Nochmal Deutschboden - Moritz von Uslar - E-Book

Nochmal Deutschboden E-Book

Moritz von Uslar

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Beschreibung

»Wenn du nochmal in unsere Kleinstadt kommst, muss es ein politisches Buch werden.« Deutschland im Frühjahr und Sommer 2019: Die AfD wird zur Volkspartei im Osten. Merkel hat Zitteranfälle. Vor zehn Jahren stattete der Reporter Moritz von Uslar der Kleinstadt Zehdenick im Landkreis Oberhavel in der brandenburgischen Provinz einen Besuch ab. Nun kehrt er zurück, er bleibt vier Monate und – wie schon in seinem damaligen Buch »Deutschboden« – lässt er die Geschichte und die Einwohner des Städtchens auf sich zukommen. Er sitzt in illegalen Kneipen, in Wohnzimmern und in Getränkemärkten. Er notiert mit oder lässt das Aufnahmegerät laufen. Das Urgestein Blocky, der Kneipenmann Heiko Schröder und die tätowierten Punks Raul und Eric tauchen wieder auf, neues Personal tritt nach vorne: die Bäckersfrau Katharina, das Barmädchen Pretty Baby, ein linker Skinhead, der in den 1990er-Jahren vor den rechten Glatzen fliehen musste. Anders als vor zehn Jahren ist der Reporter in der Kleinstadt aber kein Fremder mehr, und sehr schnell wird klar: Das ist hier nicht mehr das Deutschland, das es vor zehn Jahren war. Der Ton zwischen den Bewohnern hat sich verschärft. »Wenn du noch mal in unsere Stadt kommst, dann musst du ein politisches Buch schreiben«, hatte Raul, einer der Protagonisten, dem Reporter erklärt. Wer dieses Land im Umbruch – 30 Jahre nach dem Mauerfall – verstehen möchte, der sollte Moritz von Uslar, dem großen Geschichtenerzähler, dem Menschenfreund und wachen politischen Geist, auf seine Reise folgen. Haut rein. Wird nicht nur lustig dieses Mal.

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Seitenzahl: 328

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Moritz von Uslar

Nochmal Deutschboden

Meine Rückkehr in die brandenburgische Provinz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Moritz von Uslar

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Zum Geleit

Ein extrem undummer Junge

Teil zwei

Knuckle Roll

T4-Bus

Hauptstraße

Kandidaten / Flüchtlingskrise 2015

Hauptstraße, später

Das Weibliche

Schmutz (das Rechte)

AfD

Schleusner-Ranch

Scheißladen (Pretty Baby)

Ein Zehdenicker Bürger

Mein Freund Blocky

Gasbohren

Rambos Reden (Scheißladen II)

Bares für Rares

Bürgersprechstunde

Verregneter Mond

Herrentag

Hilda will ein iPhone

Rückkehr nach Deutschboden

Vakka Vakkmann comes to town

Inhaltsverzeichnis

Für Jana und Charly Seehausen

Inhaltsverzeichnis

»Take me to the station

And put me on a train

I ’ve got no expectations

To pass through here again«

The Rolling Stones, No Expectations

Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

Im Mai 2009 kam ich zum ersten Mal in die Kleinstadt, gut eine Autostunde nördlich von Berlin gelegen, und blieb drei Monate. Zehn Jahre später, im Frühjahr 2019, kehrte der Reporter in die Kleinstadt zurück – und hat es nicht so ganz anders gemacht als beim ersten Mal: mit dabei sein, das Aufnahmegerät laufen lassen.

 

Dies sollte nie nur ein blödes Fortsetzungsbuch werden – eher der Versuch, noch einmal neu klug dumm zu sein und, in der Tradition der Reporter, die ich bewundere, nicht alles von Anfang an zu wissen (was selbstverständlich nie ganz funktioniert). Die politische Situation in diesem Land legte es mir nahe, die Geschichte noch einmal von vorne zu erzählen, aber es war nicht nur die Politik: Der Autor wollte gucken, ob das ging, noch einmal abzuhauen von allem (richtig, das mit dem Abhauen würde so einfach nicht noch mal werden, aber zumindest an das Gefühl des Weg-von-allem-Seins wollte ich mich erinnern).

 

Die im Buch vorkommenden Personen werden, bis auf wenige Ausnahmen, nicht bei ihren richtigen Namen genannt. Einige real existierende Personen habe ich zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte verfremdet.

 

Mein Dank gilt meinen Buchhelden, dem Brüderpaar Raul und Eric und dem Zehdenicker Urgestein Blocky, sowie den Betreibern und Betreiberfamilien der Gaststätte Schröder, des Hotels Klement, des Istanbul-Imbisses, der Café Lounge Bar, des Spätkaufs, der Bäckerei Jahn, der Bäckerei Türcke, der Fleischerei Tiemann. Mein Dank gilt außerdem allen Bewohnern der Kleinstadt, die mich ein zweites Mal ertragen haben und die mich, zumindest kam es mir so vor, zwischendrin auch ganz gerne dabeihatten.

 

Der Autor

Berlin, im November 2019

Inhaltsverzeichnis

Ein extrem undummer Junge

Merkel zitterte, die SPD drohte, zumindest im Osten Deutschlands, unter die Fünf-Prozent-Marke zu fallen, im hessischen Wächtersbach wurde ein Afrikaner aus einem fahrenden Auto heraus niedergeschossen (Opfer der Tat war der aus Eritrea stammende Mann offenbar allein aufgrund seiner Hautfarbe geworden) – und mit dem Regionalexpress aus Oranienburg traf an diesem Juliabend um 18 Uhr ein stattlich aussehender, gut in die Jahre gekommener Skinhead ein, den die Kleinstadt zuletzt als die Zecke von Zehdenick gekannt hatte. Noch am Bahngleis zündete er sich eine Zigarette an und lief zu dem Kleintransporter, der mit laufendem Motor auf ihn wartete.

 

Es war gar nicht so einfach gewesen, Vakka Vakkmann – so war der Skinhead von jeher genannt worden – für einen Abend zurück in die Kleinstadt zu holen, für ein bisschen Biertrinken und mit späterem Abhängen vor dem Späti und im Scheißladen (wie Raul die Shisha Bar & Lounge auf der Berliner Straße getauft hatte), mit den Punks und Nazis, die es alle kaum fassen konnten, dass Vakka sich nach all den Jahren mal wieder in seiner Heimatstadt blicken ließ, und mit den Frauen von Zehdenick, den Gesichtstätowierten, Kurden, Flüchtlingen, den ewigen Hartz-IVlern, den Kleingangstern, den Schwindligen und den Komplett-Weggehämmerten oben aus den Ziegeleien, dem ganzen wunderbaren Kleinstadt-Volk also, das an einer Freitagnacht noch auf die Straße kam.

