Die Schlacht der Trolle - Christoph Hardebusch - E-Book

Die Schlacht der Trolle E-Book

Christoph Hardebusch

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Beschreibung

Zwerge, Orks und Elfen waren gestern – jetzt schlagen die Trolle zu!

Die Trolle sind wieder da, und das ist auch gut so, denn in der Welt der Menschen braut sich Unheil zusammen – Unheil, das nur Trollpranken wieder ins Lot bringen können: Über 80.000 verkaufte Exemplare, wochenlang auf den Bestsellerlisten – nun geht es weiter! Erneut erweckt Christoph Hardebusch J.R.R.Tolkiens gefährlichstes Volk in einem schlagkräftigen Abenteuer zum Leben: das Fantasy-Buch des Jahres!

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Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Der Autor
Widmung
Dramatis Personae
Prolog
 
Kapitel 1
Kapitel 2
 
Copyright
HEYNE <
Das Buch
Nach einer jahrhundertelangen Fehde herrscht endlich Frieden im Land zwischen den Bergen. Die Trolle sind siegreich in ihr unterirdisches Reich zurückgekehrt, und die Wlachaken versuchen, die Folgen des blutigen Bürgerkrieges zu überwinden. Umso erstaunter ist der ehemalige Rebell Sten, als plötzlich eine Meute Trolle vor den Toren seiner Stadt erscheint. Sie werden von dem gewaltigen Kämpfer Pard geführt, der behauptet, dass die Trollin Anda die Macht über einen Großteil der Trolle an sich gerissen und den Anführer Druan getötet hat. Doch vor seinem Tod hat Druan sein Wissen seinem Zögling Kerr anvertraut, der Pard geraten hat, bei den Menschen nach einer Möglichkeit zu suchen, die unüberwindlich scheinende Trollkriegerin zu besiegen.
Auch an der Oberfläche von Wlachkis zieht ein neuer Sturm am Himmel auf: Gerade als Stens Schwester Flores und seine Frau Viçinia in der Stadt Turduj weilen, um mit den Masriden Friedensverhandlungen zu führen, wird die Festung von einem abtrünnigen Marczeg angegriffen. Aus den ehemaligen Todfeinden müssen nun Verbündete werden, wenn sie nur die kleinste Hoffnung haben wollen, zu überleben. Während seine Familie einen verzweifelten Kampf führt, muss Sten noch einmal Pard vertrauen und sich auf den Weg machen, um den Trollen beizustehen. Denn tief in den Eingeweiden der Erde wartet eine Bedrohung auf sie, die nicht nur das Volk der Trolle, sondern ganz Wlachkis zu vernichten droht …
Der Autor
Christoph Hardebusch, geboren 1974 in Lüdenscheid, studierte Anglistik und Medienwissenschaft und arbeitete anschließend als Texter bei einer Werbeagentur. Sein Interesse an Fantasy und Geschichte führte ihn schließlich zum Schreiben. Seit dem großen Erfolg seines Debüt-Romans »Die Trolle« ist er als freischaffender Autor tätig. Er lebt und arbeitet in Heidelberg.
 
Mehr zu Autor und Buch unter:
www.hardebusch.net
Für meine Liebe
Dramatis Personae
TrollePards StammDruanAnführer der Trolle an der OberflächeGrenaJunge JägerinKerrDruans ZöglingPardAnführer des Trollstamms unter TageRemmSpäherSekJägerVrokJunger JägerTurks StammCasJägerDrakJägerFörsSpäherJraxKriegerKeruStumme Trollin, HeilerinSchleicherSpäherTurkAnführerAndas TrolleAndaAnführerinArkJägerSbonJägerVerstorbeneRochAn der Oberfläche von einem Zraikas getötetZdamVon Marczeg Zorpad erschlagenWlachakenFreie WlachakenAndreşDiener in TeremiCostin KraleaBuravogt von Dabrân, einst Maler in TeremiFlores cal DabrânSöldnerin aus Teremi, Sten cal Dabrâns SchwesterIonna cal SareşHerrscherin über die Freien Wlachaken, auch genannt die Löwin von Désa, Sitz in TeremiIstran OhanescuAdliger an Ionnas HofKalineGeistseherin an Ionnas HofLareaWirt in TeremiLeanna cal PaşcaliAdlige an Ionnas HofLivianHeilerinManiuSoldat in TeremiMicon cal DoleormanBojar von DoleormanNeagaşKrieger aus dem MardewRajavSoldat in TeremiRicleaVerwalterin in DabrânŞten cal DabrânBojar von Dabrân, Vicinias GemahlVangeliuGeistseher VVasileSoldat in DabränViçinia cal SareşIonna cal Sareş‛ Schwester, Ştens GemahlinHorische Personen und andereAnéaHistorische KöniginLéanHistorische KöniginNatiole TârgusiRebell aus dem MardewRaduHistorischer erster König, auchgenannt der HeiligeTireaHistorischer letzter KönigMasriden und SzarkenHof der BekesarsFerálSoldatGyula BékésarHerrscher über das Čireva, Sitz in TurdujIgnácWaffenmeisterIrinyiSoldatinKövesSpäherMaiskaSoldatinOdönBaró im ČirevaRurjosBaró im ČirevaSanyásPriester des Albus SunaşSzábSoldatTamár BékésarMarczeg Gyulas SohnHof der Szilas’Laszlár SzilasHerrscher über das Valedoara, Sitz in BračazHistorische Personen und andereArkas DîmminuHistorischer KönigSciloi KaszónZorpads rechte HandZorpad DimminuHistorischer MarczegDyrierAttagaSargans ZeremonienmeisterinBalaosSargans LeibwächterGermereSargans Tänzerin und UnterhalterinSargan VulponEhemaliger SpionElfenRuvonEin Anführer des ElfenvolkesTarlinGeistseher des Elfenvolkes
Prolog
 
 
Tief in der Welt, verborgen unter Fels und Stein, lag der Dunkelgeist in tiefem Schlaf. Hier gab es keine grausame Sonne, keinen scharfen Wind, kein Spiel von Tag und Nacht; nur ewige Dunkelheit und Ruhe. Die Wärme der Welt legte sich um seinen Leib, hielt die Kälte fern, die aus seinem Inneren zu strömen drohte.
Die Schmerzen waren nichts mehr als eine ferne Erinnerung. Vielleicht nicht einmal das. In seinem zerschmetterten Geist verschwammen Wirklichkeit und Traum, Wachen und Schlafen, bis alles eins war.
Weit über seinem Versteck bedeckte Schnee das Land. Er konnte die Kühle des weißen Mantels spüren. Das Land schlief; das Leben hatte sich zurückgezogen und wartete auf den Frühling.
Die Ruhe erfreute den Dunkelgeist, auch wenn er nicht wusste, warum.
War das Land in Aufruhr, dann wurden seine Träume finster und seine Erinnerungen blutig. Waren seine Träume und Erinnerungen finster und voller Blut, dann geriet das Land in Aufruhr.
In den Gebeinen der Welt spürte er seine Kinder ihren endlosen Weg ziehen. Viele Bilder tanzten in seinem Geist umher; Bilder, deren Bedeutung er nicht mehr begreifen konnte. Sie ergaben keinen Sinn, auch wenn eine leise Stimme schrie, dass dies einst anders gewesen sei. Doch auch die Stimme sprach wirr, unverständlich, war voller Lügen und Widersprüche. Das Wissen darum kratzte an seinem Geist und schlug ihm Wunden.
Sein Leib war gebrochen, sein Geist zersprungen.
Etwas näherte sich, ein Kind der Felsen und der Steine. Angst durchströmte den Dunkelgeist. Er spürte Ehrerbietung, Zorn und Hass.
Dann kamen die Schmerzen, die ihn aus seinen Träumen rissen und in die grausame Welt zurückholten, wo alles finster und ohne Bedeutung war.
1
 
