Deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart - Ralf Schnell - E-Book

Deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart E-Book

Ralf Schnell

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Beschreibung

Dieser Leitfaden deutschsprachiger Literatur bietet einen pointierten Überblick über die literarische Entwicklung seit 500 Jahren. Luthers Bibelübersetzung steht am Anfang eines vielgestaltigen Prozesses poetischer Welterkundung und Welterschließung, der als unabschließbare sprachkünstlerische Suchbewegung zu verstehen ist. Deren Eigensinn und Eigendynamik wird – wie die Eigenständigkeit und Widerständigkeit der literarischen Werke selbst – in einen historischen Wandel gestellt, der durch die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Wertsphären begründet ist und seit dem 17. Jahrhundert mit einem erheblichen Zuwachs an sprachkünstlerischer Autonomie einhergeht. Die Daten und Fakten der politischen und gesellschaftlichen Geschichte ebenso wie die Epochenmerkmale der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung bieten dabei Anhaltspunkte für die hier vorliegende Darstellung. Diese orientiert sich in Form einer Verbindung von Überblicken und Einzelanalysen am künstlerischen Eigenwert der Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart. Dieses Buch wendet sich an jeden, der wissen will, was die Literatur zu geben vermag.

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Ralf Schnell

Deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Für Béla und ...Vorwort 1 Literatur in der ReformationszeitDie HumanistenMartin LutherThomas MüntzerFlugschriftenliteraturGeistliche und weltliche LiederSchwankdichtung und NarrenliteraturVolksbücher: Fortunatus und Historia von Johann D. FaustenMeistersangDas Reformationsdrama2 Das Zeitalter des BarockLiteratur und ÖffentlichkeitPoetik und GelehrsamkeitLyrikTrauerspielProsa3 Zwischen «Rationalismus» und «Sturm und Drang» – Literatur im Zeitalter der AufklärungDas Projekt eines NationaltheatersBürgerliches TrauerspielSturm und DrangDramatikLyrikLehrdichtungEpigrammatikBalladenKlopstockGoethes JugendlyrikProsa: Fabel und SatireRomanpoetikRomane der FrühaufklärungGeorg Christoph Lichtenberg4 KlassikBegriffsbestimmung und EpochenabgrenzungItalienische Reise, Römische Elegien, Venezianische EpigrammeMetamorphose zur KlassikKooperationen – Xenien, BalladenProsa: Wilhelm MeisterVersepen: Reineke Fuchs, Hermann und Dorothea, AchilleisSchillers DramenIphigenie auf TaurisFaust5 Exzentrische BahnenFriedrich HölderlinJean PaulHeinrich von Kleist6 RomantikÄsthetische Theorie der FrühromantikNovalis: Heinrich von OfterdingenFrühromantisches Lustspiel: TieckSpäte Romantik7 Restauration, Biedermeier, VormärzJunges DeutschlandHeinrich HeineFacetten der ProsaDrama: Grabbe, Büchner8 Bürgerlicher RealismusEuropäische EinflüssePanorama der Prosa: Storm, Meyer, Freytag, Raabe, Stifter, Keller, FontaneDramaLyrik9 NaturalismusDrama: Hauptmann, Schnitzler, Wedekind, PanizzaProsaLyrik10 Jahrhundertwende (1880–1920)Lyrik: Rilke, Hofmannsthal, GeorgeExpressionismusDada11 Literatur in der Weimarer RepublikNeue Sachlichkeit: ProsaLyrikDramatik der 20er Jahre12 Literatur im Dritten ReichNS-LiteraturInnere EmigrationLiterarischer WiderstandLiteratur des ExilsLyrik: Bertolt BrechtDramatik des ExilsRomane des Exils13 Literatur im geteilten Deutschland (1945–1989)Die Anfänge der Nachkriegsliteratur (1945–1949)Konstellationen der 50er Jahre (1950–1959)Lyrik: zwischen Tradition und InnovationTheater der 50er JahreVon der «Aufbau»-Prosa zur «Weltkultur»Zwischen Mauerbau und 68er-Revolte (1960–1968)Theater und Drama der 60er JahreProbleme des RomansLyrik in der DiskussionLiterarische Tendenzen der 70er Jahre (1969–1977)Zwischen Autobiographie und Neuer SubjektivitätAlltagslyrikLiteratur und Gesellschaft im Übergang (1978–1989)Literarische PostmoderneNeuere Literatur von FrauenLyrik einer beschädigten Welt«Gegengeschichten»Geschichte im GegenwartsromanSpätzeit-Dramatik14 Gegenwartsliteratur (1990–2010)1989 und die FolgenLiterarische Tendenzen der 90er JahreGenerationenwechselNetzliteraturLiterarische ErinnerungLiteraturNamenregister
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Für Béla und Sofia

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Vorwort 

Dieser Überblick über die deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart geht zurück auf eine Reihe von Vorlesungen, die zwischen 1998 und 2005 an der Universität Siegen gehalten wurden. Ziel dieser Lehrveranstaltungen war die Vermittlung grundlegender literaturgeschichtlicher Kenntnisse in Verbindung mit einer vertiefenden Diskussion repräsentativer Einzelwerke. Dieser Zielsetzung sieht sich auch der vorliegende Band verpflichtet. Er versteht sich als eine Art Leitfaden, der mit dem epochalen Medienumbruch des Buchdrucks und der Bibelübersetzung Martin Luthers einsetzt und die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur über sechs Jahrhunderte hinweg bis in die jüngste Gegenwart nachzeichnet. Auf diese Weise soll dem wachsenden Bedürfnis nach literaturgeschichtlicher Orientierung Rechnung getragen werden, auch dadurch, dass der Duktus der Vorlesungen erhalten bleibt.

Das Angebot an literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen reicht von knappen und konzisen, bisweilen perspektivisch pointierten Gesamtentwürfen über eher traditionell sozialgeschichtlich verfahrende Epochenaufrisse bis zu voluminösen Einzeldarstellungen mit unverkennbarer Liebe zum Detail. Solche Angebote finden, wie sich an ihrer Vielfalt ablesen lässt, ein großes Publikum. Ihre Konsumenten bilden – neben allgemein an Literatur interessierten Leserinnen und Lesern aller Bildungsstufen und Jahrgänge – vor allem Studierende der reformierten Bachelor- und Master-Studiengänge, die sich auf die neuen modularisierten Strukturen einzustellen haben. Sie treffen in den philologischen, insbesondere den literaturwissenschaftlichen Fächern auf die Forderung, sich in überschaubaren Zeitintervallen ein abrufbares Überblickswissen aneignen zu müssen, das dem Kriterium der Prüfungsfähigkeit genügt.

Dieser Anspruch ist dem Ruf der Textsorte Literaturgeschichte nicht immer gut bekommen. Literaturgeschichten haftet bisweilen der Ruch des Willkürlichen an, der anmaßenden Verfügung über künstlerische Sprechweisen und Ausdrucksformen, der mangelnden Begründung historischer Zäsuren und des unzulänglichen Ausweises ihrer ästhetischen Kategorien. Nicht, dass die Literatur keine Geschichte habe, wird mit solchen Vorbehalten behauptet, sondern dass diese Geschichte durch Kriterien bestimmt werde, die der Literatur äußerlich bleiben. Ideologische Vorentscheidungen und außerliterarische Theoriebildungen, soziologische Faktoren und sozialgeschichtliche Fakten stellen – so der geläufige Einwand – ein Arsenal an Bezugsgrößen und Zuordnungsmerkmalen bereit, aus dem lediglich ein Koordinatensystem aus Epochenschwellen und Gattungsgrenzen gebildet werde.

Solche Grenzziehungen haben mit Literatur als Kunst, mit der Eigenart des Ästhetischen, mit der forschenden und lernenden Aneignung dessen, was Dichtung generell und genuin auszeichnet, nur wenig zu tun – das wissen Lehrende wie Studierende gleichermaßen. Literatur, die diesen Namen verdient, geht im Systemkalkül von credit points ebenso wenig auf wie im Zurechnungsrahmen von Epochenrastern oder sozialhistorischen Daten. Die Auseinandersetzung mit Literatur – ebenso wie mit musikalischen Werken oder solchen der bildenden Kunst – bedeutet Arbeit am einzelnen Werk, und sie ist zeitaufwendig. Dann aber erlaubt sie Einsichten, die anderswo nicht zu haben sind, und bietet Erkenntnismöglichkeiten von einer historisch einzigartigen Qualität. Zu deren angemessener Wahrnehmung mag die noch immer bedenkenswerte Maxime des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi beitragen, «dass einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt». In dieser Einsicht findet auch der hier vorliegende Versuch seine Begründung, einen strukturierten literarhistorischen Überblick im Zusammenspiel mit Anregungen für eine detaillierte Lektüre zu präsentieren. Die prägnanten Daten der Sozialgeschichte und die geläufigen Epochenschwellen bieten für diese Darstellung Orientierungen, keine Festlegungen, Gattungskriterien dienen dem hermeneutischen Zugang, nicht der Vermittlung von Grundwissen.

 

Dass die deutsche Literatur des Mittelalters aus diesem Überblick ausgespart bleibt, rechtfertigt sich unter dem Gesichtspunkt der Zäsur, den die Erfindung des Buchdrucks und die Reformation für die Geschichte der deutschsprachigen Literatur bedeuten. Lautstand, Sprachform und Grammatik der mittelalterlichen Sprache, also auch der Literatur des Mittelalters, unterscheiden sich nicht nur markant von denen des Neuhochdeutschen, sondern sind zudem auch in sich sprachhistorisch zu differenzieren: Gotisch, Altnordisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und gelegentlich auch das Frühneuhochdeutsche zählen zu den älteren Entwicklungsstufen der deutschen Sprache. Wer sich auf die mittelalterliche Literatur einlassen will, muss diese, wenn er sich mit ihr in ihrer Ursprungsgestalt auseinandersetzen will, im Original lesen können. Dazu ist es notwendig, sich in eine sprachhistorisch frühere Stufe unseres heutigen Deutsch einzuarbeiten.