 

Die Kontaktaufnahme hatte sich über Monate hingezogen. Marcin, ein Mitglied der alten Aral-Gang, wohnte gegenüber von Vakkas Eltern (den Namen Vakka sprach man übrigens wie den englischen »Fucker« aus) und hatte da mal nachgefragt, ob es eine Nummer gebe. Nichts zu machen. Der ehemalige Diakon der Kleinstadt – in den Neunzigerjahren hatte Vakka Zuflucht in der Jungen Gemeinde gesucht – wehrte ab: Vakka sei der Typ, der, sei er einmal weg, ganz weg sei, er verstehe es, die Brücken zu seiner Vergangenheit und den Menschen, die ihm nahegestanden hatten, abzubrechen. Vakka wohnte, so eine der wenigen erhältlichen Informationen, in Potsdam, und das nun auch schon seit bald zwanzig Jahren, niemand wisse mehr. Recherche auf diversen Facebook-Seiten, die der Gesuchte offenkundig seit Jahren nicht mehr besucht hatte und auf denen er sich als Eisern-Union-Fan und in der nicht ganz einfach zu dechiffrierenden Garderobe eines linken Oi-Skins präsentierte (mit Domestos-Jeansjacke, Karohemd von Ben Sherman, »All Cops Are Bastards«-T-Shirt und einem grandios nach Pop und nach Randale aussehenden ausgeschlagenen Schneidezahn; auf einem Foto, hoppla, war Vakka Arm in Arm mit dem in Potsdam lebenden Modemacher Wolfgang Joop zu sehen) – nur Ratlosigkeit: »Vakka? Nein … Nein.«

 

Raul war der Einzige gewesen, der über die Jahre einen sehr losen, eben einen Raul-artigen Kontakt zu Vakka gehalten hatte. Sie hatten sich, immer ohne Anlauf und meistens spätnachts, wenn beide schon gut einen sitzen hatten, bei Playstation-Partys zum Zocken getroffen. Dann seien ihre Unterhaltungen und Absprachen, wie bei Zockern üblich, recht prosaisch verlaufen (»Ich flieg den Hubschrauber, du schießt«). Als Raul über die Direktnachricht-Funktion der Playstation um ein Treffen gebeten hatte: Schweigen, Abbruch der Verhandlungen, nichts mehr.

 

Der Reporter aber, komisch, hatte immer – schon bei allerersten strategischen Überlegungen zu diesem Buch – gespürt, dass eine Rückkehr nach Deutschboden nur möglich war, wenn auch Vakka, und sei es bloß für einen Abend, in seine Heimatstadt zurückkehrte. Vakka, Held des Fernsehfilms mit dem Arbeitstitel Die Zecken von Zehdenick (1999 gedreht), und Raul, Held des Buchs Deutschboden (2009 recherchiert), sie mussten sich treffen, an einem Tisch sitzen und den ganz großen Bogen erzählen, und der Reporter wollte natürlich dabei sein, mittrinken, mitlachen und mit der Faust auf den Tisch hauen, weil einfach nirgendwo so wild, so hart, so furchtlos, so wunderbar frei von irgendeinem Schuldbewusstsein erzählt wurde wie in der Kleinstadt.

 

Vakka Vakkmann, bürgerlich Sascha Vergin, ein Jahr vor Raul, 1981, in Zehdenick geboren. Sein Vater hatte schnell nach der Wende Läden der Handelskette Konsum von der Treuhand gekauft, sie weitergeführt und ordentliches Geld verdient. Vakka, so lautete die Geschichte heute, sei aus Prinzip immer gegen alles gewesen, er konnte kiffen und saufen bis zum Anschlag, er flirtete mit den Rechten, die in den Neunzigerjahren in Zehdenick den Ton angaben, dann wiederum ließ er sich als Zecke jahrelang von den Rechten aufs Maul hauen. Tatsächlich war es wohl so gewesen, dass Vakka sich als Noch-nicht-Dreizehnjähriger aus allergewöhnlichster jugendlicher Langweile und aus einem zarten Anflug der Rebellion heraus die Haare lang wachsen lassen und schmutzig blond gefärbt hatte und daraufhin von den Glatzen, die in den Schulen und auf den Pausenhöfen, in den Kneipen und auf dem Rathausmarkt die Macht bildeten, aufs Maul bekommen hatte.

 

Was als diffuser Widerstand und als ganz gewöhnliche pubertäre Geste der Selbstsuche begonnen hatte, wurde sehr schnell zu einem regelrechten Opfergang: Der schmale Junge bekam morgens, mittags, abends und, wenn er sich nachts noch einmal auf die Straße traute, dann nachts noch einmal aufs Maul. Vakka wurde die blond gefärbte Puppe, in die jeder Schüler, jeder Heranwachsende, jeder junge Mann, der seinem Selbstbewusstsein einen Kick geben oder sich vor den braunen Gangs produzieren wollte, einmal reinschlagen durfte – bald war es kein politisches Statement mehr, den Punk und die Zecke Vakka Vakkmann zu treten, wenn er schon am Boden lag. Man schlug ihn, weil alle ihn schlugen (und natürlich, wie in allen ostdeutschen Kleinstädten der Neunzigerjahre, fehlte es in Zehdenick an Ausländern und Gastarbeitern, die den Rechten als Opfer hätten taugen können). Gesendet wurde die Fernsehdokumentation Die Zecken von Zehdenick unter dem Titel Abgestempelt – Eine Clique gegen den Rest der Stadt. In der ersten Einstellung hetzte das fahrige Bild einer Handkamera über Kopfsteinpflaster, das von fahlem Ost-Straßenlaternen-Licht beschienen wurde. Der Film begann mit den Worten: »Angst. Ich habe ständig Angst, eins auf die Fresse zu kriegen.«

 

In der Kleinstadt hatte sich zuletzt das Gerücht gehalten, Vakka sei längst wieder bei den Rechten gelandet – was für ein Drama. Aus den Worten des Diakons ließ sich heraushören, dass der verlorene Punk ihn berührt, ja vielleicht sogar sein Herz angebrochen hatte: Vakka sei ein Süchtiger gewesen, natürlich, ein Schwindler, ein Grenzgänger, ein »glänzender und gefährdeter Mensch«. Und dann, Mitte Juli, kam von Raul plötzlich die Nachricht, dass Vakka sich gemeldet habe – gerne ein Bierchen, noch lieber zwanzig, dreißig Biere, klar, gerne zusammen abhängen, gerne quatschen. Er sei am Wochenende in der Kleinstadt, um einen runden Geburtstag seines Vaters zu feiern. Schon richtig, er sei schwer zu erreichen gewesen. Sein Handy, so Vakka zu Raul auf der Playstation-Sitzung, habe ihm »so ein Neger geklaut«.