 
Die Schreie hallten durch die Gänge und Höhlen, wurden von den Felswänden zurückgeworfen und erklangen als Echos, sodass die Rufe der Verfolger aus allen Richtungen zugleich zu kommen schienen. In dem engen Tunnel wirkten ihre Schreie wie die einer Hundertschaft blutrünstiger Monstren. Das kleine, schwache Licht schaukelte beim Laufen und warf verzerrte Schatten an die vorbeihuschenden Wände. Die Jäger, die sie verfolgten, holten rasch auf. Ihre geschärften Sinne wiesen ihnen sicher den Weg zu ihrer Beute. Und ihre Beute, das sind wir, dachte Kerr verzweifelt, der die Anstrengung ihrer schon viele Dreeg dauernden wilden Flucht in jedem Muskel seines Leibes spüren konnte. Erschöpfung und Müdigkeit hatten sich längst bleiern auf ihn gelegt, doch Kerr zwang sich, weiterzulaufen, denn ein Innehalten hätte den sicheren Tod bedeutet. Dennoch fragte er sich, wie weit er wohl noch rennen konnte, bevor er einfach zusammenbrach.
»Noch ein Stück«, schnaufte Druan hinter ihm, als könne er die Gedanken des jüngeren Trolls lesen. »Wir haben es gleich geschafft!«
Für mehr als ein bestätigendes Grunzen reichte Kerrs Atem nicht, und selbst dieses ließ ihn nach Luft ringen. Doch dann spürte er Druans Hand auf seiner Schulter, die beruhigende Gegenwart des erfahrenen Trollkämpfers, und seine Atmung wurde wieder regelmäßig, auch wenn seine Brust brannte und er das Gefühl hatte, jeden Augenblick ersticken zu müssen.
»Nur noch ein Stück«, wiederholte der Troll, und Kerr hoffte still, dass er recht haben mochte, denn die Rufe der Jäger wurden immer lauter und schienen immer näher zu kommen. Das Licht genügte kaum, um die Umrisse der Felsen zu erkennen, zwischen denen sich die beiden Trolle einen Weg bahnten, doch selbst in absoluter Dunkelheit hätte sich Kerr am Atem der Berge orientieren können, der über den Stein strich und in Kerrs Geist Bilder von allem entstehen ließ, was ihn umgab.
Ein stetig zunehmender Luftzug auf seinem Gesicht versprach Kerr bald, dass sie sich tatsächlich ihrem Ziel näherten. Längst wusste der junge Troll nicht mehr, wo sie sich befanden. Die Gänge waren ihm nicht vertraut, das Gestein wirkte an dieser Stelle dunkler und rauer als in den Höhlen, in denen er bisher gelebt hatte. Die Wärme der Luft auf seiner Haut sagte ihm, dass er und Druan auf ihrer Flucht immer tiefer in die Eingeweide der Welt eingedrungen waren. Unvermittelt zuckte die Erinnerung an rot glühendes, flüssiges Gestein in ihm auf, das ohne Vorwarnung aus dem Boden brach und selbst die größten und stärksten Trolle verschlang. Diese Hinterhältigkeit der kleinen Bastarde ist vorbei, beruhigte Kerr sich selbst, Druan, Pard und Anda haben ihre Pläne durchkreuzt. Dennoch erschauderte er bei der Erinnerung an die Zeit, als die Erde selbst sich gegen die Trolle gewandt hatte.
Dann öffnete sich vor ihnen der Gang zu einer gewaltigen Kaverne, in deren Dunkelheit sich das sanfte Leuchten ihres Pilzlichts verlor. Selbst hier, in dieser großen Höhle, konnte Kerr den langsamen, stetigen Herzschlag des Landes spüren: ein unbestimmter Druck tief im Leib, langsam anschwellend, als würde die ganze Welt vibrieren, nur um schließlich langsam zu verebben. Jeder Troll spürte den Schlag des Herzens, der seit Urzeiten Dreeg genannt wurde, manche stärker, manche schwächer. Aus Druans Erzählungen wusste Kerr, dass man ihn selbst an der Oberfläche fühlen konnte, dass sogar die Länder fern der Knochen der Welt, Länder, die unter dem schrecklichen Himmel lagen, von dem Schlag des uralten Herzens erfüllt waren. Der Gedanke an die Oberwelt, auf der man dem gnadenlosen Blick der ewigen Weite des Himmels ausgesetzt war, jagte Kerr Angst ein, denn er hatte noch nie die schützenden Tunnel und Höhlen seiner Heimat verlassen.
»Der Graben«, erklärte Druan und wies nach vorn, ohne anzuhalten. Auch Kerr rannte weiter, doch plötzlich spürte er ein flaues Gefühl im Magen. Wie zur Bestätigung verlangsamte Druan seinen Schritt und sah sich wachsam um.
»Was?«, begann Kerr, da hob Druan abwehrend die Hand und sog prüfend die Luft durch die Nüstern. Verwirrt blickte Kerr sich um, doch der kleine Ballen fluoreszierender Pilze in seiner Hand leuchtete nur wenige Trollschritte weit und half kaum, in der Höhle etwas zu erkennen. Der junge Troll schloss die Augen und verließ sich nur noch auf seine anderen Sinne. Warme Luft aus den Tiefen des Grabens strich über seine Haut, und das leise Rauschen des ewigen Luftstroms drang an seine Ohren. Es roch gut, erdig und alt, doch noch ein anderer Geruch lag in der Luft.
»Trolle!«, murmelte Kerr, und Druan nickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Jagdrufe verstummt und von einer tödlichen Stille ersetzt worden waren, die noch furchteinflößender wirkte als der Lärm zuvor.
»Wenn ich es dir sage, läufst du, Kerr«, befahl Druan leise.
»Aber …«, wollte der junge Troll widersprechen, doch ein leises Kratzen vom Rand des Grabens her ließ ihn verstummen.
»Sie sind hier«, flüsterte Druan.
»Wir müssen den Graben erreichen.«
Mit einem Nicken setzte sich Druan wieder in Bewegung, doch anstatt zu rennen, schlich er leise in Richtung des Grabens.
»Vielleicht ist es Pard«, vermutete Kerr. Doch der ältere Troll antwortete nicht. Kerrs Haut prickelte, und seine Rückenmuskeln verkrampften, da er jeden Augenblick mit einem Angriff rechnete. Unbewusst öffnete und schloss er die linke Hand, während er mit dem kleinen Pilzlicht in der Rechten den Weg erleuchtete. Die schweren Tritte der rennenden Verfolger ließen den Felsboden vibrieren. Kerr konnte es mit seinen bloßen Sohlen spüren. Dort draußen in der undurchdringlichen Dunkelheit bewegte sich noch etwas, leise, fast unhörbar. Noch ehe er Druan warnen konnte, knurrte dieser schon kehlig und fletschte die Zähne. Angestrengt starrte Kerr in die Finsternis. Einen Herzschlag lang glaubte er, eine huschende Bewegung zu sehen, dann war es vorbei, und er wusste nicht, ob er es sich nur eingebildet hatte. Unvermittelt zischte Druan: »Lauf!«
Verwirrt blickte Kerr den älteren Troll an, der sich mit einem Schrei nach vorn warf. Aus den Schatten lösten sich zwei Gestalten, groß und ungeschlacht, die Druans kämpferisches Brüllen erwiderten. Die zwei Angreifer stürzten sich auf Druan, der sich unter dem Schlag des einen hinwegduckte und den anderen ansprang. Dumpf prallten die Leiber aufeinander, Klauen kratzten über harte, hornige Haut, Fangzähne gruben sich in Fleisch. Obwohl sein Gegner größer als er selbst war, gelang es Druan, ihn zum Taumeln zu bringen, und schließlich gingen die beiden Kontrahenten in einem Gewirr aus Gliedmaßen zu Boden. Der andere Gegner wandte sich den Kämpfenden zu, sodass er Kerr den Rücken zudrehte. Ohne an Druans Befehl zu denken, warf sich der junge Troll auf den Feind, gerade als dieser Druan packen wollte. Der Klumpen Pilze klatschte auf den Boden und ließ die Schatten tanzen.
Die raue Haut schmeckte bitter, als Kerr seine Fänge in die Schulter des Angreifers grub. Zähflüssiges, dunkles Blut quoll aus der Wunde und hinterließ einen seltsam erdigen, unbekannten Geschmack auf Kerrs Zunge, doch er kümmerte sich nicht darum, sondern riss seinen Kopf zurück und einen Brocken Fleisch aus der Schulter des Feindes, der schmerzerfüllt aufbrüllte.
»Lauf!«, erklang Druans Stimme seltsam gedämpft, doch Kerr hörte nur das Brüllen seines Gegners, dem er wieder und wieder die Pranken in den Rücken schlug. Nichts war wichtig, außer seinen Feind zu töten, zu zerfetzen, Blut zu schmecken und seine Schmerzen und seine Angst zu riechen. Druan war vergessen, die eigene Furcht war vergessen, als der gegnerische Troll herumwirbelte und die Zähne fletschte. Kerr beantwortete die Herausforderung mit einem Brüllen und sprang in die ausgebreiteten Arme seines Feindes. Die Wucht des Aufpralls trieb den großen Troll einige Schritte zurück, seine Klauen rissen Haut und Fleisch von Kerrs Rücken und gruben sich in seine Seite. Wieder biss der junge Troll zu, diesmal in den Hals, seine Arme drückten den Feind an sich, ließen ihn nicht zurückweichen, während Kerrs Fänge Muskeln und Sehnen durchtrennten.
Schläge prasselten auf Kerr nieder, trieben ihm die Luft aus der Brust, aber er ließ nicht los, schnappte immer wieder zu, grub sein Maul tiefer. Schließlich packte sein Feind Kerrs Kopf und drückte ihn zurück, weg von dem Hals, von dem Fleisch und dem Blut. Aufheulend wand sich der junge Troll, doch die Pranken seines Gegners waren unerbittlich stark.
Mit einem Ruck riss der andere Troll Kerr von sich weg und schleuderte ihn zu Boden. Hustend blickte der junge Troll auf und sah, wie sein Feind eine Hand, zwischen deren Fingern dunkles Blut hervorquoll, auf die klaffende Wunde presste. Noch einmal musste Kerr husten und spuckte einen Schwall Blut aus. Verwundert fragte er sich, ob es seines oder das des Feindes war, in dessen Miene sich Verachtung zeigte. Kerrs Zorn und Wut waren plötzlich verflogen, ebenso schnell, wie sie über ihn gekommen waren. Irgendwo in der Dunkelheit knurrten und keuchten Druan und dessen Gegner.
Vorsichtig richtete sich Kerr auf, jederzeit auf einen Angriff gefasst, doch sein Feind grinste nur bösartig.
»Steh auf«, fauchte der große Troll mit rauer Stimme. »Lass es uns zu Ende bringen!«
Ohne die Augen von seinem Gegner zu nehmen, streckte Kerr seine Arme aus und ballte die Hände zu Fäusten. Unbewusst knirschte er mit den Zähnen, während er die mächtigen Muskeln seines Feindes musterte. Der andere Troll war sicherlich ein bis zwei Köpfe größer als Kerr und von massiger Gestalt. Seine Haut war dunkel und von kleinen Wölbungen übersät. Für einen Augenblick schien es Kerr, als ob diese Beulen sich bewegten, als ob etwas unter der Haut des Trolls entlangkroch, wie Insekten vielleicht. Verwundert schüttelte Kerr den Kopf. Schatten, dachte er, mehr nicht. Aber ja, sie sind anders. Die Augen. Tatsächlich waren die Augen seines Gegners von einer tiefen Schwärze erfüllt, dunkler als Kerr es jemals bei einem anderen Troll gesehen hatte. Sie wirkten eher wie Löcher in dem breiten Gesicht, denn ihnen fehlte der gelbe Rand.
