch hatten sich erhoben. Eine große elegante Frau trat zu ihnen und gab ihnen die Hand.

»Sie ist tatsächlich rotblond!«, flüsterte Mintzlaff.

Der Baron meinte nachlässig: »Aber die Haarfarbe ist nicht echt. Obwohl der Liebhaber es glaubt. Sie sehen, dass man auch durch Gedankenlesen nicht immer die Wahrheit erfährt!«

Die drei am Nebentisch hatten Platz genommen, unterhielten sich leise und lächelten höflich. Der Mann in der grünen Joppe hatte die Hand leicht auf den Arm seiner Gattin gelegt. Der andere Mann reichte ihr sein Zigarettenetui, gab gewandt Feuer, und sie sahen einander dabei flüchtig und scheinbar völlig konventionell in die Augen.

»Großartige Komödianten«, murmelte der Baron. »Artisten der Lüge. Man hat Mühe, ihren lautlosen und unsichtbaren Kunststücken zu folgen. Sie dürfen nicht vergessen, mein Herr, dass die drei zwar nacheinander sprechen, aber gleichzeitig denken.«

»Die Herrschaften pokern ohne Karten«, meinte Mintzlaff.

»Und sie spielen um verflucht hohe Beträge«, erwiderte Lamotte.

»Um die Existenz; der eine ums Leben.«

Mintzlaff blickte gespannt zum Nebentisch hinüber. ›Wenn die undurchsichtigen Vorhänge vor diesen Köpfen plötzlich weggezogen würden‹, dachte er, ›und die drei könnten einander in die Köpfe schauen, wie durch gardinenlose Fenster in gespenstische Zimmer, nur eine Minute lang, und dann rauschten die Vorhänge ebenso plötzlich wieder zusammen – was geschähe wohl? Würfen die Männer und die Frau, als hätten sie Feuerbrände in den bloßen Händen, die unsichtbaren Spielkarten von sich?‹

»Sie haben gefährliche Wünsche, mein Herr«, sagte der Baron. »Sie wollen ernstlich, dass drei Menschen sechzig Sekunden lang in die Hölle blicken?«

»Entschuldigen Sie, Herr Baron! Ich dachte nur …«

»Sie dachten nur?«

In diesem Moment fiel ein Stuhl um. Tassen klirrten. Der Mann in der grünen Joppe war aufgesprungen und griff sich langsam an die Kehle. Er starrte aus weit aufgerissenen, glasigen Augen auf die zwei am Tisch.

Der andere beugte sich weit vor, krallte eine Hand ins Tischtuch und wollte sich erheben. Das Tischtuch gab nach. Die Nymphenburger Vase torkelte und fiel ganz langsam um. Das Wasser lief über seine Finger und tropfte lautlos in den Teppich.

Das Gesicht der Frau sah jetzt aus, als sei es mit zerknittertem Seidenpapier überklebt. »Nein!«, schrie sie plötzlich und schielte vor Entsetzen. »Nein!« Die übrigen Gäste zuckten zusammen und blickten verständnislos auf das abwegige Schauspiel, das man ihnen bieten zu wollen schien.

Die drei waren jetzt in ihren Bewegungen erstarrt und glichen vorübergehend einer seltsamen Gruppe in einem Wachsfigurenkabinett. Sie atmeten nicht. Sie waren gelähmt.

Dann, mit einem Ruck, fiel der Zauberbann von ihnen ab. Die Frau stand wie eine Nachtwandlerin auf, ergriff ihre Handtasche und wankte aus dem Lokal. Die Tasche war offen. Die Puderdose fiel zu Boden.

Der Mann mit der grünen Joppe brach schwer in seinem Sessel zusammen.

Der andere erhob sich, ging ein paar Schritte, bückte sich nach der Puderdose, hob sie auf, ließ sie wieder fallen und schritt ohne Hut und Mantel hinaus in das Schneetreiben.

Man hörte, als er die Straße überquerte, die Bremsen eines Autos kreischen.

Mintzlaff fuhr sich über die Augen. »Um Gottes willen, Herr Baron!«, flüsterte er. Aber der Fremde saß nicht mehr am Tisch.

Zweites Kapitel

Die Nacht, die dem einigermaßen seltsamen Tage gefolgt war – zum Überfluss eine erste Reisenacht in einem Hotelbett, das an der verkehrten Zimmerseite stand –, diese Nacht war für Herrn Mintzlaff schlaflos verlaufen.