Trotz vielfältiger verständlicher Abwehrgesten professioneller Altgermanisten wird man einräumen müssen: Das Althochdeutsche und selbst das jüngere Mittelhochdeutsche sind uns fremd geworden. Wir haben keinen unmittelbaren Zugang mehr zur Sprach- und Textgestalt der mittelalterlichen Zeugnisse. Sie sind Ausdrucksformen eines kulturellen Kosmos, dessen Denkweisen und Redefiguren heute ebenso fern und entrückt wirken wie seine Verhaltensmuster oder seine Institutionen. Um nur einige wenige der frühesten Dokumente zu nennen: Die Merseburger Zaubersprüche und das Hildebrandslied, das Heldenliederbuch Karls des Großen, der Heliand oder Otfrids Evangelienharmonie, ferner Versepen wie das Alexanderlied oder das Rolandslied (12. Jh.), die Werke Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach, Gottfrieds von Straßburg und Heinrichs von Veldeke, nicht zu vergessen das Nibelungenlied oder die Lyrik des Minnesangs – all diese herausragenden Zeugnisse der mittelalterlichen Literatur sind weder in ihrer historischen Bedeutung noch in ihrer literarischen Eigenart angemessen wahrzunehmen, wenn man nicht auch die sprachliche Form zu analysieren und zu verstehen gelernt hat, die über Jahrhunderte hinweg ihren fremdartigen Reiz zu bewahren vermochte. Den Zugang zu diesen Wissens- und Kulturbereichen eröffnen zahlreiche Spezialwerke zur Geschichte der mittelalterlichen Literatur, zu denen der hier vorliegende Leitfaden durch die deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart nicht in Konkurrenz treten kann oder will.

 

Mein besonderer Dank gilt Ute Deventer für ihre langjährige Unterstützung, insbesondere für ihre Mitarbeit bei der Herstellung des Manuskripts und bei der Einarbeitung der erforderlichen Korrekturen. Dr. Burghard König danke ich für ein kompetentes Lektorat und eine vorzügliche Kooperation, die sich bei mehreren Projekten bewährt hat. Zu danken habe ich ferner dem J. B. Metzler Verlag für die Erlaubnis, meine Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (2. Aufl. 2003) sowie meinen Beitrag in der Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (7. Aufl. 2008) für die hier vorliegende Literaturgeschichte heranzuziehen. Danken möchte ich auch für den Arbeitsaufenthalt, den ich im Juni 2010 als Gast der Stiftung Dr. Robert und Lina Thyll-Dürr (Schweiz) in der Casa Zia Lina auf der Insel Elba verbringen durfte. Und Dank sei, last but not least, den Studierenden, die durch ihre wache Präsenz und ihre vielfältigen Fragen meine Vorlesungen an der Universität Siegen bereichert haben.

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1Literatur in der Reformationszeit

Die Reformation war – so Friedrich Nietzsche in seiner Essay-Sammlung Menschliches, allzu Menschliches (1878f.) – «ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden». Diese durchaus skeptische Sicht auf das entscheidende historische Ereignis der frühen Neuzeit weicht deutlich von der Fülle positiver Wertungen ab, die die Reformation in kulturgeschichtlichen Darstellungen, zumal aus protestantischer Perspektive, in nahezu sechs Jahrhunderten auf sich gezogen hat. Nietzsches Skepsis resultiert aus dem Vergleichsmaßstab, den er anhand der italienischen Renaissance gewonnen hatte. Sie «barg in sich» – so der Philosoph im Anschluss an jenes ungemein attraktive Epochenbild, das Jacob Burckhardt in seiner 1860 erschienenen Kultur der Renaissance in Italien zeichnet – «alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blosen Effect».

Nietzsches kritischer Vergleich zwischen Renaissance und Reformation ist noch heute erhellend. Denn in der Tat: Eine die überkommene Struktur und Kultur einer ganzen Gesellschaft umwälzende Entwicklung wie in Italien hat es in Deutschland nicht gegeben. Die regionalen und strukturellen Zersplitterungen, das fehlende politische Zentrum, die ständische Gesellschaft, das weiterhin dem Mittelalter verpflichtete Bewusstsein ließen weder einen Sprung in die Zukunft der Wissenschaften zu, noch erlaubten sie auch nur die Idealvorstellung einer deutschen Nation. Im Hinblick auf die nationalstaatlichen Entwicklungsstandards in Europa lässt sich vielmehr von erheblichen Ungleichzeitigkeiten sprechen. Bis 1254 wird die Gesellschaft dieser Zeit von den Staufern geprägt, unter denen eine Literatur entsprechend der feudalistisch-ständischen Aufteilung des Geisteslebens entsteht. Das heißt: Die wissenschaftliche Tätigkeit lag beim Klerus, ebenso die Pflege der Dichtung, und zwar auf Lateinisch, in Gestalt einer klerikal-gelehrten Gottesverehrung. Lediglich das Rittertum besaß eine kulturfähige Literatur, freilich begrenzt eben auf diesen Stand und, wie etwa der Minnesang, in höfischer Bildung begründet. Es finden sich dementsprechend in Deutschland allenfalls vereinzelt renaissancehafte Züge, zu denen ein allmählich erstarkendes Selbstbewusstsein des Bürgertums zählt, ebenso neue Bildungsideale und Ausbildungsziele, ferner fortgeschrittene Naturwissenschaften, die ihrerseits – Kopernikus beispielsweise – epochemachende Entdeckungen zu den Fortschritten dieser Welt beisteuern.

Diesem Kontext entspringt, als eigenständige Entwicklung in Deutschland, der Humanismus, freilich angeregt durch Italien, vor allem durch Petrarca und Boccaccio. Seit 1450 entstehen dessen erste Zentren, mit starken naturwissenschaftlichen Akzenten und eng verbunden mit der Reformationsbewegung, insbesondere mit Martin Luthers Thesenanschlag in Wittenberg am 31. Oktober 1517. Luther selbst aber ist gerade nicht Teil der deutschen Humanistenbewegung. Vielmehr bemüht er sich um eine Festigung der evangelisch-protestantischen Lehre in den bestehenden sozialen Ordnungen. Das wichtigste Datum der frühen Neuzeit ist gleichwohl untrennbar mit seinem Namen verbunden: die Entstehung der frühneuhochdeutschen Sprache, die durch seine Bibelübersetzung vorangetrieben wird. Ihren entscheidenden Entwicklungsfaktor bildet die Erfindung des Buchdrucks, ein Medienumbruch mit kaum zu überschätzenden Folgen für die Geistes-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts (Giesecke 1991). Mit der Erfindung des Buchdrucks in Mainz durch Johannes Gutenberg (um 1450) besteht die Möglichkeit der öffentlichen und massenhaften Verbreitung von Druckschriften. Zwar war das Drucken technisch auch schon vor Gutenberg möglich; so gab es Stempel und Platten, mit deren Hilfe man Abzüge anfertigen konnte. Doch die entscheidende Neuerung waren Gutenbergs bewegliche Lettern: Metalltypen, die in beliebiger Anzahl hergestellt werden und immer wieder verwendet werden können, sodass sich unbegrenzt neue Auflagen, später auch in Farbe, in beliebiger Höhe herstellen lassen.

Auch die Bibelübersetzung Luthers – gedruckt in 100 bis 200 Exemplaren – geht auf Gutenbergs Erfindung zurück. Sie hat 42 Zeilen auf jeder Seite, ist zweispaltig gesetzt, mit handgemalten Initialen versehen und zum Teil farbig hergestellt – ein überaus kostbares Werk. Im späten 16. Jahrhundert gab es bereits Auflagen von mehreren 1000 Exemplaren, weil zu dieser Zeit an 250 Orten Europas gedruckt werden konnte, darunter Straßburg, Köln, Rom, Basel, Augsburg, Nürnberg, Paris, Florenz, Mailand, Lyon, Leipzig sowie, als wichtigster Druckort, Venedig. Insgesamt handelt es sich um eine umstürzende Veränderung der gesamten Medien-, Geistes- und Gesellschaftsgeschichte in globaler Perspektive, vergleichbar nur der Wirkung des Fernsehens in den 1950er Jahren und dem Aufkommen der digitalen Kommunikation, insbesondere des Internet, in unseren Tagen. Mit der «kunst der truckerey», wie sie Hartmann Schedel in seiner Weltchronik (1493) seinerzeit nannte, entstand eine Quelle zur Popularisierung des Schrifttums, die sich auf alle Gebiete erstreckte, von der Mystik zum Volkslied, vom Volksbuch zu einer Volksdichtung, die zugleich Gebrauchsdichtung war, also benutzt und verändert, zum selbst bestimmten Gebrauch umgeschrieben und erweitert werden konnte, ganz nach den Bedürfnissen der Erzähler und der Zuhörer, darin eingeschlossen die Volksmärchen, die – bislang mündlich überliefert – jetzt schriftlich gefasst werden konnten, mitsamt vielfältigen Umwandlungen und Veränderungen, Ergänzungen und Umbauten.

Daneben wird durch den Buchdruck die Tendenz vom Religiösen zum Weltlichen, vom Ständischen zum Städtischen gefördert. Das Bürgertum, das sich selbst zu entdecken und seine eigene Gedanken über seine Wirklichkeit und die Verfassung der Welt zu entwickeln beginnt, besitzt mit einem Schlag die Möglichkeit, sich über seine Vorstellungen von der Welt und seine Ansprüche an die Welt zu verständigen und auszutauschen, und zwar unabhängig von den dogmatischen Vorgaben des Klerus. Zwar ist die frühbürgerliche Literatur noch nicht im selben Maß ‹literarisch› geprägt, wie die Verwendung dieses Terminus es womöglich erwarten lässt. Vielmehr handelt es sich bei der Literatur dieser Zeit eher um schriftlich gefasste Formen mündlicher Tradierungen. Während für den Klerus wie für die entsprechend gebildeten Bürger die Antike, Autoren wie Horaz, Quintilian oder Cicero, ebenso die neulateinische Lyrik und auch das römische Drama mit Terenz und Plautus als literarische Orientierung erhalten bleiben, entfalten sich originelle Formen einer frühen bürgerlichen Literatur auch deswegen unaufhaltsam und ebenso eigenständig wie vielgestaltig, weil sie sich gegen die lateinische Sprache als Verständigungsmedium ausschließlich einer gebildeten Schicht durchsetzen wollen.