Vorsichtig umkreisten die Trolle einander, bis der Große stehen blieb und die Hand von der Wunde nahm. Genüsslich leckte er sich das eigene Blut von den Fingern und sah Kerr amüsiert an. Erstaunt erkannte dieser, dass von der Bisswunde kaum eine Spur zu entdecken war. Unter dem Blut konnte er neue Haut sehen, die sich bereits jetzt dort spannte, wo Kerr vor wenigen Augenblicken noch gewütet hatte. Entsetzt blickte der junge Troll auf die blutige Hand seines Feindes.
»Du kannst mich nicht besiegen«, erklärte der große Troll gelassen, als hätte er Kerrs Gedanken gelesen. »Wir sind wahre Trolle. Schließ dich uns an, noch kannst du es.«
»Nein«, keuchte Kerr und biss die Zähne zusammen.
»Dann wirst du sterben!«
»Es ist falsch«, entgegnete der junge Troll wild.
»Falsch?«, der große Troll lachte böse auf. »Wie kann es falsch sein zu siegen? Wie kann es falsch sein, unsere Feinde zu vernichten?«
In der Dunkelheit verstummten die Geräusche der anderen Kämpfer. Siegessicher blickte der Troll Kerr an: »Dein Freund ist tot. Jetzt bist du dran.«
Verzweifelt lauschte der junge Troll in die Finsternis, blickte aus den Augenwinkeln nach links und rechts, doch Rettung war nirgends in Sicht. Seine Arme und Beine fühlten sich schwer an, erschöpft vom langen Laufen und dem heftigen Kampf. Sein Rücken schmerzte von den machtvollen Hieben seines Feindes. Doch all diese Empfindungen schwanden nun, sanken in seinen Leib hinab und flossen aus seinen Füßen in den Stein der Berge. Stattdessen ergriff eine Kälte von ihm Besitz, als wäre er bereits tot. Ich kann gegen sie beide nicht gewinnen. Und es kommen noch mehr von ihnen. Aber ich kann einen von ihnen mitnehmen.
Vor wenigen Augenblicken hatte der drohende Tod ihm noch Angst eingejagt, jetzt bedeutete er nichts mehr. Kerr sammelte noch einmal seine Kräfte, spannte seine Muskeln an. Da tauchte Druan hinter dem Gegner auf, blutüberströmt und mit tiefen Wunden übersät. Überrascht zögerte Kerr einige Herzschläge, als Druan mit einem wütenden Schrei über den Troll herfiel. Während dieser herumwirbelte, sprang nun auch Kerr nach vorn und packte einen Arm. Druan hatte seine Fänge in die Schulter des anderen geschlagen, während Kerr ihn nun zu Boden zog. Gemeinsam drückten sie den Feind mit dem Gewicht ihrer Körper nach unten und schlugen auf ihn ein.
»Lauf!«, befahl Druan wieder, und für einen Moment sah Kerr die Augen des älteren Trolls aufblitzen. Obwohl seine Instinkte dagegen rebellierten, obwohl er nichts sehnlicher wünschte, als den Leib seines Feindes zu zerfetzen, erhob er sich taumelnd und stolperte davon. Weit kam er jedoch nicht, denn mehrere Gestalten lösten sich aus der Dunkelheit und schnitten ihm den Weg in Richtung Felsspalte ab. Entsetzt erkannte Kerr weitere riesige Trolle. Bevor er reagieren konnte, waren zwei bei ihm und packten ihn mit eisernem Griff. Ohne seine Versuche, sich zu wehren, zu beachten, schleiften sie ihn wortlos zurück zu Druan und dem anderen Troll, die widerwillig voneinander abließen, als eine tiefe Stimme rief: »Genug!«
Keuchend kniete Druan am Boden, während sein Gegner langsam aufstand und einige Schritte zurücktrat. Erst jetzt sah Kerr die Gestalt, die gesprochen hatte. Es war ein gewaltiger Troll, größer als jeder andere, den Kerr jemals gesehen hatte. Die Kreatur stand am äußersten Rand des Lichtkreises, als ob sie selbst den schwachen Schein verabscheuen würde. Nur ein dunkler Schatten war zu sehen, doch strahlte dieses Wesen eine unfassbare Macht aus, die jeden Gedanken an Gegenwehr in Kerr einfach auslöschte.
»Du hast versagt, Druan«, ertönte die Stimme erneut.
»Nein«, widersprach der Troll und richtete sich mühsam auf.
»Ein Mal noch biete ich dir meinen Weg an. Unseren Weg.«
»Lass die Spielchen, Anda«, sagte Druan müde. »Bringen wir es zu Ende.«
Verblüfft blickte Kerr zu der monströsen, dunklen Gestalt. Das ist Anda? Aber sie ist riesig, noch größer als Pard! Das kann nicht sein!
»Wirf dein Leben nicht weg«, antwortete Anda und riss Kerr damit aus seinem entsetzten Staunen. »Ich kann einen Troll wie dich an meiner Seite gebrauchen. Stark, schnell, schlau. Einen Krieger.«
»Du hast mich beinahe zu dem gemacht, was du selbst bist«, entgegnete Druan gepresst. »Ich habe getötet. Trolle getötet! Aber ich werde nicht leben wie du!«
»Du? Getötet?«, fragte Anda lachend. »Wohl kaum.«
Auf einen Wink von ihr trat ein Troll in den Lichtschein, dessen Leib von tiefen Narben überzogen war, die jedoch alt und verheilt wirkten.
»Tut es weh, Ark?«, fragte die Trollin, und der Vernarbte schüttelte grinsend den Kopf. Mutlos sah Kerr, wie Druan ein wenig in sich zusammensackte, doch dann riss er erstaunt die Augen auf, als der ältere Troll keuchend lachte.
»Ihr könnt nicht gewinnen«, zischte Anda, »dafür seid ihr nicht Troll genug!«
»Ich bleibe ich«, konterte Druan und warf Kerr einen drängenden Blick zu, »das wirst du nicht ändern. Also beweg deinen Hintern hierher und bring es zu Ende!«
Mit diesen Worten brüllte Druan auf und warf sich in Richtung des kümmerlichen Häufchens Leuchtpilze. Mit einer Hand schleuderte er die Pilze in Richtung Kerr und wandte sich dann wieder Anda zu, die unbewegt dastand - anders als Kerrs Wächter, die vor dem Licht zurückzuckten, als wäre es brennendes Feuer. Ohne nachzudenken, riss sich Kerr los und rannte in die Dunkelheit. Hinter sich hörte er animalisches Brüllen, Schmerzenslaute und Schläge, doch er kümmerte sich nicht darum, sondern lief immer weiter, bis er den Eindruck hatte, dass die Felsspalte ganz nah sein musste. Seine Augen waren in der umfassenden Dunkelheit nutzlos, doch als er langsamer wurde, spürte er den Wind, der über den Stein strich, hörte die Echos der Schreie, die von den Felswänden abprallten. Er verließ sich nun ganz auf seine anderen Sinne, trat vor bis an den Rand der Spalte und ließ sich hinab in die unbekannte Tiefe.
Immer noch erklangen Gebrüll und Kampfeslärm.
Voller Trauer und Zorn dachte Kerr, dass dies wohl das Letzte war, was er von Druan hören würde. Und er versprach ihm ebenso wie sich selbst: Ich werde Pard finden.
Dann verklangen die Geräusche über ihm, und nur das Pfeifen des Windes blieb. Langsam, Stück für Stück, stieg der junge Troll hinab. Seine tastenden Hände und Füße suchten geübt nach Halt und fanden auch die kleinste Spalte. Schon wähnte er sich in Sicherheit, da drang ein Ruf zu ihm hinab: »Kerr!«
Sofort hielt er inne und wagte kaum zu atmen.
»Die Dunkelheit hat keine Geheimnisse mehr vor uns, Kerr, es hat keinen Sinn, sich zu verstecken!«
Unwillig, der Stimme glauben zu schenken, aber im Innersten davon überzeugt, dass sie die Wahrheit sprach, antwortete Kerr: »Wenn ihr mich wollt, müsst ihr mich holen!«
Ein Lachen antwortete ihm, dann regneten um ihn herum Steine herab, prallten mit Getöse gegen die Felswand und schlugen tief unter ihm auf den Boden der Felsspalte.
»Ich denke nicht, junger Troll. Kämpfe an unserer Seite, sei, was du wirklich bist! Hilf uns, all unsere Feinde zu vernichten!«, ertönte Andas Stimme.
»Ihr seid keine Trolle!«, schrie Kerr, der an Druans geschundenen Leib denken musste, voller Hass.
»Wir sind mehr Troll, als du dir vorstellen kannst«, verhöhnte ihn Anda und ließ weitere Steine auf Kerr niederprasseln. Schmerzhaft schlugen die Geschosse auf seine Schultern und Arme, und als eines seinen Kopf traf, dachte Kerr für einen Moment, er würde den Halt verlieren. Doch seine Finger ließen nicht los, auch wenn er ein Stück wegsackte, und so hing er einige wilde Herzschläge lang an der Felswand, bevor er sich wieder fing.
»Trolle töten keine Trolle!«, rief er, nur um leise für sich zu wiederholen: »Trolle töten keine Trolle.«
Nur diese Worte gingen durch seinen Kopf, immer wieder, denn die Ungeheuerlichkeit dessen, was er kurz zuvor beobachtet hatte, ließ sich kaum fassen. Seit Urzeiten galt diese Regel, der alle Trolle folgen sollten. Niemand brach sie, der Gedanke allein war undenkbar, die Tat unmöglich. Doch nun galt das nicht mehr, denn die Stille oben konnte nur bedeuten, dass Druan tot war, erschlagen von den Trollen seines eigenen Stammes.
»Wie du willst«, hallte Andas Stimme von oben. »Du bist es nicht wert, die neuen Wege zu beschreiten. Trolle töten. Trolle töten alles, was sich ihnen entgegenstellt. Keine Flucht mehr, keine Niederlagen! Wir sind Trolle!«
Die letzten Worte hatte die Trollin hinausgeschrien, und sie kehrten als Echo zurück, wehten durch die Höhle und den Felsspalt: »… sind Trolle … Trolle … Trolle.«
Die Macht in diesen Worten fuhr Kerr durch Mark und Bein, und düstere Verzweiflung ergriff Besitz von ihm, denn er begann zu ahnen, dass Anda und die Trolle, die ihr folgten, unbarmherzige Jäger sein würden.
»Trolle töten keine Trolle«, gab er zurück, doch selbst in seinen eigenen Ohren klang seine Erwiderung schwach und zittrig.
»Wie du willst«, wiederholte Anda abfällig, »dann folge doch einfach Druan.«
Aus mehreren Kehlen ertönte ein tiefes Lachen, das Kerr nicht deuten konnte, dann prallte etwas Schweres gegen ihn, etwas Feuchtes, das ihn von der Wand riss und unaufhaltsam in die Tiefe stürzen ließ. Ein Schrei löste sich von seinen Lippen. Ein letztes Mal fuhr es ihm durch den Kopf: Trolle töten keine Trolle! Dann schlug er auf dem harten Felsboden auf, und die Dunkelheit verschlang ihn ganz.
 
