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Moritz von Uslar

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Beschreibung

Willkommen in jenem unbekannten Land, das Deutschland heißt. Moritz von Uslar geht in eine Kleinstadt im Osten Deutschlands, er bleibt drei Monate und kehrt mit dieser großen Erzählung, einer Geschichte der Gegenwart, die gleichzeitig Reportage und Abenteuerroman ist, zurück. Draußen, vor der Großstadt, wo Hartz IV, Alkoholismus, Abwanderung und Rechtsradikalismus angeblich zu Hause sind: Hier beginnt diese Geschichte. Der Reporter sucht nach einem Ort mit Boxclub und Kneipe und findet ihn im Landkreis Oberhavel, gut eine Autostunde nördlich vor Berlin. Pension Heimat, Franky's Place, Gaststätte Schröder: Pils am Tresen, Diktiergerät am Mann. Der Reporter hört zu, guckt zu, trinkt mit, trainiert mit, labert mit, und am nächsten Morgen steht er wieder da. Es erscheinen der Kneipenchef Heiko, der Geschichtenerzähler Blocky, der tätowierte Punk Raoul, und damit ist der Zugang eröffnet: zu den Proben der Band »5 Teeth Less«, zu Grillfesten mit Deutschlandfahne, zum Abhängen am Kaiser's-Parkplatz und an der Aral-Tankstelle – und zum Alltag junger Männer, die vielleicht keine großartige Zukunft haben, aber einen ziemlich guten Humor. Die präzisen Beobachtungen, im Wortlaut mitgezeichneten Gespräche, die Gags, Sprüche, Märchen und Blödeleien und die Fülle absurder, rührender und furchterregender Alltäglichkeiten entwickeln einen Sog, der den Leser hineinzieht in das Leben in der ostdeutschen Kleinstadt. Das ist klassisches und das ist modernes Reportertum. Moritz von Uslar besitzt den Mut, die Ausdauer und das Einfühlungsvermögen, um zu zeigen, dass Wirklichkeit immer jener Ort ist, der jenseits der Erwartung liegt. In diesem Buch ist Platz für allerhand Abstrusitäten, bloß für keine Trostlosigkeit. Deutschboden leuchtet – es ist das Licht der Tankstelle an der Ausfallstraße nachts um halb eins.

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Seitenzahl: 397

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Moritz von Uslar

Deutschboden

Eine teilnehmende Beobachtung

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Moritz von Uslar

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Widmung

Motto

Zum Geleit

1 Berliner Runde

2 Plattenbau-Quartett

3 Western

4 Hauptstraße

5 Hauptstraße, später

6 Gaststätte Schröder

7 Blocky kommt

8 Training

9 Regionalexpress

10 frühe Biere

11 Philipp-Müller-Straße (Spaziergang I)

12 Deutschboden

13 Proberaum

14 Disko im Wald

15 Franky’s

16 Verwirrung / Das dicke Kind

17 Waldstraße (Spaziergang II)

18 Präsidentenwohnung

19 Jungs und Mädchen

20 Aral

21 Was sonst noch geschah

22 Das Nichts

23 Speedy (Spaziergang III)

24 An alten Tischen

Inhaltsverzeichnis

Zum Schutz von Personen wurden Namen und Ortsnamen zum großen Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen modifiziert.

Inhaltsverzeichnis

Meinem Onkel Louis, der immer in der Nähe war

Inhaltsverzeichnis

Es gibt keine Geschichte. Nur den Ort, an dem die Geschichte hätte spielen können.

Mann mit Hut, Seite 195

Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

Die Monate Mai, Juni und Juli des vergangenen Jahres habe ich als Reporter in einer Kleinstadt in Brandenburg verbracht. Es war nicht alles einfach; aber es sollte ja auch nicht alles einfach sein. Die Menschen, die mir bei meinen Recherchen begegnet sind, habe ich als gute Menschen kennengelernt. So merkwürdig das klingen mag: Ich bin als Fremder gekommen und als Einheimischer gegangen. Die Zeit in der Kleinstadt war eine der besten meines Lebens.

 

Mein Dank gilt den Bewohnern der Kleinstadt. Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Sie haben ihren Anteil daran, dass sich Gespräche, Eindrücke, Erlebnisse zu einem Text verdichten ließen. Besonders danken möchte ich den Betreiberfamilien meiner Pension und der Gaststätte Schröder, dem Urgestein Blocky und den Mitgliedern der Band 5 Teeth Less.

 

Der Autor

 

Berlin, im September 2010

Inhaltsverzeichnis

1Berliner Runde

Ich saß an dem Ort, an dem die Leute immer sitzen, wenn sie etwas sagen wollen: Lokal. Bier. Wasser, mit und ohne. Ein Dienstagabend, gegen 22 Uhr. Das Essen schon hinter uns. Ganz viele tolle Leute, nicht zu lustig, nicht zu laut, nicht zu schlampig, nicht zu fein angezogen. Mein bester Kumpel, neben ihm eine Blonde, und die anderen, die zu so einer Runde gehörten. Zwischen den Tischen liefen die Kellner, die wir mit Vornamen kannten, auf und ab und servierten Steaks und Champagner.

 

Ich sagte: »Ihr Süßen. Ich erzähle euch jetzt mal ganz was anderes.«

 

Ich sagte: »Ich haue ab von hier, dorthin, wo kaum ein Mensch je vor uns war – nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt. Dort suche ich mir einen Boxclub, trainiere mit, hänge rum und tue nichts, außer die ganze Zeit nur zuzuhören und zuzugucken, was passiert, und abends stelle ich mich dahin, wo der totale Blödsinn auferzählt wird, auf Parkplätze, an Tankstellen, in Pilslokale, und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über HartzIV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart. Nach etwa drei Monaten, denke ich, müsste ich genug zusammenhaben.«

Schweigen. Ratlose Gesichter.

Immerhin, da grinste auch einer in der Runde.

Und sofort stellten sich die Angst und die Scham bei mir ein. Normale Sache. Angst deshalb, weil es heraus war, weil ich angegeben hatte, und weil ich mich nun – ganz in echt – bald auf die Reise machen musste. Scham deshalb, weil man in Lokalen, das weiß doch eigentlich auch jeder, nicht so laut so großartige Dinge sagen soll.

 

Ich sagte: »Ich will dahin, wo Leute in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und an einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen!«

Und in die Berliner Runde, in die erstaunten Gesichter meiner Freunde hinein, begann ich nun, die Orte aufzuzählen, an denen mein zukünftiger Einsatz im Osten stattfinden könnte:

 

Buckow.

Brandow.

Sandow.

Sumpfow.

Stumpfow.

Ostow.

Friedenow.

Birkenkieferzeckengespensterginsterow.

Plattenbautow.

Trostlosow.

Lehmkuhlenhüttenbetonkopfsteinhausen.

Zappendüsterow.

 

Noch, erklärte ich, wüsste ich nicht, wo exakt im Wilden Osten der Ort lag, an dem meine Geschichte spielen würde. Das Übereinanderlegen der entsprechenden Karten (Armut, Arbeitslosigkeit, Abwanderung) sei sicher zielführend; aber am Ende sei man dann an einem Ort, an dem das bisschen Elend von drei Fernsehkameras abgefilmt werde und man sich mit den Meinungsforschern gegenseitig auf den Füßen herumstand. Es nützte nichts, ich würde losfahren und selber sehen müssen: Beim Anblick des richtigen Ortes würde ich erkennen, dass ich am richtigen Ort angekommen war, vorher nicht, anders war das nicht zu machen.

Die Kleinstadt, erklärte ich, also nicht die Stadt und nicht das Dorf, müsste es bitte sein.

Die Kleinstadt.

Ah.

Warum?

Einfach: Die Stadt würde zu groß, das Dorf zu klein sein für die angestrebte Geschichte. Als Kleinstadt wird in Deutschland die Örtlichkeit mit 5000 bis 20 000 Einwohnern bezeichnet. In der Kleinstadt, so stellte ich mir das vor, träfe man Leute zufällig wieder, worauf es ganz maßgeblich ankam. Erstens sich sehen, zweitens sich wiedersehen, beim dritten Treffen finge der Mensch dann an, sich irgendwie zu verhalten, irgendein komisches Ding als Handlung aufzuführen, auf das der andere dann mit seinem Ding antworten könne: Zwischenmenschliches. Im Dorf dagegen, erklärte ich, war die Gefahr groß, dass dort außer Sterben einfach gar nichts war.