Dies ist das Ziel auch Martin Luthers. Er verfolgt die strategische Absicht, den einfachen Menschen die Bibel auf Deutsch zugänglich zu machen. Er schafft den Durchbruch zu diesem Ziel gemeinsam mit Ulrich von Hutten, der, um seine humanistischen Gedanken bekannt zu machen, auf Deutsch zu schreiben beginnt. Das Frühneuhochdeutsche wird auf diese Weise als sprachliches Medium durchgesetzt. Die Sprache avanciert in gedruckter Form zum Vehikel der Ideen, eine Tendenz, die sich am wachsenden Anteil der deutschsprachigen Publikationen ablesen lässt. Ist dieser um 1490 noch vergleichsweise gering, so entstehen im Sog der Gutenberg-Bibel Publikationen, die bereits ein breites Publikum erreichen. Flugblätter und Flugschriften entstehen als Informations- und Kommunikationsmedien, Ritterepen werden für ein lesefähiges bürgerliches Publikum in Neueditionen auf Deutsch verfasst. Bedeutende einzelne Werke entstehen, so etwa Sebastian Brants Narrenschiff (1494), ein volkssprachiger Bestseller und ein originales Werk in der frühen neuhochdeutschen Sprache und dem ihr entsprechenden Geist. Ihr Autor zählt zu jener jüngeren Generation von Humanisten, die Schulen gründen und sich in einem frühaufklärerischen Sinn für die Bildung des Bürgertums einsetzen. Daneben gibt es Schwank- und Unterhaltungsliteratur, ferner mit Fortunatus (1509) den ersten Roman dieser Zeit, aus der Feder eines anonym gebliebenen Autors. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch Johann Fischart und Thomas Murner mit ihren Narrenwerken, das Volksbuch von Till Eulenspiegel (dt. 1515), die Satiren des Geiler von Kaisersberg – Werke, die zur Herausbildung einer eigenständigen frühneuhochdeutschen Literatur beigetragen haben, auch wenn sie zum Teil rasch wieder vergessen waren.

Die Humanisten

Was die Renaissance in Italien, ist in Deutschland der Humanismus. Seine Repräsentanten sind nicht-klerikale, akademisch geschulte Gelehrte, die sich bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts nur im Denk- und Glaubens-, vor allem im institutionellen Zusammenhang der Kirche entwickeln konnten. Mit der beginnenden Reformation aber setzte eine Emanzipation aus diesen Bindungen ein. Die meist aus sozial niederen Schichten stammenden Humanisten besaßen in einer gründlichen Bildung und einem professionellen Gelehrtentum ihre einzige Chance, sich zu entwickeln und aufzusteigen, was wiederum ein soziales Interesse an einem Stand von gelehrten und gebildeten Personen voraussetzte. In der Tat benötigten die Höfe und die sich entwickelnden Städte eine Schicht von Verwaltungsleuten, Pädagogen und Philosophen, die gelehrt genug waren, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Perspektiven in die Zukunft zu weisen. Es ging um den Ausbau des bürokratischen Apparats in den Territorialstaaten, den die humanistisch gebildeten Gelehrten voranbringen sollten, eine Aufgabe, die ihnen vielfältige Arbeitsmöglichkeiten bot. Das bewegende Zentrum hierfür fand sich freilich nicht in Deutschland, sondern in Österreich: Die Stadt Wien, bereits in der frühen Neuzeit ein kulturell aufgeschlossenes Zentrum, bot sich wegen ihrer Brückenfunktion zu Italien einerseits, zum übrigen benachbarten Europa andererseits für eine solche historische Rolle an.

Über Wien findet eine Art Eindeutschung bestimmter Züge der italienischen Renaissance statt. Dazu zählt vor allem die Idee der persönlichen Prägung des Menschen durch den Menschen, eine Vorstellung, die noch nicht – wie später im 18. Jahrhundert – den Einzelnen als Individuum fördern will. Wohl aber tritt das Ideal der persönlichen Einflussnahme, der Bildung durch gelehrte Persönlichkeiten, eben durch die Humanisten, in den Vordergrund der Erziehung. Sie kommt insbesondere im Medium des Briefwechsels zum Ausdruck, einer neu entstehenden literarischen Gattung, die dialogisch – und in gewisser Hinsicht auch dialektisch – angelegt ist und mit deren Hilfe sich unterschiedliche Auffassungen gegeneinander abwägen und weiterführende Einsichten gewinnen lassen. Beispielhaft für diese literarische Tendenz ist ein Text mit dem Titel Über Lesen und Bildung (1443; im Original auf Lateinisch), in dem sich zwei Personen unterhalten, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen: eine literarische Form, die noch im Sturm und Drang – so in Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) – und in der Romantik eine Blütezeit erlebte.

Das Studierzimmer bildet die Lebensform der Humanisten, die Bibliothek den Inbegriff ihres Daseins. Auch wenn sich hinter solchen Zuschreibungen ein Klischee verbergen mag – es bezeichnet den Lebensmittelpunkt dieser neuen Gesellschaftsschicht doch recht genau. Denn die Literatur ist das Ausbildungsmedium, durch das hindurch sie sich weiter entwickeln konnte. Selbstverständlich besteht eine Art Korrespondenz zwischen den verschiedenen Studierzimmern, es gibt einen geistigen Zusammenhalt, auch über die verschiedenen Zentren hinweg, in denen sich Humanisten einzeln oder zu mehreren gefunden haben. Sowohl ihr Austausch untereinander als auch die Arbeit im eigenen Studierzimmer dient der geistigen Versenkung, die Askese repräsentiert ein Lebensideal und zugleich die alltägliche Praxis. In deren Mittelpunkt standen die Künste und die Wissenschaften, die Staats- und auch die Rechtsgeschäfte, ebenso die Philosophie, bezogen auf den Menschen – als Gattungswesen, noch nicht als individuelles Subjekt im modernen Sinn verstanden. Der einzelne Mensch, als Teil seiner Gattung, soll sich weiter und höher entwickeln. Er ist Teil der Natur, insoweit er Geschöpf Gottes ist, einbezogen in den Kosmos, in dem er sich, durch Erziehung geleitet, angemessen entfalten kann.

Noch immer aber ist das Neulateinische die Kommunikationssprache der gebildeten Welt. An den Universitäten wird auf Latein gelehrt, in den Schulen wird Lateinisch gesprochen, selbst die Schüler untereinander müssen auf Lateinisch miteinander kommunizieren – es gibt keine andere sprachliche Verkehrsform zwischen den Gebildeten unterschiedlicher Schichten und Herkunftsorte. Daher ist es buchstäblich kulturrevolutionär, als bedeutende Gelehrte wie Reuchlin und Hutten und insbesondere Luther mit seiner Bibelübersetzung die alten Traditionen und Konventionen durchbrechen und sich, in Verbindung mit der Erfindung des Buchdrucks, in aller Öffentlichkeit auf Deutsch artikulieren und verständigen – eine Sprachrevolution in der gebildeten Welt. Deren Voraussetzung bildet nicht zuletzt die Tatsache, dass es seit dem 14. Jahrhundert eine Papierproduktion gibt, die das Pergament, auf dem bis dahin mit der Hand geschrieben worden war, ablöste und eine billige Form der massenhaften Verbreitung von Gedanken ermöglichte. Bereits um 1500 finden sich mehr als 60 Druckereien in Deutschland, die zu einer erheblichen Verbreitung und Vermehrung des Wissens sowie der wissenschaftlichen Kommunikation beigetragen haben.

Hierzu zählt auch die Entdeckung des Raums, sowohl des physikalischen als auch des geographischen. Ein neues Weltbild entsteht, das mit der Entdeckung der neuen Welten und der Relativierung eines eurozentrischen Denkens einhergeht. Man erkennt, dass Deutschland, ja selbst Europa nur einen kleinen Teil der großen Welt ausmachen – diese Einsicht führt zur Relativierung der eigenen geographischen, gesellschaftlichen, historischen und politischen Bezüge. Im Zusammenhang hiermit entfalten sich die ersten Formen autonomer Handelsbeziehungen und der Manufaktur und, damit einhergehend, eine neue urbane Kultur mit den ersten Metropolen, Handels- und Kunstzentren. Es entstehen Stadtbeschreibungen als Formen einer architektonischen Selbstvergewisserung und einer neuartigen Orientierung in der Landschaft wie in der Welt. In diesem Zusammenhang entwickelt sich auch eine Art nationaler Geschichtsschreibung. Erstmals werden historische Schriften vorgelegt, die Begründung eines wissenschaftlichen Denkens, das sich selbst in entsprechenden Entwürfen theoretisch und methodologisch kommentiert. Wichtig als Medium des wissenschaftlichen Diskurses wird die akademische Übung des Streitgesprächs, die offene Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Positionen in einer humanistisch-reformatorisch geprägten Welt. Sie verschafft ihren Studenten breite Kenntnisse in den Naturwissenschaften wie in der Philosophie, weitgehend ohne jene fachlichen Spezialisierungen, die wir heute kennen. Der Typus des universellen Gelehrten gilt als das Ideal der Bildungswelt – diesem Ideal zur Wirklichkeit zu verhelfen, war die Aufgabe der Universitäten in dieser Zeit. Die Humanisten, als Repräsentanten dieses Diskurses, sahen sich auf Seiten der Vernunft, einer Weltvorstellung, die sich auf den gesunden Menschenverstand der gebildeten Persönlichkeit stützte – man kann sie, mit einem modernen Wort, ‹emanzipatorisch› nennen.