 

Der Rückkehrer schwang sich aus Rauls blauem VW-Bus heraus, und ich konnte sofort sehen, dass es ein Wahnsinn gewesen wäre, wenn unser Zusammentreffen nicht stattgefunden hätte. Er trug kurze, graue Haare, einen Seitenscheitel, Puma-Turnschuhe, gewöhnliche weite Shorts mit Seitentaschen und – interessantes Statement – ein Polohemd von Ralph Lauren. Sein Körper sagte, dass er eher keine Lust hatte, ins Fitnessstudio zu gehen, und dass er dennoch ein zäher Kämpfer war. Ich sah als Nächstes seine harten, hellen Augen und eine Metallplatte im linken Ohr, auf der ein Eisernes Kreuz abgebildet war (seine Tätowierungen mussten später genau begutachtet werden). Er hatte seine Hündin dabei, ein graubraunes, strubbeliges Vieh, er rief es Uschi. Wir liefen zum Griechen, wo wir essen und Bier trinken wollten, und kamen an einem Garten mit weißem Federvieh vorbei. Vakka lief einen breiten Gang und zeigte die Beiläufigkeit und das abwartende Desinteresse, die angenehm waren beim Kennenlernen. »Hast du schon mal einen Ganter gesehen?«, fragte Vakka Uschi in allerschönstem Brandenburgisch. »Der kann bestimmt viel besser aufpassen als du.« Was für eine geile Szene.

 

Auf eine irre Art hatte sich Raul, mit dem ich vor exakt zehn Jahren meine ersten Runden in Zehdenick gedreht hatte, zu einem klugen Mitstreiter des Reporters entwickelt, zu einem, der mitdachte und im Sinne des Buchs und der Geschichte agierte, ohne dabei jemals seine eigentliche und natürliche Bestimmung – ein König, wenn nicht der König der Kleinstadt zu sein – aus den Augen zu verlieren.

 

Nicht dumm sein, war schon etwas Gutes, und tatsächlich, der Diakon hatte ja auch gesagt: »Das ist ein extrem undummer Junge, der Sascha.«

 

Vakka fragte die Bedienung, ob das Bifteki auf der Speisekarte (Hacksteak mit Käse) ohne Knoblauch serviert wurde. Grinsen: »Knoblauch, der Duft, der Skinheads provoziert.«

 

Doofe Frage: Waren Vakka und Raul eigentlich Freunde? Eher Bekannte und Kumpels. Immerhin, sie hatten sich nie geprügelt, auch nicht in den Neunzigerjahren. Raul: »Sagen wir so: Lebten wir heute noch in einer Stadt, wir wären sicher Freunde.«

 

Vakka sollte alles erzählen, von Potsdam und wie es sich da lebte, von ganz früher, den Zecken-Jahren in der Kleinstadt, und mit welchen Gefühlen er heute in seine Heimatstadt zurückkehre, wie Deutschland und Europa seiner Meinung nach mit den Herausforderungen der Immigration aus Afrika umgehen sollten, die für die kommenden Monate genauso wie für die nächsten hundert Jahre zu erwarten war, und wo er dieses verdammte Land im Jahr 2019, dreißig Jahre nach der Wende, hinkippen sah.

 

»Wat genau soll ich erzählen?«, fragte Vakka. »Wo soll ick anfangen?«

 

Der Rückkehrer erklärte: »Ich lebe nach einem alten ostdeutschen Wahlspruch: Ich bin kein Rassist, ich hasse euch alle.« Dann gleich hinterher: »Im Ernst, solange ich nicht über Frauenfußball reden muss: alles gut.«

 

Die drei großen Biere standen auf dem Tisch, Vakka hatte die Hand im Fell seiner Punkhündin, ich fragte, ob er mir, zum Warmwerden, die Geschichte seines fehlenden Schneidezahns erzählen wolle. »Meinst du den?«, fragte Vakka, nahm den rechten Schneidezahn aus seinem Gebiss und setzte ihn wieder ein. Wir sprachen. Die Geschichte konnte losgehen.

Inhaltsverzeichnis

Teil zwei

Deutschland, östlicher Teil des Landes, Anfang März 2019. Es war das Jahr, in dem der Mensch in diesem Land, auch wenn er sie nicht wählen wollte, sich mit der durch und durch dummen, der ganz und gar ärgerlichen Partei AfD beschäftigen musste. Konnte es nicht etwas Schönes, Leichtes, etwas angenehm Egales geben, mit dem man sich ablenken und stattdessen beschäftigen konnte? Das gab es natürlich auch noch, aber es war nicht gerade leichter geworden.

 

Im September hatte sich der größte anzunehmende Unfall knapp doch nicht ereignet, aber eben doch ein starkes Beben: Mit 23,5 Prozent in Brandenburg und mit 27,5 Prozent in Sachsen war die Partei von Björn Höcke, von Andreas Kalbitz und von Alexander Gauland nicht als Nummer eins, aber doch als großer Sieger der Landtagswahlen ins Ziel gegangen (in Brandenburg konnte die AfD ihre Ergebnisse von 2014 knapp verdoppeln, in Sachsen verdreifachen). Bei den Europawahlen und den Kommunalwahlen in Brandenburg war die AfD stärkste Partei geworden. Seit jenem September 2019 waren Koalitionen allein mit dem Zweck gebildet worden, die AfD zu verhindern. Nicht nur dort, aber eben auch exakt auf dieser Linie verlief der Rechtsruck.

 

Kleine Chronik der Ereignisse. Im Januar hatte eine ostdeutsche Nationalikone, der ehemalige Handballnationalspieler Stefan Kretzschmar, seinen Satz über die Meinungsfreiheit verkündet (sinngemäß: In Deutschland dürfe man keine gesellschafts- und regierungskritische Meinung mehr äußern). Beim Deutschland-Serbien-Spiel der U 21 am 21. März beschimpften Zuschauer auf der Fan-Tribüne der Wolfsburger Arena den Nationalspieler Leroy Sané als »Neger« (wie man den denn bitte sonst nennen solle, hatte der Fan entgegnet, als ihn ein Sportreporter auf den Zuschauerrängen zur Rede stellte). In einer Umfrage gaben 35 Prozent der Ostdeutschen an, sich als Deutsche zweiter Klasse zu fühlen, nur eine Minderheit (42 Prozent) der Ostdeutschen hielt die Demokratie für die beste Staatsform (in Westdeutschland waren es 77 Prozent).