 

Und die Kellner füllten die Champagnergläser, und ich sprach weiter von meiner Sache, als wäre sie ein uraltes Projekt, ein Traum, eine Herzensangelegenheit.

 

Ich war der Reporter, ich war der Reporterdarsteller, der bei einem Nachrichten-Magazin einst sein Handwerk gelernt hatte.

Ich war der Mann mit Hut.

Ich fragte mich die ganze Zeit: Wo ist mein Hut?

 

Die nächste Frage lautete: Wie sollte der Reporter die tausendundeins Dinge, die andauernd um ihn herum geschahen, und den endlosen Strom der um ihn herum gesprochenen Worte – wie sollte der Reporter sich anstellen beim Aufzeichnen dieser Gegenwart, die immer wieder aufs Neue gerade eben wieder ablief, ohne dass es zu Irritationen kam, die mühselige Erklärungen notwendig machten, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, und im äußersten Fall Handgreiflichkeiten, Verweisung vom Tatort und die soziale Ächtung nach sich zogen?

Wenn der Reporter andauernd auf zwei Ebenen operierte – auf einer realen, der vor Ort, und auf einer vermittelten, der in der Reflexion, die unentwegt ein- und aussortierte, was vom gerade Erlebten sich in einem späteren Text verwenden lassen würde –, wie konnte das vermieden werden, was der Gau jeder Reportage ist, nämlich, dass das Vermittelte sich vor das Wirkliche schob und dabei wertvolle Echtzeit, Echtwelt, Echtwirklichkeit verloren gingen?

Wie?

Entscheidende Fragen.

 

Mein Notizbuch, das war jetzt schon klar, würde ich in einer Wirklichkeit, die eben keine Pressekonferenz, sondern eine Hauptstraße, ein Boxclub und ein Pilslokal war, kaum einsetzen können. Stattdessen wollte ich meinen digitalen Aufnahmestift der Firma Olympus (neunzig Stunden Aufnahmezeit, Files einzeln löschbar) verwenden. Der Stift hatte den Vorteil, dass er nicht zu klein war. Er ließ sich wie ein Handy an Ohr und Mund halten, und so würde ich die Straßen auf und ab laufen und in das Gerät hineinsprechen.

 

Ich ging mal dringend davon aus, das erklärte ich nun der Runde, dass an meinem Tatort nichts bis ganz, ganz wenig passieren würde.

Die Frage war, was passierte, wenn man nicht wegging, sich fortgesetzt dem Nichts zur Verfügung stellte, am nächsten Tag einfach aufs Neue auf der Bildfläche erschien und das Nichts ansah.

Es würde akut darum gehen, dieses Nichts zu beschreiben.

Wenig Geschichte war kein Problem.

Erst mal keine Geschichte war erst mal gar kein Problem. Ich würde so lange an einem Ort bleiben, bis die Geschichte herauskam, genau genommen: Meine Geschichte war das, was kam, wenn man sich am nächsten Tag wieder zur Verfügung stellte.

 

Blick in die Berliner Runde.

 

Ich hatte vor allem wahnsinnige Angst.

Normal.

Ich hatte Angst vor den andauernden Blicke-Kämpfen, zu denen man als Fremder, Zugereister, Eindringling, Fremdling, Reporter etwa neuntausend Mal pro Tag, Tag für Tag aufs Neue, aufgefordert war: Wer guckte wie? Wie ging das noch mal, das Normalgucken? Sollte man den Blick jetzt besser hoch- oder runternehmen? Half grinsen oder, Hilfe, machte das die, die einen böse anguckten, zusätzlich aggressiv? Wie begegnete man dem Blick des Einheimischen so, dass es nicht sofort voll eins auf die Fresse gab?

Vor dem ersten Betreten des Wirtshauses mit dem »Premiere Sports Bar«-Schild hatte ich genauso Angst wie vor der stummen Mauer der am Tresen stehenden und die Biergläser haltenden Männer.

Es würde überhaupt andauernd um das Durchstehen von Situationen gehen: Wie kam ich durch diese und jene Situation durch, ohne allzu großen Schaden zu nehmen?

 

Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile.

Neonazis interessierten mich nicht. Landpfarrer interessierten mich nicht. Bürgermeister, die wider Erwarten einen rundherum sympathischen, vernünftigen und bodenständigen Eindruck machten, interessierten mich nicht. Auskunftsfreudige Fleischermeister mit der für die Region archetypischen Biografie, die mächtig was zu erzählen hatten, interessierten mich nicht. Der Jugendliche an sich, der Baseballkappe trug, Rechtsrock hörte und im Gespräch allmählich auftaute, interessierte mich schon mal gar nicht.

Ich hatte nichts abzuarbeiten.

Ich hatte keinen Auftrag.

Ich war auf keiner Spur.

Ich war ja nicht so ein professionell neugieriger und gewiefter Nachrichten-Magazin-Journalist, der da seine Recherche machte oder was.

Deshalb konnte mir eigentlich nichts passieren.

Ich würde keinen Scheißjugendclub in der Kleinstadt aufsuchen, das brauchte ich nicht, das war nicht meins, da hatte ich keinen Bock drauf, das sollten die anderen, die Magazin-Journalisten, tun.

 

»Ich liebe die DDR, so wie ich Amerika liebe, also nicht New York und Los Angeles, sondern das große Land, das zwischen diesen beiden Städten liegt. Die DDR«, erklärte ich nun in die Runde hinein, »ist ja eins zu eins wie die USA. Essen, Kleidung, Inneneinrichtung, unterirdische Einkaufsparadiese, alles.«

Die DDR?

Richtig. Ich sagte: die DDR.

Rasch musste ich nun erklären, warum ich die neuen Bundesländer noch im zwanzigsten Jahr der Wende als DDR bezeichnete. Kam irgendwie cooler, fand ich, stolz, hart, selbstbewusst, angriffslustig und ironisch, etwa so, wie sich ein Afroamerikaner in den USA ja auch extra als Nigger bezeichnete, um alle zu ärgern. Ich dürfte, erklärte ich, DDR sagen, weil ich die neuen Bundesländer eben wirklich gernehatte und auf meine Art auch gut kannte, und selbstverständlich, erklärte ich, würde ich den Gag automatisch auf seine Lustigkeit hin überprüfen, sobald mein Aufenthalt im Osten begann.

 

Und ich erzählte der Runde nun von meinen Ausflügen, die ich vor Ewigkeiten, im November 1989, für den Großen DDR-Diskotheken-Test mit Christian Kracht, dem damaligen Tempo-Volontär und heutigen Schriftsteller, in die DDR gemacht hatte: Wie wir uns auf den riesigen braunen LPG-Feldern gegenseitig mit Polaroid-Kameras fotografiert hatten; wie wir uns, auf den Betten in den Interhotels sitzend, über die interhotel-eigenen Badeschlappen kaputtgelacht hatten; wie wir bei DDR-Dissidenten zwischen Topfpflanzen und braun gestrichenen Raufasertapeten in Altbauwohnungen am Prenzlauer Berg zu Interviews geladen waren und keine Ahnung hatten, welche Fragen hier die passenden waren; wie der Autofahrer Kracht den Volkspolizisten in Dresden erklärte, dass er seinen Führerschein – er bitte um Nachsicht – im Hotel »Gastmahl des Meeres« in Berlin, der Hauptstadt der DDR, liegen gelassen habe.

Kracht und ich waren, Jahre bevor dieser Begriff erfunden wurde, Ostalgiker gewesen: O Gott, was hatten wir dieses blasse, lindgrün-beige-lilafarbene Land geliebt! Wir wären damals liebend gerne noch schnell, bevor dieser Staat unterging, DDR-Bürger geworden. Das sagten wir. Das fanden wir damals schick zu behaupten.

 

Blick in die Berliner Runde.

 

Es ging – du liebes bisschen – natürlich wie immer auch um die alte Frage, ob da draußen, ums Eck, keine Autostunde entfernt, noch einmal ein ganz anderes Leben lag, das trotzdem machbar war und das angeschaut werden wollte.