Eine beispielhafte Bewährungsprobe erfuhr dieser Anspruch im so genannten Humanistenstreit, dem das Muster einer antijüdischen Ausgrenzungsstrategie zugrunde lag. Seine besondere Note besaß dieser Streit darin, dass er durch einen Judenhasser namens Johannes Pfefferkorn ausgelöst wurde, einen zum Christentum konvertierten Juden, der in den Jahren 1507 bis 1510 unter Titeln wie Judenbeichte, Osterbuch oder Judenfeind eine Reihe von Pamphleten herausgegeben hatte, in der Absicht, seine einstigen Glaubensgenossen als Christenhasser zu denunzieren, ihnen den «Wucher» verbieten zu lassen, sie zum Besuch christlicher Gottesdienste zu zwingen und zur Verbrennung ihrer Bücher aufzurufen. Unterstützt wurde Pfefferkorn durch den Kölner Professor Usterinus Gratius – eine Latinisierung des niederländischen Ursprungsnamens Hoogstraten, eines in Köln lebenden Dominikaners – und ebenso durch dessen konservative Kollegen an der theologischen Fakultät der Universität Köln. Mit vereinten Kräften versuchte man, die Bücher von jüdischen Autoren einsammeln und auf einen Index setzen zu lassen und hierfür die offizielle Billigung des Kaisers Maximilian I. zu erhalten.

Dieser freilich, ein für seine Zeit aufgeklärter Mann, beauftragte den Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen, Gutachten einzuholen. Unter den befragten Sachverständigen war auch der Humanist Johannes Reuchlin, der seinen Ratschlag, ob man den Juden alle ihre bücher nemmen / abthun unnd verbrennen soll mit eindeutigen Argumenten zugunsten der Juden begründete. Denn die Bücher der Juden sind in Reuchlins Augen kluge Bücher – schon deshalb kommen sie für ein Verbot oder eine Verbrennung nicht in Betracht. Doch selbst wenn man einräumen müsse, dass die Juden keine Christen seien – selbst dann, so Reuchlin, «soll ich niemant das sein nemmen und verbrennen / dan mir stat das nit zu ze urtailnn. Der jud ist unsers herrgots als wol als ich». Reuchlins «Ratschlag» beruft sich in allen Aspekten – Vielfalt der jüdischen Schriften, religiöse Integrität und theologische Anregungskraft des Talmud, Unkorrektheit des Ketzer-Begriffs – auf einschlägige Bibelstellen, des Alten wie des Neuen Testaments. Aus seiner Schrift spricht ein großzügiges, aufgeklärtes Weltbild, das sich auf den christlichen Glauben beruft: Da Gott alles in die Welt gegeben hat, was in ihr ist, steht es den Menschen, auch den Christen, nicht zu, Bücher zu konfiszieren oder zu verbrennen, weil dies Gottes Sache sei – ein höheres Maß an klugem und vernunftgeleitetem Denken kann man in dieser Zeit kaum finden.

Damit aber entbrennt der Streit erst recht. Denn Pfefferkorn veröffentlicht im Jahr 1511 eine Kompilation, seinen Handspiegel, in dem er seine Denunziationen noch einmal zusammenträgt, konzentriert auf eine wütende und giftige Polemik gegen Reuchlin, deren Titel für sich spricht: «Anklage und Schrei gegen den widerspenstigen Reuchlin, der da umgeben ist vom Bollwerk des Teufels, ein Münzmeister der Bosheit, ein Schulmeister der Lügen, ein Advokat und Patron der treulosen Juden, die alle Zeit darauf achten, wie sie den Namen Jesu und seine Gliedmaßen lästern, schänden, schmähen, verspotten, vernichten und mit Füßen treten.» Reuchlin seinerseits erhält in anderen akademischen Zentren Unterstützung, in Form von Briefwechseln und öffentlichen Stellungnahmen, darunter Gelehrte in Erfurt sowie eine Gruppe um Ulrich von Hutten, die gegen Pfefferkorn in Form der «Dunkelmänner-Briefe» (Epistulae obsucurum virorum at magistrum orvinum gratium, 1517) Front machen: satirische, parodistische Briefe gegen die Parteigänger Pfefferkorns.

In vergleichbarerer Weise gilt dies auch für die Schriften Ulrichs von Hutten. Hutten, einer der frühen Vertreter des deutschen Nationalgefühls, ein selbstbewusster politischer Autor, der auf Deutsch schreibt, ist kein Vertreter der devotio moderna oder der bonae litterae, sondern ein Ritter, auch im kämpferischen, kriegerischen Sinn dieses Worts, von großem Einfluss. Man hat ihn anlässlich des Reichstages von 1521 geradezu hofiert, um ihn sich nicht zum Feind zu machen, wissend, dass er in Fragen der Reformation fest an der Seite Luthers stand. Die außergewöhnliche Verbindung von Rittertum und literarischer Streitlust machte ihn zu einer der einflussreichsten Gestalten seiner Zeit. 1521 hat Hutten das so genannte Gesprächbüchlin veröffentlicht, das in Straßburg gedruckt wurde. Es enthält vier Dialoge, die Hutten zunächst in lateinischer Sprache veröffentlicht hatte, dann aber ins Deutsche übersetzen ließ, aus einem unmissverständlichen politischen Kalkül heraus, dem seine Klagschrift Herrn Ulrichs von Hutten den deutlichsten Ausdruck verlieh: Schluss mit dem lateinischen Bildungsgerede – jetzt geht es auf Deutsch zur Sache, und zwar als Erstes und höchst grob gegen den Papst und seine Vasallen in Rom. Die vier Kapitel des Gesprächbüchlin sind in dialogischer Form gehalten und thematisieren die Missstände innerhalb des Klerus. Dieser wird massiv angegriffen, insbesondere seines unchristlichen, unsittlichen und unkeuschen Lebenswandels wegen. Es geht um die Höflingswirtschaft, die Finanzmanipulationen der Kurie und die Missachtung der deutschen Interessen. Es handelt sich um rabiate Dialoge mit unnachsichtigen und unversöhnlichen Angriffen gegen das Papsttum, gegen Rom und ‹das Italienische› – für die Reformation und für ‹das Deutsche›.

Martin Luther

Ulrich von Hutten ist, wie Reuchlin auf seine Weise auch, ein Kämpfer, aggressiv und ritterlich. Beide stehen – und ebenso Philipp Melanchthon – an der Seite Martin Luthers, zu dessen großen kulturgeschichtlichen Leistungen neben der Bibelübersetzung vor allem der Sendbrief vom Dolmetschen als programmatische und theoretische Schrift, ferner die Kirchenlieder und schließlich seine Reformationsschriften zählen, unter denen Von der Freiheit eines Christenmenschen, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche und An den christlichen Adel deutscher Nation (alle 1520) von besonderer Bedeutung sind.

Den Ausgangspunkt für Luthers Auseinandersetzung mit den Glaubenssätzen und der Praxis der katholischen Kirche bietet nicht, wie gelegentlich zu lesen ist, der Streit um die Ablassmöglichkeiten, die Johann Tetzel im Namen Roms vertreten hat, um der Kirche Geldquellen zu erschließen. Zwar bildet dieser Vorgang einen Anlass für Luthers Interventionen, da er ihm als Symptom für die offenkundigen Fehlentwicklungen in der Kirche galt. Doch der tiefere Grund der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche besteht in der Bibelauslegung, insbesondere der des Neuen Testaments als Offenbarung des Wortes Gottes. Dieses zeugt, so zeigt Luther anhand des ersten Paulus-Briefs (V. 16/17) an die Römer, von der «Kraft Gottes», die im Neuen Testament unmittelbar zu den Menschen im Medium des Wortes spreche. Das Neue Testament stellt für Luther die Vermittlungsinstanz des göttlichen Wortes dar. In ihm offenbart sich die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, «welche kommt aus Glauben in Gott». Damit ist inhaltlich das Vernehmen des Wortes Gottes durch den Menschen im Glauben verbunden, das zugleich die Basisbestimmung des menschlichen Lebens darstellt: Durch Gottes Wort kann der Mensch diese Basis erfahren, und zwar jeder Mensch, einzeln und für sich. Diese Auslegung bedeutet, als neue Bestimmung des menschlichen Selbstverständnisses, eine Radikalisierung der bisherigen Auslegung. Menschliches Leben ist seither als ein in Gott gründendes und gegründetes Leben zu verstehen, ein Selbstverständnis des Menschen als ein Sich-Verstehen aus Gott, das ohne Vermittlungsinstanz funktioniert. Da der Mensch Gottes Wort in der Bibel unmittelbar hören kann, vermittelt nur durch die Sprache, bedarf es keiner weiteren auslegenden und vermittelnden Instanz, schon gar nicht der Autorität Roms oder der katholischen Theologie.

Die Konsequenzen, die sich aus dieser radikalen Sicht ergeben, finden sich in der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen in Form einer Diskussion anthropologischer Alternativen zusammengefasst. Die These lautet: «Eyn Christen mensch ist ein freyer herr über alle ding und niemandt unterthan.» Die Gegenthese hierzu heißt: «Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan.» Das sind die kontroversen Basisthesen, von denen Luther ausgeht, um in einem Durchgang durch verschiedene Aspekte die Perspektiven zu diskutieren, die sich aus dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen diesen beiden Positionen ergeben: Der Mensch ist ganz frei – Der Mensch ist ganz unfrei. Was heißt das für einen Christenmenschen? Auch auf diese Frage antwortet Luther radikal. Die Seele besitzt nichts, weder im Himmel noch auf Erden, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes, in dem sie und mit dem sie fromm und frei und christlich leben kann. Es reicht aus, die Bibel zu lesen – mehr braucht es nicht, um glücklich zu werden, so Luther im Jahr 1520. Die irdischen Werke des Menschen zählen nicht vor Gott, seine Sünden werden nicht gegen Geld erlassen. Christus ist auf die Erde gekommen, um die Menschheit zu erlösen – alles menschliche Handeln nützt nichts, wenn jener Glaube nicht vorhanden ist, der sich auf das Wort Gottes bezieht, so wie es im Neuen Testament formuliert ist. Das bedeutet einen radikalen Bruch mit allem, was die katholische Kirche zu dieser Zeit an Ansprüchen formuliert, und es ist zugleich der Versuch, den christlichen Glauben neu zu begründen, eine theologisch zu jener Zeit unerhörte Erneuerung von einer auch kulturhistorisch kaum zu überschätzenden Bedeutung. Diese Radikalisierung des persönlichen Verhältnisses von Mensch und Gott setzt auf das Heil des Menschen, denn im menschlichen Wort der Bibel offenbart sich für Luther der Geist Gottes, der zum Menschen spricht und ihn erlösen kann.

