Die Werwölfe - Christoph Hardebusch - E-Book

Die Werwölfe E-Book

Christoph Hardebusch

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Beschreibung

Das Mystery-Ereignis des Jahres!

Europa Anfang des 19. Jahrhunderts: Während sich die Alte Welt von zahllosen Kriegen erholt, kündigen sich tiefgreifende Veränderungen an – die Menschheit steht an der Grenze zur Moderne. Aber noch sind die Traditionen stark und die starren Strukturen brechen nur langsam auf. In dieser Zeit des Wandels schickt sich eine uralte Bedrohung an, die Menschen in den Abgrund zu reißen. Denn in den Schatten der Welt hat etwas überlebt: die Werwölfe …

• Christoph Hardebusch legt einen einzigartigen Roman vor, der den Mythos Werwölfe auf ganz neue Weise erzählt
• Die Werwölfe ist nach Die Vampire die kongeniale Weiterführung der Bestseller Die Elfen, Die Zwerge und Die Trolle

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Seitenzahl: 628

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Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Der Autor
Widmung
DRAMATIS PERSONAE
PROLOG
 
Erstes Buch – PROMETHEUS
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
 
Zweites Buch – ORPHEUS
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
 
EPILOG
NACHWORT UND DANKSAGUNG
Copyright
Das Buch
Europa, Anfang des 19. Jahrhunderts: Als der junge Adlige Niccolo Viviani in die Schweiz fährt, ahnt er nicht, dass diese Reise sein Leben für immer verändern wird. Am Genfer See lernt er den berühmten Dichter Lord Byron kennen, der ein uraltes Geheimnis hütet: das Erbe der Werwölfe. Doch als er Niccolo ebenfalls zu einem Werwolf machen will, werden sie von der Inquisition überrascht. Eine wilde Hetzjagd beginnt, und Niccolo muss nicht nur aus Genf fliehen, sondern auch Valentine, die Frau, die er liebt, zurücklassen. Fortan versucht er verzweifelt, auf seiner Flucht durch ganz Europa mehr über das Rätsel der Wolfsmenschen und deren Widersacher zu erfahren, einem mysteriösen Orden von Werwolfjägern unter dem Befehl eines gewissen Kardinal della Genga. Schließlich gerät Niccolo in die Hände seiner Feinde und wird vor eine folgenschwere Entscheidung gestellt: Um sich selbst und seine geliebte Valentine zu retten, muss er sich mit einer noch älteren, noch dunkleren Macht verbünden …
 
Das einzigartige Epos über einen der finstersten Mythen unserer Zeit – in »Die Werwölfe« nimmt Christoph Hardebusch die Leser mit auf eine atemberaubende Reise durch die Nacht.
Der Autor
Christoph Hardebusch, geboren 1974 in Lüdenscheid, studierte Anglistik und Medienwissenschaft in Marburg und arbeitete anschließend als Texter in einer Werbeagentur. Sein großes Interesse an Fantasy und Geschichte führte ihn schließlich zum Schreiben. Mit »Die Trolle« stand er monatelang auf allen Bestsellerlisten. Christoph Hardebusch lebt als freischaffender Autor in Heidelberg.
 