Es ging – nach zehn Jahren Berlin in den Nullerjahren – um die ebenso einfache wie dramatische Frage, ob man sich überhaupt noch irgendetwas Neues vorstellen und ansehen wollte. Oder ob man das besser bleiben ließ.

 

»Das wird nicht ohne«, sagte mein Kumpel. Er hielt das Glas vor sein rechtes Auge und kniff das Auge dabei zusammen. »Ich meine, das kann richtig düster werden, öde, trostlos, scheiße. Es kann auch einfach kacklangweilig werden. Hast du das im Blick?«

Ich sagte: »Ich freue mich darauf.«

Ich freute mich auf den Proll. Der Proll, erklärte ich der Runde, der könne gar nicht böse, widerlich, asozial, beinhart und abstoßend genug sein. Behauptete ich. (Der Regisseur Christian Petzold hatte dem Reporter bei einem Tässchen Kaffee in einem Lokal in Kreuzberg in seiner mitreißend klugen und nüchternen Art erklärt, man habe schlichtweg davon auszugehen, dass praktisch jeder Jugendliche, jeder Mensch zwischen zwölf und achtundzwanzig Jahren im Osten Nazi sei. Der Nazi sei da einfach die allseits präsente Jugendkultur, so wie vor dreißig Jahren alle Hippies und vor zwanzig Jahren alle Punks waren. Und Toralf Staud, Autor des Fachbuchs Moderne Nazis, hatte die Regel gewusst, dass, je weiter man sich von Berlin entfernte und je dünner die Besiedelung wurde, der Nazi immer wahrscheinlicher werde. Der Nazi, so der Fachmann Staud, ließe sich im Osten schlichtweg nicht vermeiden.) Mein Proll, erklärte ich, dürfte ultrawiderlich und überhaupt alles Böse sein, aber bitte kein Nazi, denn Nazis – es täte mir leid –, die fände ich vor allem wahnsinnig langweilig.

 

»Super«, sagte die Blonde.

Sie lachte, schüttelte ihre Haare, strahlte. Sie sagte: »Ich glaube, dass wird echt eine super Geschichte. Aber … kannst du überhaupt boxen?«

Ich sagte: »Ja.«

Und ich merkte, dass ich gerade für die erste echte Überraschung des Abends gesorgt hatte.

 

Ich betrachtete, so gut das möglich war, meinen Kumpel. In der Art, wie er beim Sprechen die Augen halb geschlossen hielt, im scharfen Zug seiner Nase, sogar im Schnitt seines Hemdkragens erkannte ich all das, was uns seit jeher selbstverständlich war und notwendig erschien, damit es auszuhalten war unter den Menschen: eine gründliche Bildung, Zartheit, Ansprechbarkeit des Herzens, am Ende nannte man das Zivilisation. Am Ende, das war wichtig, musste es immer die Möglichkeit geben, mit einem Gag all die Mühsal, Scheußlichkeiten und Unzulänglichkeiten der Welt von sich hinwegzunehmen.

Ein guter Gag, da war ich ganz sicher, würde am Ende die Welt retten. Das sagte ich meinem Kumpel. Und wir freuten uns und lachten.

 

Als wir die Mäntel anzogen, erklärte ich, dass ich da draußen natürlich auch ein bisschen was von Tomi Ungerers Liederbuch zu finden hoffte: Kirchturm, Gerichtslinde, Storchennest, die alte Mühle, Fuhrwagen auf Kopfsteinpflaster, Ruine mit weitem Ausblick auf die Felder, Frau, Arbeitskittel tragend, mit Kind an der Hand auf dem Weg zur Stadt hinaus, still dahinfließender Fluss.

Ach!

Ja.

Die ganze romantische Scheiße.

Hey du, superschönes Germany, du.

 

Und in der Art, in der mein Kumpel seinen Arm um meine Schultern legte und mich nach draußen vors Lokal zog, merkte ich, dass ich sehr viel nicht wusste und sich der Plan, meine Reise, jederzeit als Missverständnis herausstellen konnte, als Irrtum, als furchtbarer Flop.

Inhaltsverzeichnis

2 Plattenbau-Quartett

Dann musste ich echt los.

Es wollte nicht. Es sperrte sich alles. Ich hatte so was von null Bock.

Normal.

Ich fuhr, um warm zu werden, gleich mal ein paar Hundert Kilometer am Stück durch Deutschland.

 

Fahren. Fahren. Fahren auf der Autobahn. Fahren mit dem Fiat 500 (eierschalenfarben), den die Firma Fiat mir für die Dauer meiner Reisen zur Verfügung gestellt hatte. Ich hatte der PR-Firma, die den Deal eingefädelt hatte, versprochen, dass ich das Auto in meinem Text, der noch zu schreibenden Reportage, lobend erwähnen würde. (Lobende Erwähnung wie folgt: Das ist ein gutes Auto, echt. Fährt sich voll gut, vor allem und komischerweise besonders auf der Autobahn. Kann ich voll empfehlen. Echt. Toll.)

Von Berlin kommend fuhr ich sternförmig in die vier Himmelsrichtungen hinein, die Baedeker-Autokarte Deutschland Osten und eine Liste der Amateurboxclubs in den östlichen Bundesländern auf dem Beifahrersitz. Ich fuhr und verschätzte mich mit den Entfernungen.

 

Fürstenwalde (Ost).

Müllrose (Ost).

Luckenwalde, Jüterbog (Süd).

Schwarzheide, Senftenberg und Spremberg (Süd-Ost).

Rathenow (West).

Schönow (Nord).

Teterow (Nord-Nord-Ost).

Krakow am See (Nord-Nord-Ost).

Wittenberg, Perleberg, Ludwigslust (Nord-West).

Prenzlau (Nord-Ost).

Neubrandenburg (Nord).

Altentreptow, Demmin (Nord-Nord).

 

Ein Problem war sicher auch, dass man im Auto, hinterm Lenkrad sitzend, immer nicht so richtig viel sieht.

So vergingen Wochen.

 

Der Hauswart hinter dem Eisenzaun in Luckenwalde.

Die Paintball-Halle in Schönow.

Die Stadtbefestigungsanlage in Altentreptow.

Das Ruderboot in Krakow.

Das Union-Lichtspielhaus in Prenzlau.

 

Achtung!

Hier kommt die rasende Reporter-Sau mit dem gesponserten Fiat 500!

Die Ausgedachtheit und Abgehobenheit des Projekts, eine möglichst beschissene Kleinstadt mit intaktem Boxclub in erreichbarer Entfernung von Berlin zu finden, war maximal kräfteraubend, verwirrend, zermürbend.

 

Was war im Einzelnen zu meiner Boxfertigkeit zu sagen?

Ich hatte zehn Jahre lang in einem Kneipenverein mit Schriftstellern, Journalisten, Grafikern und Fotografen trainiert. Ich war ein ausdauernder Seilspringer. Meine erste Führhand (Linke) war okay, aber schon die zweite kam nicht schnell genug. Ich war insgesamt nicht schnell. Meine Muskulatur in den Schultern war zu ausgeprägt, um eine schnelle Gerade zu schlagen, und in den Beinen nicht ausgeprägt genug, um drei Minuten Sparring ohne Wadenkrämpfe durchzustehen. Über eine Schritttechnik verfügte ich kaum. Immerhin, ich hielt die Ellbogen nah am Körper, und bei Partnerübungen konnte ich die Deckung so oben halten, dass ich ohne Blessuren davonkam. Am Sandsack konnte ich einige Kombinationen aus Geraden, Seitwärts- und Aufwärtshaken so anbringen, dass es für den laienhaften Zuschauer hübsch anzusehen war. Im Vergleich zu meinem Können war meine Erfahrung groß: Ich hatte mich oft erfolgreich aus der Affäre gezogen. Ich wusste, dass es im Ring vor allem auf zwei Dinge ankam: einen Mundschutz zu tragen und das Atmen nicht zu vergessen. Ich wusste – das war meine Stärke –, dass ich kein Boxer war.

 

Nach Eisenhüttenstadt fuhr ich nicht. Auf einer halbseitigen Fotoreportage der Bild-Zeitung hatte die Stadt so sagenhaft wüst, tot, leer, verseucht und von giftigen Winden durchweht ausgesehen: was für ein Aufschrei, was für eine Anklage (wie die Brecht-Inszenierung eines Brecht-Stücks aus den Fünfzigerjahren, bei der Brecht selber einen Lachkrampf bekommen hätte).