Die von Luther vorgetragenen Argumente, nicht weniger aber die Art und Weise, wie er sie vorträgt, sind von faszinierender Stringenz und Klarheit geblieben, bis heute. Mit ihnen wird die Basis für eine Reformation gelegt, die in Wahrheit eine Revolution ist: ein Heraustreten aus der katholischen Traditionskirche, ein Aufsprengen ihrer Grundlagen, der Versuch, etwas unerhört Neues außerhalb des Bestehenden zu errichten. Hierin liegt auch der Grund für die spannungsreiche Differenz zu einem anderen bedeutenden Geist der Epoche, zu Erasmus von Rotterdam nämlich, der, als weltoffener, ja aufgeklärter Gelehrter dieser Zeit, durchaus Sympathie für Luthers Argumente besitzt und sich seinerseits gegen die mechanischen, formalisierten und juristisch kodifizierten Formen des Glaubens, mithin gegen wesentliche Elemente der seinerzeit geltenden und gültigen Praxis der Kirche wendet. Er tritt für eine devotio moderna ein, kümmert sich, wie Luther auch, um Glaubensinhalte und will seinerseits eine neue Frömmigkeit und Bescheidenheit in der römischen Kirche realisieren. So kann es nicht verwundern, wenn Luther in einem Brief vom 28. März 1519 um Erasmus geradezu wirbt: «Ich spreche so oft mit dir und du mit mir, Erasmus, unsere Zierde und unsere Hoffnung, und wir kennen einander noch nicht.»

Doch Erasmus bleibt zweideutig, weil er seinerseits die Kirche zwar reformieren will, doch nur innerhalb der bestehenden Einrichtungen, mithin die Institution Kirche nicht in Frage gestellt sehen möchte, eine Haltung, die auch einen Persönlichkeitszug des Erasmus erkennen lässt: die Furcht, sich zu stark zu binden, gepaart mit der Befürchtung, sich zu exponieren, indem er sich öffentlich gegen oder für eine Sache ausspricht. Diese zwiespältige Haltung lag vermutlich auch in dem an Erasmus’ Heimatuniversität Löwen aufgekommenen Verdacht begründet, er stehe wegen seiner humanistischen Haltung auf Seiten Luthers und unterstütze die Reformation. Auf diese Weise entsteht eine zunehmende Abgrenzung: Luther muss die Spaltung der Kirche suchen – Erasmus will sie verhindern. Erasmus gerät dadurch in eine gewisse Isolation. Er nimmt nicht öffentlich Stellung inmitten des bedeutendsten Streits seiner Zeit. Er bezieht in der wichtigsten religiösen und zugleich historisch, sozial und kulturell bedeutsamsten Frage des Jahrhunderts keine eigene Position. Allerdings lässt er sich in eine antireformatorische Strategie einbinden, indem er eine Schrift mit dem Titel Zweiundzwanzig Akzionata für die Sache Martin Luthers verfasst: Sie richtet sich in Wahrheit gegen die Sache Luthers, gegen sein Denken und vor allen Dingen gegen die Abspaltung von der Kirche.

Luther hat seine Auffassung zum Verhältnis von weltlicher Obrigkeit und Religion unter anderem in der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation niedergelegt, einer unmissverständlichen Anklage gegen die Kirche, die sich einleitend auf den Prediger Salomo beruft: «Die zeit des schweygens ist vorgangen, und die Zeit zu reden ist kommen», um sich an die weltliche Obrigkeit zu wenden, vom Kaiser bis zu den Städten. Jeder Mensch, so Luther, wird durch die Taufe Christ – als Christ gehört er zum geistlichen Stand. Jeder Mensch ist insoweit ebenso Priester wie der kirchlich geweihte Priester auch – alles andere sei Anmaßung. Das weltliche Recht steht daher über dem geistlichen Recht. Die Kirche kann ihren Anspruch, neben der weltlichen Macht eine eigene, höhere Macht zu repräsentieren, nicht aus dem Evangelium begründen. Die geistliche Welt hat keinen anderen Grund als die weltliche Sphäre, ihr kommt insoweit auch kein eigenes Recht zu. Vielmehr ist in Luthers Augen, was in Rom veranstaltet und an Ansprüchen formuliert wird, Teufelszeug, ja der Papst selbst ist des Teufels – eine Feststellung, mit der zugleich der römischen Kirche die Autorität abgesprochen wird, für die Christenheit handeln und Entscheidungen treffen zu dürfen.

Luthers Schrift enthält eine für jene Zeit ungeheure Summe des Aufbegehrens gegen die katholische Kirche. Die Freiheit des Einzelnen als Christ wird durch das Verhältnis zum Wort Gottes, zum Evangelium bestimmt, ein Argument, das strategisch darauf angelegt ist, eine Kette aus Verbündeten gegen das Papsttum zu schmieden und die drei «Mauern» (Luther), die Rom gezogen hat, einzureißen: den Vorrang der geistlichen vor der weltlichen Macht, die Autorität des Papstes in der Bibelauslegung und im Hinblick auf das Recht, das Konzil einzuberufen. Luther betont die Missstände in Rom. Er diskutiert eine Reihe von notwendigen Gegenmaßnahmen, so die Abschaffung der Wallfahrten und des Ablasses, die Aufhebung des Zölibats und das Verbot des Bettelns. Er fordert zudem eine Reform der Armenversorgung, eine Reform der Schulen und der Universitäten und ein von Rom unabhängiges Kaisertum sowie eine von Rom ebenso unabhängige Kirche. Die Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation war eine singuläre Kampfschrift mit klarer Zielsetzung, in deutlicher Sprache gehalten und radikal begründet, die sich an die weltlichen Stände und damit an alle politisch Verantwortlichen im Lande wandte. Dass das Papsttum, zu Unrecht auf die Bibel sich berufend, Ansprüche erhebt und in der Welt durchzusetzen versucht, die ihm nicht zukommen – diese Einsicht hat die Parteigänger der Fürsten für Luther eingenommen. Das Buch wurde zu einem großen Erfolg: 4000 Exemplare waren nach einer Woche vergriffen, 13 Auflagen erlebte das Werk noch im Erscheinungsjahr 1520, ein Bestseller in einer weitgehend noch illiteraten Gesellschaft, der alles bis dahin Gesehene in den Schatten stellte.

Es erscheint vor diesem Hintergrund nur konsequent, dass die nächste Schrift Luthers den Titel Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche trägt: ein programmatischer Aufruf zur Befreiung aus dieser Gefangenschaft und zur Begründung einer neuen Gemeinschaft der Christen. Luther setzt auch hier bei der theologisch zentralen Stelle an, den Sakramenten nämlich, den Herzstücken des Glaubens, soweit dieser kirchlich vermittelt wird. Sieben Sakramente – bereits die Zahl verweist darauf, dass es sich um eine historisch entstandene, auf menschlich-mythologischer Traditionsbildung beruhende und keineswegs um eine von Gott gesegnete, vielmehr um eine märchenhafte Zahl handelt. Abendmahl, Taufe, Buße, Firmung, Priesterweihe, Letzte Ölung und die kirchliche Eheschließung – nur drei dieser sieben Sakramente, das Abendmahl, die Taufe und die Buße, sind, wie Luther nachweist, aus der Bibel zu begründen. Die anderen stellen Ausdrucks- und Anschauungsformen des kirchlichen Anspruchs dar, das religiöse Leben bis in die feinsten Verästelungen des Alltags zu bestimmen, um prüfen, kontrollieren und dadurch herrschen zu können.

Mit seiner ganzen Person einzustehen für das, was er sagte, für die Wahrheit, wie er sie sah, und hierfür sein Leben einzusetzen, wissend: Mir kann man nichts nehmen als eben dieses Leben – das hat Luther zur Ausnahmegestalt seiner Zeit gemacht. Hiervon abzuheben ist seine Weltanschauung, die man nicht durchweg der «neuen Zeit» zurechnen kann, die vielmehr aus dem späten Mittelalter stammt und Luther insoweit durchaus als Kind seiner Zeit ausweist. Für ihn sind der Staat, die weltlichen Institutionen und die Obrigkeit schlechthin von Gott gesetzt – daher sollen die Menschen der Obrigkeit untertan sein, ganz unabhängig davon, ob sie als Christenmenschen in rechter Weise an Gott glauben und in ihrem Glauben ihre Freiheit finden. Die Reformation ist für Deutschland, was die Bewegung des rinascimento in Italien, was die Renaissance in einigen westeuropäischen Ländern ist: Sie erschüttert das Gebäude der mittelalterlichen Ordnung, indem sie daneben ein neues setzt und damit Energien und Potenzen, auch künstlerischer Art, entbindet, die noch Jahrhunderte nachwirken.

Thomas Müntzer

Thomas Müntzer repräsentiert, gemeinsam mit Martin Luther, in geistiger und wissenschaftlicher, intellektueller, ideologischer und nicht zuletzt politischer Hinsicht das Gesamtprofil der höchst unterschiedlichen Positionen und Konturen der frühen Neuzeit. Er stammt aus armen, buchstäblich hinterwäldlerischen Verhältnissen, studiert Theologie in Leipzig und in Frankfurt an der Oder, schließt mit dem Baccalaureus- und dem Magister-Artium-Examen ab, wird Wanderprediger, attackiert – ‹antiautoritär› avant la lettre – Fürsten wie Kirchenfürsten, etwa den Erzbischof von Magdeburg, und entwickelt sich zum Ideologen mit chiliastischen Neigungen, in der urchristlichen Tradition der Kirchenväter, etwa des Joachim von Fiore: die alttestamentlich inspirierte Vorstellung eines ewigen Gottesreiches auf Erden, das tausend Jahre dauern und das Paradies mit sich bringen wird. Müntzer ist Luther 1519 begegnet, in Leipzig, wo der Reformator seine Disputation mit Johannes Eck, dem Repräsentanten der katholischen Kirche, halten sollte. Luther hatte von Müntzer zunächst einen guten Eindruck gewonnen und ihn auf eine Predigerstelle in Zwickau empfohlen; doch erregte dieser, da er seiner rebellischen Haltung wegen ausgewiesen wurde, alsbald den Zorn seines Gönners. Müntzer erwies sich schon in jungen Jahren als ein bibelgerechter Eiferer. Er hatte vor allen Dingen das Alte Testament vor Augen, berief sich aber ebenso auf das Neue Testament, dabei spontan zu unberechenbaren Reaktionen tendierend, zu gelegentlichen Exaltationen, die ihm frühzeitig den Ruf eintrugen, eine charismatische Persönlichkeit zu sein. Nachdem er aus Zwickau ausgewiesen worden war, reiste er predigend durch die Lande und schlug sich auf diese Weise, bei kärglichem Lebensunterhalt, mehr schlecht als recht durch.