Stimmen rissen ihn wieder hinauf, auch wenn die Rückkehr in seinen Körper schier unerträgliche Schmerzen bedeutete. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Jemand träufelte ihm einige Tropfen lauwarmen Wassers auf die Lippen. Irgendwo in einigen Schritt Abstand war eine schwache Lichtquelle, die jedoch mehr Schatten als Licht zu spenden schien. Massige Gestalten, deren Gesichter im Schatten lagen, standen um Kerr herum.
»Kerr?«, fragte eine vertraute Stimme, die der junge Troll nach kurzem Grübeln als die Pards erkannte.
»Ja«, krächzte er zur Antwort.
»Was ist geschehen?«
»Sie … sie haben Druan getötet. Und mich von der Felswand gestoßen«, antwortete Kerr langsam, denn jeder Atemzug ließ einen stechenden Schmerz in seiner Brust aufflammen.
»Wie viele?«
»Ich weiß nicht. Viele. Anda war dabei.«
»Anda!«, knurrte Pard mit tiefem Grollen.
»Sie haben Druan oben getötet. Sie haben ihn bestimmt mitgenommen.«
»Nein. Er ist hier«, erwiderte Pard und deutete hinter sich, wo ein Troll sich gerade über eine am Boden liegende Gestalt hermachte.
»Sie haben ihn … sie haben ihn hinuntergeworfen? Sie haben nicht sein Fleisch genommen?«
»Nicht einmal das.«
Plötzlich musste Kerr an seine letzten Augenblicke in der Felswand denken, an den Aufprall, der ihn in die Tiefe gerissen hatte.
»Sie haben ihn auf mich geschleudert«, erkannte er. »Sie haben ihn getötet und weggeworfen. Wie … wie …«
»Wie abgenagte Knochen«, fauchte Pard grimmig.
»Druan hat mir von Anda erzählt. Darüber, was ihr zusammen an der Oberfläche erlebt habt. Was ist mit ihr geschehen?«, fragte Kerr.
»Weiß nicht.«
»Wir müssen aufbrechen, Pard«, fiel ein anderer Troll in das Gespräch ein, »sie könnten noch in der Nähe sein. Wir müssen in Bewegung bleiben.«
Pard grunzte zustimmend und sah Kerr prüfend an. »Kannst du aufstehen?«
Schwach versuchte der junge Troll sich aufzurichten, doch seine Gliedmaßen wollten ihm einfach nicht gehorchen.
Nachdem Pard den Bemühungen eine Zeitlang zugesehen hatte, wandte er sich an zwei andere Trolle: »Wir nehmen ihn mit. Los, helft im!«
»Was?«, fragte einer der Trolle entgeistert. »Mitnehmen? Wer weiß, ob er überhaupt durchkommt. Wir müssen schnell sein!«
»Wir nehmen ihn mit!«, donnerte Pard. »Also spar dir deinen Atem, verfluchter Zwergenmist! Oder …«
Das letzte Wort hing drohend in der Luft. Einen Herzschlag lang sah es so aus, als wolle der andere Troll sich widersetzen, doch dann nickte er missmutig. Pard wandte sich wieder Kerr zu.
»Was hat Druan dir gesagt?«
»Er wollte dich finden. Er sagte, wir müssen zu den Menschen. Zu Sten und … Van… Vangeliu? An die Oberfläche, weil dort …«
Ein lautes und ausführliches Fluchen unterbrach ihn. Es dauerte eine Weile, bis Pard sich wieder beruhigt hatte. »Großartig. Die beschissene Oberfläche mit ihren schwachsinnigen Menschen. Zdam, Roch, jetzt Druan. Ich bin wohl der Letzte, der weiß, wie es da aussieht.«
»Anda«, warf Kerr ein.
»Ja, Anda auch. Deswegen sollten wir uns beeilen, sie kennt die Wege genauso gut wie ich. Ausgerechnet Sten! Ich kann sein Jammern schon wieder hören«, stöhnte Pard. »Nein! Nicht töten! Lasst bitte alle am Leben«, rief er mit hoher Fistelstimme, was ihm einige erstaunte Blicke der anderen Trolle einbrachte.
»Los komm, Kleiner. Besuchen wir Druans Kumpel«, forderte er Kerr dann auf, bevor er sich abwandte.
»Es wird lange dauern, bis meine Wunden geheilt sind!«, gab Kerr zu bedenken.
»Sei’s drum. Wir lassen niemanden mehr zurück. Wir sind schon zu wenige«, erwiderte Pard, bevor er rief: »Nehmt so viel Fleisch mit, wie ihr könnt. Wir brechen bald auf.«
Andere Trolle gesellten sich zu dem, der bereits mit Druans Fleisch beschäftigt war, und machten sich an die Arbeit. Schließlich waren alle bereit.
Als ihn starke, raue Hände packten und stützten, fühlte sich Kerr zum ersten Mal nach langer Zeit wieder sicher, auch wenn der kleine Trupp Trolle von gefährlichen Feinden verfolgt wurde und einem ebenso gefährlichen Ziel entgegenging. Pard führt uns, dachte Kerr, er wird uns sicher an die Oberfläche bringen.
2
 