 

Dann kam ich, in der dritten Woche, nach Schwedt (35 000 Einwohner, am deutsch-polnischen Grenzfluss Oder gelegen), der Stadt, die der stets zu Fuß reisende Reporter Wolfgang Büscher einmal als die amerikanischste Stadt des deutschen Ostens bezeichnet hatte.

In der Oder-Stadt Schwedt blieb ich fünf Tage und fünf Nächte lang. Ich wollte es echt wissen.

 

In der Altstadt: alles auffällig neu. Neues Kopfsteinpflaster; neue, nach dem historischen Vorbild von 1890 gefertigte Straßenlaternen; schöne neue Mülleimer.

Da latschte ein Glatzkopf durch die Gasse, zog an der Linken einen Fiffi, an der Rechten ein blondes Mädchen hinter sich her. Die Band Boykott würde am Wochenende ihre CD Blut in eurer Hand im Suboptimal vorstellen.

Ich fuhr gleich wieder aus der Altstadt raus, vorbei am Schild, das Richtung Bundesgrenze zeigte, über Wiesen, in denen das Wasser stand, und zwei Flüsse, die beide die Oder sein konnten. Am Deich stieg ich aus und lief – Grüße an den wandernden Märchenreporter – weit oben in die wilden Winde und die für die Jahreszeit zu heiße und verrückt helle und gleißende Aprilsonne hinein.

 

Das Land der Plattenbauten: weites Land unter weitem Himmel. Ich glaubte, die Erdkrümmung zwischen den Plattenbauten zu sehen.

Die Plattenbauten waren rötlich, bläulich, gelblich, grau und beige. Die Straße zwischen den Bauten wirkte so breit wie eine Flugschneise. Längs der Straße standen Birken, auf dem Mittelstreifen der Straße wuchs ein silbrig glänzendes Kraut. Die Rasenflächen waren graubraun. Die renovierten Plattenbauten am Waldrand hatten bunte Balkone.

Es gab wenig, dachte ich, das so widersinnig und gemein aussah wie ein renovierter und mit Geranienblumentöpfen verzierter Plattenbau, weil dem Plattenbau so das Einzige, was ihn je ausgezeichnet hatte, nämlich seine Trostlosigkeit, genommen war.

 

Flackernde Fahnenreihen.

Obi.

Real.

Dreißig Jahre Mediamarkt.

Im Camp Hotel kostete eine Übernachtung inklusive Frühstück 22Euro.

Zur PCK-Raffinerie bitte rechts einordnen.

Viele Sackgassen. Man verfuhr sich komischerweise dauernd.

 

Im Burger King im Oder-Center hieß die Frage wieder: Maxi oder Spar?

Die Kingdeals kosteten 1,99 und 2,99Euro. Auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Platz der Befreiung, war der Polenmarkt aufgebaut. Und der Reporter las an diesem Tag zum ersten Mal den in den Kategorien Häme, Bosheit und sozialer Kälte noch mal eine ganz neue Dimension erreichenden Namen des Discount-Marktes »Mäc-Geiz«.

Schwedter Poesie, als Leuchtschrift über dem Oder-Center angebracht, lautete: »Zum Glück gibt’s Qualität zum Discount Billigpreis: Kaufland«.

Aber echt: zum Glück, ey. Da haben wir ja alle noch mal richtig Glück gehabt.

 

Der Boxverein »UBV 1948 Schwedt« lag in einem gelb gestrichenen Würfel mit der Aufschrift »Boxsporthalle Günther Jähnke«. Adidas-Fahne, Deutschland-Fahne, Brandenburg-Fahne. Vor der Halle war ein astreiner schwarzer 5er-BMW geparkt.

Vor der Glastür am Eingang, am großen Stehaschenbecher, trieben sich die Gestalten der Gegenwart herum: schmale Köpfe, die mit den seitlich wegrasierten Haaren, enge Jacken, weite Hosen, dicke Schuhe, Kapuzen über dem Kopf, Sporttasche über den Schultern.

Die Jungs guckten. Die Jungs taten selbstverständlich so, als ob sie nicht guckten, während sie guckten. Es sah vollkommen normal und harmlos aus, und es wirkte gleichzeitig supergefährlich. Die Jungs waren gut im Rauchen, Nichtgucken und Brandgefährlich-Aussehen.

Und nun geschah es, und ich erlebte die erste von vielen Spuckefaden-Theateraufführungen, auf die ich mich bei Antritt meiner Reise so gefreut hatte.

Es war ein schmales Kerlchen mit einer unglücklich langen Nase, die weit aus dem kleinen Gesicht herausstand, und einem kleinen, fliehenden Kinn. Der Junge trug einen Anzug von Adidas, der nicht für Auftritte in Diskotheken, sondern zur Ausübung echter Sportarten gemacht war. Er blieb im Kreis seiner Kumpels stehen, trat aber innerhalb des Kreises zwei kurze Schritte zurück, nahm den Oberkörper nach vorne und ließ, wie es das Spuckefaden-Schauspiel verlangte, den Spucketropfen erst auf der Unterlippe auftauchen, den Tropfen einen Faden bilden und den Faden sich so lange dehnen, bis er riss und sein unteres Ende auf dem Boden aufkam. Der Spucker blieb dann so, den Kopf nach vorne gebeugt und Mund geöffnet, noch einen Moment lang stehen, als überlegte er, einen zweiten Faden fallen zu lassen. Es kam dann aber nichts mehr.

Ich war begeistert.

Ich hatte gleich eine derartig geile Angst.

 

Trainer Bernd Bohley, eine Koryphäe unter den Boxtrainern Ostdeutschlands, gut fünfzig Jahre alt, Schnauzbartträger, von zäher und austrainierter Figur (dieser Bohley hatte seine Schützlinge über viele Jahre immer wieder in die Bundesliga und in internationale Kämpfe geführt), saß vor der Halle und rauchte eine.

Bohley sagte, er könne ein bisschen was erzählen, er tät’s nicht gerne, aber er könne es schon machen, sofern man denn eine vernünftige Frage an ihn habe, und dann sprach der Trainer gleich eine Verteidigungsrede, obwohl ihn niemand angegriffen hatte: Das mit den Nazis in Schwedt, so Bohley, das sei doch alles Pillepalle. Der Integrationsbeauftragte bei ihnen im Verein sei ein Schwarzer, gebürtig aus Mosambik, Isidor mit Vornamen, im Verein würde er aber nur Schneeball genannt. Ein feiner Kerl sei der Schneeball, und dass der Club einen Integrationsbeauftragten vorzuweisen habe, das sei ja wohl ein Zeichen.

Als Schneeball gerade, während Bohley erzählte, um die Ecke kam, forderte ihn der Trainer auf, sein Hemd zu heben und seine Bauchmuskeln zu zeigen, und Schneeball tat, was ihm befohlen, der Reporter blickte auf die immens hart trainierte Bauchmuskelplatte des Integrationsbeauftragten, und Schneeball lachte.

Der Trainer erzählte nun, dass es in Schwedt Nazizeiten gegeben habe, natürlich, damals, nach der Wende, als alle ein bisschen verwirrt gewesen waren, aber das sei vorbei: »Wir haben immer dafür gekämpft, dass es bei uns keine Diskriminierung gibt. Wer den Sport mitmacht und dahintersteht, den akzeptieren wir. Ist doch scheißegal, ob gelb, grün, rot oder schwarz. Ja! Is’ so!«

 

Am Ost-Highway Werner-Seelenbinder-Straße parkte ich am vierten Abend meines Aufenthalts in der Oder-Stadt meinen 500er und gab, am offenen Kofferraum stehend, meinem Kumpel in Berlin meinen Standort und den Stand der Recherchen durch.

Ich fand’s irgendwie lächerlich, einfach überflüssig, die Plattenbauten deprimierend zu finden. Die fänden doch sowieso schon alle deprimierend, da bräuchte es doch nicht mich noch zu. Obwohl sie – ganz in echt – natürlich echt deprimierend waren.

Ich konnte schwer entscheiden, ob ich die Plattenbauten hässlich oder schön finden sollte.