1521 verfasst Müntzer in drei Sprachen (Böhmisch, Lateinisch, Deutsch) einen Aufruf contra Papistas, der – am 1. November, an Allerheiligen, öffentlich ausgehängt – ihm aufgrund seiner drastischen Bildlichkeit und sprachlichen Plastizität regen Zulauf unter den Gläubigen sichert, mit der Folge seiner Ausweisung aus Prag im Januar 1522. Auf der Flucht gab es in Wittenberg eine kurze, offenbar unerfreuliche Begegnung mit Luther. Müntzer geht daraufhin nach Nordhausen, von wo man ihn ebenfalls vertreibt. Seit Ostern 1523 befindet er sich in Sachsen, in Allstedt, in der Nähe des Mansfeld’schen Erzbergwerks. Er heiratet dort eine aus dem Kloster ausgetretene Nonne, Ottilie von Gersen, von der es heißt, sie habe das Predigergeschäft Müntzers, umherziehend durch Kirchen und Gemeinden und agitierend in seinem Sinn, noch härter, schärfer und schriller betrieben als er selbst.

Müntzer aber findet keine Ruhe, im Gegenteil: Wo er auch hinkommt, eilt ihm der Ruf voran, schlimmer als die ‹Martinianer› zu sein. In der Tat: Nach dem Bruch mit Luther kommt es zu einem Aufbruch zu neuen Ufern, zu einem präkommunistischen Denken mit sozialrevolutionärem Antrieb, der Müntzer die Partei der armen Leute ergreifen lässt. Er wird zum alttestamentlich orientierten Charismatiker, der Pamphlete gegen den Grafen von Mansfeld veröffentlicht, dazu theologische Schriften, die sich mit der Taufe befassen, ferner mit dem «gestohlenen Glauben» eines fehlerhaft gedeuteten Christentums, nicht allein in der katholischen Kirche, sondern auch bei seinem Feind Martin Luther. Während es nach Luther Vergebung allein aus dem Glauben gibt, sieht Müntzer sehr wohl das aktive Moment der Buße und der Demut, durch das sich Gott dem Menschen öffne. Für ihn ist nur der in allergrößte Sorgen und in Nöte gestürzte Mensch überhaupt des Glaubens fähig.

Zugleich mit dieser theologischen Argumentation vollzieht sich bei Müntzer eine revolutionäre politische Wendung: Er hält als erster Prediger den Gottesdienst in deutscher Sprache ab. Während Luther sich zunächst gegen jede Popularisierung des Gottesdienstes gewandt hatte, adressiert sich Müntzer in seinen Predigten von vornherein in deutscher Sprache, ausdrücklich in politischer Absicht, an das Volk, mit großer Resonanz vor allem bei den armen Schichten der Bevölkerung. Mit seinen Predigten hat er so großen Erfolg, dass der Graf von Mansfeld und der Herzog von Sachsen sich veranlasst sehen, ihren Untertanen den Besuch seiner Gottesdienste zu untersagen. Als dieses Verbot missachtet wird, kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen mit einer Schutztruppe, welche die obrigkeitlichen Anordnungen mit Gewalt durchsetzen soll – woraufhin die erregte Menge zu einem der großen Heiligenbilder der katholischen Kirche zieht, um dieses zu zerstören. Der Rat der Stadt Allstedt weigert sich, die Schuldigen zu bestrafen.

Luther, der den rebellischen Charakter seines Widersachers frühzeitig erkannt hatte, sprach seine Kritik an Müntzer in einem Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufruhrischen Geist ohne jeden Vorbehalt aus: «Also, nachdem der ausgetrieben Satan itzt ein Jahr oder drei ist umhergelaufen durch dürre Stätte und Ruhe gesucht und nicht gefunden, hat er sich in E.F.G. [Euer Fürstlichen Gnaden] Fürstentum niedergetan und zu Allstedt ein Nest gemacht und denkt, unter unserm Friede, Schirm und Schutz wider uns zu fechten. [...] Da dacht ich wohl, es wollt dahinaus, daß sie gedächten, weltliche Oberkeit zu stürmen und selbst Herr in der Welt zu sein. So doch Christus für Pilato das verneinet und spricht, sein Reich sei nicht von dieser Welt und auch die Jüngern lehret, sie sollten nicht sein wie weltliche Fürsten.» Ein Argument, das – für Luther konsequent – auf der Trennung von Religion und Weltlichkeit besteht und gegen jeden Versuch gerichtet ist, die Religion als Vehikel weltlicher Herrschaft zu benutzen. Rabiat argumentiert Luther mit der abschließenden, gegen Müntzer und seinen Anhang («Herr omnes») gerichteten Empfehlung, es müsse die «Ursach der Aufruhr, dazu sonst Herr omnes mehr denn zuviel geneigt ist, verhuetet» werden: «Denn es sind nicht Christen, die uber das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehen Heiliger Geist voll und abervoll berühmten.»

Unter den zahlreichen Veröffentlichungen Müntzers sind drei Schriften aus dem Jahr 1524 hervorzuheben: Hochverursachte Schutzrede, Die Fürstenpredigt und An die Allstedter. Manifest an die Mansfeldischen Berggesellen. Den beiden erstgenannten Schriften gingen Veröffentlichungen wie die eben zitierte aus der Feder Luthers voraus, in denen Müntzer wegen seiner Predigten und der aus ihnen resultierenden Auseinandersetzungen kritisiert, ja denunziert wurde, mit dem unmissverständlichen Ziel seiner Vertreibung. Herzog Johann, ein Bruder des Kurfürsten von Sachsen, wollte sich selbst ein Urteil bilden und bestellte anlässlich eines Besuchs in Allstedt bei Müntzer eine Predigt. Müntzer beschloss, seine politischen Ansichten und Absichten unverhüllt darzustellen, und wählte hierfür in seiner Fürstenpredigt ein Kapitel aus dem alttestamentlichen Buch des Propheten Daniel, in welchem Daniel einen Traum des Herrschers Nebukadnezar auslegt. In Müntzers Predigt kommt unmissverständlich zum Ausdruck, dass die biblische Vision von jenem «Stein», der «herabgerissen ward ohne Hände», um das aus Gold und Silber, Erz, Eisen und Ton entstandene «Bild» des Reiches zu zerstören, nichts anderes ist als die Vision von der Zerstörung aller irdischen Reiche, auch der gegenwärtigen, die zerschlagen und zerstört werden, sofern nicht alle Menschen, auch die Herrscher, sich bekehren und gottesfürchtig leben. Eine radikale Interpretation und eine ebenso rabiate Übertragung in die Gegenwart, die Müntzers Respektlosigkeit gegenüber den Herrschern seiner Zeit verdeutlicht.

Seinen gezielten Affront dehnt Müntzer in seiner Hochverursachten Schutzrede auf Luther aus. Ausdrücklich bezeichnet er sein Schreiben – eine Reaktion auf Luthers Brief an die Fürsten von Sachsen von dem aufruhrischen Geist – als «Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg, welches mit verkehrter Weise durch den Diebstahl der Heiligen Schrift die erbärmliche Christenheit also ganz jämmerlichen besudelt hat». Es geht Müntzer freilich nicht allein um die Person Luthers, sondern ebenso um die Rechtfertigung der eigenen politische Aktivitäten, die durch die Beteiligung der armen Bevölkerungsschichten legitimiert sei: «Es ist nit anders in der Wahrheit, wie mir das ganze Land Gezeugnis gibt, das arme dürstige Volk begehrte der Wahrheit also fleißig, daß auch alle Straße voll Leute war von allen Orten, anzuhören, wie das Amt, die Biblien zu singen und zu predigen, zu Allstedt angerichtet ward.» Diese Berufung auf das sozialrevolutionäre Potenzial in der verelendeten Bevölkerung trägt zugleich die Legitimation für die von Luther inkriminierten Handlungen in sich, in Form einer Einsicht, die nicht ohne Grund zu einem geflügelten Wort geworden ist: «Die Herren machen das selber, daß ihn’ der arme Mann feind wird. Die Ursach des Aufruhrs wöllen sie nit wegtun. Wie kann es die Länge gut werden? So ich das sage, muß ich aufrührerisch sein! Wohlhin!» Zweifellos der prägnanteste Satz der Hochverursachten Schutzrede, einprägsam und in evidenter Weise Müntzers Impuls zusammenfassend, Menschen zu motivieren, Aufstände zu organisieren und dabei auf das Alte Testament zurückzugreifen, in dem eine andere, eine deutlichere und drastischere Sprache gesprochen wird als im Neuen Testament. Es geht – neben allem persönlichen Mut, den Luther wie Müntzer unter Beweis stellen – auch um Konkurrenz, um Rivalität, mithin um die alles entscheidende Frage des Nachruhms: Welche der beiden historisch herausragenden Figuren war die bedeutendere? Müntzer legt das Evangelium, im Unterschied zu Luther, als eine sozialrevolutionär zu verstehende Botschaft aus, die Ansprüche und Aktionen der Bauern dementsprechend als religiöse Tat. Es handelt sich in seinen Augen um urchristliche und urkommunistische, fundamentalistische Handlungen nach der Maxime: «omnia sunt communia» (‹Alles gehört allen›): «Und sollte einem jedem nach seiner Notdurft ausgeteilt werden nach Gelegenheit.» Müntzer hat diesen für das Verständnis seines Lebens entscheidenden Satz in äußerster Bedrängnis gesprochen: Er findet sich in einem Protokoll verzeichnet, das unter der Folter aufgezeichnet wurde – es ist ein Wahlspruch, den Müntzer von den Bauern übernommen hat. Man kann sagen: Alle kämpferischen Flugschriften der Bauern in dieser Zeit atmen den Geist Müntzers. Auch wenn sie nicht von ihm persönlich verfasst wurden, sind sie doch von ihm inspiriert. Im Gestus bisweilen ein wenig gemäßigt, zeugen sie durchweg von einem neuen Selbstbewusstsein, dessen Voraussetzung die Verelendung der Bauern bildet, verbunden mit der Hoffnung auf Veränderungsmöglichkeiten. Das soziale Potenzial des Bauernkriegs, aus dem sich die militanten Aktivitäten speisen, erwächst aus der urchristlich-urkommunistischen Religiosität in der von Thomas Müntzer wieder belebten Tradition des Alten Testaments.