 
O bwohl die Sonne schon tief über dem Horizont stand, brannte ihre Hitze auf Stens nackten Schultern. Schweiß sammelte sich auf seiner Haut, lief in dünnen Rinnsalen an seinem Körper hinab. Achtlos wischte er ein paar Tropfen aus seinen Augenbrauen, bevor sie ihm in die Augen gelangen konnten, und gönnte sich eine kurze Pause. Dann trieb er den Spaten wieder in die dunkle, schwere Erde und grub weiter. Der Wlachake hatte sich und seinen Männern für den Tag ein Ziel gesetzt, das er nun auch vor Sonnenuntergang erreichen wollte, damit sie die flachen Gräben am morgigen Tage fertigstellen konnten. Im Abstand von einigen hundert Schritt standen sie jeweils zu zweit und hoben schmale Rinnen aus, durch die schon bald das Wasser des nahe gelegenen Flüsschens fließen sollte.
Neben Sten cal Dabrân rammte Vasile seine Schaufel in den Boden. Allerdings verriet das vom Wetter gegerbte Gesicht des älteren Soldaten seine mangelnde Begeisterung für die Aufgabe. Doch die Arbeit musste getan werden, denn der Sommer war in diesem Jahr heiß und trocken, und nun drohte der Weizen auf den Feldern zu verdorren. Also hatte Sten vier Dutzend seiner Krieger dafür eingespannt, mit ihm gemeinsam Bewässerungsgräben vom Cernis bis zu den Äckern zu ziehen.
Sten selbst genoss die monotone, anstrengende Arbeit beinahe. In dieser Schufterei konnte er aufgehen, konnte schaufeln, bis die Muskeln sich beschwerten und die Knochen ächzten, bis sein Geist an nichts anderes als an die Wasserrinne dachte. Nach einem Tag Arbeit, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, war sein Körper so erschöpft, dass der Schlaf selten lange auf sich warten ließ. Also arbeitete Sten weiter, mit dem guten Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
Vasile schnaufte und stützte sich für einen Moment auf den Griff seines Werkzeugs. »Ihr solltet es langsamer angehen lassen, Bojar«, sagte der Mann gepresst und fuhr sich mit der Hand über den kahl rasierten, schweißglänzenden Schädel. »Einem verfluchten Masriden den Kopf einzuschlagen ist nicht halb so anstrengend wie diese dreimal verfluchte Buddelei.«
Zweifelnd blickte Sten den Veteranen an.
»Wir haben aber nun einmal Frieden, Vasile, oder doch beinahe«, erwiderte der junge Bojar und ließ ebenfalls die Schaufel sinken. »Da ist es nicht mehr deine Aufgabe, irgendwelche Schädel einzuschlagen.«
»Vielleicht sollten wir dann ebenso von hier verschwinden wie Eure Trollfreunde, Herr. Wisst Ihr, wohin sie gegangen sind?«
»Zurück in ihr eigenes Reich, tief in den Eingeweiden der Erde.«
Sten seufzte. Er hatte sich manches Mal seit der großen Schlacht gegen die Masriden gefragt, was aus den Trollen geworden sein mochte. Führten sie unter den Bergen ihren gnadenlosen Krieg gegen die Zwerge weiter? An der Oberfläche hatte sich zumindest keiner mehr blicken lassen, seit Druan sich von ihm verabschiedet hatte - der Einzige der Trolle, der auf ihrer gemeinsamen Reise tatsächlich so etwas wie ein Freund geworden war. »Den Trollen gefällt es ebenso wenig wie dir, nicht zu kämpfen.«
»Und da könnt Ihr für mich keine andere Arbeit finden, als hier draußen den Bauern zu spielen?«
Mit übertrieben nachdenklichem Gesicht rieb sich Sten die dunklen Stoppeln am Kinn, das er seit einigen Tagen nicht mehr rasiert hatte. »Ich habe mir sagen lassen, dass die Latrinen auf der Burg eine neue Kalkschicht brauchen können … entweder das, oder du suchst dir einen anderen Bojar, dem der Sinn mehr nach Kriegszügen steht als mir.«
Vasile machte ein erschrockenes Gesicht. »Nein, Herr, das würde ich auf keinen Fall tun! Keiner von uns, der mit Euch gekämpft hat, würde das! Und wenn es sein muss, ziehen wir für Euch auch einen Graben vom Cernis bis zur Reiba, damit Ihr darauf Boot fahren könnt.«
»Das wird vermutlich nicht nötig sein, Vasile. Soweit ich weiß, mag die Bojarin keine Bootsfahrten.«
Bei der Erwähnung Viçinias seufzte der Mann erleichtert, beruhigt, dass es Sten offenbar nicht ernst war mit seinem Vorschlag, ihn fortzuschicken.
»Und mit einer so schönen Frau will man keinen Streit, nicht wahr? Nicht einmal Ihr, Bojar?«
Statt zu antworten, grinste Sten nur in sich hinein und begann von neuem mit der Arbeit.
 