Das erzählte ich alles meinem Kumpel.

Schwedt an der Oder?

Plattenbauten?

Der Kumpel am Telefon erzählte von der amerikanischen Lifestyle-Zeitschrift Vice, die vom Hip-Hop, vom BMX-, vom Skateboard-Fahren und vom Über-dicke-Titten-Ablachen kam. Der deutsche Vice-Ableger, so der Kumpel, habe – sei schon ein paar Jahre her – ein Schwedt-Heft produziert. Legendäre Ausgabe, grandioses Heft. Mit Neonazi-O-Tönen, Modeproduktion mit Schwedter Assi-Kids, die ihre weißen Bäuche und Tätowierungen in die Kamera hielten, und mit schmissigen Überschriften wie »Schwedt-Porno« und »Bomben über Schwedt«. Also einmal voll mit dem dicken Berliner Lifestyle-Stift über das ganze Ost-Elend und die Plattenbauten drübergefahren. Das Heft habe bei den Lead Awards in Hamburg, der jährlichen Auszeichnung der besten Beiträge in Internet und Print, einen Preis gewonnen.

Überhaupt Plattenbauten, sagte der Kumpel am Telefon. Bei Plattenbauten falle ihm leider immer das Plattenbau-Quartett ein, das sich junge Akademiker-Menschen, die Berliner Medien-Hautevolee, als Ausdruck ihrer Überheblichkeit und ironischen Distinktion gegenseitig zum Abendessen mitbrächten: widerliche Plattenbauten. Der Plattenbau sei eben längst im ironisch-akademischen Lifestyle-Mainstream angekommen.

 

Da kam eine Plastiktüte mit fünfzig Stundenkilometern die Straße hinuntergefetzt.

Fetz.

Flatter, flatter.

Die Tüte blieb in einer der Birken am Rand des Highways hängen, riss sich los, stand kurz quer auf der Fahrbahn und tanzte über den Horizont davon.

Ein Auto, klein, rot, laut, mit UM-Nummernschild, bog auf den Highway ein, schaltete hoch, bremste runter, kam in Schrittgeschwindigkeit näher und zog, als es auf einer Höhe mit meinem 500er stand, mit Vollgas und dröhnendem Auspuff davon. Voll gut. Immer wieder ein schönes Manöver. Klassischer Auftritt.

Es gab hier, zwischen Plattenbauten in Schwedt, nichts mehr zu erledigen.

Ich fuhr zurück nach Berlin und dann gleich noch einmal in die Plattenbau-Stadt Schwedt hinein, nur, um mir beim Aufwärmtraining in der »Boxsporthalle Günther Jähnke« eine Rippe zu prellen und das rechte Knie so gründlich zu verdrehen (Verdacht auf Innenbandriss), dass ich die nächsten Wochen nicht mehr ohne Schmerzen würde auftreten können.

 

An einem Feiertag, Freitag, den 1. Mai – es war halb zehn abends und vor fünf Minuten dunkel geworden, ich hatte in Berlin noch eine Verabredung und wollte schnell nach Hause –, kam ich zum ersten Mal in meine Kleinstadt, fuhr ich zum ersten Mal in meine Stadt Oberhavel hinein.

Inhaltsverzeichnis

3 Western

Das gibt es ja angeblich nicht oft, dass man sofort weiß, dass man am richtigen Ort angekommen ist: Hier wusste ich das sofort.

Gleich ein rundherum gutes Gefühl (vielleicht kam es auch daher, dass ich mir, der ich mich am Ende eines langen Arbeitstages wähnte, in der letzten Tankstelle vor der Kleinstadt ein Bierchen gekauft, es im Wagen geöffnet hatte und die letzten Kilometer mit der geöffneten Büchse zwischen den Beinen in die Stadt hineingefahren war. Prost).

Was genau war gut?

 

Ich war schnell von der Autobahn runter und lange Landstraße gefahren, nicht die berühmten brandenburgischen Alleen, sondern durch Waldwege, auf denen im Scheinwerferlicht immer wieder Warnschilder auftauchten, die scharfe Rechts- und Linkskurven anzeigten und das Runterschalten vom vierten in den zweiten Gang notwendig machten.

Nach etwa einer halben Stunde fuhr ich immer noch Landstraße. Ich hielt es andauernd für möglich, dass mir das Benzin ausging, die Nadel aber zeigte konstant einen drei viertel vollen Tank an.

Landstraße: Immer die richtige Straße, wenn man weit weg, wenn man wirklich rauskommen und vom Weg abkommen mochte.

 

Links kam eine große Koppel, und da stand ein Pferd. Ich glaube, es war ein Pferd. Dann kamen Kühe, und dann lag links von der Fahrbahn etwas, das wie ein zerfallenes, von Gestrüpp überwachsenes Backstein-Gehöft aussah.

Der Wald war ein ganz anderer, als man Wälder in Bayern oder sonst wo in Westdeutschland kannte. Fast keine Bäume mehr, Stangen eher. Im Vorbeifahren sah der Wald, der der typische brandenburgische Kiefernwald war, wie im Horrorfilm The Blair Witch Project aus.

Und dann musste ich runter auf fünfzig.

Ich hatte gedacht, ich sei den falschen Weg gefahren, und dann war es doch der richtige gewesen: Etwa zehn Minuten vor der von mir erwarteten Zeit kam ich in der Kleinstadt an. Und nun stand ich, obwohl gerade erst angekommen, gleich mittendrin in der Stadt.

 

An einer Häuserecke parkte ich mein Auto.

Von hier aus stieg die Hauptstraße in die eine Richtung an, in die andere Richtung fiel sie ab. Die Häuser waren braun und flach, und so weit ich gucken konnte, blieben sie bräunlich, gräulich und flach.

Es gab keinen Plattenbau.

Stattdessen machte die Straße den Eindruck einer merkwürdig geschlossenen und heilen Kulisse, als hätte es hier ein Ort, der noch aus der Zeit vor den zwei Kriegen stammte, ohne die üblichen Schäden und ohne sich groß zu verändern, rüber in die Gegenwart geschafft.

 

Das Haus, vor dem ich meinen Wagen geparkt hatte, war bis auf Kniehöhe mit roten Fliesen verkleidet. Dann kam der graubraune, für die DDR typische Spritzbeton. Die Fenster waren mit Holzrollläden verschlossen. Dann fing auf nicht mal zwei Meter Höhe ein auffällig steiles und hohes, vor Jahrzehnten zum letzten Mal gedecktes Ziegeldach an. Mein erstes Haus in Oberhavel hatte also wenig Haus und viel Dach und gehörte zu den nicht renovierten Häusern im Osten.

Es stand nirgendwo ein Mond. Es war so geil dunkel an dieser Ecke, wie ich das aus der Großstadt nicht kannte.

Dunkelheit, fand ich, stand der Kleinstadt gut.

Und es war ganz wunderbar still. Keine Regung, Bewegung, keine Menschenseele. Man hört – in Momenten wie diesen – dann ja echt Hundebellen. In der Ferne zog jemand ein Auto in wenigen Sekunden von null auf achtzig hoch. Nicht weit von hier mussten Teenager auf der Straße sein: Lachen, Flaschenklirren.

 

Ich verschloss den Wagen, lehnte mich mit dem Rücken an mein Oberhavel-Haus, einen Schuh auf dem Gehsteig, einen Schuh gegen die Hauswand gestellt, die gestreckten Arme mit den Handflächen an den Spritzbeton gelegt, und schaute abwechselnd links und rechts die Hauptstraße hinunter.

Ankommen in Oberhavel.

Das Haus im Rücken, die Hände auf dem Spritzbeton, den Gehsteig unter mir, versuchte ich runterzufallen und reinzusinken in die Kleinstadt.

Hammerharte Übung.

So stand ich volle fünf Minuten lang.

Nach etwa zwei Minuten wechselte ich das Standbein.

Ich kam mir vor wie in einem gottverdammten Westernfilm. Fehlte nur noch, dass ich mir einen Zigarillo ansteckte oder einen Hut aufsetzte (mein Hut, der war übrigens Pierrot Le Fou-, nicht James-Stewart-in-The Man who Shot Liberty Valance-mäßig gemeint).

Fünf Minuten sind eine lange Zeit. Vielleicht stand ich deshalb auch nur drei Minuten so da.

