Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Widmung
Dramatil Perlonae
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Copyright
Das Buch
Sie sind groß, stark und hässlich - die Trolle. Zwerge, Magier und Elfen haben sie das Fürchten gelehrt. Gemeinsam mit den Menschen sind sie in eine schicksalhafte Schlacht gezogen, der Feind schien besiegt. Doch nun kehrt er zurück, mächtiger und dunkler als je zuvor, und die Nachkommen der Helden müssen sich der Herausforderung ihres Lebens stellen: In der Hoffnung, einen blutigen Machtkampf zwischen den Trollen der alten Stämme und Andas Kindern, den gewaltigen Tiefentrollen, ein für alle Mal zu verhindern, schließt Kerr, der vielleicht weiseste aller Trolle, einen gefährlichen Pakt. Mit Hilfe seiner Freunde unter den Menschen will er den ungeheuren Versuch unternehmen, den Weißen Bären, das Herz des Landes, zu heilen. Doch bald deutet auch an der Erdoberfläche alles auf Krieg, und mit dem Leid des Landes wächst auch der Zorn der Trolle …
DIE TROLL-SAGA
Erstes Buch: Die TrolleZweites Buch: Die Schlacht der TrolleDrittes Buch: Der Zorn der Trolle
Der Autor
Christoph Hardebusch, geboren 1974 in Lüdenscheid, studierte Anglistik und Medienwissenschaft und arbeitete anschließend als Texter bei einer Werbeagentur. Sein Interesse an Fantasy und Geschichte führte ihn schließlich zum Schreiben. Seit dem großen Erfolg seiner Troll-Saga sowie seiner Sturmwelten-Romane ist er als freischaffender Autor tätig. Er lebt und arbeitet in Heidelberg.
Mehr zu Autor und Werk unter: www.hardebusch.net
Für mein Herz
Wlachkis
Ardoly
Dramatil Perlonae
Trolle
Die alten Stämme
KerrBerater der AnführerUkalAnführer eines StammesZranAnführer eines Stammes
Andal Kinder
AzotJägerMespJägerWragJäger
Verltorbene und andere
AndaJägerinDruanEinstiger Anführer der Trolle an der OberflächePardLegendärer Stammesführer und KriegerRochAn der Oberfläche von einem Zraikas getötetZdamVon Marczeg Zorpad erschlagen
Wlachaken
Wlachkil
ArvanKriegerCornelSonnenpriester am Hof des VoivodenGharjaşSonnenpriester am Hof des VoivodenIonnis cal DabrânSohn des VoivodenJaleiaSoldatin in TeremiNatiole cal DabrânSohn des Voivoden, Thronprinz von WlachkisMihaleiaBeraterin des VoivodenMihalesSoldat in TeremiOanesBediensteter in TeremiRajavVeteranRicleaBeraterin des VoivodenSitaiSoldat in TeremiŞten cal DabrânVoivode von WlachkisVintilaGeistseher am Hof des VoivodenVoicaBedienstete in Teremi
Hiltorilche Perlonen und andere
AnéaHistorische Königin und Befreierin von WlachkisFlores cal DabrânSöldneranführerinIonna cal SareşFrühere Herrscherin der Freien Wlachaken, auch genannt dieLöwin von DésaLéanHistorische KöniginNatiole TârgusiRebell aus dem MardewRaduHistorischer erster König, auch genannt der HeiligeTireaHistorischer letzter KönigViçinia cal SareşŞten cal Dabrâns Gemahlin, Schwester von Ionna cal Sareş
Malriden und Szarken
Ardoln
BaczaiKriegerEsyaKeralýa des Tempels in TurdujSziglos BékésarAdliger in TurdujTamár BékésarMarczeg von ArdolyTiradar BékésarAdliger in TurdujVikolyi ArkósAdliger in TurdujVýclas SzilasSonnenpriester in Turduj
Hiltorilche Perlonen und andere
Arkas DîmminuHistorischer KönigSanyásPriester des Albus SunaşZorpad DîmminuHistorischer Marczeg
Durier
Arkides der 19.Goldener ImperatorArtaynis VulponSargans TochterAnphanesBeamterBakaSylkischer SöldnerBaryxesReicher BeamterBerophanSöldnerDenyxer SkleronKriegeraristokratLarzanesEhemaliger Richter und BeamterNarqanSöldnerKamrosBeamterParmysLarzanes’ Tochter, Kamros’ EhefrauPerixis VulponSargans EhefrauPilonBeamterSargan VulponHochrangiger Beamter im RuhestandTocharSylkischer Söldner
Siltorilche Perlonen und andere
Ana cal DabrânSöldnerin, Tochter von Flores und TamárArkides der 7.Historischer ImperatorHesoatesHistorischer Philosoph
Zeigt der Sinn, so wie ich wirklich bin Lenkt der Sturm mich stets woanders hin. Trügt der Schein, ich kehre niemals heim Am festen Band und bin dann doch allein.
In Extremo, Lebensbeichte
1
Das Brüllen hallte durch die Gänge und Höhlen, ein tiefes, dumpfes Geräusch, das sich an den Wänden brach. Die Kämpfer umklammerten sich gegenseitig, schlugen mit den Fäusten aufeinander ein, rissen mit Klauen und Hauern tiefe Wunden. Ihr dunkles Blut lief über ihre knotige, graue Haut, troff zu Boden und sammelte sich in kleinen Seen. Ihr Schnauben drang an Kerrs Ohren, und seine Nüstern zuckten beim Geruch des Blutes. Im Zwielicht der Kaverne kämpften die größten Jäger ihrer Stämme, und das Schauspiel hielt Kerrs Blick nahezu gefangen. Doch der Troll hatte in seinem Leben schon zu viel gesehen, um sich gänzlich davon vereinnahmen zu lassen. Sieh dich um. Das würde Druan mir raten, dachte der Troll. Sieh dich um und verstehe. Amüsiert folgte er dem erdachten Rat seines alten Lehrmeisters. Dass Druan so lange Zeit nach seinem Tod noch immer anwesend war, erfreute ihn.
Die Trolle standen in einem weiten Kreis in der Höhle. Viele Stämme waren gekommen. Zwischen den Trollen sah Kerr auch Andas Kinder, die ebenfalls dem Ruf gefolgt waren. Kerr konnte die Schatten des Dunkelgeists erkennen, die über ihre Haut liefen, sah die Wildheit in ihrer Gestalt, das kaum gezähmte Verlangen, in den Kampf einzugreifen. Sie waren größer als die Trolle aller anderen Stämme und von einem Kampfeswillen erfüllt, der selbst Pard gefallen hätte.
Einst wäre ein Kampf wie dieser undenkbar gewesen. Nicht Jagd, nicht Krieg war der Anlass, sondern nur ein Zusammentreffen zweier Gegner. Es gab keinen Streit, keine Meinungsverschiedenheit, die mit der Faust gelöst werden musste. Es ging nicht um die Frage nach dem Anführer, die nur im Zweikampf beantwortet werden konnte. Der Kampf galt allein dem Kräftemessen und jenen, die dabei zusahen. Auch Kerr empfand beim Anblick der zur Schau gestellten Stärke beider Kontrahenten Freude. Dennoch wanderte sein Blick über die Zuschauer. Bei diesen seltenen Zusammentreffen vermengten sich die ursprünglichen Trolle und Andas Kinder, während sie sich ansonsten aus dem Weg gingen. Nur wenn sie in den Krieg zogen, fanden sie zueinander, wie die Zwerge zu ihrem Leidwesen mehr als einmal festgestellt hatten. Die Sprösslinge von Andas Zorn lebten tiefer als die übrigen Stämme in den Gebeinen der Erde, wo das Dasein noch härter war und nur ihre legendäre Kraft und Zähigkeit ihnen überhaupt ein Überleben ermöglichte. Dort, wo die Luft stets heiß war und es nur wenig Wasser und Nahrung gab, trotzten sie der Welt ihre Existenz ab.