Erst als er in der Ferne Hufgetrappel hörte, schaute Sten wieder auf. Mit der Rechten beschattete er seine Augen und sah zu der Straße hinüber, die sich durch eine Pflanzung niedriger Obstbäume schlängelte. Auf der festgestampften roten Erde ritt ein einzelner Reiter schnell, aber nicht hastig in Richtung Stadt. Aus der Entfernung konnte Sten keinerlei Hinweise auf die Identität des Reiters erkennen, aber er oder sie kam aus dem Norden, vermutlich vom Magy und damit aus Teremi. Als der Reiter am offenen Tor der Stadt vorbeiritt und auf die Feste Rabenstein zuhielt, die sich hinter den Fachwerkhäusern Dabrâns erhob, erhärtete sich Stens Verdacht, dass es sich um einen Boten handelte.
»Ich denke, heute Abend kannst du früher in die Taverne einkehren«, sagte er zu Vasile. »Ich werde zur Burg gehen und schauen, was der Bote für Nachrichten bringt.«
Ein erfreutes Lächeln zeigte sich auf Vasiles Zügen, und er machte sich auf den Weg zum nächsten Graben, um den anderen die gute Nachricht zu überbringen. Seufzend schulterte Sten den Spaten, hob sein Bündel auf, warf einen letzten, bedauernden Blick auf seine Arbeit und machte sich auf den Weg zurück zur Feste.
Bevor er allerdings auch nur den Cernis an einer besonders schmalen Stelle überquert hatte, verließ ein anderer Reiter die Burg und hielt direkt auf ihn zu. Diesmal stellte sich die Frage, um wen es sich handelte, gar nicht erst, denn die langen, roten Haare, die im Wind wehten, zeigten Sten schon von weitem, dass es Viçinia war, die im lockeren Trab auf ihn zukam. Sten nutzte die kurze Verschnaufpause, die sich ihm bot, für ein schnelles Bad im Fluss, wobei er sich notdürftig Dreck und Schweiß vom Körper wusch und auch sein langes, dunkles Haar vom Staub reinigte. Gerade als er die nassen Strähnen wieder zu einem Zopf zusammenband, erreichte ihn Viçinia und sah auf ihn herab.
»Angenehm.«
Verwirrt blickte Sten sie an: »Was ist angenehm?«
»Dein Anblick«, antwortete sie mit einem Lächeln und sprang vom Pferd. »Das Wasser auf deiner nackten Haut«, neckte sie ihn und strich mit dem Finger sachte über seine Brust. Ein kalter Schauer lief Sten über den Rücken, und auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Ich bin vermutlich der glücklichste Ehemann in ganz Wlachkis, dachte er bei sich. Verschwörerisch blinzelte er ihr zu und sagte: »Vorsicht, Nemes Viçinia, was sollen die Leute nur von diesem Betragen halten?«
»Davon, dass eine Frau ihren Mann liebt und begehrt?«, fragte Viçinia unschuldig. »Und warum so förmlich, Sten? Ein Mann, der wenig mehr als eine nasse Hose trägt, muss doch nicht auf das Protokoll achten.«
»Gerade wenn ein Mann nur eine Hose trägt, sollte er äußerst höflich sein«, widersprach Sten, »sonst könnte man seine Absichten falsch verstehen.«
»Und was sind deine Absichten?«
»Zumeist sind sie finsterer Natur«, erwiderte Sten mit grimmiger Miene und zog seine laut auflachende Frau an sich. Seine Hände wanderten über ihren Rücken und pressten sie an sich. Seine Lippen fanden die ihren, und er ließ sich für einen wunderbaren Moment einfach in ihre Umarmung fallen, genoss ihren Duft, ihre Wärme, ihre Nähe. Mit geschlossenen Augen spürte er ihren Kuss, dann lösten sie sich voneinander. In ihren Augen konnte Sten seine eigene Liebe gespiegelt sehen. Doch dann erinnerte er sich an den Reiter, und der Moment verging.
»Es gibt Neuigkeiten?«, fragte er und zog sich sein Hemd über den Kopf.
»Ja. Du hast den Boten sicherlich gesehen. Ionna hat Nachricht aus dem Osten erhalten.«
»Von Marczeg Gyula?«, erkundigte sich Sten vorsichtig. Obwohl der Waffenstillstand mit den Masriden nun bereits das ganze Jahr gehalten hatte, plagten ihn immer noch Erinnerungen an den grausamen Kampf gegen Marczeg Zorpad. Zu lange hatte Sten gegen die Masriden gekämpft, als dass er nun einfach auf ihr Wort vertraut hätte.
»Die Verhandlungen laufen gut. Gyula scheint kurz davor zu sein, einem dauerhaften Frieden zuzustimmen«, erläuterte Viçinia, doch Sten sah in ihren Augen, dass diese gute Nachricht nicht alles war.
»Wenn es nicht nur eine Finte ist, um uns in Sicherheit zu wiegen, dann sind das die besten Neuigkeiten, seit Ionna Zorpad das verfluchte Herz durchbohrt hat. Warum freust du dich also nicht?«
»Ich freue mich doch. Ein Frieden, vielleicht gar ein Bündnis, ist mehr, als wir uns erhofft haben.«
»Aber?«
»Ionna will eine Gesandtschaft an Gyula Békésars Hof schicken. Einen Unterhändler, dem sie vertrauen kann und dessen Wort Marczeg Gyula als bindend betrachtet.«
»Natürlich«, erwiderte Sten ergeben. »Möglicherweise gar eine Verwandte Ionnas? Vielleicht ihre Schwester, deren diplomatisches Geschick schon während des Krieges zur Legende wurde?«
»Ionna hat mich gebeten …«
»Gebeten?«, unterbrach Sten sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Nicht befohlen?«
»Nein, sie hat mich gebeten, diese Verhandlungen zu übernehmen. Sie glaubt, dass meine Anwesenheit unseren Angeboten Gewicht verleihen wird.«
»Da hat sie recht«, stimmte der Wlachake zu, nur um leise hinzuzufügen: »Leider.«
»Bitte?«, fragte Viçinia mit gerunzelter Stirn, aber Sten winkte ab: »Ach, nichts. Es ist nur die Hitze, die macht mich ganz schwindelig!«
»So, so, schwindelig«, erwiderte Viçinia boshaft und fasste sich mit einer dramatischen Geste an die Stirn. »Ach, herrje, ich bin Sten cal Dabrân. Schaufeln wurde mir nicht in die Wiege gelegt, und die Hitze macht mich ganz schwindelig!«
»He!«, rief Sten gespielt zornig und packte seinen Spaten. »Soll ich dir zeigen, wie gut ich schaufeln kann?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, begann er mit dem Spaten Wasser aus dem Fluss hinüber zu seiner Frau zu spritzen, die jedoch nur die Arme ausbreitete und »Herrlich!« rief.
Schließlich tauchte er selbst seinen Kopf noch einmal unter, bevor sie sich auf den Weg zur Burg machten. Unterwegs sprachen sie nicht mehr über die Botschaft und versuchten in stillem, beiderseitigem Einverständnis, den Gedanken an die baldige Trennung zu unterdrücken.
 