Mehr über Autor und Werk unter: www.hardebusch.net
Für meine Liebe »Sie schreitet in Schönheit, wie die Nacht …«
DRAMATIS PERSONAE
Familie Viviani und Bedienstete
Conte Ercole VivianiItalienischer LandadligerContessa VivianiSeine FrauNiccolo VivianiSohn und Erbe der VivianisMarcella VivianiJüngere Tochter der VivianisCarloKutscher in Diensten der Familie
Familie Liotard und Bedienstete
Auguste LiotardSchweizer KaufmannMadame LiotardSeine FrauValentine LiotardTochter der LiotardsEmilyValentines Zofe
Adlige
Ludovico, Conte vonMysteriöser Graf undKarnstein, auch Graf Ludwig von KarnsteinLebemannFrançois, Marquis de PuységurFranzösischer Adliger
Englische Dichter, Freunde und Bedienstete
George Gordon, Lord ByronBerühmter und berüchtigterDichterMary Shelley, geborene GodwinSchriftstellerinPercy Bysshe ShelleyIhr Mann, ebenfalls DichterJohn KeatsPoetJohn William PolidoriLeibarzt Lord ByronsJoseph SevernFreund von John KeatsClara Clairmont, genanntStiefschwester Mary ShelleysClaireund Byrons GeliebteFletcherByrons LeibdienerBergerByrons Diener
Männer und Frauen der Kirche
GioanaVertraute von Kardinal della Genga, später Oberhaupt einer geheimen KirchenorganisationKardinal della GengaSpäter Papst Leo XII.Bruder FernandoMitglied einer geheimen KirchenorganisationBruder IordanusMitglied einer geheimen KirchenorganisationBruder JosephMitglied einer geheimen KirchenorganisationBruder BernhardinMitglied einer geheimen KirchenorganisationBruder SalvatoreMitglied einer geheimen Kirchenorganisation
Die Bewohner von Genf und umliegender Ortschaften
Jean Baptiste Raoul deLebemann undBazeratWeltenbummlerMadame BossenieGenfer PatrizierinMarc-Auguste PictetGelehrterAnne Louise Germaine deSchriftstellerin undStaëlKosmopolitinJulie RécamierFreundin von Valentine Liotard und Madame de StaëlJean BonnetToter Hühnerbauer
London und Paris
Lady Caroline LambEx-Geliebte ByronsWilhelm von HumboldtPreußischer Gesandter in LondonAlexander von HumboldtSein Bruder, berühmter NaturforscherJeanne AubryFranzösische NaturforscherinEsmeraldaFranzösische Wahrsagerin und MagierinFrançois-René, Vicomte de ChateaubriandLiterat und französischer Außenminister
Das Osmanische Reich
Ali PaschaOrientalischer PotentatUthman BeySeine rechte HandOmarSchmugglerHristoGefangener des Ali PaschaKatyaSeine Gefährtin
Sonstige
Madame AzémaBordellbesitzerin in MulhouseElise und EmilyProstituierte in MulhouseGiacomoDiener der Dunkelheit
Diverse Beamte, Adlige, Räuber, Fischer, Bankiers, Soldaten, Knechte und viele mehr
PROLOG
Der Schuss hallte durch die frostige Luft. Erdreich und Schnee wirbelten auf, als sich die Kugel gut fünf Meter neben ihrem Ziel in den Boden bohrte. Fluchend griff der Schütze nach dem Pulverhorn.
Das Tier hatte sich nicht bewegt. Nicht einmal, als kleine Steine und Erdbröckchen um es herum herabfielen. Unverwandt starrte es den Mann aus seinen hellen Augen an. Es hätte zusammenzucken sollen oder weglaufen, doch nichts dergleichen geschah. Ein Rabe krächzte missbilligend in den Wipfeln der Bäume, als empfände auch er das Verhalten des Wolfs als unnatürlich.
Die Kälte hatte die Finger des Schützen steif und unbeweglich werden lassen. Die Handschuhe waren fingerlos, um das Nachladen und Bedienen der Flinte zu erleichtern. Jetzt, am frühen Morgen, da der kühle Nebel wie ein zerschlissenes Leinentuch zwischen den Bäumen hing und die Sonne kaum mehr als ein schwaches Blinzeln über dem Horizont war, erwiesen sich die Handschuhe als wenig nützlich.
Dennoch ließ der Mann sich nicht beirren. Seine Hände führten die bekannten Bewegungen aus, wie sie es schon Hunderte von Malen getan hatten.
Der Wolf setzte sich in Bewegung. Langsam, fast gemächlich trottete er auf den Schützen zu. Als der Mann dies bemerkte, fluchte er leise. Sein Atem bildete kleine Wolken in der Luft, die sich mit dem Pulverdampf vermischten, als wollten sie den Nebel verstärken und das weiße Gewebe vor dem anbrechenden Tag retten.
Sorgfältig verschloss er das Pulverhorn, nahm eine Kugel aus dem ledernen Beutel an seinem Gurt, ließ sie in die Mündung fallen und zog den Ladestock aus seiner Halterung unter dem Lauf. Sein Blick wanderte zu seinem Ziel, das nun schneller auf ihn zulief.
Hastig rammte der Mann die Kugel in den Lauf. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Wolf nun rannte. Ohne ein Schusspflaster einzusetzen, ging der Schütze in die Knie.
Er streute das Zündkraut in die Pfanne, den Blick fest auf das Tier gerichtet.
Es kam näher, die Lefzen zurückgezogen, die Zähne gebleckt, den Blick aus seltsam klugen Augen immer noch unablässig auf den Schützen gerichtet. Ein großer Wolf mit dichtem, fast schwarzem Pelz und nur wenigen weißen Haaren um die Schnauze herum. Bei der Breite seiner Schultern und der Größe gewiss der Leitwolf eines Rudels; einer, den kein anderer Wolf so leicht herauszufordern wagte.
Ihm würde nur Zeit für einen Schuss bleiben, und der Mann zwang sich, durchzuatmen, als er die Flinte an die Schulter legte. Alles in ihm schrie danach, zu feuern, den Wolf zu töten, zu erlegen, doch er hielt inne, beruhigte seine Gedanken, zielte sorgfältig – und schoss erst dann.
Der Einschlag warf das Tier herum, brachte es aus dem Tritt, und es geriet ins Straucheln. Ein sauberer Treffer, mitten in die Brust, ein glanzvoller Schuss, ein Blattschuss. Der Schütze lächelte nicht ohne Stolz.
Doch der Wolf rappelte sich schnell wieder auf. Mit mächtigen Sätzen legte er die letzten Meter zurück. Die rechte Hand des Mannes fuhr zu dem Jagdmesser an seinem Gürtel, die andere hob er schützend vor sein Gesicht. Der Aufprall schwerer schwarzer Pfoten schleuderte ihn zu Boden, die Flinte flog in hohem Bogen davon. Die gefrorene Erde trieb ihm die Luft aus den Lungen, Wurzeln und Steine bohrten sich schmerzhaft in seinen Rücken. Doch nichts war so fürchterlich wie die Fänge des Wolfs, die sich mit einem gierigen Knurren um seine Kehle schlossen.
Die Schreie des Mannes erklangen noch lange im Wald.
Erst als sich wieder Stille über das Land legte, krächzte der Rabe noch einmal.
Erstes Buch
PROMETHEUS
1
AREZZO, 1816
Es war eine dunkle und stürmische Nacht.« Nervös strich sich der junge Mann eine dunkle Locke aus der Stirn. »Die mächtigen Gipfel der Alpen waren in Wolken gehüllt und wirkten so düster und beklemmend, als trügen sie Leichengewänder.«
Mit jedem Wort, das er kraftvoll deklamierte, ließ seine Aufregung nach. Nicht einmal die Blicke seines Publikums, das sich in dem kühlen Saal zusammengefunden hatte, störten ihn mehr. Vor wenigen Augenblicken noch hatte er geglaubt, nicht eine Silbe herausbringen zu können, doch nun flossen sie geradezu über seine Lippen. Die Geschichte folgte ihrem Lauf, erzählte von den Jugendtagen des wahnsinnigen Mönches, der in nicht allzu ferner Zukunft das Dorf mit den grauenhaftesten Taten überziehen würde.
Die Umgebung war für den jungen Mann unwichtig geworden. Das Feuer im Kamin vermochte die Märzkälte nicht wirklich zu vertreiben. Vor den hohen, schmalen Fenstern versank die Sonne, doch der regnerische Tag war ohnehin nur in trübes Licht gehüllt gewesen. Die hohen, bis zur Decke reichenden Bücherregale waren bereits in tiefe Schatten getaucht, und die einstigen Herren des Stadtpalastes warfen kritische oder nachsichtige Blicke auf den jungen Dichter, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man ihre Porträts betrachtete. Hin und wieder knarrte einer der alten Stühle, wenn einer der Zuhörer sich bewegte, doch ansonsten füllte nur seine Stimme den Raum.
Und seine Worte, denn die Geschichte stammte aus seiner Feder. Er hatte sie in jeder freien Minute geschrieben, hatte unzählige Seiten Papier verbraucht, wenn er, unzufrieden mit den Ergebnissen, den Boden ein weiteres Mal mit zerknüllten Seiten bedeckt hatte. Die Geschichte war gruselig, ein Schauermärchen, aber selbstverständlich verbarg sich hinter dem Schrecken auch eine Moral.
Mit jedem weiteren Satz gewann seine Stimme an Überzeugung. Er drückte das Rückgrat durch und marschierte vor dem Publikum auf und ab, wie er es vor dem Spiegel in seinen Räumen einstudiert hatte. Seine Linke fuhr durch die Luft, die Finger zu jener Geste geformt, die ihm sein Rhetoriklehrer in mühevollen Stunden beigebracht hatte und die angeblich schon Cicero und dessen Vorgänger genutzt hatten. Er schlüpfte in die Rollen der Figuren, sprach lispelnd als verschlagener Gastwirt, laut und herrisch als machtbesessener Signore.
Fast wähnte er sich selbst in den grandiosen Alpen, die seine Worte so treffend beschrieben. In jedem Schatten des Saales mochte der Mönch lauern, mit seinen vor Irrsinn funkelnden Augen.
Die Geschichte endete mit einem Crescendo, einem triumphalen Finale, in dem der Schurke seiner gerechten Strafe zugeführt wurde, während die Helden siegreich blieben.
Erschöpft und außer Atem blickte der junge Mann hoch.
»Bravo, Niccolo«, rief die neunjährige Marcella, deren dunkle Locken wippten, als sie vom Stuhl sprang und aufgeregt Beifall klatschte. Für ihr Alter war ihr literarischer Geschmack erstaunlich gut, wie Niccolo wieder einmal erfreut feststellte.
»Mima mag die Geschichte auch«, stellte seine Schwester fest und hob die schwere Porzellanpuppe vom Stuhl neben sich hoch, doch der junge Mann blickte zu der anderen Zuhörerin, die bislang noch kein Wort gesagt hatte.
Sie war nicht nur ein erfreuliches Stückchen älter, sondern auch noch weitaus belesener als seine Schwester, klassisch gebildet und in allen Künsten bewandert. Sie musizierte, sang und malte, so ihr die Zeit blieb, voller Hingabe und schrieb, wenn man Marcella glauben durfte, im Privatesten wohl mit gar beachtlichem Talent – und all das, ohne die weiblichen Tugenden der Zurückhaltung und der Bescheidenheit vermissen zu lassen.
Er spürte einen Schweißtropfen an der Schläfe, der langsam über seine Haut glitt, doch er wagte es nicht, ihn fortzuwischen, um nicht die Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