Der Kampf wogte noch hin und her, doch Zran wurde müde, während seine Gegnerin über die unerschöpfliche Kraft des Dunkelgeists verfügte. Er ist kein Pard, dachte Kerr bei sich, und bei der Erinnerung an den großen Jäger verzog er schmerzlich das Gesicht. Pard war es einst gewesen, der sich Anda entgegengestellt hatte und dem es gelungen war, die unbesiegbar erscheinende Trollin zu töten, auch wenn es ihn sein eigenes Leben gekostet hatte. Immer noch vermisste Kerr den Anführer ihres Stammes, der ihn oft wegen seiner Schwächen verspottet hatte. Aber er hat auch meine Stärken erkannt, und er hat mir vertraut. Wir könnten einen wie ihn gebrauchen. Seit Turk gefallen ist, fehlt den Jägern einer, der so ist, wie diese beiden es
waren. Als wolle er die düsteren Gedanken des Trolls bestätigen, verlor Zran in diesem Moment den Halt und fiel zu Boden. Sein Gegenüber beugte sich über ihn, und für einen Moment glaubte Kerr, dass die Trollin sich auf ihn stürzen würde. Unbewusst spannte er die Muskeln an, bereit, voranzustürmen. Gewalt lag in der Luft; er konnte sie riechen, schmeckte sie auf der Zunge, fühlte sie im Schlag seines Herzens.
Doch Andas Kind legte nur den Kopf in den Nacken und ließ ein Siegesgeheul ertönen. Langsam atmete Kerr aus und entließ die Spannung aus seinem Leib. Er war einer der wenigen, die noch die Zeiten des Trollkrieges kannten, weil er dabei gewesen war. Die Wirren der nachfolgenden Zeiten hatten viele das Leben gekostet, die Kriege gegen die Zwerge ihren Tribut gefordert, und natürlich war das Leben in den Tiefen der Welt niemals leicht. Das Geheul weckte alte Erinnerungen in dem Troll; Erinnerungen an dunkle Gänge, durch die er gejagt worden war, an Kämpfe und schließlich an Druans Tod unter Andas Klauen. Doch nun standen alle Trolle Seite an Seite.
Mühsam richtete Zran sich wieder auf. Einige seiner leichteren Wunden schlossen sich bereits wieder. Seit Andas Tod waren die Klauen ihrer Kinder weniger gefährlich; noch immer konnten sie töten, aber wenigstens heilten die von ihnen gerissenen Wunden wieder, wenn sie nicht zu tief gingen. Reflexartig griff Kerr sich an die Seite, wo die wulstigen Narben noch von der Macht der toten Trollin kündeten. Das Geheul schwoll noch einmal an, dann verebbte es.
Kerr spürte die Blicke der Trolle auf sich ruhen. Aller Trolle. Wer hätte gedacht, dass Andas Trolle jemals auf mein Wort warten würden, dachte er spöttisch, trat aber mit ernster Miene in den Kreis, wo die Trollin gerade Zran den Arm reichte. Oder dass einer von ihnen einem von uns Hilfe anbietet. Der durchdringende Geruch des Blutes lenkte ihn ab, ebenso wie die anderen Trolle. Einige waren nervös, scharrten mit den Füßen. Kerr roch ihre Zweifel.
Ruhig ließ er den Blick über die Versammlung wandern, drehte sich langsam im Kreis und fixierte jeden. Es war still in der Höhle, abgesehen vom Herzschlag der Welt, der niemals gänzlich verstummte. Kerr wusste, dass er ihn schärfer vernahm als andere Trolle, sogar schärfer als Andas Kinder. Die Ereignisse damals hatten ihre Spuren nicht nur auf seinem Leib hinterlassen, sondern auch in seinem Geist. Noch immer träumte er manchmal von der Oberwelt, vom grellen Licht der Sonne, das dort herrschte, und von der endlosen Weite des Sternenhimmels. So viel Zeit war vergangen. Die Jungen seines menschlichen Hareeg Şten waren schon erwachsene Mitglieder ihres Stammes; ebenso wie seine eigenen Kinder es hier unter der Erde waren.
Wie immer, wenn er vor allen sprach, rief er die Erinnerungen nun freiwillig zu sich. Er spürte die Gegenwart seiner alten Freunde und Gefährten an seiner Seite: Druan und Pard, die sich zu ihnen gesellten. Die ihn alles gelehrt hatten, was er wusste. Die ihn zu dem gemacht hatten, was er jetzt war. Die Verbindung zwischen Andas Kindern und den Trollen. Die Geisterstimme, die beide Welten kannte und in ihren Worten sprach. Die gegen und mit Anda gekämpft hatte. Sie alle warteten auf seine Worte, weil sie alle ihnen vertrauten. Was, wenn ich nicht mehr bin?, zuckte es ungebeten durch Kerrs Geist, bevor er die Stimme erhob.
»Ein guter Kampf.«
Eine einfache Feststellung, die auf Zustimmung traf. Einige brummten leise, andere nickten. Kerr machte eine Pause, sammelte seine Gedanken. Seine nächsten Worte würden für Unruhe sorgen, und er wollte, dass jeder sie verstehen konnte.
»Viele Dreeg haben wir nun gemeinsam in unserer Heimat verbracht. Wir haben gekämpft.« Wieder wartete er kurz ab. »Und wir haben gesiegt!«
Diesmal nickten sie alle, die ursprünglichen Trolle und Andas Kinder. Keiner hier, nicht einmal die Jüngsten, kannte ein Leben ohne Kampf.
»Wir sind unbeugsam geblieben. Wir haben unsere Heimat verteidigt. Wir haben hier unsere Schlachten geschlagen, wo wir Trolle seit Ewigkeiten leben. Aber jetzt müssen wir einen Kampf beginnen, der uns woandershin führt.«
Das überraschte seine Zuhörer. Seit dem letzten Vordringen der Zwerge war einige Zeit vergangen. Die Trolle hatten ihnen eine blutige Nase verpasst, ihnen in den Tunneln und Höhlen aufgelauert und sie vertrieben. Bislang hatten die Zwerge sich von dieser Niederlage noch nicht erholt. Aber das werden sie. Sie werden wiederkommen und wieder und wieder. Und irgendwann werde ich nicht mehr sein, und es wird einen unüberwindbaren Graben geben zwischen den ursprünglichen Trollen und Andas Kindern. Ich bin die Brücke, erkannte Kerr, und mit mir wird diese verschwinden. Eine leise Ahnung davon hatte er schon vor langer Zeit verspürt. Seine einzigartige Beziehung zu dem Dunkelgeist gab ihm eine besondere Stellung in den Augen von Andas Kindern, die sonst nur Stärke verehrten. Kaum ein ursprünglicher Troll konnte gegen die Macht der Kinder bestehen, und so achteten sie kaum einen anderen Troll.