 

Ende April dann, als CDU und SPD in Umfragen erstmals hinter die AfD zurückfielen, war Dietmar Woidke, Ministerpräsident von Brandenburg – 1,94 Meter groß, Bauernsohn aus der Lausitz –, für politisch tot erklärt worden. Die Zeitungen mussten sich – wieder einmal – die Frage gefallen lassen, ob sie sich in den vergangenen Jahren vielleicht nicht zu selten, sondern zu oft mit der dummen Partei AfD beschäftigt hatten, und ob es klug und hilfreich war, das, was da im Osten gleich nach 1989 und nach der Friedlichen Revolution entstanden war – Abstiegsängste, Gefühle von Ohnmacht und Zweitklassigkeit, mangelnde Erfahrung mit der Demokratie, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – und sich bis heute zur gesellschaftlichen Normalität ausgewachsen hatte, Faschismus oder Nationalsozialismus zu nennen.

 

Und der Reporter stand, wieder wie so ein richtig cooler Reporter-Darsteller, dieses Mal nicht mit Hut, sondern mit einer Lesebrille aus dem dm-Drogeriemarkt (7,99 Euro), die an einer Metallkette vor seiner Brust baumelte, und wieder mit dem Olympus-Aufnahmestift in der Hand, auf der Hauptstraße der Kleinstadt, da irgendwo zwischen den zusammengedrückten, viel zu bunt angestrichenen brandenburgischen Häuslein, dem Friseur Kamm Inn, dem Kramladen mit der wunderbaren Fensterladenaufschrift »Textilien / Geschenkartikel / Haushaltswaren / Schneiderarbeiten (Änderungen)« und der von ihm so heiß, ja wirklich innig geliebten Kneipe Schröder, und ließ die Leute und ließ die Geschichte – soweit das nach all den Jahren möglich war – noch einmal auf sich zukommen.

 

Vor neun Jahren, im Herbst 2010, war mein Reportage-Buch Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung erschienen. Exakt vor zehn Jahren, auch in den Frühlings- und Sommermonaten April, Mai, Juni und Juli, hatte sich meine Geschichte in der brandenburgischen Kleinstadt ereignet. Mein journalistisches Ethos, ja mein Verantwortungsgefühl hatten mich nun erneut in den Ort, gut eine Autostunde nördlich von Berlin, getrieben. Mein, bitte, was?

 

Eine andere Erklärung lag näher: Ich hatte einfach schon zu lange nicht mehr in meiner kleinen Havelstadt gelebt – ich wollte zurück in mein dirty Hardrockhausen, zurück zu den Leuten, die »in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und an einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen« (Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung). Wie schon vor zehn Jahren trieben mich ein Forschergeist und eine merkwürdige Ungeduld, mit ganz anderen Menschen zu sein als denen, mit denen ich qua Arbeit (Journalismus) und sozialem Umfeld (Galerien und drei, vier Lokale in Mitte und Kreuzberg) angeblich bestimmt war, meinen Alltag zu verbringen.

 

Ja, ich wollte wieder einmal nicht mit den netten Menschen sein, nicht mit den Guten, Fairen und Geschmackvollen, nicht mit den Verantwortungsvollen und Reflektierten, die in der Kleinstadt natürlich auch die ganz überwiegende Mehrheit stellten – sondern mit den Arschgeigen, den Hässlichen, Kaputten, denen mit den hässlichen Turnschuhen, den hässlichen Brillengestellen, den Augenbrauenpiercings und den hässlichen Tunneln in den Ohrläppchen. Ich wollte mit denen sein, wie Raul es später ausdrückte – zur Halbzeit der Recherche, als der Reporter am Bierwagen vor Bernie’s Café eine Hand ins Gesicht gelangt bekam –, die »anders fertig« waren. Anders fertig. Gut.

 

Was war der Unterschied meiner Recherchehaltung zur vor neun Jahren veröffentlichten Reportage? Na ja, ich hatte schon verstanden, dass die Feier und romantische Verklärung des Kleinstadt-Prolls, die im ersten Buch so exzessiv Thema und der Schmäh gewesen waren, als eine demonstrative Gedankenlosigkeit oder Denk-Verweigerung, man konnte auch sagen, als Feier eines Anti-Intellektualismus gelesen werden konnten. Darum war es mir natürlich nie gegangen, im Gegenteil (ich war ja Intellektuellen-Fan).

 

Wer aber 2019 den Proll feierte, der musste auch sehen, dass die böse und asoziale Sprache längst von der politischen Rechten vereinnahmt worden war und dass diese Rechte, spätestens seit der Bundestagswahl 2017, erheblich an Macht dazugewonnen hatte. Mit dem Blick von heute: Bei meinen Recherchen vor zehn Jahren hatte mir schlicht die Fantasie gefehlt, um zu erkennen, dass der Flirt mit rechts kein abklingendes Phänomen der Nachwendezeit und der jüngeren Vergangenheit gewesen war, sondern dass Rassismus, Menschenverachtung und Demokratie-Feindlichkeit noch einmal deutlich zulegen und erheblich an politischer Relevanz gewinnen sollten (rückblickend konnte man vielleicht sagen: Ich war nicht der Einzige gewesen, dem in dieser Hinsicht eine gewisse Fantasielosigkeit attestiert werden musste). Und natürlich war es eine ganz andere Sache gewesen, mit den Asis und bösen Jungs in Kneipen und auf der Tankstelle herumzuhängen, als diese noch die Fraktion der Hoffnungslosen, der Randsteher, Außenseiter und Underdogs gestellt hatten und nicht wie heute von einer Partei repräsentiert wurden, die bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen die höchsten Zugewinne verzeichnete.

 

Noch eine Wahrheit, wieder nicht ganz unwichtig: Tätowierungen waren im Jahr 2019, nachdem mittlerweile praktisch die ganze Bundesrepublik tätowiert war (nicht nur Fußballer, sondern auch Ex-Bundespräsidenten-Gattinnen), schlicht nicht mehr der großen Rede und Beschreibung wert.

 

Und noch ein herrlich brenzliger Punkt: In den letzten zehn Jahren, besonders im Frauenjahr 2017 (Weinstein-Skandal, #MeToo), hatte sich die Art, wie im Schriftlichen über Frauen gesprochen werden konnte beziehungsweise wie Frauen in einer von Männern dominierten Mikrowelt und Öffentlichkeit (Kneipen in Zehdenick) praktisch mit keinem Wort erwähnt wurden, doch erheblich geändert. Der erste Teil der Reportage las sich in dieser Hinsicht heute, so viel Selbstkritik war möglich, wie ein Buch aus einem anderen Jahrzehnt. Ich war selber gespannt, wie sich das neue »Geht nicht mehr« oder, schlimmer noch, »Geht gar nicht mehr« in meiner Geschichte niederschlagen würde.