»Eine gute Geschichte.«
»Gut?«, hakte Niccolo mit angehaltenem Atem nach.
»Unterhaltend und spannend«, erwiderte Valentine. Für einen Moment befürchtete der junge Mann, Spott in den dunkelblauen Augen der von ihm hoch geachteten und insgeheim leidenschaftlich begehrten jungen Frau zu sehen, doch ihr Lächeln schien ihm aufrichtig und, wichtiger noch, wohlwollend. Nachdenklich legte sie den Kopf zur Seite, dann nickte sie, so dass ihre blonden Haare im Licht der Kerzen verheißungsvoll schimmerten. »Ich denke, sie ist besser durchdacht als die Geschichte des kopflosen Reiters im New Monthlys, die du so mochtest. Und ich finde deinen Mönch auf jeden Fall unheimlicher.«
Erleichtert atmete der junge Mann aus, und die geballte Anspannung wich von ihm. Der Saal, bis zu diesem Moment nur die Bühne für seinen Vortrag, kehrte in seine Wahrnehmung zurück, das Knistern des Feuers im Kamin, der leichte Hauch, der von den Fenstern zu ihnen herüberwehte, das Zwielicht außerhalb des Kerzenscheins. Er hätte sich keine bessere Atmosphäre für die erste Darbietung seines Werkes erhoffen können. Flackerndes Kerzenlicht, ein sturmumwölkter Himmel und ein Lufthauch, der wie die eisige Hand des Todes über die Haut strich.
Schwungvoll wurde die hintere Tür aufgestoßen. Niccolo, der den alten Lazaro erwartete, wandte sich um, doch als er seinen Vater erblickte, erstarb sein Lächeln noch im Ansatz.
»Hier steckst du, Niccolo. Ich habe dich gesucht.«
»Ich habe die Damen unterhalten, Vater«, erwiderte der junge Mann und hob abwehrend die Hände.
Sein Vater nickte knapp und richtete sein Wort an seine Tochter: »Marcella, sei so gut und lass uns allein. Vielleicht kannst du mit Valentine in deine Gemächer gehen. Ich bin mir sicher, ihr habt noch angefangene Handarbeiten oder dergleichen, um euch weiter zu unterhalten.«
»Sehr gern, Vater.« Mit einem artigen Knicks verabschiedete sich Niccolos Schwester und ergriff Valentines Hand. Dass sein Vater wirklich glaubte, Marcella würde zum Spaß sticken, amüsierte Niccolo. Doch als er den ernsten Ausdruck auf dem Antlitz des Conte sah, riss er sich schleunigst zusammen. Valentine warf Niccolo im Hinausgehen einen fragenden Blick zu, den er jedoch nur mit einem Schulterzucken erwidern konnte. Er wusste nicht, was sein Vater von ihm wollte oder ob er in Schwierigkeiten steckte.
Der ältere Mann baute sich vor ihm auf und musterte ihn endlose Augenblicke lang. Graf Ercole war ein hochgewachsener Mann, und seine stets eisern zur Schau getragene aufrechte Haltung ließ ihn noch größer wirken. Wie stets fühlte sich Niccolo in Gegenwart seines Vaters klein, auch wenn dieser ihn in Wahrheit nicht einmal um eine halbe Handspanne überragte. Er versuchte, den Blicken standzuhalten, doch schon bald senkte er die Augen.
Angeblich gab es zwischen ihm und seinem Vater eine geradezu frappierende Ähnlichkeit, zumindest, wenn man seinen geschwätzigen Tanten glauben wollte. Doch in den strengen Linien und harten Kanten des Gesichts konnte Niccolo sich selbst nicht wiederfinden. Allein die ausgeprägten Wangenknochen mochte er von seinem Vater geerbt haben; ansonsten wünschte er sich ohnehin mehr von der Grazie seiner Mutter, deren hellgraue Augen er besaß.
»Niccolo, du hast deine Schwester wieder mit deinen Geschichten geängstigt, nicht wahr? Leugne es nicht. Ich sehe doch die Seiten dort auf dem Tisch liegen.«
»Ja, Vater«, log der junge Mann um des lieben Friedens willen und gab sich zerknirscht. Es war viele Jahre her, dass er seiner Schwester hatte Angst einjagen können. Inzwischen waren es eher sie und ihre überbordende Fantasie, vor allem in Bezug auf Streiche, vor der man sich in Acht nehmen musste.
»Nun gut.«
Überrascht blickte Niccolo auf. Keine Tirade? Kein Seufzen? Keine langatmigen Ermahnungen und moralischen Belehrungen?
»Ich habe in letzter Zeit sehr viel nachgedacht, mein Junge.«
Dies ließ Niccolo aufhorchen. Schon lange hatte sein Vater ihn nicht mehr mein Junge genannt, und er wusste nicht zu sagen, ob er sich über die vertrauliche Anrede freute oder ob er sich wegen des mangelnden Respekts ärgern sollte. Die düstere Stimmung des Abends, die ihn gerade noch ob ihrer Wirkung beim Vortrag seiner Geschichte entzückt hatte, erhielt nun einen anderen, prophetischeren Ton. Etwas lag in der Luft, und der junge Mann konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas Gutes sein mochte.
»Wie du weißt, werde ich nicht jünger«, begann der Conte, und Niccolo öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen. Bevor er jedoch sagen konnte, dass sein Vater noch jung sei und in voller Kraft stehe, hob der Graf mahnend den Zeigefinger: »Lass mich ausreden.«
Verunsichert nickte Niccolo. Zwar stimmte es, dass sich mehr und mehr Grau in die Schläfen und, zugegebenermaßen, inzwischen auch in das Haupthaar seines Vaters geschlichen hatte, aber noch wirkte der Conte wie das Ebenbild eines entschlossenen Mannes, dessen Lebensherbst noch fern war.
»Ich werde nicht jünger, und es ist an der Zeit, sich über die Zukunft Gedanken zu machen.«
Ein entsetzlicher Gedanke keimte in Niccolos Geist auf. Sein Vater war krank. Hastig blickte er in das Gesicht und entdeckte unvermittelt überall Anzeichen dafür. Dunkle Ringe unter den Augen, eine blässliche Hautfarbe …
»Du musst darauf vorbereitet sein, eines Tages die Geschäfte der Familie Viviani zu übernehmen.«
»Vater, ich … Ihr seid …?«
Er wagte nicht, es auszusprechen.
Doch sein Vater beachtete den Einwurf gar nicht. »Ich bin zu der Entscheidung gelangt, dass du zu viel Zeit in deinem Studierzimmer und der Bibliothek vertrödelst, anstatt dir praktischere Kenntnisse anzueignen. Sicherlich kann das Studium antiker Schriften einen Mann einiges lehren.«
Niccolo wollte nicht erwähnen, dass er in letzter Zeit eher äußerst moderne Schriften studiert hatte. Sein Vater stand Romanen nicht sehr offen gegenüber.
»Aber nun musst du ein tauglicheres Wissen erwerben und dich um unsere Angelegenheiten kümmern. Wir mögen wohlhabend sein, doch ich bin nicht Karl IV., Gott beschütze ihn, der es seinen Kindern gestatten kann, nichts als Müßiggang zu betreiben – wohin das führt, sieht man ja! Es mangelt dir an Disziplin, und wir müssen Schritte unternehmen, um diesen Umstand zu ändern.«
»Schritte?«
Niccolo fiel es schwer, den Gedankengängen des Conte zu folgen.
»Ich habe schon mit dem Freund unserer Familie, dem Granduca unseres schönen Landes höchstpersönlich, konferiert. Der Großherzog hat einen Platz in seinen Regimentern für dich, als Adjutant. Das Militär ist genau das Richtige für einen Burschen in deinem Alter. Dort werden nicht nur nützliche Bündnisse unter Männern geschmiedet, die ein Leben lang halten, nein, auch alle echten italienischen Tugenden kannst du dort erwerben.«
Der Conte redete noch weiter, schwärmte von der Kameraderie und dem Korpsgeist, von Abenteuern und Heldentaten und schlussendlich von seiner eigenen Zeit als Soldat, aber Niccolo begriff kein Wort mehr. Es war, als spräche sein Vater eine andere Sprache, die der junge Mann nicht verstehen konnte.
»Regiment? Vater, ich bin kein Soldat!«
»Noch nicht. Aber bald wirst du einer sein. Du wirst Disziplin lernen, und die Flausen, die in deinem Kopf umherspuken, wird man dir austreiben. Das Militär ist für die geistige Erziehung eines jungen Menschen ebenso wichtig wie für seine körperliche Ertüchtigung; und ich möchte, dass du von beidem profitierst.«
»Vater!«
»Nein, es ist entschieden. Keine Widerrede. Ich will nichts hören. Verstanden?«
»Ja, Vater«, entgegnete Niccolo resigniert. Er wusste, dass Widerspruch seinen Vater nur weiter gegen ihn aufbringen würde. Die Vorstellung allerdings, beim Militär mit seinen rauen Sitten, dem schlechten Essen und dem unerträglichen Drill sein Leben fristen zu müssen, legte sich wie ein Stein auf seine Seele. Sein Vater war nicht krank, sondern ein Tyrann sondergleichen, in seinem Despotismus scheinbar direkt den alten Theaterstücken entstiegen und im Geiste einem Napoléon Bonaparte gleich, den er eigentlich so sehr verachtete.
»Aber vorher erachte ich es für notwendig, dass du, deinem Stand gemäß, etwas von Europa siehst und dich bei einigen Familien vorstellst, die die Zukunft dieses Kontinents mitbestimmen werden.«
Ein schmaler Lichtstreifen am Horizont, kaum mehr als eine Ahnung von Hoffnung.
»Unterwegs wird deine Ausbildung den letzten Schliff erhalten. Ich trage mich mit dem Gedanken, dich auf eine Bildungsreise zu schicken, mein Sohn. Bevor du zum Regiment fährst, sollst du ein Mann sein, kein dummer Junge mehr. Sieh dir die Welt an, stoß dir die Hörner ab.«
»Du meinst, so etwas wie die Grand Tour?«
Der Conte strich sich nachdenklich über das Kinn und musterte seinen Sohn prüfend.
»So könnte man es wohl nennen«, stimmte er schließlich zu, auch wenn ihm der Begriff selbst eher zu missfallen schien.
Die kryptische Aussage seines Vaters interessierte Niccolo nicht weiter. In Gedanken sah er bereits all die Orte, die er besuchen würde, all die Menschen, die er treffen würde. Es galt, Abenteuer zu erleben, auf den Spuren großer Helden zu wandeln, Stätten von historischer Bedeutung zu entdecken – und all dies in Worte zu gießen, die jenen Dingen erst die wahre Schönheit und Unvergänglichkeit schenkten.
»Ich muss Euch danken, Vater«, stimmte er begeistert zu. »Die Idee ist famos, und Eure Großmut wird gewiss … einen Mann aus mir machen«, fügte Niccolo hinzu und hoffte inständig, es mit dieser letzten Bemerkung nicht übertrieben zu haben.
Misstrauisch musterte der Conte seinen Sohn, doch der achtete darauf, dass seine Miene nichts außer Pflichtbewusstsein und Gehorsam ausdrückte.
»Es freut mich zu sehen, dass wir uns doch einmal in einem Punkt einig sind«, erwiderte der Vater langsam. »Und nun geh und sprich mit deiner Mutter darüber, der es gewiss lieber wäre, wenn du ihr für immer an den Rockschößen hingest.«
 