Am Nachmittag hatte er, nachdem der rätselhafte Baron vom Tisch verschwunden war, noch erleben müssen, dass der Mann in der grünen Joppe von zwei Sanitätern aus der aufgeregten Teestube in einen Krankenwagen getragen worden war. »Linksseitiger Schlaganfall«, hatte vorher ein als Gast zufällig anwesender Arzt festgestellt gehabt.

Es müsste Tage ohne Nacht geben. Es gibt keine Tage ohne Nacht. Es gibt stattdessen Nächte ohne Schlaf …

Was mochte inzwischen aus der rotblonden Frau, die gellend »Nein!« geschrien hatte, geworden sein? Und was aus dem Mann, der ohne Hut und Mantel auf die Straße gelaufen war? Wie hatte er nur jenen bösen Wunsch zu Ende denken können! Gewiss, er hatte nicht geglaubt, dass der Wunsch erfüllbar sei; jedenfalls nicht, dass ihn irgendein Gedankenleser in einer Münchner Teestube erfüllen werde! Gedanken lesen zu können, das blieb, so gespenstisch es wirkte, im Rahmen des Vorstellbaren, aber dann, das andere?

Das war viel, viel ärger. Denn das war überhaupt nicht möglich, und es war trotzdem geschehen. Drei fremde Menschen derart zu verhexen war übernatürlich.

Selbstverständlich gab es Wunder. Im Grunde gab es überhaupt nichts außer Wundern. Doch das waren Wunder anderer Art. Es waren traditionelle, es waren, übertrieben ausgedrückt, natürliche Wunder, ganz gleich, ob es sich nun um Zellteilung, Schneeglöckchen, Lichtjahre, Liebe, Mord oder Elektrizität handelte. Doch der Vorgang in der Teestube war ein ungehöriges Wunder gewesen. Mintzlaff hatte versucht, das Erlebnis einzuordnen. Es war ihm nicht gelungen. Dass ein Apfelbaum Äpfel trägt, ist ein normales, ein angemessenes Wunder. Dass ein Apfelbaum aber Seil springt oder Klavier spielt, ist, außer im Traum und im Märchen, ganz einfach unzulässig! So etwas schickte sich nicht!

Oder hatte er die Szene zwischen den dreien völlig missdeutet? Stand sie mit dem geheimnisvollen Baron nur im zeitlichen, nicht in ursächlichem Einklang?

 

Der junge Mann war zweifellos aus dem Gleichgewicht geraten, und dieser beunruhigende Zustand währte bereits zwanzig Stunden, obwohl Mintzlaff München früh am Morgen verlassen und sowohl Stuttgart als auch Zürich – die Stadt mit der Märchenbrücke, von der aus man den See und die eisige Kette der im Himmelblau liegenden Bergriesen sah – im Rücken hatte.

Der Zug, in dem er nun saß, hatte längst das westliche Ufer des Sees passiert und stürmte dem weißen, stummen Gebirge entgegen. Manchmal blätterte Mintzlaff in Bergsons Untersuchung über »Das Lachen«. Zuweilen schaute er aus dem Zugfenster, als suche er draußen, außer sich, Hilfe und Halt. Doch Landschaften und Bücher, die man bereits kennt, wirkten wohl nicht sensationell genug, um die Erinnerung an ein neues, zudem durchaus unfassliches Erlebnis fortzuzaubern.

Er schob jetzt seine Gedanken behutsam, förmlich auf Zehenspitzen, in eine andere Bahn. Warum lasen Menschen, wie er einer war, eigentlich immer wieder in den fünfhundert oder tausend Büchern, die sie längst gelesen hatten? Warum reiste er am allerliebsten immer wieder in die gleichen fünf, sechs Landschaften, die er schon kannte? Und nun: War Lesen und Reisen nicht dasselbe? Warum also reiste er, wenn er sich schon dazu aufraffte, in Gebiete, die er bereits entdeckt hatte? Was waren das für seltsam rückläufige Expeditionen?

Andere, die es abenteuernd von einer Neuigkeit zur nächsten und übernächsten lockte und trieb, hatte er zwar nie, fast nie, beneidet, aber besser, fast besser, begriffen als sich und seinesgleichen. Die anderen galoppierten, während der Sand unaufhaltsam durch das allzu kleine Stundenglas ihres Lebens rann, durch die imaginäre Landschaft der erfüllbaren und der unerfüllbaren Wünsche. Es war zu verstehen.