 

Und – ja –, die Idee war noch einmal, dass es die Alltäglichkeit und die Normalität als Reportagestoff natürlich total brachten (normal war das, was sich durch einfache Teilnahme, Nicht-Nachfragen, Nicht-Einmischen, Nicht-Nachbohren zeigte, alle großartigen Reporterpreis-Reportagetechniken waren weiter zu vernachlässigen). Die Idee war ja einmal mehr, dass in der Kleinstadt ein genaues Studium der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse möglich war, eine präzise Diagnose, ein gerader Blick auf die Kaputtheiten und in die Abgründe unserer Zeit, der in der Großstadt längst verstellt war. Hier in der Kleinstadt glaubte ich – der Mann, der auf die fünfzig zuging –, eine unverfälschte und ungeschminkte (schreckliches Wort!) Prognose der Möglichkeiten zu erhalten, die das Leben noch bereithielt.

 

Hatte der Reporter vielleicht eine Krise? War es vielleicht doch eine, haha, verkappte Depression? Gab es eine dunkle Geschichte zu erzählen, gar eine romanhafte Verstrickung, etwas mit Liebe und Frauen, das die Flucht aus der Großstadt unvermeidlich gemacht hatte?

 

In der Fortsetzungs-Hölle. Die Bedingungen für eine Recherche, die sich auch nur als halbwegs objektiv bezeichnen ließ, hatten sich, dadurch, dass zehn Jahre vergangen waren, natürlich nicht gerade verbessert. Mit dem Personal von Deutschboden I – den Jungs der Band 5 Teeth Less, dem Brandenburger Ureinwohner Blocky, den Kneipenleuten Hansi und Heiko Schröder – hatte ich über die Jahre Kontakt gehalten, mit einigen, vor allem meinen Buchhelden Raul und Eric, fühlte ich mich längst befreundet. Mit der Mutter von Raul und Eric, einer Art First Lady der Kleinstadt, hatte sich eine Wahlverwandtschaft ergeben: Zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag schickte sie mir liebevoll gepackte Carepakete (mit selbst gestrickten Socken, selbst gemachter Marmelade, selbst gepflücktem Brennnessel-, Pfefferminz- und Erkältungstee). Bewegende Sache – der Reporter war, selbstverständlich ohne dass dies je besprochen werden musste, Teil einer Familie in Brandenburg geworden.

 

Zeitungs- und Fernsehreporter waren nach Erscheinen von Deutschboden nach Zehdenick gekommen, hatten ihre Kameras vor dem rosafarbenen Rathaus und am Stammtisch der Kneipe Schröder aufgebaut, eine Neufassung des Buchs als Kinofilm war gedreht worden (Regie: André Schäfer, 2014). In seiner brandenburgischen Heimat war der Reporter längst kein anonymer Beobachter mehr, sondern – so lächerlich das klingen mochte – ein Prominenter, ein »Ach Gott, der schon wieder«, ein irgendwie lächerlicher Prinz. Anders als bei den Recherchen zum ersten Teil wussten die Leute, mit denen ich sprach, dass meine Notizen und ihr O-Ton, den ich zu jeder Tages- und Nachtzeit und an jedem erdenklichen Ort, in privaten Wohnzimmern, in Kneipen, auf Tankstellen und auf Bürgersteigen aufzeichnete, nicht in meinem Aufnahmegerät verschwanden, sondern dass daraus Text entstand. Vorsichtig ausgedrückt: extrem interessante, recht delikate Bedingungen für eine Reportage.

 

Anruf bei den Jungs, ob sie sich einen zweiten Teil vorstellen könnten – ach, das Riesenthema Älterwerden: Raul, damals 26, war heute 36 Jahre alt, Eric, damals 24, war heute 34. Die enorm freundliche und bedächtige Stimme des Protagonisten Raul am Telefon: »Das könnte man schon machen.« Schweigen. Fortgesetztes Schweigen des Romanhelden. Raul erklärte nun: »Das wäre dann ganz was anderes. Also nicht mehr Bier und Abfahrt. Sondern mehr so Kaffee, Tee und gute Gespräche.« Großes Gelächter, Freude am Telefon.

 

Und Raul quatschte sich sofort in eine unmittelbar hochinteressante dramaturgische Ausführung hinein: Deutschboden II müsste sich zum ersten Teil verhalten wie der Film Terminator II zu Terminator I. Die Helden, also sie, die Brüder Raul und Eric, dürften nur im ersten Drittel des Buchs auftauchen, vergleichbar mit dem T-1000, dem flüssigen Roboter, verkörpert von Robert Patrick, der nur im ersten Drittel des Films eine Rolle spielte – dann müsste ein ganz neues Personal mit ganz neuen Geschichten eingeführt werden, Gestalt annehmen und an Fahrt aufnehmen, fesseln, durch die Handlung und das Buch tragen, bis Raul und Eric zum fulminanten Showdown am Ende des Buchs wieder auftauchten. Okay.

 

Der Reporter notierte zehn abstrakte Fragen, die großen zehn, die er den Brandenburgern, so, wie sie ihm vor das Aufnahmegerät liefen, stellen wollte:

 

»Sonst so?

Wo tat es gerade weh?

Wie blieb man aufrecht?

War rechts sein auch okay, oder war das Mist?

Stolz darauf, aus Ostdeutschland zu sein?

Dreißig Jahre nach Mauerfall, wie ging es der deutschen Seele?

Durfte man in Deutschland seine Meinung sagen?

Wer hatte die durch den Menschen gemachte Klimaerwärmung erfunden, die Grünen oder die Chinesen?

Wie lauteten deine Abschiedsworte an Angela Merkel?

Gab es die große Liebe?«

 

So weit meine Vorbereitungen. Um die Protagonisten von Deutschboden II zu beruhigen, behauptete ich am Telefon, dass der zweite Teil natürlich journalistischer, sachlicher, härter recherchiert, ganz sicher auch politischer werden würde, etwa das also, was man als Journalist auch seinem verantwortlichen Redakteur erklärt hätte (»Weniger Räuberpistole, weniger Pippi Langstrumpf als der erste Teil«). Ich ging davon aus, dass es dirtier werden würde, zäher, böser, ich ging vom Schlimmsten aus, und natürlich, ich hatte wahnsinnig Angst – Angst auch davor, dass man mir, dem Reporter, nach all dem Gequatsche einfach mal eins auf die Fresse schlug (das hätte ich, kein Spruch, vollkommen verstanden, wenn einer der Männer, mit denen ich jeden Tag zu tun hatte, eines Tages gesagt hätte: »Jetzt haben wir genug geredet – jetzt gibt es einfach mal, um Luft zu holen und damit du mal den Rand hältst, voll eins aufs Maul«).

 

Und dann saß ich im Regionalexpress Richtung Oranienburg, der am Gleis 5 des Berliner Hauptbahnhofs am Morgen des 12. April um 7.55 Uhr abfuhr. Denn Geschichten, auch Fortsetzungen, das wusste doch jeder, begannen niemals im Auto, immer im Regionalexpress.

Inhaltsverzeichnis

Knuckle Roll

Wiedersehen mit den Brüdern Raul und Eric. Ich nahm sie mir einzeln vor.