Als sie sich der Burg näherten, einem gedrungenen, rechteckigen Wehrgebäude, fiel Stens Blick unweigerlich auf den Ostturm, dessen geschwärzte und halb eingestürzte Mauern anklagend in den Himmel ragten. Als die Bediensteten des Baró Házy nach der letzten Schlacht gegen die Masriden Burg Rabenstein fluchtartig verlassen hatten, war ihr Zorn groß genug gewesen, um noch ein Feuer zu legen. Nur ein beherztes Eingreifen der Bewohner Dabrâns hatte verhindert, dass die Anlage bis auf die Grundmauern niederbrannte.
Noch eine Arbeit, die endlich getan werden muss, dachte Sten, wobei er sich leicht schuldig fühlte, ausgerechnet den Wiederaufbau des Turmes schon so lange hinausgezögert zu haben. Da der alte Wohntrakt seiner Familie zerstört war, hatten Viçinia und er ihr Schlafzimmer in den Gemächern des Burgvogts eingerichtet, und Costin war zeitweilig zum Gesinde gezogen. Doch obwohl sich seine Frau nicht beschwerte und Costin sogar froh darüber zu sein schien, während seiner Aufenthalte auf der Burg reichlich weibliche Gesellschaft zu haben, versetzte der Anblick des Turms Sten jedes Mal einen Stich.
 