Ein Blick auf die berühmten 12 Artikel der Bauern vom März 1525 kann diese Einschätzung bestätigen. Man hat ursprünglich angenommen, dass Müntzer selbst diesen Text verfasst habe, doch lassen genaue Stilproben diese Deutung fraglich erscheinen. Wahrscheinlicher ist die Vermutung, dass diese Artikel von einem anderen Mitstreiter der Bauern verfasst wurden, der die Redaktion übernommen hat, der Feldschreiber des Baltinger Haufens nämlich, Sebastian Lotzer, ein Kürschnergeselle aus Memmingen, der die Beschwerden der Bauern zusammengestellt und mit Bibelstellen angereichert hat. Für den Druck fügte der Memminger Stadtprediger Christoph Schappeler die Einleitung hinzu. Diese Artikel erschienen unter dem Titel Die grundlichen und rechten Hauptartikel aller Baurschaft und Hintersässen der geistlichen und weltlichen Obrigkeiten, von wölchen sie sich beschwert vermeinen in Augsburg und erlebten im selben Jahr mindestens 22 Auflagen – sie sind das Grundsatzprogramm der Bauern.

Dieses Grundsatzprogramm ist, bezieht man es auf die konventionellen zeitgenössischen Sprechweisen und Ausdrucksformen, in aller Bescheidenheit formuliert, und es erhebt, aus heutiger Sicht, durchaus keine unbilligen Ansprüche. Allerdings werden zum ersten Mal in der Geschichte Forderungen vorgetragen, die unmittelbar aus den Aktionen und Kämpfen unterprivilegierter, unterdrückter Schichten hervorgehen, ihren sozialen Erfahrungen und Entbehrungen Ausdruck geben und in der Folge auch die Richtung weisen. Es handelt sich dementsprechend vor allem um wirtschaftliche Aspekte, die genannt werden. Die Bauern werden ausgeplündert, und sie sind rechtlos. Dass sie aufbegehren, dass sich der Gedanke des Widerstandes in vergleichsweise kurzer Zeit, wie im Fluge, verbreiten und durchsetzen kann, von der Schweiz bis nach Sachsen, zeigt, wie groß die Not ist und wie befreiend der Gedanke erscheinen muss, dagegen aufbegehren zu können. Hinzu kommt das Profil des Menschentypus, der in dieser Zeit, nicht nur unter den Bauern, prägnant hervortritt, insbesondere eben Thomas Müntzer mit seinem geradlinigen Eintreten für die Sache der sozial Verelendeten und seinem entschiedenen Durchsetzungs- und Selbstbehauptungswillen, zu dem auch ein spezifischer, individueller Trotz gehört. Und nicht zuletzt ist die Religion in diesem Kontext von Bedeutung, da Müntzer, im Unterschied zu Luther, den einfachen Mann auf die Propheten des Alten Testaments verweist, in deren Tradition er selbst sich sieht, aus deren Geist und in deren Sprache er redet – so wie ein Prophet des alttestamentlichen zürnenden und strafenden Gottes zu den Herrschenden spricht.

Dass Luther die Forderungen der Bauern ablehnt, versteht sich von selbst. Nachdem er die 12 Artikel gelesen hat, schreibt er eine Ermahnung zum Frieden, in der er die Ungleichheit der Menschen in der weltlichen Sphäre betont, im Gegensatz zur religiösen Welt, in der vor Gott alle Menschen gleich sind. Mit dieser Begründung wehrt Luther die Forderungen der Bauern nach sozialer Veränderung entschieden ab, um zugleich Müntzer, seinen Widersacher und Konkurrenten, als Anführer zu denunzieren. Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525) ist einer der zentralen Texte aus der Zeit des Bauernkriegs. Er wird getragen und ist durchzogen von Formulierungen, die grausam, ja grauenhaft anmuten, insbesondere im Hinblick auf den Verfasser, einen Reformator vom Format Martin Luthers. «Mein Reich ist nicht von dieser Welt», lautet der biblische Basissatz, auf den er sich in diesem Zusammenhang in vielfachen Variationen bezieht. Der Schluss des Pamphlets besitzt seine eigene Gewalt, inhaltlich wie im sprachlichen Duktus: «Drum, lieben Herren, loset [= erlöset] hie, rettet hie, helft hie! Erbarmet euch der armen Leute! Steche, schlahe, würge hie, wer da kann! Bleibst du druber tot, wohl dir! Seliglichern Tod kannst du nimmermehr uberkommen, denn du stirbst in Gehorsam göttlichs Worts und Befehls [...] und im Dienst der Liebe, deinen Nähisten zu retten aus der Hellen und Teufels Banden.» Wer die Bauern umbringt, tut Gutes, und wer bei diesem mörderischen Geschäft selbst umkommt, ist gerettet und selig, denn er tut Gottes Werk – eine klare, blutrünstig rächende Sprache, ein Pamphlet in einem Duktus, wie er härter kaum zu denken ist.

Am Ende steht im Jahr 1525 die desaströse Niederlage der Bauern in der Schlacht bei Frankenhausen. Noch am Vorabend dieser Schlacht hatte Müntzer eine seiner beeindruckenden rhetorischen Leistungen verbreiten lassen (An die Allstedter), mit der er die Verschworenen des Allstedter Bundes dazu aufrief, die Einheit mit den Mansfeld’schen Bergknappen herzustellen und die Aufständischen zum Kampf zu ermutigen: «Wann euer nur drei ist, die, in Gott gelassen, allein seinen Namen und Ehre suchen, werdet ihr hunderttausend nit furchten. Nun dran, dran, dran! Es ist Zeit! Die Boswichter seind frei verzagt wie die Hund. Regt die Bruder an, daß sie zur Fried kommen und ihr Bewegung Gezeugnis holen. Es ist uber die Maß hoch hoch vonnöten. Dran, dran, dran! Laßt euch nicht erbarmen [...]. Sehet nit an den Jammer der Gottlosen! Sie werden euch also freundlich bitten, greinen, flehen wie die Kinder. Lasset euch nit erbarmen». Eine Flug- und Kampfschrift, unterzeichnet mit «Thomas Muntzer, ein Knecht Gottes wider die Gottlosen», ein Pamphlet mit einer ungebärdig radikalen und zündenden Sprache, zugleich ein klug aufgebauter Text mit Spannungsbögen, Höhepunkten und Pointierungen, ein Aufruf zum Aufruhr, in dem leitmotivisch Bibelverweise eingesetzt werden, rhythmisiert durch die aufpeitschenden Aufrufvokabeln des ‹dran, dran, dran› und verbunden mit der Forderung, diesen Text zu verbreiten – ein herausragendes Beispiel der Flugschriftenliteratur und ein Dokument der ihr eigenen Funktionen. Doch die Bauern werden vernichtend geschlagen. Müntzer flieht in die nahegelegene Stadt und verbirgt sich in einem der Vororthäuser. Man konnte ihn aufgrund der Schriften, die er bei sich trug, identifizieren, hat ihn «peinlich» verhört und hingerichtet.

Flugschriftenliteratur

Dass die neu entstehende Literatur – legt man diesen Terminus weit genug aus – eine bedeutende Rolle für die Kommunikation und die strategische Verständigung unter den kämpfenden Parteien, insbesondere unter den Aufständischen gespielt hat, lässt sich an der Entwicklung des Genres Flugschriften unschwer ablesen (Brackert 1975). Es handelt sich um eine Textsorte, die zwischen 1520 und 1525 ihre Blütezeit erlebt. Zwar gab es auch zuvor bereits vereinzelt Flugschriften und Flugblätter, die die Aufgabe hatten, Informationen zu verbreiten und spezifische Adressaten zu erreichen. Jetzt aber, während des Bauernkriegs, wächst ihnen eine eigenständige literarische Qualität zu. Sie adressieren sich nicht nur an eine spezifische Öffentlichkeit, sondern die Öffentlichkeitsadresse schreibt sich gewissermaßen in die Texte ein. Es entsteht eine völlig neuartige Autor-Leser-Relation: Die Autoren beziehen die Leser in ihre rhetorische Strategie ausdrücklich durch literarische Mittel der Verständigung ein, die bei ihrem Publikum ein Gefühl der Gemeinsamkeit erzeugen. Wenn Thomas Müntzer Martin Luther als «dieser Doktor Lügner» apostrophiert, kann er auf Einverständnis bei seinem Publikum rechnen, zumindest aber darauf, dass sich die Leser vom Urteil des Verfassers überzeugen lassen. Auf Seiten der Bauern finden sich Manifeste und Artikelbriefe, in denen es vor allem um Fragen der Aktualität, Popularität und Publizität geht: Aktualität im Hinblick auf geplante Aktionen oder dringend der Lösung harrende Probleme; Popularität im Hinblick auf die Verständlichkeit der Sprache, in der man die Adressaten erreichen will; Publizität bezogen auf die Verbreitungsmöglichkeiten innerhalb einer weit verstreuten, zudem zu großen Teilen analphabetischen Öffentlichkeit. Aus diesem Grund war eine leicht verständliche Sprache ebenso erforderlich wie eine rasche Verbreitung und eine kostengünstige Herstellung der Flugschriften.