Es war nicht leicht, die Neuigkeiten für sich zu behalten. Doch es wäre kaum schicklich gewesen, noch nach deren Zubettgehzeit die Gemächer seiner Schwester zu betreten, um sie von der Entscheidung ihres Vaters in Kenntnis zu setzen, und so musste sich Niccolo zwangsläufig bis zum Frühstück gedulden. In der Nacht hatte ihn der aufregende Gedanke kaum Schlaf finden lassen und ihn zu den schönsten Wunschträumen veranlasst. Nur ein Wermutstropfen hatte schon bald, nachdem er die Bibliothek verlassen hatte, seine gute Laune beeinträchtigt, und das war die Vorstellung, Valentine unweigerlich in Arezzo zurücklassen zu müssen, wenn er aufbrach. Da er plante, seine Reise so ausgedehnt wie möglich zu gestalten, um dem dräuenden Militärdienst zu entgehen, war es ungewiss, ob er sie bei seiner Rückkehr überhaupt noch im Haus seines Vaters vorfinden würde. Derzeit brauchte Marcella natürlich eine Gesellschafterin, aber der Tag mochte in nicht allzu ferner Zukunft liegen, an dem ihr Vater seine Schwester selbst in einen anderen Haushalt schicken würde, damit sie dort ihre Erziehung vervollkommnen konnte, bevor man einen passenden Gatten für sie fand.
Was bedeutete, dass Valentine für ihn verloren wäre. Und dass er sich ihr also noch vor seiner Abreise offenbaren musste. In dem Jahr, das die junge Schweizerin nun im Haus seines Vaters verbracht hatte, war sie ihm immer wichtiger geworden. Nicht nur ihre Schönheit, nein, ihr ganzes Wesen hatte ihn in vielen gemeinsam verbrachten Stunden in seinen Bann geschlagen, und am innigsten verband ihn mit ihr die Liebe zur Literatur. Valentine kannte die Klassiker ebenso wie die modernen Dichter, und – was noch wichtiger war – sie teilte seine Vorliebe für die unheimlichen Geschichten, die sie gemeinsam in den schwer zu beschaffenden englischen Magazinen lasen, über die sie diskutierten und die sie zu übertreffen suchten. Niccolo machte sich allerdings keine Vorstellung davon, was geschehen könnte, wenn er ihr gestand, dass seine Gefühle für sie seit geraumer Zeit über reine Freundschaft weit hinausgingen. Natürlich könnte sie seine Liebe zurückweisen oder sich gar damit herausreden, dass eine Verbindung zwischen ihnen ihren Eltern Unrecht sei, doch über diese Möglichkeiten wollte er lieber nicht allzu lange nachdenken. Sicher war er sich einzig und allein darüber, dass er ihr ein Geständnis zu machen hatte; alles Weitere würde sich danach finden.
Nach all diesen ruhelosen Gedanken saß er nun seit Tagesbeginn im geräumigen Esszimmer und ließ sich großzügig Kaffee einschenken, um die Müdigkeit aus seinem Geist zu vertreiben, während er auf seine Schwester wartete. Der dunkle Tisch war für drei Personen gedeckt, die alle problemlos am hintersten Ende der langen Tafel Platz fanden. Auf silbernen Vorlegetellern lagen verführerisch frisches Brot und Kuchen, aber Niccolo mangelte es an Appetit, um bei den Köstlichkeiten zuzugreifen.
Marcella erschien, wie so oft, zu spät und erst lange nach dem Conte zum gemeinsamen Frühstück, so dass Niccolo ihr nicht mehr als einen intensiven Blick zuwerfen konnte, den sie jedoch ignorierte. Ihre Augen waren verquollen und rot umrandet, als habe auch sie kaum geschlafen, aber das wunderte den jungen Mann nicht, da sie die Angewohnheit entwickelt hatte, heimlich des nächtens Bücher zu lesen – zumeist Bücher, die sie ihm unter Androhung des Verrats an ihren Vater abgepresst hatte.
»Diese neuartigen Druckverfahren sind außergewöhnlich«, murmelte der Conte, dessen Gesicht hinter einer Ausgabe der Times verborgen war, die sein persönlicher Diener wie jeden Morgen aufgeschlagen vor sein Gedeck gelegt hatte. »Als sie es in ihrem Leitartikel geschrieben haben, wollte ich es kaum glauben.«
»Ja, Vater?«
Die Zeitung raschelte, als der Conte sie senkte und seinen Sohn ansah, als bemerke er ihn zum ersten Mal.
»Verzeihung, ich wollte dich keinesfalls beim Mahl stören. Mich packte nur Verwunderung beim Gedanken daran, wie viele Menschen wohl genau diese Ausgabe der Zeitung in der Hand halten. Wir leben wahrlich in einem Zeitalter, in dem das Leben rasend schnell vonstattengeht.«
Nach diesen Worten nahm sein Vater einen Schluck Tee aus einer zierlichen Porzellantasse und hob die Zeitung wieder vor das Gesicht.
Lächelnd nickte Niccolo, auch wenn er die Gefühle seines Vaters nicht verstand und sie ihn im Augenblick auch herzlich wenig interessierten. Zeitungen waren vergänglich, nur für den Moment bestimmt, während das gedruckte Wort zu so viel mehr fähig war. Deshalb las Niccolo von den regelmäßig erscheinenden Druckwerken nur Magazine, und diese leider nur, wenn er sie überhaupt bekommen konnte. In diesen gab es neben Neuigkeiten und Artikeln auch Geschichten, die ihm oft das Blut in den Adern gefrieren ließen. Die Magazine waren fast so gut wie Bücher. Aber der Conte war in diesen Angelegenheiten sehr prosaisch; Bücher interessierten ihn nur, wenn in ihnen in langen Zahlenkolonnen die Geschicke seiner Unternehmungen aufgelistet waren.
Zufrieden nahm Niccolo das kurze Gespräch zum Anlass, das während der Mahlzeit herrschende Schweigen nun endgültig zu brechen. »Ich muss mich sputen. Es gilt noch so viel vorzubereiten.«
Er genoss den verwunderten Blick seiner Schwester.
»Was willst du vorbereiten?«
»Oh, hast du es noch nicht gehört? Ich gehe auf die Grand Tour.«
Ihre Antwort war nicht ganz das, was er erwartet hatte. Marcella prustete los und hätte beinahe ihren Kakao über den Tisch gespuckt, wenn sie nicht schnell ihre Serviette an die Lippen gehoben hätte. Hinter ihrer Deckung kicherte seine Schwester weiter, während ihr Vater, ohne von seiner Lektüre abzulassen, ein Schnalzen vernehmen ließ, das seinen Unmut unmissverständlich ausdrückte.
Marcella murmelte eine Entschuldigung, aber das freche Grinsen verschwand nicht aus ihrem Gesicht. Sie lehnte sich vor.
»Wer bist du? Der englische Lord Niccolo der Mutige?«
»Ich mache eine Bildungsreise«, erwiderte Niccolo indigniert und tupfte sich die Mundwinkel mit seinem eigenen Mundtuch ab. »Nach England. Und Frankreich. Vielleicht bereise ich auch den Orient.«
Jetzt schwieg Marcella und kniff die Augen zusammen.
»Du willst mich zum Besten haben, oder? Stimmt das, Papa?«
Der Conte ließ die Zeitung wieder sinken und sah seine Tochter an.
»Stimmt was, mein Kind?«
»Dass Niccolo auf eine große Reise geht? Eine Grand Tour?«
Missbilligend ließ der Conte seinen Blick von Marcella zu seinem Sohn schweifen. »In der Tat, er wird eine Bildungsreise antreten. Für einen jungen Mann seines Standes ist das mehr als angebracht.«
Triumphierend hob Niccolo das Kinn und ließ den erzürnten Blick seiner Schwester an sich abgleiten wie Wasser, das über eine Glasscheibe rann. Er konnte ihren Neid spüren. Sie war nur ein Kind, ein kleines Mädchen, das daheim bleiben würde, während er nun sein eigenes Schicksal in die Hände nahm. Aber zumindest bleibt sie in Valentines Gesellschaft. Der Gedanke hatte sich ungebeten in seinen Kopf geschlichen. Marcella kniff die Lippen zusammen und schwieg.
»Obwohl du immer sagst, dass der Krieg gegen Napoléon die schmutzigsten Elemente der Gesellschaft nach oben gespült hat und man sich dieser Tage seines Lebens nicht einmal in seinem eigenen Haus sicher sein kann?«, mischte sich nun eine neue Stimme von der Tür her ein. Niccolos Mutter, schmal und blass in ihrer Morgengarderobe, betrat das Esszimmer. Ihr straff zurückgebundenes Haar verlieh ihrem Gesicht eine kühle Strenge. Wie stets hatte sie sich das Frühstück in ihrem Schlafzimmer servieren lassen und kam nun lediglich zu ihnen, um ihrer Familie einen guten Morgen zu wünschen.
»Die Zeiten sind wieder ruhiger, meine Liebe. Und ein junger Mann kann nun einmal nicht die Welt vom Fenster seines Hauses aus kennenlernen. Und nun seid so gut, und lasst mich meine Zeitung lesen«, bemerkte ihr Gemahl mit einem abschließenden Blick auf seine Familie.
»Es gibt Banditen und wahnsinnige Mönche im Schwarzwald«, zischte Marcella leise.
»Und Bonapartisten, die nur darauf warten, den Sprössling einer angesehenen toskanischen Familie zu fangen und Lösegeld zu erpressen«, pflichtete ihre Mutter ihr bei.
»Gütiger Himmel!« Der Conte ließ die Zeitung sinken und hob die Stimme, die nun deutlich mehr als nur ein wenig verstimmt klang. »Niccolo wird diese Reise antreten, das ist beschlossene Sache. Und danach wird er zum Regiment gehen. Ich wünsche keine weitere Einmischung mehr, denn ich gedenke nicht, über diese Sache zu diskutieren.«
»Das ist gemein.«
Mit diesen Worten warf Marcella ihre Serviette auf den Tisch, sprang auf und lief mit wehendem Haar an ihrer Mutter vorbei aus dem Esszimmer. Verärgert blickte der Conte ihr nach, aber Niccolo versuchte ihn zu beruhigen: »Sie ist satt.«
»Und das bin ich wohl auch«, steuerte seine Mutter in sarkastischem Ton bei und drehte sich auf dem Absatz um.
Als beide Frauen den Raum verlassen hatten, schaute der Conte seinen Sohn Verständnis heischend an: »Frauen, Niccolo. So zarte Geschöpfe. Ihr Leben wird nur von ihren Gefühlen bestimmt. Ich rate dir, wenn du den Militärdienst abgeschlossen und ein Offizierspatent erworben hast, such dir eine Frau, die fromm, bescheiden und vor allem schweigsam ist. Damit handelst du dir den wenigsten Ärger ein.«