Aus der Ahnung war mit der Zeit Gewissheit geworden. Auch wenn er nicht wirklich der Anführer war, blickten doch alle zu ihm hin, wenn eine Entscheidung getroffen werden musste. Er führte alle, die alten Stämme der Trolle und Andas Kinder, wenn auch nicht der aus Kämpfen gewonnenen Rangordnung nach, so doch durch die Kraft seiner Erfahrung. Keinem anderen schenkten beide Seiten genug Vertrauen. Er allein konnte die Wände durchbrechen, die zwischen ihnen aufgetürmt waren, und er war hinabgestiegen, nach Andas Tod, und hatte ihre Kinder gesucht und gefunden. Damals hatte er sie gefürchtet und war dennoch gegangen. Sie hatten seine Furcht gerochen, hatten ihn gejagt. Aber sie hatten ihn nicht getötet. Denn das Herz des Landes schlug laut in ihm, und sie hörten es und vergaßen seine Furcht.
»Ich werde an die Oberfläche gehen. Zu den Menschen. Ich habe die alten Geschichten gehört. Die Menschen haben etwas mit dem Herzen des Landes getan. Ich werde herausfinden, was es war.«
»Die Menschen?«, rief eine Trollin erstaunt.
»Ich habe lange beim Herzen gesessen, und es ist die einzige Möglichkeit. Ich muss wissen, was damals geschehen ist. Wir sind die Kinder des Herzens, die Kinder des Landes. Wir alle.«
Ratlosigkeit zeigte sich auf den Gesichtern. Für sie alle war Kerr manchmal seltsam, seine Entscheidungen nicht nachvollziehbar, doch ihr Vertrauen war groß. Die wenigsten kannten Menschen überhaupt noch. Lediglich in den Geschichten von Druan und von Pard, von Anda, Zdam, Roch, von Vrok und auch von Kerr kamen die Menschen vor. Kleine, schwache Wesen, von denen es mehr gab, als ein Troll sich vorzustellen vermochte, die hinterhältig kämpften, die eine glühende Himmelsscheibe anbeteten und an der Oberfläche hausten, wo es keine Decke über ihnen gab, nur einen endlosen Horizont. Keiner der Trolle ging gern an die Oberfläche, wo die tägliche Herrschaft der Sonne ihnen das Leben unmöglich machte.
Und Andas Kinder hassten das Licht und die fremde Umgebung noch mehr als die übrigen Trolle. Manchmal fiel es Kerr schwer, sie nicht als Trolle wie alle anderen zu sehen. Immerhin waren sie einst welche gewesen. Bevor Anda das Blut des Dunkelgeistes trank und seine Macht, aber auch seinen Hass und seinen Zorn und seine Schmerzen teilte. In vielen Dingen waren sie den Trollen der alten Stämme immer noch ähnlich, aber in ebenso vielen hatten sie sich verändert.
In sich spürte Kerr den lauten Herzschlag. Vielleicht irrte er sich, aber er befürchtete, dass er an Intensität zunahm. Es war wie ein verlockender Ruf, der von Kraft und Hass sang und dem der Troll immer schwerer widerstehen konnte. Lange hatte er mit sich gehadert, aber schließlich erkannt, dass er etwas tun musste.
»Bei unserer nächsten Zusammenkunft werde ich bereits zurück sein«, erklärte Kerr mit fester Stimme. Es würde nicht sein erster Gang zur Oberfläche werden. Er hatte Şten ein Dutzend Mal und mehr getroffen, seit Anda tot war.
In letzter Zeit waren ihre Begegnungen seltener geworden, aber Kerr verspürte manchmal einen seltsamen Wunsch, an die Oberfläche zu gehen, nicht nur bis in die obersten Höhlen, sondern in die Länder der Menschen, und dort noch einmal all die Wunder zu sehen, an die er sich so deutlich erinnerte.
Der Kreis löste sich langsam, bröckelte entlang der Stammeslinien, bis sich in der Höhle nur noch kleine Grüppchen befanden. Zunächst stand Kerr allein, doch dann gesellte sich Zran zu ihm. Der große Troll wirkte noch vom Kampf angeschlagen, hielt sich aber aufrecht.
»Ist das eine gute Idee?«, brummte er leise. »Ich würde es kaum tun, wenn ich es für keine hielte, oder?«
Zran fletschte die Zähne.
»Jedes Mal, wenn es um Menschen geht, fängst du an, wie sie zu reden.« Zran war einer der wenigen Trolle, der Şten in Begleitung von Kerr schon einmal getroffen hatte.
»Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich halte es für den richtigen Weg«, erwiderte Kerr ruhig.
»Wir brauchen dich hier«, erklärte Zran mit einem Blick zu Andas Kindern, die abseitsstanden.
Sie hatten sich zu einem Pulk versammelt, zu einem Rudel, ebenso, wie sie in den Tiefen der Welt jagten. Sie hatten keine Stämme. Nur zu diesen Gelegenheiten trafen sich größere Verbände von ihnen. Ansonsten zogen sie in kleinen Gruppen durch die warmen Tiefen, immer in Bewegung, immer auf der Jagd.
»Genau deshalb muss ich gehen.« Kerr holte Luft, suchte nach den richtigen Worten. »Wir können nicht ewig so weiterleben wie bisher.«
Er sah, dass Zran ihm widersprechen wollte, aber er hob die Hand.
»Warte. Lass mich ausreden. Bitte. Früher haben wir uns nur wenig Sorgen um die Zukunft gemacht. Das Leben war hart, und von einem Dreeg zum nächsten mussten wir nach Essen suchen, Schutz finden, unseren Feinden ausweichen. Das ist noch immer so, aber jetzt sind sie dabei.«
Beide Trolle blickten zu Andas Kindern. Dort, wo sie standen, schienen die Schatten dunkler zu sein, tiefer zu gehen.
»Sie achten mich und hören auf meine Worte. Aber ich werde nicht ewig da sein. Was geschieht dann? Wird jemand meinen Platz einnehmen? Werden sie unsere Abmachungen weiterhin anerkennen?«
Unschlüssig brummte Zran. Offensichtlich wollte er nicht widersprechen, aber sein Gesichtsausdruck zeigte seine Gedanken: Wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Es gilt, jetzt zu überleben. Einst hatte Kerr nicht anders gedacht. Doch mit der Verantwortung, die er übernommen hatte, hatte er sich verändert.
»Ich muss mich darum kümmern. Das ist meine Aufgabe.«
Noch immer war Zran nicht überzeugt.
»Du führst deinen Stamm«, wechselte Kerr die Strategie. »Du sorgst dafür, dass alle genug Essen haben, dass alle überleben. Ich sorge für den Frieden zwischen uns und ihnen.«
»Es gab lange keinen Krieg mehr. Nicht mehr seit Andas Tod«, gab der große Troll zu bedenken.
»Das bedeutet nicht, dass es immer so bleiben wird.«
»Was ist dein Plan?« Zran rieb über den Stumpf seines rechten Horns. Sein linkes Horn war lang und mächtig, doch das andere war in einem Kampf von einem Zwerg knapp über dem Schädel abgeschlagen worden. Immer wenn der Stammesführer nachdachte, rieb er den Stummel.
»Der Dunkelgeist. Die Macht von Andas Kindern stammt von ihm. Aber auch ihr Zorn und ihr Hass. Ich will herausfinden, was die Menschen ihm angetan haben. Vielleicht kann ich Andas Kinder dann besser verstehen.«
Kerr sprach nicht aus, was er sonst noch dachte: Oder es rückgängig machen. Oder den Schlag des Herzens dämpfen.