 

Ich lief nun die Straße, die von der Hauptstraße abging, hinunter und fand – kompletter Zufall – gleich meinen Boxclub. Der »Boxring Oberhavel e. V.« war Teil des Sportstudios »Fitness Factory«, das neben Boxen die Sportarten Tai-Chi, Kung-Fu, Aero Biking und Step Aerobic anbot. In einem Glaskasten hingen die Trainingszeiten: »Di, Do, Fr, 16 : 30 Uhr bis 18 Uhr. Trainer Maik Brunner«. Drei Termine pro Woche waren mehr, als Kleinstadt-Boxclubs sonst auf die Reihe kriegten, ein gutes Zeichen also, und schon beim Lesen des Trainernamens Maik Brunner kam in mir eine Vorfreude und komische Panik hoch, die alte Angst, die für den Sport normal begabte Menschen vor Sporthallen haben, Angst vor dem Wettbewerb, vor den Umkleidekabinen, vor den Geräten, Angst, die falsche Ausrüstung dabeizuhaben, und Angst vor Trainer Maik Brunner, der seine Befehle schreien würde, denn Boxtrainer schrien ihre Befehle alle.

Der Club lag in einem zu einem Einkaufsgelände umfunktionierten ehemaligen Fabrikgelände. Es gab eine Fahrschule, ein Sonnenstudio, das italienische Restaurant »Ciao Ciao« und viel Platz zum Parken, in einem Nebenhof lagen der Billig-Kleidermarkt Kik und der Ein-Euro-Discounter Tedi. Das E von Tedi war ein Euro-Zeichen.

 

Ich lief mitten auf der Straße. Auf der Straße brannte nur eine Laterne.

Graue, dunkelbraune und sandfarbene Häuser, fast alle einstöckig. Die Häuser wirkten besonders niedrig, so niedrig, also wären sie nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten gebaut worden – wirklich so, als hätten sich die Häuser in die Erde hineingewühlt.

Man hätte in Regenrinnen hineinfassen können.

Fast alle Fenster waren mit Rollläden verschlossen. Schulterhohe Zäune aus Metall, auf einem war – so groß hatte ich das noch nie gesehen – ein etwa fünfzig mal fünfzig Zentimeter großes Profilbild eines Schäferhundekopfes angebracht: »Warnung vor dem Hunde«. Am nächsten Tor hing ein Schild mit der Aufschrift: »Vorsicht, bissige Hunde«. In einem Fenster war zwischen den Sichtschutzvorhängen und den Scheiben eine Ausstellung merkwürdiger Ziergegenstände aufgebaut: Strohsterne, ein Körbchen mit Papierblumen, ein Becher mit Spielwürfeln, eine Porzellangiraffe, ein Pitbull aus Porzellan.

 

Zurück am Auto pausierte ich erneut.

Ich hatte starke Zentrum-Gefühle.

Dann sah ich, dass in der abfallenden Richtung der Straße eine Brücke kam und das Zentrum der Stadt wohl erst dahinter begann.

 

Die Brücke war eine Zugbrücke, für Fußgänger und Fahrradfahrer passierbar, für den Autoverkehr gesperrt. Die Firma Siemens hatte die Brücke im Jahr 1992 neu instand gesetzt. Auf einem am Metall angebrachten Schild erfuhr ich: »Probstbrücke, Wahrzeichen der Stadt Oberhavel. Von alters her Übergang von der Stadt über die Havel und den Damm ins Dorf Probst.«

Fluss: immer gut.

Unter der Zugbrücke floss die Havel, zur einen Seite ins Grüne, in eine parkartige Landschaft hinein, die Bäume und Sträuche hingen ins Wasser, zur anderen Seite in ein hafenartiges Becken mit Schiffsanlegestellen und Schleuse. Man sah: ein Wohlstandsgefälle. Hinter der Brücke ging der wohlhabendere Teil der Stadt los.

Und ich lief in das schweigende Einkaufssträßchen hinein.

 

Hinter der Brücke stand das immer wieder rührendste Schild der Welt: Spielstraße. Mit weißem Strich auf blauem Grund war hier das Abbild einer glücklichen deutschen Wohnwelt abgebildet. Haus mit spitzem Dach, Vater und Sohn spielten Fußball, ein Auto fuhr, schön langsam.

Ich sah ein Geschäft, das ich gleich beim ersten Anblick für das Geschäft der Zukunft hielt: Es war vollkommen unklar, was es hier zu kaufen gab. Es stand auch nichts dran. Im Ladenlokal brannte keine Nachtbeleuchtung.

Ich ging ganz nah ran an die Schaufenster und spähte durch das Glas:

Der linke Teil des Schaufensters war mit weißer Spitze verhangen. Zwischen der Spitze klebte ein Stück Pappkarton mit der Aufschrift: »Wohnung zu vermieten«, ein weiterer Pappendeckel mit der Aufschrift »Frische Eier«. Im rechten Teil des Ladens waren etwa fünfzig Plastikkörbe in einer Billy-Regalwand von Ikea aufgestellt.

Es gab: Haargummis (zehn Stück für 15 Cent), hundert kleine Plastiklöffel (50 Cent), Salatbestecke (70 Cent), Steakmesser (99 Cent), Hundeleinen (ab 3,99Euro), Hochzeitskarten (25 Cent). Fünf Kilo Nägel kosteten 3,50Euro, ein Seifenablageset (zwei Seifenablagen) 2,15Euro. Faschingskostüme gab es in den Größen 94 bis 104. Am Reiseatlas DDR mit den sozialistischen Bruderländern Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, UdSSR klebte kein Preis. Der Laden handelte außerdem mit Groschenromanen (Tauschkurs 1 zu 1 plus 20 Cent). Erst jetzt verstand ich, dass das Geschäft, ein Kramladen oder Import-Export-Laden, Siggi’s Laden hieß: So stand es jedenfalls auf einer Papptafel in der Ladentür.

Siggi’s Laden empfand ich insofern als Geschäft der Zukunft, weil es hier nichts und gleichzeitig alles zu kaufen gab: Nicht die Nachfrage, sondern das Angebot bestimmte hier das Angebot. Das waren, grob vereinfacht, die Zustände in der DDR gewesen, und so hatte man sich auch die Zukunft des Einzelhandels in der ostdeutschen Kleinstadt vorzustellen.

 

Die Geschäftsstraße, die mit Siggi’s Laden begann, hieß Spandauer Straße. Kleine, bunte, pusselige Ladenwelt: Laden neben Laden. Der deutsche Einzelhandel.

Es gab einen Bäcker, Fleischer, Schuhladen, Friseursalon. Die Häuser waren hier höher und bunt gestrichen. Auch einige herrschaftliche Bürgerhäuser aus dem 19.Jahrhundert standen dazwischen.

Ein Marktplatz mit einem klassizistischen, geschätzt zweihundert Jahre alten Rathaus, rosafarben, renoviert und angestrahlt. Rechts neben dem Rathaus stand eine Eiche, von einer Rundbank umgeben.

Paar Schritte hin zur Eiche – zu einer Eiche mit Rundbank musste man doch hingehen: Auf der Bank war ein Schild mit der Inschrift »Friedenseiche, gepflanzt 1871« angebracht (lustig, 1871, das war doch das friedliche Jahr, in dem wir den Krieg gegen Frankreich gewonnen haben). Da stand außerdem ein Glaskasten mit amtlichen Bekanntmachungen der Stadt Oberhavel: Am 7.Juni ist Europawahl. Da bitte hingehen. Euer Bürgermeister. Gewarnt wurde außerdem vor dem mutmaßlichen Terroristen Carl C. Breininger. Konnte sein, dass der schoss, wenn man den an der Jacke festhielt.

 

Hier war das Zentrum.

Und hier fuhren auch Autos.

Das erste Auto, das mir in Oberhavel entgegenkam, war ein kleines, blaues Auto. Es saßen zwei Männer auf Fahrer- und Beifahrersitz. Beide trugen Baseballkappen. Es klebte der Schriftzug »Pitbull Germany« auf der Heckscheibe. Das Auto fuhr normal schnell. Keiner der beiden Männer guckte.