Damit nahm er seine Lektüre wieder auf, mit einem Gesichtsausdruck, der mehr als deutlich machte, dass er keine weitere Störung dulden würde.
»Danke, Vater«, murmelte Niccolo, mehr weil es ihm angemessen schien, als weil er dem Rat seines Vaters wirklich etwas abgewinnen konnte. Wer würde schon eine stumme Betschwester heiraten wollen? Der Conte sicherlich nicht, dafür war seine Mutter der lebende Beweis.
Während er sich erhob und auf die morgendlich kühle Terrasse hinaustrat, dachte er über die Worte seiner Schwester und seiner Mutter nach.
Natürlich wollte die Contessa ihn lieber in ihrer Nähe behalten, und Marcella hatte ihn nur erschrecken wollen und dabei lediglich einige der Gruselgeschichten wiedergegeben, aus denen Niccolo ihr selbst vorgelesen hatte. Aber dennoch zeigten ihre Worte Wirkung.
Die lichten Landstriche, die er bislang auf seiner geistigen Reiseroute befahren hatte, Länder mit großartiger Vergangenheit und ebensolcher Zukunft, wurden nun in seiner Vorstellung zu einem dunklen Ort, an dem sich die Ausgestoßenen versammelten, um sich an jenen zu rächen, die anders waren als sie selbst. Aus den an Heroen der Antike gemahnenden Gestalten wurden bucklige, missratene Wesen, deren verkommener Geist nur Tücke und Hass kannte. Er musste an die Geschichten von den lebendig Begrabenen denken und an die ausführlichen Berichte von Amputationen, die er in seinen Magazinen gelesen hatte. Niccolo schluckte und schalt sich selbst einen Narren, aber die Bilder wollten nicht weichen.
2
BENEVENTO, 1816
Es drohte, eine von diesen sehr speziellen Nächten zu werden. Diese Nacht würde ein Nachspiel haben, denn das Getöse konnte unmöglich unbemerkt geblieben sein, auch wenn sie in diesem abgelegenen Olivenhain nicht mit vielen Zuschauern rechnen mussten. Doch es würde Geld kosten und vieler Worte bedürfen, sowohl drohender als auch beschwichtigender, um zu verhindern, dass aus den Geschichten, die man sicherlich über diese kühle Nacht erzählen würde, mehr als nur Legenden wurden.
Gioana schob den Gedanken beiseite; sollten die Bauern in diesem gottverlassenen Landstrich doch von der Macht des Heiligen Stuhles hören und sie fürchten, wie es sich für gute Christenmenschen gehörte. Seine Eminenz, Kardinal della Genga, hatte ihr mehr als deutlich gemacht, wie wichtig ihre Mission war. Die Ängste der Landbevölkerung waren ein sehr kleiner Preis für den Erfolg.
Ein Heulen riss sie zurück in das Hier und Jetzt. Die Zukunft musste warten. Erst einmal galt es sicherzustellen, dass es überhaupt eine Zukunft für sie und ihre Untergebenen geben würde.
Das Leder ihrer Handschuhe knirschte, als sie ihre Finger kurz spreizte, bevor sie die Pistole aus der Schlaufe an ihrem Gürtel zog und sorgfältig lud. Ihre Lippen formten beinahe unbewusst einige Worte des Rosenkranzes. Qui pro nobis spinis coronatus est. Um sich herum hörte sie andere, die mit ihrem Schöpfer sprachen, ihn um Kraft und Beistand baten oder seine Gnade für sich und ihre Mitbrüder erflehten. Sie konnte sehen, wie Bruder Fernando ihr immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Offenbar bat er die Heilige Jungfrau nicht nur um Beistand gegen ihren Feind, sondern auch darum, der Versuchung durch Gioana zu entgehen. Beinahe hätte sie gelächelt. Der junge Bruder war zum ersten Mal mit ihr auf der Jagd, und seine Reaktion auf sie war ihr keinesfalls unvertraut. Nun, er würde sich daran gewöhnen. Zumindest, wenn er lange genug in Diensten des Kardinals überlebte.
Das, was sie jagten, kam durch den Olivenhain auf sie zu. Eine unnatürliche, gottlose Kreatur, eine Verhöhnung und Bedrohung der erhabenen Schöpfung gleichermaßen. Die anderen trieben das Wesen vor sich her. Immer wieder knallten Schüsse, doch im fahlen Mondlicht war zwischen den dunklen Bäumen noch nichts zu erkennen. Ihre Augen suchten den Feind, während sie weiterbetete. Qui pro nobis crucem baiulavit. Schon glaubte sie, dass sie entdeckt worden waren, trotz ihres Standortes, der ihnen Deckung hinter der niedrigen Natursteinmauer bot. Ihr Jagdobjekt war nicht nur gefährlich, sondern auch gerissen, und es wäre nicht das erste Mal, dass eine der Bestien durch die engen Maschen eines derart sorgfältig gespannten Netzes schlüpfte.
Aber das galt es zu verhindern. Im Schatten zweier weit auseinanderstehender Olivenbäume zeigte sich eine Gestalt, die geduckt rannte. Fast hätte man sie für einen Menschen halten können, doch sie war groß, viel zu groß für einen Nachfahren Adams, selbst mit weit nach vorn geneigtem Haupt. Sie lief mehr auf vier als auf zwei Beinen, und ihr dunkles Fell verschmolz geradezu mit den Schatten. Einzig das helle Glühen ihrer Augen hob sich davon ab.
Gioana lächelte.
Neben ihr sprang Bruder Fernando auf, die Muskete an die Schulter gelegt.
»Nein«, brüllte sie und griff nach ihm, doch es war zu spät; der Schuss löste sich. Sie verschwendete keinen Gedanken an die Dummheit des Bruders, sondern schob sich an der Mauer hoch und legte an.
»Jetzt! Feuer!«
In der Dunkelheit war nicht zu erkennen, ob Fernandos Schuss ein Treffer gewesen war, aber die Bestie war gewarnt worden und die Distanz zu ihr noch zu groß. Zwar war Gioana sicher, dass ihr Schuss das Monstrum getroffen hatte, und sie hörte es schmerzerfüllt jaulen, als die anderen Brüder schossen, doch es war zu wenig. Die Bestie stand noch, nein, sie lief sogar auf sie zu.
»Nachladen!«
Nicht alle waren so fest im Glauben wie sie selbst. Zwei ließen gar ihre Waffen fallen, der eine floh, der andere sank auf die Knie und betete inbrünstig mit geschlossenen Augen. So sah er zumindest nicht, wie das Monster neben ihm mit einem leichten Satz über die Mauer sprang.
Jetzt, direkt neben den Menschen, zeigte es seine wahre Größe, war es doch beinahe doppelt so groß wie Gioana selbst. Sein dichtes, zotteliges Fell roch nach Blut, und seine weißen, tödlichen Fänge glänzten im Mondlicht. Eine gewaltige Pranke riss Bruder Joseph von den Beinen. Der gestandene Bruder aus Bayern schrie nicht, als er zu Boden stürzte, während seine Innereien durch die Luft flogen. Die Bestie brüllte spöttisch, ein Laut, der Gioanas Zorn anfachte. Die Feinde der heiligen Kirche sollten nicht über sie triumphieren dürfen. Unablässig betete sie, während sie die silbrige Kugel in den Lauf stieß. Qui pro nobis crucifixus est. Dann riss sie die Waffe herum, zielte das Fragment eines Herzschlags lang und drückte erneut ab.
Das Siegesgeheul wurde zu einem Schmerzenslaut, aber noch immer stand das Monstrum aufrecht. Es fixierte Gioana mit seinen höllischen Augen, und sie sah darin ein Erkennen. Allzu viele Frauen gab es nicht in ihren Reihen. Mit einem verächtlichen Schlag riss die Kreatur Bruder Bernhardin die Kehle auf, so dass sein Kopf auf den Rücken klappte und sein nun führungsloser Körper zurücktaumelte. Das Monstrum stieß ihn weg und kam auf Gioana zu, die wieder begonnen hatte, ihre Pistole zu laden. Ein anderer Bruder schoss, aber die Kreatur beachtete ihn nicht; ihre Aufmerksamkeit galt allein ihr. Gioana erkannte, dass sie nicht fertig laden konnte, bis die Kreatur bei ihr war. Also griff sie unter ihre lederne Jacke und zog einen kleinen Beutel hervor. Sie hatte gehofft, niemals nah genug an eines der Wesen heranzukommen, um zu dieser Maßnahme greifen zu müssen, und sie konnte nur beten, dass ihre Vermutungen über die Art der Monster die Wahrheit trafen.
»Ehre sei dem Vater. Amen«, flüsterte sie, als das Wesen sich duckte und zum Sprung ansetzte. Sie riss die Leine des Beutels auf, verteilte seinen Inhalt in der Luft und warf sich zur Seite. Etwas traf sie an der Schulter, beschleunigte ihren Sturz und schleuderte sie schmerzhaft gegen die Mauer. Ihr Hinterkopf schlug gegen einen Stein, und die Welt um sie herum drohte, in Finsternis zu versinken.
Doch das schmerzerfüllte Jaulen ihres Feindes holte sie zurück, gab ihr etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte, um die Benommenheit abzuschütteln. Hände packten sie an den Schultern, zogen sie empor, und als sie erst wieder auf eigenen Füßen stand, klärte sich ihre Sicht. Aus dem Jaulen wurde ein Stöhnen.
Dort, wo eben noch ein riesiges pelzbedecktes Monstrum gestanden hatte, lag nun ein zuckender nackter Mann auf dem Boden, über dessen gebräunte Haut Blut lief. Er wirkte nicht alt, kaum älter als sie selbst, vielleicht war er in den Dreißigern. Doch wer konnte bei solch einem widernatürlichen Wesen schon sagen, wie alt es in Wahrheit war? Der Verführer, so hieß es, vermochte den Seinen ein unnatürlich langes Leben zu verleihen.
Die Silberkugeln, die sie zusätzlich noch in geweihtes Wasser getaucht und die Seine Eminenz gesegnet hatte, verhinderten, dass sich die Wunden der Kreatur wieder schlossen, wie es bei gewöhnlichen Verletzungen der Fall gewesen wäre.
Sie griff sich an die Stirn und besah sich dann ihre Finger; auf ihren Handschuhen waren dunkle Tropfen. Er war nicht der Einzige, der blutete.