»Keine gute Idee. Menschen sind anders. Je weniger wir mit ihnen zu tun haben, desto besser. Es gab immer nur Ärger, wenn es anders war.«
»Sie haben uns geholfen und wir ihnen. Manche Menschen sind gut, andere nicht.«
Wieder brummte Zran. Seine Art zu zeigen, dass er meine Meinung nicht teilt, erkannte Kerr amüsiert. Das Misstrauen des Stammesanführers gegenüber allen anderen Wesen saß tief, aber für einen Troll war das nicht ungewöhnlich. Vor seinen eigenen Erlebnissen hätte Kerr nicht anders gedacht und gehandelt. Auch die kurzen Begegnungen mit den Menschen hatten Zrans tiefes Misstrauen nicht überwinden können.
Unvermittelt schritten einige von Andas Kindern aus den Schatten heraus auf sie zu. Unwillkürlich spannte Kerr sich an, und er sah, wie Zran die Hand öffnete und die Klauen streckte.
»Du gehst an die Oberfläche?«, fragte Wrag, der Kerr um gut und gern zwei Haupteslängen überragte und dessen Schulterbreite Kerr unweigerlich an Pard erinnerte. Stumm nickte der Troll.
»Ich werde mit dir gehen.«
Überrascht riss Kerr die Augen auf.
»Was? Warum?«
»Du sagst, es ist unser aller Kampf. Wenn es so ist, werden auch wir kämpfen.«
»Das war nur so gesagt«, erwiderte Kerr zögerlich. »Es ist nicht wirklich ein Kampf.« Er konnte den Ausdruck in Wrags völlig schwarzen Augen nicht deuten.
»Wir werden nicht zurückbleiben, wenn Trolle kämpfen«, erklärte Wrag störrisch. »Wir gehen überallhin, wo ihr hingeht.«
Während Kerr noch nach einer guten Antwort suchte, warf Zran ein: »Dann kommt auch einer von uns mit.«
Verblüfft sah Kerr ihn an. So hatte er sich das Treffen nicht vorgestellt. Er wollte protestieren, doch die Mienen von Zran und Wrag, die sich gegenseitig anfunkelten, ließen ihn schweigen.
»Gut. Jeweils einer wird mich begleiten.«
Grimmig nickten alle Umstehenden. Auch Kerr nickte, obwohl ihm bei dem Gedanken an die vor ihm liegende Reise plötzlich unwohl war.
2
Je länger der Ritt dauerte, desto mehr hatte Natiole das Gefühl, den qualvollen Gang zum Schafott angetreten zu haben. Die Gebäude rückten bedrohlich näher, und die Rufe der Menschen klangen in seinen Ohren verzerrt.
In seinem Inneren flüsterte eine Stimme, dass er umkehren sollte, und für einen Moment war er versucht, dem Impuls nachzugeben. Aber sein Pferd schritt langsam weiter, und er fügte sich in sein Schicksal.
Die ganze Stadt bereitete sich vor. Überall liefen Menschen umher, beladen mit Körben und Kisten, mit großen Bündeln auf dem Rücken. Sie schufen ihm bereitwillig Platz, was nicht nur dem Schwert an seiner Seite, sondern vor allem seinem Rang geschuldet war; selbst in all ihrer Hektik wichen sie vor seinem Wappen zurück.
Die Stadt war voller Menschen. Sie platzte buchstäblich aus allen Nähten. Innerhalb der Stadtmauer gab es keinen freien Platz mehr, und die Gebäude wuchsen immer weiter in die Höhe, um die stetig wachsende Zahl der Bewohner aufnehmen zu können. Dazu hatten sich die Hüttensiedlungen vor den Mauern langsam, aber sicher in richtige Viertel verwandelt; aus den Hütten wurden kleine Häuser, Straßen wurden gezogen und benannt, und es bildete sich ein Gemeinwesen mit Bürgern, Handwerkern und Tavernen, Tempeln und Friedhöfen.
Inzwischen hatte Teremi nur noch wenig mit der entvölkerten Stadt aus Natioles Kindheitserinnerungen gemein. Damals hatten die ständigen Kriege ihren Tribut gefordert. In drei großen Schlachten war das Land ausgeblutet worden, eine ganze Generation junger Männer und Frauen hatte für ihre jeweiligen Herrscher ihr Leben gegeben oder zumindest aufs Spiel gesetzt. Viele Masriden waren danach in den Osten geflüchtet, wo ihr Volk noch immer herrschte. In die entgegengesetzte Richtung fuhren die Flüchtlingskarren der Wlachaken, beladen mit Hausrat und bleichen Kindern mit hohlen Wangen und ängstlichen Augen. Es waren schwere Zeiten gewesen, voller Hunger und Not, denn im Krieg wurden die Äcker nicht bestellt und das Korn nicht eingefahren, und so fehlte es überall an allem. Selbst Natiole kannte den nagenden Hunger; sein Vater hatte sich stets geweigert, von seinen Privilegien Gebrauch zu machen, um ihnen einen Vorteil zu verschaffen, den andere nicht hatten. Wenn die Wlachaken hungerten, dann begnügte sich auch die Familie der Voivodin mit kargen Mahlzeiten und unterstützte die Armen. Und die Menschen in Teremi hatten dies nie vergessen. Noch mehr Glanz für Şten cal Dabrâns Namen.
Der langsame Trott brachte Natiole immer näher an die Feste Remis, durch deren massive, hölzerne Tore wahre Menschenmassen strömten. Banner hingen von den gedrungenen Türmen herab, knatterten trotzig im Wind, der den Tag ungeachtet des blauen Himmels kühl erscheinen ließ. Auf den Bannern sah er den Raben, das alte Wahrzeichen der Familie seiner Mutter, das sein Vater nur zu gern angenommen hatte.
Auch in der Enge des Torgangs wurde er beinahe sofort erkannt, und die Menge bildete bereitwillig eine Gasse für Pferd und Reiter.
Die Menschen trugen Körbe mit Essen, manche rollten Fässer über die Pflastersteine; eine beschwerliche Arbeit, da die Burg einst auf einem künstlichen Hügel erbaut worden war. König Radu hat damals mehr an die Fehden der Stämme und die Verteidigung der Feste als an die krummen Rücken seiner Untergebenen gedacht. Immer wieder mussten die Wachen einschreiten und Ordnung schaffen, und Natiole konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Die Geschäftigkeit und die lauten, fröhlichen Stimmen kratzten an seinem Geist.
Der Burghof war dem Anlass entsprechend geschmückt. Bunte Stoffbahnen hingen von der Mauer herab, teils mit den Wappen der Adligen des Landes Wlachkis geschmückt, teils mit bunten Mustern und Bildern bestickt. Es galt unter den Adligen und den reicheren Bürgern als eine Ehre, den Schmuck der Burg für den großen Feiertag stiften zu dürfen. Viele Handwerker und Händler ließen es sich einiges kosten, prächtig bestickte Banner zu präsentieren, auf denen die Wahrzeichen ihrer Gilden oder Szenen aus der wechselvollen Geschichte des Landes zu sehen waren. Letztere waren besonders beliebt, und so sah Natiole ein halbes Dutzend Darstellungen, die Radu, den großen, ersten Kralj der Wlachaken zu verschiedenen Zeiten seines Lebens zeigten. Aber auch Léan war zu sehen, Tirea, Ionna die Befreierin und natürlich Şten und Viçinia.