 

Hinter der Spandauer Straße stieß ich auf die Kirche der Kleinstadt, aus uralten Feldsteinen erbaut, mit einem mächtigen, viereckigen Turm. Die Kirche stand schräg auf einer Wiese, die von einem viereckigen Kirchplatz umgeben war, eingefasst von Lindenbäumen und zweistöckigen Häusern. Scheinwerfer strahlten sie an. Ein Gegenstück zur Kirche stellte, was Größe, Kraft und Herrlichkeit anging, eine riesenhafte Linde dar. Sie mochte fünfhundert Jahre alt sein.

Das sah jetzt alles, besonders im Glanz der Dunkelheit, sehr hübsch aus, hübscher, heiler, pittoresker, als man sich einen Kirchplatz in der ostdeutschen Kleinstadt vorgestellt hatte. Die Spandauer Straße endete an einer Ampelkreuzung mit Hinweisschildern in die umliegenden Kleinstädte.

 

Auf dem Bürgersteig kamen mir nun zwei Jungs entgegen, harmlos, mit wuscheligen Haaren, großen Jacken, Turnschuhen. Ich hielt die Jungs an, fragte:

»Jungs, Entschuldigung. Gibt’s hier was, wo man um die Zeit noch ein Bier trinken kann?«

Die beiden berieten sich kurz.

Dann sagte einer: »Gaststätte Schröder. Kann man sich wirklich nicht beschweren. Gutes Essen, faire Preise.«

 

Die Gaststätte Schröder lag auf der Spandauer Straße Ecke Kirchplatz in einem zweistöckigen, oben dunkelgelb, unten orangegelb gestrichenen Haus.

Offensichtlich und für jeden sofort erkennbar: das erste Lokal am Ort.

Das Schild auf dem Gehweg empfahl Gulasch mit Rotkohl für 4,85 und Schnitzel mit Brot für 2,70Euro.

Die hölzerne Tür hatte die Form eines Bierfasses. Schon draußen konnte man sehen, dass das Bier im Lokal keine sieben Minuten brauchen und die Klos geputzt sein würden.

Fünf Lampen strahlten das Schild mit der altdeutschen Schrift an: An der Hauswand waren außerdem Schilder mit den Aufschriften »Wernesgrüner, Pilslegende, Brautradition seit 1436« und »Premiere Sportsbar« und, als blauweißer Leuchtkasten am Hauseck, »Hertha BSC Fantreff« angebracht. Im Fenster hing die Ankündigung »Jeden Freitag Preis-Skat«. Auf einem zweiten Schreiben stand: »Die OVG informiert: Hertha BSC Bundesliga-Express-Bus Sonderfahrt. Wir bringen Euch ins Olympiastadion und auch wieder zurück.«

Auf dem Straßenschild vor dem Lokal klebte klein, halb abgerissen, ein Aufkleber des SC Hansa Rostock.

 

Im Schröder war um diese Zeit noch etwas los. Hinter den Vorhängen konnte ich eine lange Theke, Tische mit karierten Tischdecken und Spielautomaten sehen. Dazu Jeansjacken, rote Köpfe, Männerrücken, Männerhälse, Männerbäuche, Qualm, Bier.

Yeah.

Man hörte draußen auf der Straße jedes Glas, das drinnen in der Kneipe getrunken wurde. Ein Mann mit starken Armen und Bleistift hinterm Ohr reichte volle Biergläser von hinter der Theke nach vorne.

Gelächter.

Dann lachte einer richtig laut.

Wieder die Biergläser.

Ich konnte sehen, dass es nun etwas zu klären gab. Dann stand es kurz auf der Kippe. Dann gab es wieder was zu lachen. Und der starke Mann zapfte wieder Bier.

Ich sah die Bierfass-Tür an und wusste, dass ich es an diesem, meinem ersten Abend in Oberhavel noch nicht in dieses Lokal hinein schaffen würde.

 

Auf dem Weg zum Auto sah ich dann fast nur noch Asia-Bistros und Nagelstudios, obwohl es dieselbe Straße war, die ich vorhin entlanggelaufen war, nur eben in entgegengesetzter Richtung.

Es waren drei Asia-Bistros und fünf Nagelstudios. Den Begriff »Asia-Bistro« hatte ich vor Betreten der Kleinstadt weder gehört noch gelesen. Die Asia-Bistros hießen Asia-Bistro Phu Toan, aber auch einfach Asia-Bistro Welcome. Bei jedem der Asia-Bistros und bei drei von fünf Nagelstudios stand das Wort Neueröffnung auf den Fensterscheiben. In einem besonders flott aussehenden Studio las ich in neonbunten Buchstaben: »Fußpflege mit Massage 10Euro; Maniküre mit Massage 10Euro; Neumodellage mit komplett 30Euro; Auffüllen mit komplett 25Euro«.

Alles komplett. Das, meine Damen und Herren, waren wohl Spitzenpreise. Man sah, dass es dieses Nagelstudio schon in drei Monaten nicht mehr geben würde.

 

Hotel Lorenz.

Dann, nur zwanzig Meter weiter, auf derselben Straßenseite: Haus Heimat. Restaurant, Café, Pension. Inhaber W. Finster. Spandauer Straße Ecke Kopekenstraße.

Haus Heimat: wahrlich ein abstrakter Hotelname. Ich hatte nicht gewusst, dass es in Deutschland Häuser gab, die Haus Heimat hießen.

Ein grau-braun-beigelicher Gespensterkasten: oben fünf Fenster, im Erdgeschoss zwei butzenfensterartige Scheiben aus gelbgrünem Glas, dazwischen die von Fliesen eingefasste Gasthaustür. Links am Haus wuchs ein efeuartiges Kraut. Das Licht hinter dem Glaskasten mit der silbergoldenen Schrift »Berliner Kindl Jubiläumspilsener« flackerte.

Die Speisekarte im dafür vorgesehenen Speisekartenkasten empfahl Topfwurst mit Sauerkraut und Kartoffeln; Leber gebraten mit Kartoffelpüree; Aal grün mit Dillsoße und Kartoffeln.

Was um Himmels willen war Topfwurst?

Hinter Butzenscheiben lief ein Fernseher. Oder war das eine Sicherheitselektronik, die ansprang, sobald Gäste das Haus Heimat betraten?

 

Zufrieden stellte ich fest, dass die Straßen, die von der Einkaufsstraße abgingen, allesamt so aussahen wie die Straße jenseits der Brücke: niedrig, gräulich, bräunlich.

Eine Herrenstraße genannte Seitenstraße war der Länge nach aufgerissen; im Sand hinter den Absperrungen standen die Baumaschinen.

Insgesamt, so mein Eindruck, war es eine Kleinstadt wie im Westen, bloß ganz anders – grauer, brauner, fieser, härter, geduckter, hinterrückser, zwielichtiger, gemeiner. Ich fand’s gleich so geil hier – komisch, ganz entscheidend geiler als die etwa zwanzig anderen Kleinstädte, die ich in den letzten vier Wochen im Osten besichtigt hatte.

 

Beim Herauslaufen aus der Kleinstadt merkte ich mir:

Hotel Lorenz.

Gaststätte Schröder.

Zur Alten Eiche.

Franky’s Place.

Conny’s Hauswaren (Einkaufen mit Köpfchen).

Fun Factory (Unsere Preise machen Spaß).

Orig. Ital. Eis.

Karin’s Hair Studio (Lifestyle for Everyone).

Schneideratelier Ljubov Gustrow.

Süße Präsente an der Probstbrücke.

Haus Heimat.

Im Haus Heimat, so viel stand fest, wollte ich wohnen, wenn ich das nächste Mal in die Kleinstadt kam.

Ich guckte noch mal hierhin, dorthin.

Laufing the streets of Oberhavel.

Klar war ja auch, dass ich es hier einfach geil finden wollte.

 

Neben meinen Wagen hatte sich in der Zwischenzeit ein Mann im Rollstuhl, irgendwo zwischen fünfzig und achtzig Jahre alt, mit schwarzem Cowboyhut, Django-Bart und Decke über den Knien, auf den Bürgersteig gestellt.

Stand da einfach.

Guckte nun konzentriert in die andere Richtung, dahin, wo weder ich noch mein Auto war.

Ey, Kollege.