»Fesselt ihn«, befahl sie knapp. Sie blickte zu den gefallenen Brüdern hinüber, doch jede Hilfe kam zu spät für sie. Diese Kreaturen töteten, wenn sie konnten, und Gioana war gewillt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Die Brüder warfen Stränge, die wie helle Seile wirkten, über den nackten Mann, aber Gioana wusste, dass es Kabel waren, die mit Silber beschichtet worden waren. Im niedrigen Unkraut neben der Mauer fand sie ihre Pistole, und sie kniete sich neben den Gefangenen, aus dessen Mund und Nase Blut lief. Er grinste sie an, mit roten, ebenmäßigen Zähnen. Keine Spur war mehr von den Fängen geblieben, die über seine Lippen geragt hatten, aber die Mordlust funkelte noch in seinen Augen.
»Ich habe vier von euch erwischt«, brachte er mühsam hervor. Interessiert betrachtete Gioana, welche Auswirkungen der Silberstaub auf ihn hatte. Das Ergebnis übertraf jedenfalls ihre Erwartungen.
»Ein Pyrrhussieg, passend für diese Gegend«, erwiderte sie gleichgültig. »Ihre Seelen sind bei Gott dem Herrn, in Ewigkeit. Die du in den Feuern der Hölle verbringen wirst.«
»Ihr seid … uns auf den Leim gegangen. Ich war nur die Ablenkung. Die anderen sind sicher.«
»Oh, du meinst, die Frau und die beiden Welpen?«
Ihre Worte ließen das blutige Grinsen auf seinem Gesicht ersterben.
»Wir haben ihre Leiber gestern bei Ascoli Satriano den Flammen übergeben. Du warst der Letzte. Das Benevento ist endlich von dir und deiner Art befreit.«
Seine Züge erstarrten zu einer Maske des Leids, und Tränen mischten sich mit dem Blut. Eigentlich hätte es Gioana erfreuen soll, doch innerlich hätte sie beinahe geflucht. Die letzten Jahre waren nicht gut gewesen für die heilige Mutter Kirche. Sie erinnerte sich an die gottlosen Zeiten, als die französischen Hunde alles mit den Füßen traten, wofür sie einstand, und die Arbeit der heiligen Kirche um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zurückwarfen. Aber Napoléon hatte auch sein Gutes gehabt: Manches, was sich sonst verborgen hatte, war aus seinen Löchern gekrochen, als es glaubte, dem Strom der Gottlosigkeit folgen zu können. Mancher hatte geglaubt, die Kirche sei endgültig gedemütigt worden. Die Feinde des Stuhls Petri hatten sich zu früh gefreut, und nun zahlten sie die Zeche für ihren Hochmut. Sie lud ihre Pistole.
»Anáthema estô.«
»Du bist kein Werkzeug Gottes«, zischte der Mann und starrte sie hasserfüllt an.
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, erwiderte sie ungerührt und schoss ihm ins Gesicht. Sein Leib bäumte sich auf, warf sich gegen die Kabel, doch jetzt war es genug Silber, dem er ausgesetzt war. Er erschlaffte und starb. Sie warf ihre Pistole auf seine Brust und befahl: »Verbrennt das.«
Die Brüder begannen mit den Vorbereitungen. Sie indes hatte andere Angelegenheiten, um die sie sich kümmern musste.
»Bruder Fernando?«
»Sí?«
»Dein Verhalten ist leider nicht tragbar für uns. Es hat zweien unserer Brüder den Tod gebracht und uns alle gefährdet. Ich will, dass du dich in Rom meldest. Bitte den Herrn um Vergebung. Meine kann ich dir nicht gewähren. In unseren Reihen ist kein Platz für dich.«
»Ja, Schwester.«
Es musste den Spanier schmerzen, von einer Frau derart gemaßregelt zu werden, doch das Ergebnis seiner Inkompetenz lag blutig vor ihrer aller Augen. Nach Gioanas Erfahrung waren die Spanier oft zu eifrig. Natürlich mussten sie alle einen gewissen Eifer mitbringen, um die Aufgaben des Herrn zu erfüllen, doch Fehler waren tödlich, und wieder einmal hatten sie einen hohen Preis für die Vollstreckung des Urteils gezahlt, das der Kardinal ausgesprochen hatte.
Inzwischen waren die anderen Gruppen zu ihnen gestoßen, die das Biest aus seinem Versteck und in die Falle getrieben hatten.
»Sendet dem Erzbischof in Benevento die Nachricht, dass Gottes Werk vollbracht ist. Und zehn Brüder sollen ausschwärmen und herausfinden, ob wir ungebetene Zuschauer hatten.«
Noch war sie unschlüssig, wie sie im Zweifelsfall vorgehen würde. Versprechungen von ewigem Seelenheil gepaart mit materiellem Lohn in dieser Welt brachten oft genug die besten Ergebnisse. Diese Gegend war wahrhaft von Gott gestraft worden. Hier hatte die Kirche jahrhundertelang einen düsteren Krieg gegen jene Ketzer geführt, welche in die Haut von Tieren zu schlüpfen vermochten. Einst sollten hier sogar Mauren und Sarazenen Königreiche errichtet haben. Noch immer war das Volk abergläubisch und leicht vom rechten Pfad abzubringen. Keine hundertfünfzig Meilen von Rom entfernt, gedieh hier die Saat der Dunkelheit, und es waren die gottlosen Krieger dieser neuen Zeit gewesen, die mit ihren Lügen und Häresien den Boden wieder einmal dafür vorbereitet hatten.
»Schwester! Schwester!«
Überrascht blickte sie sich um. Bruder Iordanus, der mit einigen Laienbrüdern abseits des Hügels am Wegesrand auf die Kutschen und Pferde aufgepasst hatte, kam mit wehenden Rockschößen zu ihnen gerannt. Seine Aufgelöstheit passte nur schlecht zu seiner üblichen besonnenen, ruhigen Art. Schon befürchtete Gioana, dass sie etwas übersehen hatten, dass es mehr der verfluchten Kreaturen gab, aber der Bruder schien nicht ängstlich, sondern nur aufgeregt zu sein.
»Ich habe Nachricht aus Rom, Schwester. Unsere Brüder jenseits der Alpen haben die Spur des Unholdes aufgenommen, den Seine Eminenz so dringlich sucht.«
Seine Erregung sprang auf Gioana über. Sie spürte, wie die beinahe obszöne Lust der Jagd in ihr aufwallte.
»Haben sie sein Versteck entdeckt? Sind sie sicher?«
»Ja, Schwester.«
»Beeilt euch. Wir brechen bald auf«, rief sie laut und packte Iordanus am Arm. Leise flüsterte sie ihm zu: »Endlich!«
3
AREZZO, 1816
Niccolo hatte all seinen Mut zusammengenommen. Er hatte lange überlegt, ob es der Situation angemessen wäre, Valentine Blumen zu kaufen oder ihr ein Gedicht zu schreiben, aber dann hatte er sich dagegen entschieden. Sollte sie seine Liebe nicht erwidern, würde er mit den Blumen in der Hand wie ein Idiot dastehen. Und seine Gefühle in Gedichtform auszudrücken, dazu fühlte er sich nicht in der Lage. Gern hätte er Valentine mit einem Epos bedacht, das an Schönheit und Empfindsamkeit dem Werther gleichkam, aber er zweifelte hinreichend an seinem Talent, um nicht mit einigen ungelenken Versen die einzige Gelegenheit zu ruinieren, die sich ihm vielleicht bot, ihr zu gestehen, was er für sie empfand.
Jetzt also war es so weit. In wenigen Tagen würde seine Reise beginnen, und er würde sich Valentine heute wie ein Mann offenbaren. Und wenn es wirklich eines Liebesunterpfandes bedurfte, dann hoffte er darauf, vielleicht eine Haarlocke von ihr erhalten zu können, natürlich im Austausch gegen eine der seinen. Ja, eine Locke: Das war viel besser als eine Blume oder ein Vers.
Noch einmal räusperte er sich, dann hob er die Hand, um an der Zimmertür seiner Schwester zu klopfen, bei der Valentine zu dieser Zeit des Tages sicher anzutreffen war. Aus dem Inneren des Raumes hörte er ein aufgeregtes Kichern und das Rascheln von Röcken. Er hatte noch nicht gegen das Holz geschlagen, als die Tür bereits aufgerissen wurde und Valentine vor ihm stand. Mit ihren sechzehn Jahren war sie nur wenig jünger als er, und sie reichte ihm bis knapp unter das Kinn. Schön im klassischen Sinn, hatte ihre Mutter das Mädchen nach ihrer Ankunft genannt und dabei besonders ihr Profil gelobt. Heute trug Valentine ein dunkelblaues Kleid, das ihre schlanke Taille besonders hervorhob. Ihre blonden Locken hatte sie mit einem gleichfarbigen Band am Hinterkopf gebändigt, und ihre Augen blitzten.
»Niccolo!«, rief sie erfreut, als sie seiner ansichtig wurde. »Ich wollte mich gerade auf die Suche nach dir machen.«
»Das trifft sich gut«, erwiderte der junge Mann lahm. »Denn ich wollte auch gerade zu dir.«
Nicht zum ersten Mal fühlte er sich in ihrer Gegenwart wie ein kompletter Narr.
»Ach ja?« Valentine ergriff seinen Arm, winkte Marcella zu und schloss die Tür hinter sich. »Ich bin so aufgeregt, ich kann es noch gar nicht glauben.«
Diese oder ähnliche Sätze hatte Niccolo eigentlich erst nach seinem Geständnis erwartet, deshalb brachten sie ihn nun umso mehr aus dem Konzept. Statt also, wie er es fest vorgehabt hatte, vor ihr auf die Knie zu sinken, führte er sie die Treppe in die Halle hinunter und fragte dabei im Plauderton: »Was ist denn vorgefallen, dass du so aufgeregt bist?«
»Marcella hat es mir eben erzählt. Dein Vater denkt, ich sollte die gute Gelegenheit nutzen und nach Hause zu meinen Eltern fahren.«
Die Bedeutung der Worte sickerte nur langsam in Niccolos Verstand ein. »Du wirst nach Hause fahren?«
»Ja, denk doch nur, und schon in wenigen Tagen! Ich werde dich auf dem ersten Teil deiner Grand Tour begleiten. Stell dir vor – wir können zusammen reisen. Ist das nicht wunderbar?«
Der junge Adlige fühlte sich wie betäubt. Wunderbar, oh ja. Er würde sich vor der Reise nicht von der Geliebten verabschieden müssen. Nein, sie würde in seiner unmittelbaren Nähe sein, zumindest, bis sie die Schweiz erreichten. Im Stillen sandte er ein Dankgebet zum Himmel, der ihm nicht nur Valentine als Reisebegleitung mit auf den Weg gab, sondern es ihm auch ersparte, ihr sein Geständnis zu machen, wenigstens für den Moment.
 