Das Gesicht seines Vaters blickte Natiole von den Wänden herab ebenso ernst wie gütig an, und der junge Mann senkte seinen Blick. Er würde heute mehr als genug Zeit haben, seinem Vater dabei zuzusehen, wie er bejubelt wurde.
Für den Stalljungen, der ihm das Pferd abnahm, hatte er wenig mehr als ein Brummen übrig. Zu sehr beschäftigten ihn seine Gedanken. Im windgeschützten Hof schien die Sonne wärmer auf ihn herab. Wenigstens feiern wir nicht Ionnas Thronbesteigung, sondern die meiner Mutter, dachte Natiole müßig. Obwohl die endlosen Prozessionen im Winter wohl weniger lang wären. Es erschien ihm wie ein böser Scherz des Schicksals, dass nicht die eigentliche Befreiung der Wlachaken durch die Voivodin Ionna, seine Tante, gefeiert wurde, sondern der Übergang der Macht an seine Mutter. Ionna hatte die Wlachaken in der Trollschlacht siegreich gegen die Masriden geführt und ihrem Volk einen Teil seines Landes und auch seiner Würde zurückgegeben, doch heutzutage sprachen alle nur noch von Viçinia und Şten.
Auf dem Weg zu seinen Gemächern achtete er nicht auf die Bediensteten, die ebenso von Hast erfüllt waren wie der Rest der Stadt. Überall in der Burg waren Gäste untergebracht, die bewirtet werden mussten. Das Festmahl, das am Abend stattfinden sollte, erforderte aufwändige Vorbereitungen, während die normalen Tagesgeschäfte weiterliefen. Vieles davon geschah tief in den Eingeweiden der Feste, abseits von Natioles Aufmerksamkeit, die ohnehin nur selten auf seine Untergebenen gerichtet war. Die Ausnahme davon bildete natürlich Oanes, den Natiole kaum ignorieren konnte und der ihn auch schon nervös in seinen Räumen erwartete.
»Nemes! Willkommen zurück. Soll ich Euch beim Umkleiden behilflich sein?«, empfing ihn der ältere Mann, dessen grau meliertes, dunkles Haar langsam schütter wurde.
»Ich habe dir sicherlich viele Dutzend Male gesagt, dass ich dieses Nemes nicht hören will. Es ist ein Masridenwort«, schalt ihn Natiole halbherzig. Sein Leibdiener senkte den Blick und murmelte eine Entschuldigung.
»Ich denke, ich muss meine Kleidung nicht wechseln«, fuhr der junge Mann fort und ergötzte sich kurz am Entsetzen im Blick seines Gegenübers.
»Nicht wechseln?«
Vielsagend sah Oanes zu Natioles schmutzigen Stiefeln und der nicht weniger staubigen Reisekleidung.
»Nun, ich werde mein Abendessen hier in meinen Gemächern einnehmen, und ich habe nicht vor, dabei eine junge Dame zu beeindrucken. Es besteht also keine Notwendigkeit, mich herauszuputzen wie ein Gockel.«
»Aber … das Fest? Der Jahrestag der Thronbesteigung Eures Vaters und Eurer Mutter?«
»Oh? Daran habe ich gar nicht gedacht.«
Einige Augenblicke lang ließ Natiole ihn in Ungewissheit, dann winkte er seufzend mit der Hand.
»Schon gut. Ich nehme an, du hast bereits alles vorbereitet?«
»Natürlich, Nem…«
»Gut. Bring mir bitte vorher etwas verdünnten Wein. Der Staub liegt nicht nur auf meinem Wams, sondern auch auf meiner Zunge.«
Sofort eilte der Leibdiener davon, während sich Natiole in einen gepolsterten Stuhl fallen ließ und grübelnd aus dem Fenster sah.
Oanes hatte die Läden geöffnet und den mit Pergament bespannten Rahmen entfernt.
»Du solltest den Armen nicht so verspotten«, erklang eine leise Stimme von der Tür, und Natiole drehte überrascht den Kopf.
»Ionnis. Schön, dich zu sehen, Bruderherz. Hast du etwa gelauscht?«
»Deine Tür stand offen, und ich empfand es als unhöflich, in eure Unterhaltung zu platzen.«
Unwirsch wandte Natiole sich wieder ab.
»Bist du gekommen, um mich über das korrekte Benehmen gegenüber Bediensteten zu belehren?«
»Nein. Ich bin hier, um dich an deine Pflichten zu erinnern. Heute ist ein wichtiger Tag, und du tätest gut daran …«
»Schon gut«, unterbrach ihn Natiole brüsk. »Ich kenne meine Pflichten auch ohne deine weisen Worte. Ich steige gleich in mein Kostüm und mime den gefälligen Thronprinzen.«
Wütend funkelte er seinen jüngeren Bruder an, hoffte auf eine trotzige Erwiderung, doch dieser schwieg, die dunklen Augen unverwandt auf Natiole gerichtet. Man sagte den Brüdern nach, einander ähnlich zu sehen, doch Natiole kannte die Unterschiede in ihren Zügen nur zu genau: während Ionnis’ schmales Gesicht dem ihrer Mutter glich, war Natiole, so hatte er es immer wieder gehört, das Ebenbild seines Vaters in jungen Jahren. Nun, er hätte gut darauf verzichten können. Von mir aus könnte er auch aussehen wie Şten, schoss es Natiole durch den Kopf, da er ja auch in allen anderen Dingen ganz der Sohn unseres perfekten Vaters ist.
Der Umstand, dass Ionnis recht hatte, ließ Natioles Widerspruchsgeist erwachen. Er hatte auf dem Ausritt getrödelt und viel zu viel Zeit verschwendet. Eigentlich sollte er bereits unten in der großen Halle sein und die Würdenträger begrüßen. Aber der Gedanke an einen Tag voller falscher Höflichkeiten im übergroßen Schatten des Landesvaters hatte Natiole lustlos werden lassen und war nicht dazu angetan, ihn zur gebotenen Eile anzutreiben.
Natürlich war Ionnis bereits für die Feierlichkeiten angekleidet, edel und dennoch nicht protzig, ein würdiger wlachkischer Prinz.
Doch zusätzlich zu seinem grauen Wams mit dem Raben auf der Brust trug er bronzene, spiralförmige Armreifen, wie Natiole irritiert bemerkte. Mit dem Kopf deutete er auf den Schmuck: »Ist dir die Tracht deines Landes nicht gut genug?«
»Ich trage die Tracht meines Landes, wie du so schön sagst. Die hier sind ein Geschenk.«
Die Armreifen stammten aus dem Dyrischen Imperium, und sie waren ein Symbol für alles, was Natiole und Ionnis inzwischen voneinander schied. Vor vielen Jahren waren sie unzertrennlich gewesen, er und sein kleiner Bruder, doch der Fluss der Zeit hatte sie in unterschiedliche Richtungen getragen. Während Ionnis von ihrem Vater ins Imperium gesandt worden war, um dort ausgebildet zu werden, war Natiole in Wlachkis geblieben. Damals hatte Ionnis geweint, als ihn die Kutsche fortbrachte, und auch Natiole hatte in der Nacht Tränen vergossen, als man sie trennte.
Doch als der jüngere Bruder wiederkehrte, waren bereits junge Männer aus ihnen geworden, verschiedene Männer, deren Gespräche nur zu oft in Streit endeten. Ionnis war in der Fremde beinahe selbst zu einem Dyrier geworden mit seinem kurzen Haar, seinem weibischen Schmuck und seiner Art, jedermann mit Worten umgarnen zu können. Das leicht spöttische Lächeln, das beständig um Ionnis’ Lippen zu spielen schien, stachelte Natioles Zorn nur weiter an.