 

Raul schlug vor, dass wir ganz beiläufig irgendwo zusammentrafen – bloß kein Aufsehen, bloß keinen Aufschlag, der nach großem Wiedersehen aussah –, also zum Beispiel vor dem Istanbul-Imbiss, der vor gut zwei Jahren eröffnet hatte, Berliner Straße, Ecke Poststraße. Döner essen, gleich aus der Alufolie heraus, Käffchen dazu.

 

Drei Dinge, so hatte Raul mir vorab erklärt, hätten sich in der Kleinstadt über die letzten zehn Jahre verändert – das sei es schon, mehr müsse ich, der Reporter mit Lesebrille, eigentlich gar nicht wissen:

 

Es habe, erstens, ebenjene Dönerbude eröffnet, vor der wir uns treffen sollten, erstklassige Ware, wirklich einwandfrei zu genießen – mit ihr habe Zehdenick endgültig, mit dreißig Jahren Verspätung, seinen Anschluss an den Westen vollzogen (»Wir liegen jetzt kulinarisch irgendwo zwischen Hamburg, Dortmund und Frankfurt«). Er bat um Verständnis: Nicht der Dönerladen sei für die Kleinstadt die Neuigkeit, einen solchen gebe es hier gefühlt schon seit Ewigkeiten (vor zwanzig Jahren schon am Kaiser’s-Parkplatz), sondern die Uhrzeit, zu der man den Döner in dem neuen Laden essen gehen konnte. Unter der Woche habe der Istanbul-Imbiss bis mindestens ein Uhr nachts geöffnet, am Freitag und Samstag bis in die Morgenstunden.

 

Raul: »Eine Riesenverbesserung für Leute wie mich – die Herumtreiber, Stadtrundendreher, Stoner, World of Warcraft-Gamer, Leute, die nachts arbeiten oder Mollen saufen oder beides und morgens früh nach Hause kommen.« Ein Zehdenicker Grundnahrungsmittel sei die Döner-Box (der Döner zum Mitnehmen) – jetzt, zu unserem Treffen auf der Berliner Straße, lautete seine Bestellung: »Einen Disco-Döner, bitte.« Das war der ohne Zwiebeln und ohne Knoblauchsoße.

 

Raul nannte mir die Vornamen der beiden jungen Männer, die, mit Stoffhüten und Polohemden mit der Aufschrift »Istanbul-Imbiss« bekleidet, am Dönerspieß standen und das Fleisch und den Krautsalat in die Brothälften verteilten: Ibu und Ahmet, zwei aus dem kurdischen Teil der Türkei stammende Jungs. Sie begrüßten mich mit der Döner-Kebab-Verkäufer-typischen Grundgelangweiltheit und Slickness, die der Berliner aus den migrantisch geprägten Vierteln Kreuzberg und Neukölln kannte. Und an der Art, wie sie Raul bedienten, erkannte ich, dass sie ihn des Öfteren zu vorgerückter Stunde erlebt hatten, dass es zwischen ihnen also ein für das Nachtleben typisches, pragmatisches Vertrauensverhältnis gab und sie sich, in einer für sie bequemen und vorteilhaften Art und Weise, keine Illusionen über Raul machten.

 

Zweite, auch für mich, den Großstadt-Menschen, essenzielle Veränderung: Die Kurden von der Dönerbude hatten, weiter oben auf der Hauptstraße, auf Höhe des Rathausmarktes, einen Späti eröffnet mit dem für diese Läden üblichen Programm (Tabak, Alkohol, Fresszeug, das süße und das salzige). Der Chef von Ibu und Ahmet, den Raul mir noch vorstellen wollte, war ein gewisser Sarhan. Späti, natürlich immer gut.

 

Sarhan führte außerdem – ganz wichtige Neuerung, ganz wichtige Geschichte, das musste alles noch ausführlich und ausgiebig erzählt und in allen Einzelheiten besprochen werden – die im selben Haus wie der Istanbul-Imbiss gelegene »Café Lounge Bar«, ehemals District, davor Franky’s Place genannt – der verbotene Laden, der Abkackladen, die ganz böse Kaschemme, in der ich vor zehn Jahren mit den Jungs der Band 5 Teeth Less, mit Raul, Eric, Rampa und Crooner, nach allen Regeln der Kunst, immer nach ausgiebigen Besuchen der Kneipe Schröder, vor die Hunde gegangen war: klebrige Drinks, nächtliche Brüllereien, Schubsereien, Schlägereien, alles da. Den Laden hatte Raul, wie schon gesagt, kurzerhand »Scheißladen« oder auch »Laden der Scheißigkeit« getauft und dafür gesorgt, dass sich der Name in der Kleinstadt rasend schnell durchgesetzt hatte (»Scheißdrinks, Scheißgäste, Scheißmucke, Scheißspaß, Scheißladen«).

 

Raul gab mir jetzt eine erneute Idee davon, wie paradox seine Ausdrucksweise manchmal ausfallen konnte, wie er also gleichzeitig eine grandios abfällige Vokabel hochfahren und eine große Zuneigung für das nur auf der Oberfläche von ihm geschmähte Lokal empfinden konnte: »Die fettesten Urseln, das asozialste Ziegelei-Pack, Nazis, Russen, Türken, Flüchtlinge, hier trifft sich alles, hier sitzt alles an einem Tisch.« Und weil er gerade Schwung hatte, sprach Raul jetzt das große Scheißladen-Credo: »Ich mag den Scheißladen, ich brauche das fertige Volk – keine Ahnung: Ich setze mich nun mal lieber mit drei, vier kaputten Vollidioten an den Tisch, bevor ich irgendwo um 18 Uhr bei einer Gartenparty einlaufe, mit einer Schüssel Nudelsalat unter dem Arm.«

 

Natürlich, es gebe jede Menge Konfliktpotenzial, oft habe er, Raul, sich als Streitschlichter betätigen müssen, er habe da großes Talent. (Er rief dann, und diese Worte hatte er selbst gefunden, wenn er selber stinkbetrunken gewesen war: »Jungs! Ruhig Blut. Ich habe hier keinen Bock, gleich wieder die Bullen im Laden zu haben. Wo sind wir in einem Jahr? In einem Jahr sind wir doch eh wieder Kumpels – aber vor Gericht sitzen wir alle auf zwei Holzbänken und stottern uns einen ab, und keiner will’s gewesen sein. Lasst uns also nicht die Zeit mit Strafvollzugsbehörden verschwenden und lieber noch einen trinken.«) Das Schöne aber sei doch, so Raul, dass es im Scheißladen von heute, im Gegensatz zu den alten Zeiten von Franky’s Place, meistens friedlich bleibe (natürlich, vor zehn Jahren, oder noch davor, in den Neunzigerjahren, zu Nazi-Zeiten, sei ein friedliches Miteinander-Trinken undenkbar gewesen).