Da Sten nach einem herzhaften Mahl noch einige Gespräche mit Händlern und Handwerkern aus der Stadt führen musste, die sich über den schlechten Zustand der Straßen und den dadurch verminderten Handel beschwerten, dauerte es bis weit nach Sonnenuntergang, bis er Viçinia wiedersah. Sie hatte sich in das kleine Schreibzimmer zurückgezogen und verfasste einige Briefe und Depeschen, die ihre Reise vorbereiten sollten. Als Sten das Zimmer betrat, einen Krug mit verdünntem Wein und zwei Becher in der Hand, wandte sie sich ihm zu: »Haben die Wölfe von dir abgelassen?«
Das ließ den Wlachaken auflachen, aber seine Antwort war ernst: »Ihre Forderungen sind berechtigt. Die Straßen sehen schlecht aus, der letzte Herbst und Winter haben viel zerstört. Aber wir brauchen gerade jeden Mann und jede Frau auf den Feldern und für den Aufbau der Stadt. Ich würde die Straßen gern wieder herrichten lassen, allein, mir fehlen die Arbeitskräfte.«
»Was ist mit den Flüchtlingen? Wenn die Unterkünfte erst gebaut sind, gibt es kaum mehr etwas für sie zu tun.«
»Wir können doch nicht Frondienste von ihnen verlangen. Dann wäre ihr Los im Freien Wlachkis kaum besser als unter der Knute der Masriden«, widersprach Sten mit einem Stirnrunzeln. Müde ließ er sich auf einen Stuhl sinken und schenkte sich und Viçinia ein.
Die Wärme stand in dem Raum, obwohl die Fenster geöffnet waren. Die dicken Mauern der Burg erwärmten sich bei Tage, speicherten die Hitze und sorgten so für drückende Nächte.
»Dann bezahl sie für ihre Arbeit.«
»Mit welchem Geld? Baró Házy, möge sein Name dreimal verflucht sein, hat uns nur leere Truhen hinterlassen. Aber wir können auch keine Steuern eintreiben, es ist einfach nichts da. Házy hat das Land ausgeblutet, um die Soldaten zu bezahlen, die Zorpad von ihm verlangte. Der Krieg hat alles aufgefressen.«
»Was ist mit den Händlern? Können sie keinen Beitrag leisten?«, erkundigte sich Viçinia, griff nach ihrem Becher und trank einen Schluck.
»Möglich«, sinnierte Sten, »immerhin würden ihnen bessere Straßen zugute kommen. Aber wer soll das vorbringen?«
»Ich kann mit den Händlern sprechen. Gleich morgen, auf meinem Weg zu Gyula Békésar, rede ich mit Matei. Er hat viel Einfluss bei den Kaufleuten.«
»Aber eigentlich ist es meine Aufgabe«, widersprach Sten. »Ich bin der Bojar von Dabrân. Ich kann weder von dir noch von meinen Leuten verlangen, meine Aufgaben zu meistern.«
»Du leistest großartige Arbeit, Sten, das weißt du. Die Menschen in Dabrân sehen das auch. Du kannst aber nur mit den Mitteln arbeiten, die dir zur Verfügung stehen. Und das letzte Mal, als du mit den Kaufleuten ernsthaft verhandelt hast, endete das Ganze in einem ziemlichen Geschrei. Das passiert mir nicht so leicht.«
Mit einem zustimmenden Nicken seufzte Sten. Die Verwaltung von Dabrân hatte sich nach seiner Einsetzung als Bojar als ein gewaltiger Albtraum entpuppt. Natürlich war Sten immer bewusst gewesen, wie hart das Los der Wlachaken unter den Masriden war, aber das volle Ausmaß des Problems hatte ihn erst getroffen, als er sich um die Versorgung der vielen Menschen in der Stadt und im Umland kümmern musste.
Nach dem Sieg der Wlachaken waren viele ihrer Brüder und Schwestern aus dem Osten in die freien Gebiete geflohen. Menschen, die all ihre Habe hatten zurücklassen müssen, die erschöpft und hungrig in den Städten und Dörfern der Wlachaken erschienen waren, ausgemergelt von der langen Wanderung, gehetzt und verfolgt durch ihre masridischen Lehnsherren, die ihre Untertanen nicht hatten ziehen lassen wollen.
Diese Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten, in denen noch die beiden Marczegs der Masriden herrschten, gepaart mit dem verhängnisvollen Ergebnis der letzten Ernte, die durch das schlechte Wetter sehr gering ausgefallen war, sorgten für ständige Versorgungsengpässe. Der Krieg hatte zudem zahllose Bauern von ihrem Land abgezogen, das nun brachlag und erst wieder bewirtschaftet werden musste. Saatgut war Mangelware, ebenso wie Vieh, denn im harten Winter hatten die Menschen ihre letzten Vorräte aufgebraucht. Das Schreckgespenst einer Hungersnot ging im Lande um.
In anderen Baronien sah es kaum besser aus, auch wenn Sten das Gefühl hatte, dass Baró Házy besonders grausam und verschwenderisch gewesen war. In Teremi tat Ionna, was sie konnte, um ihr Volk zu versorgen, aber das vom Krieg gebeutelte Land stellte sie immer wieder vor schier unlösbare Probleme. Dazu kam der weiterhin schwelende Streit mit den Masriden, der Wachsamkeit und Soldaten an den provisorischen Grenzen erforderte; Soldaten, die als Arbeiter auf den Feldern fehlten.
Immer wieder gab es Masriden und Szarken, welche die Grenzen überschritten und die Wlachaken überfielen. Mehr als einmal hatte Sten mit den Waffenträgern seiner Baronie ausreiten müssen, um die Feinde zu vertreiben. So wie die Länder der Wlachaken aus dem Osten neuen Zustrom erhielten, so waren viele von Zorpads Kriegern und Anhängern nach dem Sieg der Wlachaken in den Osten geflohen und hatten sich in den Dienst von Marczeg Békésar und Marczeg Szilas gestellt. Diese Geschlagenen schürten den Hass auf die Wlachaken und die Angst vor Ionnas Armee und sorgten immer wieder für Zwischenfälle, die den Waffenstillstand bedrohten. Bisher war es bei einzelnen Aktionen geblieben, und Sten wusste, dass es umgekehrt auch eine Handvoll Wlachaken gab, die, vom Taumel des Sieges über Zorpad ergriffen, den Krieg in die Ländereien der anderen Masridenherrscher weitertragen wollten, bis auch der Letzte von diesen aus Wlachkis vertrieben war. Doch obwohl Sten diesem Gedanken durchaus nicht abgeneigt war, wusste der Wlachake auch, dass sein Volk kriegsmüde war, die Kornkammern leer, die Felder unbestellt und die Städte und Dörfer verarmt. Und so hatten sich Sten und Viçinia in den Ratsversammlungen, die Ionna einberufen hatte, stets für die Einhaltung des Waffenstillstandes ausgesprochen.
»Woran denkst du?«, fragte seine Frau sanft und riss Sten damit aus seinen Gedanken.
»Krieg, Frieden, all so etwas«, antwortete er ausweichend.
»Gib den Menschen eine Aufgabe. Sag ihnen, dass sie helfen können. Kein Frondienst, keine Knechtschaft, sondern aus freien Stücken«, schlug Viçinia vor.
»Was? Ach, du meinst die Straßen. Das wäre vielleicht möglich. Aber noch sind alle mit dem Bau der Häuser und Unterkünfte beschäftigt. Außerdem muss die Stadtmauer instandgesetzt werden. Und natürlich der Ostturm …«
»Dennoch, bis zum Winter ist noch Zeit. Ich bin sicher, dass du viele findest, die lieber arbeiten, als untätig herumzusitzen.«
»Ich werde es mir überlegen. Sobald die dringenden Arbeiten erledigt sind. - Aber keine Sorge, du musst die schlechten Wege nur bis Teremi ertragen, ab da kannst du auf dem Magy flussabwärts nach Turduj fahren.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen funkelte Viçinia ihn an: »Du weißt genau, dass ich es nicht so gemeint habe. Denkst du, ich lasse dies alles gern hinter mir, um mit den Masriden über einen Frieden zu verhandeln? Glaubst du nicht, dass ich lieber bei dir bleiben würde?«
»Doch«, antwortete Sten zerknirscht und rieb sich die Augen. »Verzeih mir, ich bin müde.«
»Als du vor einigen Wochen losgezogen bist, diese Marodeure zu jagen, habe ich dir da Vorwürfe gemacht? Es musste getan werden«, fuhr Viçinia fort, die offensichtlich mehr als nur ein wenig verärgert war.
Beschwichtigend hob der Wlachake die Arme und lächelte seine Frau an: »Ich weiß, ich weiß. Dennoch gefällt mir der Gedanke an Trennung nicht. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit füreinander.«
»Ich auch, Sten«, flüsterte Viçinia. »Aber vielleicht haben wir das ja bald. Wenn erst wirklich Frieden herrscht …«
»Frieden, ja. Was schreibt deine Schwester denn? Für wie ehrlich hält sie Gyulas Angebot?«, fragte Sten.
»Sie würde nicht nach mir schicken, wenn sie nicht daran glauben würde.«
»Hat sie Bedingungen erwähnt?«
»Anscheinend hat Ionnas Verzicht auf die Königswürde den Marczeg überzeugt. Solange Ionna sich nicht als Königin von ganz Wlachkis ausruft und somit den Herrschaftsanspruch des Marczegs bedroht, scheint er gewillt, Frieden zu halten. Es sind auch Verhandlungen im Gange, Gefangene auszutauschen.«
»Es war eine schlaue Taktik von Ionna, den Thron nicht zu beanspruchen«, meinte Sten. »Die Befürworter des Krieges in unserem Volk haben somit die Hoffnung, dass sich Ionna bald wieder das Schwert umgürtet, um Königin zu werden …«
»Während die beiden Marczegs sich ihr ebenbürtig fühlen können und nicht durch einen angenommenen Königstitel bedroht werden«, ergänzte Viçinia.
»Die beiden Marczegs, ja … was sagt Laszlár Szilas denn zu der ganzen Sache? Was wird das Valedoara tun?«
»Wenn Ionna als Herrin über das Mardew und den Sadat mit Gyula, dem Herrn des Sireva, ein Bündnis eingeht, wird Marczeg Szilas wenig mehr übrig bleiben, als ebenfalls Frieden zu suchen. Auch wenn das Valedoara reich ist und Laszlár viele Soldaten befehligt, kann ihm nicht an einem Krieg mit uns und Gyula gelegen sein. Eine Allianz zwischen Ionna und Gyula wird Laszlár zum Abschluss eines Paktes zwingen«, erklärte Viçinia.
Nachdenklich strich sich Sten über das Kinn. Im Geiste ging er die verschiedenen Beziehungen noch einmal durch, die so lange für ein Gleichgewicht der Kräfte in Wlachkis gesorgt hatten. Nur in der Unterwerfung der Wlachaken waren sich die Masriden einig gewesen, ansonsten hatte jeder der mächtigen Marczegs den Königsthron für sich selbst begehrt. Lange Zeit hatte keiner eine deutliche Vormachtstellung erringen können, denn keiner der drei Herrscher im Lande war allein stark genug gewesen, die anderen beiden zu besiegen. Erst mit dem Tode Zorpads in der Schlacht und dem Sieg der letzten Freien Wlachaken des Mardews, die von Ionna angeführt wurden, war dieses Machtgefüge zerbrochen. Aber so wenig die Masriden den neuerlich erstarkten Wlachaken trauten, so wenig war es ihnen gelungen, das Misstrauen untereinander dauerhaft zu überbrücken. Der Schlag wäre diesen Sommer gekommen, befand Sten, als hier alles im Umbruch war. Dass es nur einzelne Übergriffe gab, zeigt, dass unsere Feinde untereinander nicht einig werden konnten. Und wir benötigen die Ruhe eines Friedens, auch wenn er nur kurz währt.
»Wie lange soll die Ruhe dauern?«, fragte Sten laut.
»Ein Jahr, zwei, eine Hand voll? Ich weiß es nicht. Aber wir beide wissen, dass es nicht für immer sein wird.«
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Originalausgabe 04/2007 Redaktion: Uta Dahnke
Copyright © 2007 by Christoph Hardebusch Copyright © 2007 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: Thomas von Kummant Karten: Andreas Hancock www.heyne.de
eISBN : 978-3-894-80386-5
 
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