»Du solltest dich an deine Herkunft erinnern, Ionnis. Du bist Wlachake, kein Dyrier.«
»Ich weiß sehr gut, wer und was ich bin«, erwiderte der Gescholtene ruhig. »Ich bin es nicht, der unserem Haus Schande macht.«
»Schande?«
Natiole sprang aus dem Stuhl hoch und trat drohend auf seinen Bruder zu. In diesem Moment kehrte Oanes zurück, der vor Schreck erbleichte. Mit zitternder Hand stellte er einen Becher Wein auf den flachen Tisch und flüchtete in das Nebenzimmer.
»Heute feiert ganz Wlachkis unsere Familie und das, was unsere Eltern dem Land gegeben haben. Wir erinnern uns an die Taten unserer Vorfahren und an das Blut, das sie vergossen haben. Heute feiern die Wlachaken sich selbst, weil sie viel erlitten haben, um feiern zu können. Und du? Du sitzt wie ein schmollendes Kind in deiner Kammer und weigerst dich, deine Gewänder anzulegen!«
Jetzt hatte der sonst so gefasste Ionnis doch die Stimme erhoben. Erzürnt hob Natiole den Finger und hielt ihn seinem Bruder ins Gesicht. »Wage es nicht, so mit mir zu sprechen! Ich gedenke der Helden der Befreiung! Mehr als andere dies tun!«
»Ich wage es, und ich tue es auch«, entgegnete Ionnis ruhiger. »Wenn du die Wahrheit nicht verträgst, ist das nicht meine Schuld.«
Mit größter Mühe zwang sich Natiole zur Ruhe und zu einem Lächeln. »Du liebst die Dyrier mehr als dein eigenes Volk, also mach mir keine Vorhaltungen über meine Pflichten oder unser Haus. Wenn du könntest, wärst du doch schon längst über alle Berge!«
»Ich achte das Imperium für seine Errungenschaften. Und ja, es täte Wlachkis gut, wenn wir dorthin schauen und von den Dyriern lernen würden. Aber ich kenne meine Wurzeln und meine Familie. Ich ehre sie«, erwiderte Ionnis. Kurz schwieg er, bevor er fortfuhr: »Wenn du dich schon nicht für mich oder für Vater zusammenreißen kannst, dann tu es wenigstens für das Andenken unserer Mutter.«
Einige Momente lang dröhnte das Blut in Natioles Ohren wie ein Wasserfall.
»Verschwinde hier«, zischte er dann kalt. »Ich muss meine Kleidung wechseln.«
Mit einer gekünstelten Verbeugung wandte Ionnis sich ab, drehte sich aber noch einmal kurz um: »An deiner Stelle würde ich meine Diener übrigens besser behandeln. Wer weiß, in wessen Diensten sie noch stehen?«
»Was?«
»Nun, für viele mag es praktisch sein, ein Auge auf den Thronprinzen und künftigen Voivoden des Landes zu haben. Und wer erfährt mehr als ein Diener? Ich wäre vorsichtiger in seiner Gegenwart, wenn ich von deiner Gesellschaft nicht ohnehin mehr als genug hätte.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand Ionnis und ließ Natiole sprachlos zurück. Zuerst brannte der Zorn weiter in ihm, und in seinem Geist jagten geschickte, treffliche Erwiderungen umher, für die es jedoch zu spät war. Aber dann sah er unsicher zu seiner Kammer hinüber, wo Oanes vermutlich auf ihn wartete. Lässt er sich von jemandem bezahlen, um mich auszuspionieren? Unsinn! Ionnis will mich nur ärgern.
Dennoch blieb ein ungutes Gefühl zurück, als er zu seinem Diener ging und sich beim Ausziehen der hohen Lederstiefel helfen ließ.
3
Besorgt blickte Tamár zum Himmel. Über den Nördlichen Sorkaten ballten sich dunkelgraue Wolken zusammen, rieben sich an den hohen Bergwänden und türmten sich hoch in den Himmel auf. Das unbeständige Gebirgswetter konnte die ohnehin nur schwer gangbaren Pässe für Tage oder auch Wochen blockieren, selbst in den milderen Jahreszeiten. Im Winter jedoch war jeder Versuch, die Berge zu überqueren, zum Scheitern verurteilt.
Sein Volk hatte dies nach dem Sieg über die Wlachaken schmerzhaft erkennen müssen. Für volle fünf Jahre waren die Hochpfade für ihre Armee durch Schnee und Regen unpassierbar geblieben, so dass für die Masriden und ihre szarkischen Verbündeten aus einem Raubzug eine Eroberung wurde. Fast dreihundert Jahre lang hatten Tamárs Vorfahren geherrscht, bis die Wlachaken in ihrer letzten Revolte Teile ihres Landes zurückerobert hatten. Noch immer fiel es dem Masriden schwer, sich an diese Sicht der Dinge zu gewöhnen; zu lange hatte er im sicheren Glauben an die Rechtmäßigkeit des Herrschaftsanspruchs der Masriden gelebt. Aber ein Mann kann sich nur so lange von einer Frau Schelte einfangen, bis er seine Meinung ändert,
dachte er amüsiert.
Bei dem Gedanken an Flores schaute er wieder zu den Bergen empor, deren Anblick ihn sein Leben lang begleitet hatte. Unwillkürlich trieb er sein Pferd zur Eile an, auch wenn das kaum verhindern mochte, dass sich dort oben ein Gewitter entladen würde.
Die Wlachaken glaubten, dass die Geister der Berge sich dann mit den Geistern der Luft stritten, und beide waren nicht für ihren pfleglichen Umgang mit einfachen Sterblichen bekannt. Und auch wenn Tamár wusste, dass dies wenig mehr als Aberglauben war und dass die Welt vom Göttlichen Licht geordnet wurde, konnte er diese Gedanken verstehen. Unwetter in den Bergen waren nicht selten von einer mörderischen Gewalt, der Menschen nichts entgegenzusetzen hatten.
Mit diesen finsteren Gedanken im Geist erreichte er sein Ziel. Ein kleines Tal, unterhalb der Baumgrenze gelegen, abseits von den wichtigen Wegen in einer Region, die nur spärlich besiedelt war. Der ansonsten dichte Wald des Landes lichtete sich in dieser Höhe bereits, und zwischen den Bäumen funkelte das Wasser eines kleinen Sees. Der Kontrast zwischen dem von der Sonne beschienenen Tal und den grauen Gewitterwolken faszinierte Tamár. Noch brachen Strahlen durch Lücken in den Wolken, aber schon bald würde die Sonne zu tief stehen und das Land in Dunkelheit versinken.
Ohne Hast ritt er in die Klamm hinab, entlang des Sees, bis er zu dem Haus kam, das an dessen Ufer lag.
Früher war es eine einfache Schutzhütte gewesen, kaum mehr als ein Verschlag zum Schutz vor den Elementen, aber inzwischen hatte Tamár an ihrer Stelle ein festes Gebäude errichtet, an das sich sogar ein kleiner Stall schmiegte. Dorthin führte Tamárs Weg zuerst, und als er das Pferd darin erblickte, lächelte er froh. Trotz allem nahm er sich die Zeit, Szeg abzusatteln, abzureiben und ihm einen Eimer Hafer hinzustellen. Erst als sein Pferd versorgt war, klopfte Tamár ihm noch einmal auf die Schulter und lief dann zum Eingang des Hauses. Inzwischen stieg aus dem Schornstein Rauch auf, und ein exotischer Geruch lag in der Luft wie von brennenden Kräutern.