Niccolo hatte mit Tränen gerechnet, doch seine Mutter zeigte jene vornehme Zurückhaltung, die einer römischen Patrizierfamilie, deren Wurzeln gern bis in die Zeiten der Caesaren zurückverfolgt wurden, angemessen war. Sie hätte eine Statue aus dem antiken Rom sein können, mit der schmalen, geraden Nase und den ausdrucksstarken Augen. Sie wirkte beinahe ebenso kalt wie der Marmor einer Büste.
Stattdessen war es sein Vater, der, entgegen aller Voraussicht, sichtbar mit seinen Gefühlen kämpfte.
»Mach mich stolz, mein Sohn«, sagte der Conte nicht zum ersten Mal an diesem kühlen Frühjahrsmorgen, dessen grauer Himmel und beharrlicher Nebel der Schönheit der Toskana so wenig gerecht wurde. Die vertrauliche Anrede schmeichelte Niccolo, auch wenn sie wohl nur dem Augenblick geschuldet war.
»Denk an alles, was du gelernt hast«, warf seine Mutter ein und beugte sich zu ihm vor. Ihre ohnehin blasse Haut wirkte im Zwielicht noch heller. »Und schreib uns oft.«
Nun bekam ihre Fassade doch einen Riss, und ihre Unterlippe bebte. Bislang hatte Niccolo das traurige Gefühl des Abschiedes unterdrücken können, aber als er seine Mutter ansah, spürte er einen Druck in der Kehle, der es ihm unmöglich machte zu sprechen. Also nickte er lediglich, als sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.
Marcella stand in der Tür des Palazzos, unter dem verzierten steinernen Türsturz, der sie noch kleiner wirken ließ, als sie war. Sie hatte ihr Lieblingskleid angezogen, sattes Gelb mit hellen Blüten bestickt, und hielt die Puppe Mima fest an sich gedrückt. Noch hatte sie ihm nicht verziehen, dass er Arezzo verließ, ohne sie mitzunehmen, aber trotzdem trat er den Gang zu ihr an, die drei Stufen bis zur Tür empor, und sah sie einige Momente lang an.
»Wir brechen auf«, erklärte er. »Ich möchte mich von dir verabschieden.«
Er zuckte selbst ob der Förmlichkeit seiner Worte zusammen, aber bessere wollten ihm nicht in den Sinn kommen. Am liebsten hätte er sie umarmt, aber ihr kleiner Körper war so steif und abweisend, dass er es nicht wagte.
»Du und Valentine, ihr seid gemein, mich einfach allein zu lassen«, presste sie hervor.
»Wirst du an mich denken?«, fragte sie schließlich leise, ohne ihm in die Augen zu blicken.
»Natürlich, du Dummerchen. Ich werde dir ganz viele Briefe schreiben. Und ich bin mir sicher, Valentine wird dir auch schreiben. Wer weiß, vielleicht fahrt ihr sogar einmal zu einem Besuch in die Schweiz?«
Als sie ihm in die Arme sprang, lief ihm doch noch eine Träne über die Wange. Er kniete sich neben sie und drückte sie fest an sich.
»Vergiss mich nicht.«
Er war von der Wucht ihrer Worte geradezu betäubt. Lange hielten sie sich in den Armen, bis Niccolo sich unwillig von ihr löste. Auch ihr liefen Tränen über die Pausbacken, die sie ärgerlich mit dem Ärmel ihres Kleids abwischte, was ihr sicherlich die Schelte ihrer Mutter einbringen würde.
Bevor Niccolo sich wieder umwandte, tupfte auch er sich die Feuchtigkeit mit einem Taschentuch aus dem Gesicht, atmete einige Male tief durch und erlangte zumindest äußerlich wieder Ruhe.
Die vier Pferde vor der Kutsche scharrten bereits ungeduldig mit den Hufen. Das Gefährt war den deutschen Berlinen ähnlich und schon lange Jahre im Besitz der Familie, und dabei erst vor wenigen Jahren komplett überholt worden. Die Räder waren fast so groß wie Niccolo selbst, und die Kutsche bot mehr als genug Platz für ihn und Valentine. Sein Diener würde auf dem Dach mitfahren, ebenso wie die beiden Dienstmädchen Valentines. Ansonsten war auch das umfangreiche Gepäck auf dem Dach verstaut worden. Obwohl er ursprünglich geglaubt hatte, nur wenig zu benötigen, war Niccolo rasch eines Besseren belehrt worden und hatte nun neben einer Truhe auch noch einen großen Koffer und zwei Taschen voller Kleidung und Ausstattung bei sich, die seine Eltern auf der anstehenden Reise für unabdingbar hielten.
Noch einmal nickte er seiner Familie zu, dann stieg er die kleine Ausklapptreppe empor und nahm im düsteren Inneren der Kutsche Platz. Valentine saß ihm bereits gegenüber und lächelte ihn an. Sie konnte es offenkundig kaum erwarten, Arezzo zu verlassen und die Reise anzutreten, und ihre Begeisterung wirkte ansteckend auf Niccolo. Noch einmal holte er tief Luft, dann lächelte er zurück und klopfte mit der Hand gegen das Kutschdach.
»Aufbruch.«
Gemächlich setzte das schwere Gefährt sich in Bewegung und rumpelte über das Kopfsteinpflaster, fort vom Palazzo seiner Familie.
4
GENF, 1816
Sein Traum war die Erinnerung an eine Hatz. Weiße, endlose Felder und kalter Schnee im Mondlicht. Laufen, bis die Lungen brannten und nur noch der Leib existierte. Die pure Freude der ungezügelten Bewegung. Die eigenen, schier endlosen Kräfte, die ihn weiter und immer weiter trieben, ohne auch nur im Geringsten nachzulassen oder zu ermüden, bevor die Beute gepackt und gerissen war. Ein angenehmer Traum von ungezügelter Wildheit und einer reinen, düsteren Lust an der Jagd.
Die Wirklichkeit war weniger erquicklich. Der Boden unter seinem Körper fühlte sich an wie eine Melange aus hart und weich. Er fröstelte in der kühlen Luft, die ihn umgab, und seine Gliedmaßen zitterten vor Erschöpfung. Die Welt bestand nur aus Licht und Schatten, die sich zu keinem Bild formen wollten. Rasende Schmerzen brandeten durch seinen Geist, erstickten jeden Gedanken. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er von innen heraus bersten. Übelkeit ergriff ihn, so heftig, dass er sich nicht zurückhalten konnte, und er erbrach sich. Warmes Blut sprudelte über seine Lippen, lief über sein Kinn und auf seine nackte Brust.
»Sir?«
Verständnislos wandte er den Kopf in die Richtung der Stimme. Ein Teil von ihm wollte davonlaufen, fliehen, sich verstecken – aber er konnte sich nicht einmal aufrichten.
»Grundgütiger … hier!«, erklang die Stimme erneut, laut und aufgebracht. »Hier!«
Etwas legte sich auf ihn. Stoff, kratzig auf seiner Haut, aber doch warm. Langsam kehrte seine Sicht zurück, und die gestaltlosen Formen fügten sich zusammen. Ein helles Rechteck erschien vor ihm, das ein Gesicht einrahmte.
»Berger?«
Seine Stimme war wenig mehr als ein Krächzen, und als er sprach, spürte er den Geschmack des Blutes auf seiner Zunge, was ihn erneut würgen ließ.
Jemand brüllte im Hintergrund, ein lautes, aber dennoch gedämpftes Geräusch. Mehr Stimmen erklangen, aufgeregt durcheinanderredend. Er konnte sich nicht darum kümmern; sein Geist war bereits genug damit beschäftigt, seine Umgebung wahrzunehmen. Ein dunkler Ort, muffig und übelriechend. Weiße Flecken überall, Staub in der Luft. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Ein dunkler Mantel lag auf seiner Haut, doch an Beinen und Armen spürte er einen kühlen Lufthauch.
»Wo bin ich, Berger?«
Die Stimme des Bediensteten klang furchtsam und ratlos. »In einem Hühnerstall, Sir.«
Gegen seinen Willen musste er lachen. Peinvoll schüttelte es seinen Körper. Jeder Atemzug schmerzte, doch er konnte nicht aufhören.
»Und ich musste schon an Platon und seine Höhle denken«, presste er zwischen zwei Lachern hervor, aber sein Gegenüber sah ihn nur verständnislos an.
Eine tiefe Sorgenfalte bildete sich auf der Stirn seines Gegenübers, die ohnehin von Falten zerfurcht war. Der Schweizer wirkte beinahe durchgängig konsterniert, als würde ihm das Leben ohne Unterlass Scherereien bereiten. Zumindest in diesem Augenblick hatte er damit wohl nicht ganz Unrecht.