 

Einen Moment, Raul. Seinen Scheißladen, den musste ich mir – jetzt gleich zu Beginn meiner Reportage – einmal ganz genau mit ihm angucken gehen.

 

Blick auf die mit schwarzer Folie zugeklebten Scheiben, darauf Fotos einer Shisha-Pfeife und von Cocktailgläsern mit exotischen Drinks. Die immer gute Warnung »Eintritt ab 18 Jahren«. Über dem Eingang lief ein elektronisches Werbeband mit bunten Buchstaben: »Lounge Bar Spielen macht Spaß Dart Billard Cocktails Fassbier Heiße Getränke«. Die große Alternative, auf die das Leben schlechthin hinauslief, flitzte über die elektronische Anzeige: »Alkoholische und nicht alkoholische Getränke«. Die ganze Trostlosigkeit der Shisha-Bars und Wettbüros der Berliner Prekariats-Viertel war anwesend, aber komisch, hier in der Kleinstadt wirkte sie nicht trostlos. Es war, so früh am Tag und so früh in der Geschichte, noch nicht an der Zeit, einen Schritt in das Lokal hineinzuwagen. Raul: »Keine Sorge, du wirst noch sehr, sehr viel Zeit in diesem Laden verbringen.«

 

Die dritte Veränderung, und die sei so furchtbar, dass es ihm hier eigentlich gleich die Sprache verschlug und alle Spucke wegblieb – Raul prügelte den Rest seines Döners in einen Mülleimer und hatte jetzt schnell eine Zigarette im Mund, die im Handumdrehen brannte: »Das Aller-, Aller-, Allerfurchtbarste, wir können es alle eigentlich noch gar nicht fassen: Der Große Ratskeller hat dicht.«

 

Okay. Noch einmal, ganz in Ruhe: Der Große Ratskeller auf der Berliner Straße hatte zugemacht. Das war, auch für den Reporter, der sich seit seinem ersten Aufenthalt in der Kleinstadt wie ein halber Zehdenicker fühlte, wirklich eine Nachricht. Wirt Bernd, seit Urzeiten Pächter des Lokals – großer Gastgeber, Schankmann, Geschichtenerzähler, der Mann mit der Lederweste, an der Sticker mit der Deutschlandfahne, der aufgehenden FDJ-Fahne und von Hertha BSC hefteten –, er hatte, für alle überraschend und ohne große Erklärung, Schluss gemacht.

 

Mir war jetzt ein wenig so, als wollte ich Raul an den Händen nehmen, um mich gemeinsam mit ihm noch besser erinnern zu können – also gut: Der Ratskeller war die große alte Dame der Zehdenicker Trinkkultur gewesen, eine Institution, die Anstalt (ihre Gäste wurden Insassen genannt), der Antipode zur Gaststätte Schröder, eins von heute insgesamt noch fünf oder sechs Lokalen, die in der einst großen Arbeiter-, Trinker- und Feierstadt Zehdenick überlebt hatten. Anders als die Kneipe Schröder, die schon zu DDR-Zeiten ein Lokal in Privatbesitz gewesen und von den dynamischen, dem Kapitalismus letztlich wohlwollend zugeneigten Wirtsleuten Hansi und Heiko Schröder geführt worden war, standen im Ratskeller die Tresen für die alten Zehdenicker – all jene, die ein wenig traurig darüber waren, dass es die DDR nicht mehr gab. Es war, bis tief in die Nullerjahre hinein, der heimelige Laden, das Lokal mit der Seele, dem Kachelofen und dem Pissoir, durch das ohne Unterlass das Wasser rauschte (für Leitungswasser musste zu Ost-Zeiten kein Geld entrichtet werden), Treffpunkt für den alten Kleinstadt-Underground, der noch aus den Siebzigerjahren stammte, die DDR-spezifische Mischung aus Dissidenten, Schnüfflern, Gangstern, Kleingangstern, Hehlern, Schiebern, Komplettverweigerern, sonstigen Outlaws, den Mitgliedern der Rockergang Fledermäuse, den alten Ost-Rockern und Ost-Cowboys mit den weiten Jeansjacken und weiten Lederjacken, und Sozialstation für diejenigen, die sich ab dem 20. des Monats keinen Schnaps mehr leisten konnten. Wirt Bernd trug die Lederweste, gab seine selbst gemachte Soljanka aus, schenkte aus, schrieb auf, hörte sich alles an.

 

Interessanterweise hatten meine Jungs, die für mich immer zum festen Inventar der Kneipe Schröder gehört hatten, in den jüngst zurückliegenden Jahren von Heikos Kneipe zu Bernds Großem Ratskeller rübergemacht – allein aus diesem Wechsel des Stammlokals ließ sich in etwa so viel ablesen über Ostdeutschland im dreißigsten Jahr nach der Wende, über ostdeutsches Selbstbewusstsein, ostdeutsches Nicht-Ankommen in der westdeutschen Demokratie und die viel zitierte Anerkennung der ostdeutschen Lebensleistungen wie aus allen trotzdem nicht so schlechten Reden des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.

 

Vor zwei Jahren, als an ein Zehdenick ohne Ratskeller noch nicht zu denken gewesen war und der Reporter sich einmal für einen Freitagabend zum Biertrinken in der Kleinstadt aufhielt, hatte ihm der Mann, der auf dem linken Unterschenkel die drei untereinanderstehenden Buchstaben »OST« eintätowiert trug und von allen wegen seiner auffällig geringen Körpergröße (unter 1,65 Meter) und einer gleichzeitig fast berserkerhaft starken Figur nur der Kurze genannt wurde, erklärt: »Es ist mir wohler drüben, weeßte. Es ist mehr dreckig, mehr Kneipe.« Sein Bier, so der Kurze, trinke er mittlerweile eh lieber handwarm, so wie die alten Kleinstädter zu Ost-Zeiten ihr Bier traditionell stets getrunken hätten.