Als der Masride durch die Tür schritt, sah Flores vom Herd auf, den sie eben mit neuem Holz bestückt hatte. Ein Topf mit schwach dampfendem Wasser stand darauf. Die Hütte war schlicht, beinahe spärlich eingerichtet, mit einem breiten Bett, einem einfachen Holztisch und einigen Gerätschaften, die an Nägeln an den Wänden hingen.
»Du kommst spät«, stellte die dunkelhaarige Wlachakin trocken fest. »Ist dein alter Gaul endlich unter dir zusammengebrochen?«
»Szeg steht in der Blüte seiner Jahre«, entgegnete Tamár mit gespielter Empörung. »Lass ihn nicht hören, dass du ihn einen alten Gaul nennst.«
»Verzeih, ich verwechsele ihn immer mit seinem Großvater. Muss am Namen liegen.«
»Szeg ist ein guter Name für ein Pferd.«
»Nicht sehr einfallsreich, aber in euren masridischen Dickschädeln ist ja auch kein Platz dafür.«
Ihr Lächeln ließ sein Herz immer noch einen Schlag aussetzen. Er machte einen raschen Schritt auf sie zu und umfasste ihre Taille. »Du bist früh hier angekommen«, sagte er leise, während er sie an sich zog und die weiche Haut an ihrem Hals küsste.
»Stimmt. Ich habe mich beeilt, weil das Wetter schlechter wurde. Ich wollte nicht auf dem Pass von einem Gewitter überrascht werden. So wie es aussieht, werde ich diesmal wohl einige Tage länger bleiben, bis die Geister sich da oben ausgetobt haben.«
»Vielleicht sollte ich ihnen doch mehr Respekt und Dankbarkeit zollen«, murmelte Tamár. Ihre Nähe erinnerte ihn daran, wie jung sie gewesen waren, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten - und unter welch widrigen Bedingungen dies geschehen war.
Sein Atem ging aber auch jetzt schwer, und er genoss ihren Geruch, das Gefühl ihrer Haare auf seiner Haut. Der schmale Graben, den ihre Trennungen stets aufrissen, verschwand mit dem ersten Kuss.
»Gut, dass du da bist«, flüsterte Flores, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn sanft. Und wie immer, wenn sie sich nach Monaten der Trennung wieder trafen, dauerte es nicht lang, bis sie gemeinsam auf das weiche Lager sanken. Heute hatten sie mehr Zeit, sich ihrer Kleidung zu entledigen, als in ihrer ersten Nacht vor so vielen Jahren, doch wie Tamár immer wieder erstaunt feststellte, war sein Verlangen nach ihr noch immer genauso groß.
Vorsichtig nippte Tamár an dem dampfenden Getränk, das Flores zubereitet hatte. Es schmeckte ebenso fremdartig, wie es roch. Würzig und zugleich fruchtig, nicht unangenehm, wohl aber ungewohnt. Flores lachte ob seiner skeptischen Miene.
»Es beißt nicht. Versprochen!«
»Und so etwas trinkt man im Imperium?«
»Manchmal. Es gilt als Delikatesse und ist nicht billig. Aber ich hätte mir denken können, dass ein hinterwäldlerischer Banause …«
»He!«, unterbrach sie Tamár. »… dass ein hinterwäldlerischer Banause so etwas Feines nicht zu schätzen weiß.«
»Ich schätze es ja. Durchaus. Sehr sogar. Wirklich. Ich bin dir dankbar.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen, während Tamár versuchte, so treu und ehrlich wie möglich zu schauen. Obwohl der größte Teil ihres Körpers von der Decke verhüllt war, blieb genug nackte Haut sichtbar, um seine Vorstellungskraft sofort wieder anzuheizen. Hätte man ihm vor zwanzig Jahren gesagt, dass er jemals nur noch eine Frau begehren würde, hätte er vermutlich laut gelacht. Inzwischen hatte er es als einfache Tatsache akzeptiert. Selbst die vielen, langen Trennungen hatten das Feuer in ihm nicht gelöscht, sondern es vielmehr noch angefacht. Und jedes Mal, wenn sie sich für einige wenige Tage sahen, fühlte er sich wieder wie der junge, von sich selbst eingenommene Bengel, der sich zu seinem eigenen Entsetzen in eine Wlachakin verliebt hatte. Noch dazu in die Schwester des großen wlachkischen Helden Şten cal Dabrân, den sein Volk immer noch als Freiheitsbringer ansah.
»Woran denkst du?«, unterbrach ihn Flores.
»An die seltsamen Wege, die das Leben manchmal nimmt.«
»Ha! Allerdings.«
»Wie geht es Ana?«
Flores seufzte dramatisch, aber Tamár konnte das stolze Funkeln in ihren Augen sehen. »Sie ist furchtbar starrsinnig, stolz und nahezu nicht mehr von etwas abzubringen, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Ganz wie ihr Vater, würde ich sagen. Ich denke, es geht ihr richtig gut.«
Tamár lachte. »Das scheint mir eher das Erbe ihrer Mutter zu sein. Aber unter diesen Hyänen im Imperium ist es doch ganz gut, dass sie einen eigenen Kopf hat und weiß, was sie will.« Er schwieg einen Moment und räusperte sich dann. »Ich vermisse sie, Flores. Ich habe sie schon seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen.«
»Sie will nicht nach Wlachkis zurückkehren. Zu viel Politik, sagt sie. Und ihr Onkel Şten wird immer fuchtig, wenn sie ihre Cousins verprügelt.«
»Aus Anas Cousins sind inzwischen Männer geworden. Vielleicht könnten sie sich mittlerweile ja ihrer eigenen Haut erwehren?«
Ungewohnt sanft erwiderte Flores: »Vielleicht könnten sie das, ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, dass Ana dich irgendwann in Turduj besuchen wird. Sie vermisst dich auch, glaub mir.«
Gemeinsam lagen sie eine Weile unter der Decke und genossen einfach nur schweigend die Nähe und die Wärme des anderen. Draußen prasselte der Regen auf das Dach, in einem einlullenden Rhythmus, der den Masriden fast in den Schlaf gesungen hätte. Schließlich beugte sich Flores über ihn und blickte ihn mit ihren braunen Augen an.
»Wie lange kannst du bleiben?«
»Einige Tage sicherlich. Und du?«
»Länger. Ich werde noch nach Teremi weiterziehen. Ich freue mich darauf, meine Neffen zu treffen. Ich freue mich sogar auf meinen Bruder.« Sie lachte leise. »Da meine Reise ohnehin ein Vielfaches der Zeit hier benötigt, bin ich nicht so eingeschränkt wie du. Meine Jungs und Mädels sind schon in die Winterquartiere aufgebrochen, und das Jahr war sehr ruhig.«
»Ich dachte, im Imperium gibt es keinen Winter?«
»Natürlich: Direkt hinter den Sorkaten gibt es nur noch immergrüne Auen!«, neckte sie ihn, fuhr dann aber ernsthaft fort: »Angeblich ist das Dyrische Imperium so groß, dass immer in irgendeinem Teil Sommer ist. Aber als jemand, der schon alle Grenzen des Reiches verteidigt hat, kann ich dir versichern, dass das nicht stimmt. Du weißt ja, wie es als Soldat ist: Das Wetter ist immer schlecht.«
»Du könntest mit deinen Söldnern nach Wlachkis kommen. Das Wetter ist hier nicht besser, aber wenigstens kennst du es.«
Seufzend fiel sie zurück auf die Felle. Sofort bereute Tamár seine Worte.