»Seid Ihr verletzt? Könnt Ihr aufstehen, Sir? Ihr solltet diesen Ort schnellstens verlassen. Ihr könntet … erkranken.«
Bergers kräftige Hände packten ihn und zogen ihn empor, bis er zunächst einmal aufrecht vor ihm saß. Die Lichter tanzten wieder vor seinen Augen, und in seinen Ohren rauschte es, als stünde er am Ufer des Flusses Styx. Erst einige vorsichtige Atemzüge später verlangsamte sich sein Herzschlag, und er verlor das Gefühl einer drohenden Ohnmacht.
»Schwach wie ein Welpe«, murmelte er, als Berger ihn an den Schultern packte und auf die Füße hob. Er wäre sofort wieder zu Boden gestürzt, wenn sein Diener ihn nicht festgehalten hätte. Fürsorglich schlang der Mann sich seinen Arm um die Schultern und gab ihm so Halt.
Als erwache er gerade aus seinem Traum, blickte er sich um. Sie befanden sich tatsächlich in einem Hühnerstall, durch dessen niedrige Tür Tageslicht fiel. Der Boden war mit Exkrementen bedeckt, und die ehemaligen Bewohner des Stalls, eine nicht unbedeutende Anzahl Federvieh, lagen tot auf dem Boden verteilt. Blut bedeckte ihr Gefieder, und noch immer schwebten kleine Federn in der Luft umher, aufgewirbelt durch Bergers Eintreten. Die Tiere waren alle tot, mit verdrehten Hälsen und blutigen Wunden. Von einigen Hühnern waren nicht mehr als achtlos fortgeworfene Köpfe übrig. Erneut regte sich Übelkeit in ihm, doch er kämpfte sie mit eisernem Willen nieder.
Er hob die Hände und betrachtete sie; getrocknetes Blut ließ die Finger steif werden, und dunkelrote Spuren zogen sich über seine Unterarme bis zu seinen Ellbogen. Überall klebten Federn. Als er die Finger spreizte, öffneten sich Risse im Blut.
Achtlos strich er sich mit den Kuppen über das Kinn und sah verständnislos auf die geronnenen Tropfen, die im schwachen Licht verführerisch glänzten. Beinahe hätte er dem Verlangen nachgegeben, sie abzulecken, doch der metallisch-saure Geschmack in seinem Mund hielt ihn davon ab.
»Sir? Sir?«
Berger redete eindringlich auf ihn ein.
»Ja, gehen wir«, erklärte er unsicher und wollte einen Schritt tun, doch sein Bein gab einfach unter ihm nach. Ohne Bergers Griff hätte er nicht einmal stehen können. Sein Diener führte ihn zu der Stalltür, hinter der ein grau-nebliger Tag wartete.
Er blinzelte in das trübe Licht, das trotz der dicken Wolken zu hell für seine empfindlichen Augen war.
»George! Um Himmels willen, Mann! Geht es dir … will sagen … meine Güte!«
Der Sprecher war ein junger, schlanker Mann, dessen dichtes schwarzes Haar in Locken in seine Stirn hing. Die buschigen Augenbrauen betonten seine dunklen Augen und gaben dem Gesicht etwas Geheimnisvolles, auch wenn das Kinn schwach war.
»Keine Sorge, Polly, es geht mir gut.«
»Du redest wirr«, entgegnete der Angesprochene, schon viel reservierter, und wies auf eine riesige, dunkelgrüne Kutsche, die vor dem schmutzigen Hof stand, zu dem der formidable Hühnerstall zweifelsohne gehörte. »Wir müssen dich rasch in die Unterkunft schaffen. Dort werde ich dich untersuchen. Wie du aussiehst!«
Ein anderer Mann wollte gestikulierend auf sie zukommen, doch er wurde von zwei kräftigen Gestalten aufgehalten, die ihm den Weg versperrten und ihn sanft, aber bestimmt daran hinderten, seiner Wut noch mehr Ausdruck zu verleihen.
»Bezahl dem Mann den ihm entstandenen Schaden, Berger. Großzügig. Er soll uns in bester Erinnerung behalten.«
Der Gedanke daran, in welcher Erinnerung der Bauer sie wohl tatsächlich behalten würde, ließ ein Kichern in seiner Kehle aufsteigen. Ein nackter Mann, eingehüllt in einen zu kleinen Mantel, das Gesicht besudelt mit Blut und Federn, dessen Hände wie die eines wahnsinnigen Schlachters wirken mussten und der von zwei besorgten Begleitern in ein wahres Ungetüm von einer Kutsche eskortiert wurde – von denen einer ihn so besorgt musterte, dass er der weinenden Muttergottes hätte Konkurrenz machen können. Doch, das Komische der Situation überwog bei weitem.
»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte der Bedienstete, ohne ihn jedoch loszulassen. Sie schritten über den matschigen Hof, und jeder Schritt kostete ihn so viel Kraft, als wäre er ein alter Mann. Er konnte nicht einmal sagen, wie lange sie für die knapp dreißig Fuß benötigten, aber schließlich saß er im Zwielicht der Kutsche, eingehüllt in den Mantel seines Dieners, bedeckt mit einer groben Pferdedecke, während sein Leibarzt und seine Diener versuchten, den wütenden Bauern mit Geld zu beschwichtigen und – wichtiger noch – sein Schweigen zu erkaufen.
Beinahe wäre er eingeschlafen, doch das Rumpeln, als die Kutsche sich in Bewegung setzte, weckte ihn aus seinem Dämmerzustand. Zu erschöpft, um die Augen zu öffnen, lauschte er dem Flüstern.
»Schlimmer als in Karlsruhe oder Brügge. Ich werde ihn zur Ader lassen müssen.«
Die Stimmen redeten weiter, aber er konnte ihnen nicht mehr folgen. Die Träume kehrten zurück. Auch wenn jede Faser seines Leibes schmerzte, hätte er sie niemals aufgegeben. Er würde Tage brauchen, um sich zu erholen, aber die Träume wogen dies auf, waren es mehr als nur wert.
Die Kutsche donnerte über unwegsame Landstraßen, und ihr beständiges Schaukeln sandte ihn wieder zurück zu den verschneiten Feldern, über die er endlos laufen konnte.
5
NAHE CHAMONIX-MONT-BLANC, 1816
Obwohl der Wind kalt pfiff, rührte sich Niccolo nicht. Er verschwendete im Augenblick keinen Gedanken an den Weg, die Kutsche oder seine Reisebegleiter. Allein der Berg war wichtig. Sein majestätisches weißes Haupt, das sie schon bei der Anfahrt gesehen hatten, wurde nun in ein leuchtendes Rot getaucht. Die letzten Sonnenstrahlen des Abends fielen durch eine schmale Lücke in der Wolkendecke, und aus einer farblosen Welt erhob sich der Mont Blanc wie ein strahlender Herrscher über seine Untertanen. Das Naturschauspiel war ergreifend, und der junge Italiener wagte angesichts der Schönheit kaum zu atmen. Er wünschte sich, ein großer Maler zu sein, um diesen seltenen Augenblick in seiner ganzen Erhabenheit auf Leinwand bannen zu können.
Es war nicht das erste Mal, dass Niccolo die Alpen sah, aber noch niemals hatte ihn der Anblick so berührt.
»Wundervoll«, hauchte Valentine neben ihm. Vorsichtig ergriff er ihre Hand, deren Finger ganz kalt waren. Sie erwiderte den Druck leicht, und die Berührung riss ihn aus seiner Andacht.
»Ja. Die ganze Fahrt über sieht man ihn nur als grauen, von Wolken umhüllten Schemen, und dann plötzlich zeigt er sich in seiner ganzen Pracht. Wir können uns glücklich schätzen, gerade heute an diesem Ort zu sein.«
Gemeinsam schwiegen sie noch einige Minuten, aber Niccolos Geist war nun abgelenkt von den schlanken Fingern in seiner Hand, und er konnte sich nicht mehr auf den Anblick des Berges, der immer weiter in Dunkelheit versank, konzentrieren. Was diesen Aspekt der Reise betraf, konnte er mehr als zufrieden sein, denn die gemeinsame Fahrt hatte ihn und Valentine einander noch näher gebracht, und mittlerweile machte sich der junge Italiener mehr als nur ein wenig Hoffnung, dass Valentine seine Gefühle erwiderte.
Dann traf ihn ein Tropfen, perlte von einer Haarlocke an seiner Schläfe ab und lief kühl über seine Haut. Das Loch in den Wolken schloss sich, und der Mont Blanc verschwand, wurde eins mit Himmel und Erde.