 

Gegen Mitternacht war ich zurück in Berlin, zufrieden und irre aufgewühlt zugleich, und schon zwei Tage später, zu Beginn der neuen Woche, fuhr ich wieder los, auf die Autobahn Richtung Nordosten.

Inhaltsverzeichnis

4 Hauptstraße

Vor Siggi’s Laden lehnte mittags gegen zwölf ein Lattenrost, in Plastik eingeschweißt, auf dem Bürgersteig. Kostenpunkt: 15Euro. Viele der Körbchen, die Haargummis, Hochzeitskarten und so weiter, standen ebenfalls einfach auf der Straße vor dem Haus.

Ich betrat – ganz Reporter, der einen Hut auf dem Kopf hatte – den Laden, suchte eine Verkäuferin und fragte sie, wie es ihr so ging. Ich fand eine Frau mit geblümtem Arbeitskittel, um die fünfzig Jahre alt, die nicht recht hochgucken wollte und lieber in ihren Körbchen wühlte.

 

Guten Tag, gute Frau. Wie geht es Ihnen?

Die Frau sagte nichts, wühlte weiter. Die Frau drehte mir den Rücken ihres Arbeitskittels zu. Mir fiel das Wohnungsinserat ein, das zwischen den Spitzendeckchen in ihrem Schaufenster hing.

Entschuldigung, aber die Wohnung, die in Ihrem Fenster hängt – gibt’s die noch? Könnte man sich die eventuell mal angucken?

»Alle suchen Einraum-Wohnungen in Oberhavel. Die sind schwer zu kriegen, weil man als Arbeitsloser ja nicht in mehr Raum wohnen darf. Und nun, entschuldigen Sie …«

Die Alte drehte sich um und sah mich von ganz unten an, beide Hände in den Wühlkörbchen.

Lieber Himmel, die Frau musste wirklich hart arbeiten!

»Ich kann mir hier ja von Ihnen keine Löcher in den Bauch fragen lassen, ich habe zu tun.«

Ah.

So war das.

Interessant, interessant.

 

Ich hatte bisher zwei Sorten von Gesprächen auf meinen Reisen durch den Osten geführt. Das eine Gespräch war – ganz gleich, ob ich danach gefragt hatte – bei Nazis, das andere bei Arbeitslosen gelandet. Es gab sie also, zwanzig Jahre nach Mauerfall, immer noch: die klassischen Ost-Themen. Als Reporter mit Hut musste ich mich auch um diese kümmern. Nützte nichts. Ich musste tapfer weiterfragen.

Wie viele Arbeitslose gibt’s denn hier in Oberhavel? Ich meine: Ich habe keine Ahnung. Sind es viele Arbeitslose, gute Frau?

»Kann ich Ihnen nicht genau sagen. Aber ja. Viele, viele Arbeitslose. Jeder Zweite in Oberhavel ist arbeitslos.« 

Ich verließ den Laden.

 

In Berlin hatte ich übers Wochenende ein paar Daten über die Kleinstadt Oberhavel zusammengesammelt. Wissenswertes aus zweiter Hand, Informationen aus dem Internet, wie es so schön heißt:

Oberhavel hatte – eingemeindete Dörfer eingerechnet – rund 14 000 Einwohner. Das war nicht viel. Das hieß, dass man als halbwegs aufmerksamer Neuzugang nach etwa vier Wochen alle Typen, die am öffentlichen Leben teilnahmen – im Fußballverein, beim Preisskat, beim Saufen –, einmal zu Gesicht bekommen hatte. Anders gerechnet: In einer Gemeinde von 14 000 Einwohnern hatten vielleicht 300 ein öffentliches Gesicht.

Oberhavel lag jenseits des Speckgürtels von Berlin, also jenseits der Gemeinden Oranienburg, Henningsdorf und Velten, die einen wirtschaftlichen Aufschwung und Bevölkerungszuwachs verzeichneten. Die Arbeitslosenquote lag bei 17Prozent. Das war nicht übermäßig viel (in Berlin waren es 16,3Prozent). Die gefühlte Arbeitslosigkeit war allerdings wesentlich höher, was daran lag, dass es in der Kleinstadt selbst kaum noch Arbeit gab. Die großen Betriebe waren nach der Wende abgewickelt worden. Wer arbeiten wollte, der nahm den Zug nach Berlin, oder er hatte sich auf eine Arbeitswoche eingelassen, die ihn von Montag bis Freitag ins Ausland, nach Schweden, England oder Holland, brachte.

Die klassischen Ost-Probleme Abwanderung und Überalterung waren auch in Oberhavel spürbar, allerdings in abgeschwächter Form.

Oberhavel war, anders als die umliegenden Orte, keine Stadt der ehemaligen Ackerbürger, sondern eine Arbeiterstadt. Das 19.Jahrhundert war wichtig für die Kleinstadt gewesen. Damals hatte man sich hier gewissermaßen erfunden.

Oberhavel: Stadt der Schiffer und Ziegler. Um 1890 hatte man beim Bau einer Eisenbahnbrücke Tonvorkommen entdeckt. Damals hatten sich Stadt und Umgebung zur größten Ziegelindustrie in Europa entwickelt. Weil Berlin zur Jahrhundertwende zur Großstadt explodierte, florierte die Ziegelproduktion, der Baustoff aus Oberhavel ging in unzähligen Schiffsladungen über die Havel nach Berlin. Nach dem Krieg holte die DDR Vertriebene und Flüchtlinge als Arbeitskräfte und verhinderte so einen Zusammenbruch. Der zweite Zusammenbruch kam dann, umso gründlicher, mit der Wende.

 

Vor gut zehn Jahren war der letzte Ziegelofen erloschen. Die riesigen Tagebaue hatte man in den Fünfzigerjahren mit Wasser geflutet: So war nördlich der Kleinstadt eine Seenlandschaft entstanden, die genau genommen keine Seenlandschaft, sondern eine verlassene Industrielandschaft war. Die sogenannte Tonstich-Landschaft, ein Teppich aus rund fünfzig Gewässern, sei bei Naherholungs-Urlaubern, so das Amt für Tourismus, bei Anglern und Radfahrern und bei Beobachtern des Fischotters, der Biber und der großen Rohrdommel, sehr beliebt.

Heute, so meine Internetrecherchen, wusste Oberhavel auch nicht so genau: eine Stadt, in der alles früher einmal gewesen war. Zu zehn Teilen Gegenwart kamen immer neunzig Teile Vergangenheit dazu, mindestens.

Der Stolz auf die glorreiche industrielle Vergangenheit war überall auffindbar, mehr noch, er machte bis heute einen Großteil des Selbstverständnisses, der Identität der Oberhaveler aus. Aber diese Identität war brüchig geworden, in dem Maß, in dem die Industrie weggebrochen war.

Klang doch alles schlüssig: So dachten also Menschen im Internet über Oberhavel nach.

Es gab auch kluge Leute, die darauf hinwiesen, dass die vierzig Jahre der DDR vergleichsweise folgenlos geblieben waren gegenüber den achtzig Jahren der klassischen Industrialisierung, in denen hier die Öfen gebrannt hatten.

 

Gab man im Internet den Namen der Kleinstadt ein, dann kam sehr bald, gleich nach den offiziellen Seiten der Stadt, eine ganz andere Geschichte: Vor einigen Jahren war in der Kleinstadt der jüdische Friedhof geschändet worden. Grabsteine waren umgeworfen und mit rassistischen Symbolen beschmiert worden. Da war noch einmal alles, was man sich als Städter oder Westmensch schon immer über die Kleinstadt im Osten gedacht hatte, wie eine unheilvolle Gleichung aufgegangen: Brandenburg – Kleinstadt – jüdischer Friedhof – Schändung – widerliche Sache. Drei Sechzehnjährige, von denen mindestens zwei durch neonazistische Gesinnung und Taten aufgefallen waren, hatten für die Tat haftbar gemacht werden können. Im Jahr 2007 waren erneut fünf Grabmale beschädigt worden, wobei nie abschließend geklärt werden konnte, ob ein Unwetter oder menschliche Zerstörungswut ursächlich gewirkt hatten.

Gab es sonst noch irgendwelche wissenswerten Daten zur Kleinstadt Oberhavel?

Ach, eigentlich nicht.

Mit 32Prozent stellte die SPD im Stadtparlament die meisten Sitze. Die NPD