»Andererseits könnte sich hier wohl niemand eure Dienste leisten, was?«, versuchte er zurückzurudern.
»Ich bezweifle, dass deine Leute erfreut darüber wären, wenn du eine Söldnertruppe unter der Führung einer Wlachakin anheuerst. Noch dazu unter einer Wlachakin mit einem so schönen Namen … cal Dabrân.«
»Ich bin der Marczeg«, gab Tamár zu bedenken, aber Flores grinste nur.
»Was passiert, wenn der Marczeg der Masriden sich mit Wlachaken einlässt, haben wir beide erlebt. Nein, es ist besser, wenn wir es so lassen, wie es ist.«
Wieder schwiegen sie, doch diesmal lag es an der unsichtbaren Barriere zwischen ihnen. Egal, wie oft Tamár es versucht hatte, er konnte sie nicht umstimmen. Verfluchte dickschädlige Söldnerin! Genau wie ihr Bruder: Wenn sie erst einmal was im Kopf hat, ist sie davon nicht mehr abzubringen. Und mir wirft sie vor, unsere Tochter habe das von mir geerbt.
Der Gedanke an Ana war wie immer bittersüß. Als Flores ihm mitgeteilt hatte, dass sie schwanger war, hatte er alles versucht, um sie zu einem Leben an seiner Seite zu überreden. Doch alle Bitten und alle harschen Worte hatten nichts genutzt, und sie war für einige Jahre ganz im Imperium geblieben. Tamár hatte es eine Weile ausgehalten, doch als er schließlich zu befürchten begann, dass er weder sie noch sein Kind je wieder sehen würde, war er ihr nachgereist. Und hatte ihr versichert, dass er ihre Bedingungen akzeptieren würde.
Um der unangenehmen Stille zu entgehen, erhob sich Tamár und ging zum Kamin, wo er Holz nachlegte und das Feuer wieder anfachte. In der Nacht wurde es in diesen Höhen unangenehm kühl, und der beständige Regen stahl die letzten Reste der Tageswärme.
Auf dem Tisch in der Nähe des Kamins hatte Flores ihre Ausrüstung drapiert. In vielen Dingen war sie sich treu geblieben, aber hier und da sah Tamár Anpassungen an ihre selbst gewählte Heimat. Auf ihrer Gürtelschnalle waren zwei geflügelte Stiere Kopf an Kopf abgebildet, und Verzierungen in Form von Federn oder Flügeln bedeckten auch den Gürtel selbst. Aber ihre Rüstung war aus schlichtem Leder, fast gänzlich im Stil der Rüstungen, mit denen sich die Wlachaken in dem Kampf gegen die Masriden geschützt hatten. Noch immer zog Flores Schnelligkeit schwerem Rüstungsschutz vor, obwohl sie sicherlich ebenso wie er die ersten Auswirkungen des Alters spürte. Die Reaktionen waren nicht mehr ganz so schnell, die Bewegungen träger, der Atem ein wenig kürzer. Auch wenn ihr Haar noch immer schwarz war, wusste er, dass sein eigenes inzwischen mehr silbern als golden war.
Manchmal brachte Flores ihm Geschenke aus dem Imperium mit, wenn sie ihn besuchte. Verblüffende Gerätschaften oder Zeichnungen von gewaltigen Waffen. Er hatte schon Hörner von seltsamen Tieren gesehen und Bilder von Kreaturen, von denen man in Wlachkis noch nie etwas gehört hatte.
»Komm zurück«, flüsterte sie. »Lass uns über andere Dinge reden.«
Seufzend kam er der Aufforderung nach.
»Wie steht es um euer Verhältnis zum Kleinen Volk?«
»Unverändert. Manchmal treffen ihre Handelskarawanen in der Stadt ein. Turduj ist immer noch ihr erster Anlaufpunkt. Sie bringen ihre Waren und kaufen vor allem Holz.«
»Ob sie noch Krieg gegen die Trolle führen?«
Tamár zuckte mit den Achseln. Von den gewaltigen Kreaturen war nach dem Bürgerkrieg keine mehr an der Oberfläche aufgetaucht, und der Masride konnte nicht sagen, dass er ihr Fortbleiben bedauerte. »Sie erwähnen nichts von ihrem Leben unter Tage.«
Einige Sätze redeten sie noch weiter, doch es war nicht genug, um die Kluft zu überbrücken, die Tamár in sich selbst spürte.
»Ich habe lange gewartet«, platzte es schließlich aus ihm heraus.
»Wir beide«, korrigierte sie ihn.
»Wir beide. Ich habe keine Lust mehr, weiter zu warten.«
»Wir haben keine Wahl, Tamár. Ich bin nur wenige Tage im Jahr hier, aber selbst in dieser Zeit bemerke ich, dass die Wunden nicht verheilt sind, die all der Hass unseren Völkern geschlagen hat. Auf dem Weg hierher habe ich eine Geschichte gehört, dass ein Wlachake von Masriden in seinem Haus verbrannt wurde, weil er angeblich einen Esel gestohlen hatte. Das Tier war bloß davongelaufen, aber der Mann ist tot.«
Tamár seufzte »Solche Dinge geschehen noch immer, ja. Aber vielleicht würden die Wunden des Landes besser heilen, wenn wir uns gemeinsam darum bemühen würden? Wenn wir den Menschen zeigen, dass es einen anderen Weg gibt? Wenn wir zusammen …«
»Ich hätte es nicht ausgehalten«, fiel sie ihm rüde ins Wort. »In deiner Nähe zu sein, aber nicht bei dir sein zu dürfen. Ich konnte nicht. Es war besser so.«
»Ich …«
»Haben wir das nicht oft genug besprochen? Dein Volk würde mich niemals an deiner Seite dulden, nicht nach den Kriegen. Damals nicht und auch heute nicht.«
Wütend suchte Tamár nach Worten, die es nicht geben konnte. Es widerstrebte ihm aufzugeben, doch sie hatten dieses Gespräch wahrlich oft genug geführt. Jedes Jahr des Friedens hoffte Tamár, dass Wlachaken und Masriden ihren jahrhundertealten Hass überwinden würden, doch stets wurde er enttäuscht.
Er mochte Şten cal Dabrân nicht besonders und respektierte ihn nur widerwillig, doch der Voivode und er hatten schon in vielen Dingen zusammenarbeiten müssen, um das Verhältnis der beiden gespaltenen Landesteile zu verbessern. Aber für jeden Schritt, den sie gemeinsam vorwärts gemacht hatten, gab es einen zurück. Zu tief saßen die Gefühle der Ablehnung und der Angst bei den einfachen Leuten, und immer wieder traten sie in all ihrer Hässlichkeit an die Oberfläche.
»Ich wäre bereit, es zu versuchen, und ich scheiße darauf, was andere denken«, knurrte er endlich.
Unvermittelt lächelte Flores. »Vielleicht habe ich mich deshalb damals in dich verliebt: weil du selbst im
Originalausgabe 10/2008 Redaktion: Uta Dahnke
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eISBN : 978-3-641-03271-5
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