 

Natürlich, zum Essen war man zuletzt, also noch im Herbst letzten Jahres, nach wie vor lieber in die Kneipe Schröder gegangen – zum Trinken allerdings, zum Schwer-Trinken und Gepflegt-betrunken-Werden, also Reinsinken in den Alkohol und Unsinn-Reden (Dusselig-Quatschen, wie in der Kleinstadt gesagt wurde), war Bernds Ratskeller zuletzt das erste Lokal am Platz gewesen. Legendär war das Boule-Spiel, das Bernd stets weit nach Mitternacht in seiner Kneipe veranstaltet hatte – die Kugeln wurden vom ersten Tresenraum zehn, fünfzehn Meter über die alten DDR-Laminatböden durch einen Zwischenraum bis in das hintere Billardzimmer gerollt. Wichtige Spiele des Ratskellers waren außerdem das Nageln gewesen (in einen hüfthohen Baumstumpf musste mit dem flachen Ende eines Maurerhammers ein Einhunderter-Nagel versenkt werden – wer die meisten Schläge brauchte und wessen Nagel zuletzt noch aus dem Holz herausguckte, der zahlte die Runde); das Rollator-Wettfahren (die Runde ging einmal um den Billardtisch herum und zurück) und das Skispringen (in diesem tollkühnen, für die körperliche Unversehrtheit nicht ungefährlichen Spiel wurde der Gast, der besser Stammgast und sehr, sehr betrunken war, in Bernds alte Langlaufski, die für diese Fälle stets hinterm Tresen bereitgehalten wurden, festgeschnallt und von zwei starken Männern unter den Armen gepackt und möglichst weit in die Tiefe des Lokals hineingeworfen, wo er, manchmal mit, besser ohne die Ski, krachend auf dem Boden aufkam). Im letzten Jahr hatte sich im Ratskeller außerdem eine stattliche, hoch frequentierte Pokerrunde zusammengefunden, man traf sich einmal im Monat, selbstverständlich unter Ausschluss potenzieller weiblicher Mitspielerinnen – an einem guten Freitagabend konnten in den beiden Hinterzimmern des Lokals an die vierzig Männer an den Tischen sitzen.

 

Interessanter Vorgang: Der Reporter, der aus dem tiefen Westen stammte, war erst vor wenigen Stunden in der Kleinstadt angekommen, und schon schwärmte er selber davon, wie schön früher alles einmal gewesen war – so selig, so tränenreich, wie das nur die alten Ost-Katzen konnten.

 

Raul schlug jetzt vor, dass wir gemeinsam die hundert Meter zur Zugbrücke runterspazierten und uns da, wo das Wasser der Havel gemächlich durch die Stadt floss, ein bisschen ans Geländer stellten (was war jetzt los? Das hätte es früher, also vor zehn Jahren, wirklich nie gegeben, dass der Schlagzeuger der Band 5 Teeth Less und Punkrock-König der Kleinstadt vorgeschlagen hätte, sich ein bisschen an der Havel auszuruhen – Riesenthema Älterwerden). Und wir freuten uns gemeinsam darüber, wie wir über die Nachricht der Schließung des Großen Ratskellers ins Geschichtenerzählen, ins Erinnern und Schwärmen geraten waren.

 

Neue Dönerbude, neuer Späti, Ratskeller geschlossen – das waren, auf der Oberfläche, also die Veränderungen hier in der Stadt. Da konnte man jetzt schon einmal, alleine für diese drei Punkte, so an die vier Wochen notwendige Gespräche und Verdauungszeit ansetzen. Im Kopf notierte der Reporter: »Großes Interview führen mit Bernd über die Frage, was nach der Schließung des Ratskellers von der DDR noch übrig blieb.«

 

Richtig, die dreieinhalbste Veränderung war natürlich, dass es die Band 5 Teeth Less, die eine Hauptrolle in Deutschboden gespielt hatte (Gitarre: Eric, Bass: Rampa, Schlagzeug: Raul, Gesang: Crooner), nicht mehr gab. Dieses Ende war, natürlich, abzusehen gewesen.

 

Der letzte große Auftritt hatte vor drei Jahren beim 800-Jahre-Fest stattgefunden, immerhin, man habe fast zwölf Jahre durchgehalten. Weniger das Buch als die Allgegenwärtigkeit des Films habe der Band letztlich den Garaus gemacht: »In allen Texten, die über unsere Band erschienen sind, ging es um den Osten, um die Nazi-Vergangenheit der Stadt, aber nicht um die Frage: Was machen die für Musik?« Man sei im Kontakt, es blieben null schlechte Gefühle, mit einer Wiedervereinigung der Band sei gewissermaßen zu hundert Prozent zu rechnen, aber eben nicht gegenwärtig und nicht in absehbarer Zeit. »Natürlich«, erklärte Raul, »wir waren auch eine extrem faule Band.«

 

Und plötzlich, am Geländer der Flusspromenade der Kleinstadt, stoppte die Geschichte, und die Zeit stand, für einen Moment von drei, vier Sekunden, still.

 

Das immer einen Tick schneller als nötig fließende Flusswasser. Der ewige Hauptdarsteller der Stadt – die erste Einstellung und die finale Totale, in der die Kamera sich über die Sträßlein und niedrigen, kleinen Häuser erhob und über die Landschaft davonflog, das war ja auch immer klar – war der Fluss. Auf der Havel war nicht ein Schiff unterwegs. Lautlosigkeit, Schweigen über dem Wasser. Der Fluss hielt die Erzählung zusammen.

 

Hier am Geländer führte Raul jetzt seinen neuen Unterhaltungstrick, den Knuckle Roll, vor. Eine Zehn-Cent-Münze wanderte über die Rückseite der Hand, über alle fünf Handknochen. Er fing sie mit dem Daumen ab, lenkte sie durch die Handinnenfläche und wieder nach oben, auf eine neue Runde über die Knöchel und weiter auf Reisen – die sich wie an unsichtbaren Fäden über die Rückseite seiner Hand bewegende Zehn-Cent-Münze. Raul: »Ein Trick, bekannt aus Filmen mit Bösewichten. Wollte ich schon immer können.«

 

Und noch ein Satz: »Habe ich mir beigebracht, als ich mal eine Woche Langeweile hatte.« Eine Woche Langeweile! Raul und sein Knuckle Roll, das war, in einem Anblick, eigentlich alles, was Raul für mich immer gewesen war – lässiges Kleinstadt-Gehänge, Tagediebe-, Eckensteher- und Kleinganoventum, Jean-Paul Belmondo in der ostdeutschen Kleinstadt – und wofür ich noch einmal in den Osten gekommen war. Ganz wichtig: Gewissermaßen der ganze Sinn der Übung bestand natürlich darin, dass Raul für die Münze, die sich über seine Hand bewegte, nicht einen Blick übrig hatte.

 

Ein paar Dinge würden sich wohl nie ändern. Raul hielt dem Reporter jetzt seine Packung West Ice Menthol hin: »Raucher? Nichtraucher?« Er wäre dankbar, erklärte Raul, wenn sein Vorname im zweiten Teil des Buches ohne o, also Raul statt Raoul geschrieben werden könnte (härter, kürzer, einfacher, er habe schließlich das Recht, über die Schreibweise seines Vornamens zu bestimmen).

 

Weil wir gerade so schön Zeit hatten: ihn, meinen Helden, noch einmal von der Seite anschauen. Die Schläfen von Rauls wie immer kurz geschnittenem Haar waren grau geworden. Man wusste nie, ob so etwas blöd war zu sagen, aber klar: Er wirkte klüger, gleichzeitig sanfter als vor zehn Jahren.