Erschienen sind sie aufgrund von Zensurmaßnahmen und Verfolgung meist anonym oder unter Pseudonymen, sodass die Frage nach der Identität der Autoren kaum mehr zu klären ist. Wenn die Herrschenden der Autoren habhaft werden konnten, mussten diese ihrerseits mit «peinlichen» Verhören rechnen. Doch zum Teil haben die Pseudonyme auch mit Camouflage zu tun. So sind etwa die sogenannten «Humanistenbriefe», von denen bereits die Rede war, zum Teil unter ‹maskierenden› Namen veröffentlicht worden. Hier wurde durchaus kein Schutz vor der Zensur gesucht, sondern es handelte sich um literarische Maskenspiele, auch um Versuche zur Verhöhnung des Gegners, der in Form von bestimmten Autor-Figuren herabgesetzt werden sollte. Die Namen der Autoren, die sich identifizieren lassen, legen freilich den Gedanken nahe, dass die meisten Verfasser solcher Schriften aus der gebildeten Schicht kamen. Die Bauern brauchten und fanden Helfer, zumeist in der Schicht der Handwerker, die des Lesens, des Schreibens und differenzierter Ausdrucksmöglichkeiten fähig waren. Sie stellten sich den Bauern zur Verfügung, da sie sich als Sprachrohr des einfachen Mannes verstanden. Das bedeutet durchaus nicht, dass sie sich stets und in jeder Hinsicht mit allen Forderungen der Bauern identifiziert hätten, doch haben sie deren Sache als gerecht erkannt und anerkannt – beispielsweise Ulrich von Hutten und ebenso Hans Sachs – und hieraus die Konsequenz gezogen, ihre intellektuellen und kulturtechnischen Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine gerechte Sache zur Verfügung zu stellen. Dementsprechend muss man den Autor im 15. oder 16. Jahrhundert eher als einen Textschreiber verstehen denn als eine Person, die mit einer ingeniösen und unverwechselbaren literarischen Begabung ausgestattet ist. In diesem Licht sehen sich auch die zeitgenössischen Verfasser der Texte selbst: Sie schreiben im Auftrag – ihre Texte bringen nicht notwendig die persönliche Meinung eines einzelnen Autors zum Ausdruck, sondern stellen Beiträge zur öffentlichen Diskussion dar zwecks Information und Meinungsbildung.

Inhaltlich handelt es sich bei den Flugschriften um einen Spiegel der wichtigsten zeitgenössischen Auseinandersetzungen. Sie reflektieren in ihrer Gesamtheit wie im Einzelfall die repräsentativen Auseinandersetzungen dieser Zeit: Fragen der Reformation und später der Gegenreformation, die Bauernkriegsproblematik, die Religionsgespräche und humanistisches Gedankengut. Die literarischen Formen, welche die Flugblattliteratur entwickelt, sind breit gefächert, wenngleich ihr argumentativer Horizont relativ eng und stereotyp wirkt. Es dominiert das Pamphlet, die Polemik, die Kritik, verbunden mit der Herabsetzung des Gegners. Es handelt sich um eine sprachlich bisweilen überaus grobe Literatur, die nicht zuletzt aus ‹Schimpfreden› mit dem erklärten Ziel besteht, eine Person auf unflätige Weise herabzusetzen. Als Parallelgattung hierzu entwickelt sich die Satire, gleichfalls mit dem Ziel verbunden, den Gegner herabzusetzen, doch in einer intellektuell geschliffenen Form. Ferner entstehen Allegoresen, sprachlich-bildhafte Darstellungen der Welt mit vergleichsweise – etwa im Verhältnis zur verbindlich kodifizierten Symbolsprache – willkürlichen Qualitätszuschreibungen, daneben dramenähnliche Gebilde (Monologe, Dialoge und Prosadialoge). Unter ihnen können die dialogischen Formen als repräsentativ für diese Zeit gelten, weil sie prägnante Möglichkeiten bieten, bestimmte Positionen im Kontrast zu anderen Sichtweisen zu pointieren und in diesem Meinungsstreit das jeweils eigene Urteil gewitzt und kritisch ins Recht zu setzen.

Diese verhältnismäßig breite Skala literarischer Formen ist mit einer entschiedenen Wirkungsabsicht verbunden. Die Autoren und Distributoren wollen ein Publikum erreichen, um ihre Meinung zu verbreiten und durchzusetzen und ihr Publikum in die eigene argumentative Strategie einzubeziehen, um auf diese Weise eine möglichst große Multiplikation der eigenen Absichten erzielen zu können. Die Flugschriftenliteratur stellt, so gesehen, ein Medium der Verständigung und der Auseinandersetzung in einem eben entstehenden öffentlichen Raum dar, das erst durch den Buchdruck ermöglicht wird. Zuvor gab es die begrenzten Öffentlichkeitsformen des Hofes und der Kirche, ferner die mündliche Kommunikation in Stadt und Dorf. Was ansonsten in Form von Handschriften oder Kopien kursierte, waren Medien einer abgehobenen Öffentlichkeit, beschränkt auf gebildete Zirkel in Klöstern und bei Hofe, die ein großes Publikum nicht einmal erreichen wollten. Erst mit der Reformation und durch den Bauernkrieg entsteht eine Öffentlichkeit im umfassenden Sinn des Worts, mit einer strategisch anvisierten Überregionalität des möglichen Informationsaustauschs. Kommunikations- und Verbreitungsmedien, die weit über den zuvor eng begrenzten regionalen Raum hinausreichen, bilden Öffentlichkeitsformen in einem bereits anspruchsvollen Sinn des Worts, auch wenn sie nicht ohne den Gegenpol einer entschiedenen Zensur zu denken sind, meist in Gestalt einer Nachzensur, die sich gegen die Verfolgung der Autoren und Verteiler richtete.

Die Flugschriftenliteratur dieser Zeit lässt sich als Ideensprachrohr mit einer bestimmten Wirkungsabsicht und einer spezifischen Öffentlichkeitsperspektive verstehen. Sie ist – legt man den Begriff der ‹Masse› großzügig aus – das erste Massenmedium der Publizistikgeschichte, mit einem eigenen Profil und einer eigenen Sogwirkung, durch die sich in Verbindung mit Luthers Bibelübersetzung eine Volks- und Gemeinsprache herausbilden konnte. Um volkstümlich zu sein, war sie auf Allgemeinverständlichkeit angewiesen, die sich als Stilwille mit sprachschöpferischen Qualitäten durchzusetzen wusste oder auch in Form von Travestien, die auf liturgische Traditionen zurückgehen. Hierfür kann eine Predigt des Hirten und Dorfmusikanten Hans Böhm, genannt Pfeiferhänslein, aus dem Jahr 1476 als Vorbild gelten: «Wir wollens Gotte vom Himmel clagen / Kyrie eleison / Das wir die Pfaffen nicht zue todt sollen schlagen / Kyrie eleison». Schriften wie diese geben dem Bedürfnis zur Schaffung einer Verständigungsbasis Ausdruck. Damit sie verbreitet und angenommen werden konnten, musste auf der Rezeptionsseite, zwischen den verschiedenen Ständen und sozialen Gruppen, vor allem den Unterklassen und den gebildeten Schichten, ein bestimmter Informations- und Kommunikationsanspruch vorhanden sein. Man kann die Flugschriftenliteratur insoweit auch als ein Medium der Demokratisierung verstehen, dessen Potenzial bereits ein halbes Jahrhundert vor den Bauernkriegen erkennbar ist. Seither entwickelt sich eine oppositionelle Publizistik, die Schwert und Schrift miteinander verbindet: das Schwert der kämpfenden, gegen ihre Unterdrückung aufbegehrenden Bauern und die Schrift der Gebildeten – Formen und Funktionen, die im Flugblatt zu einer agitatorischen Synthese verschmelzen. Die Flugschriften verbreiteten die Forderungen der Bauern im engen Zusammenspiel mit den sich ausweitenden kriegerischen Auseinandersetzungen und wurden vor einem großen Publikum von bis zu 8000 Menschen verlesen. Deshalb kann man in der Tat von einem Massenmedium sprechen. Die Flugschriftenliteratur sollte die Konfliktlage, die jeweilige Konstellation und die unterschiedlichen Angriffspunkte fixieren, um auf diese Weise an den realen Auseinandersetzungen teilzuhaben, Verhandlungspositionen zu markieren, Selbstdarstellung und Werbung für die eigene Sache zu betreiben, mit einem Wort: die Interessen der Bauern zu artikulieren, die über den Bereich der unmittelbaren lokalen Zusammenhänge, aus denen die Bauernaufstände hervorgegangen sind, hinauswiesen.

Vor zwei Schwierigkeiten standen die Bauern bei der Organisation des Krieges allerdings von Anfang an: Angst vor den Folgen ihrer Aufstände und Artikulationsprobleme. Beide Schwierigkeiten schufen Handlungshemmungen und auch Verhandlungshemmungen. Die Aufständischen waren den Herrschenden, die mit ihnen sprachen, weit unterlegen, mit der Folge, dass ihre Ohnmachtserfahrung rasch in offene Gewalt umschlug. Sie sahen keine andere Möglichkeit, als sich zu wehren, und sie wehrten sich in einer höchst unvollkommenen Form: schlecht ausgerüstet und unzureichend organisiert, ohne zentrale Befehlsgewalt und ohne strategische Abstimmung, mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Vermittlung ihrer Forderungen, die dazu beitragen sollten, die regionale Zersplitterung zu überwinden.

Zeitgleich mit den Veröffentlichungen dieser Forderungen entstehen literarische Formen, die sich in und mit den kriegerischen Auseinandersetzungen der Bauern entwickeln, so das «Bündische Lied», verfasst von einem Liedermacher namens Conz Annahans, der 1527, nach der Niederlage der Bauern, für dieses Lied zur Rechenschaft gezogen und, einer Chronik zufolge, «gemietlich befragt worden» sein soll. Die erste Strophe dieses Liedes lautet:

Ain Geyr ist ausgeflogen

Im Högew am Schwarzwald.

Er hat vil Jungen ausszogen,

/:Die Bauern allenthalb:/

Sie sind aufrürig worden

In teutscher Nation

Und hand ain bsunder Orden,

/:Vielleicht wird’s in wol gon

[...]