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Angesichts der europäischen Finanzkrise ist es unübersehbar geworden: Deutschland nimmt aufgrund seiner ökonomischen Potenz eine entscheidende Rolle in Europa und in der Welt ein. Doch die eigene Macht wird eher als eine wenig erwünschte Herausforderung gesehen. Wir sind gefangen zwischen der faktisch ausgeübten Macht und einer Neigung, die damit verbundene Verantwortung abzulehnen und uns nicht mit unserem eigenen Verhältnis zu Macht und Ohnmacht auseinanderzusetzen. Dies hat historische Wurzeln. Heute geht es darum, ein neues Verhältnis zur eigenen Macht zu gewinnen; als Individuen und als Kollektiv. Dies kann gelingen, wenn wir uns mit dem eigenen Schatten versöhnen und eine Haltung des 'servant leadership' entwickeln.
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Seitenzahl: 405
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Zu diesem Buch
Teil 1MIT DEM SCHATTEN VERSÖHNEN
Zur eigenen Macht und Größe stehen?
Macht macht Angst
Der Schatten wird sichtbar: Sechs Momentaufnahmen
Der kollektive Schatten
Der Gang durch den Schatten
Kräfte des Unbewussten
Feld des Bewusstseins, mittleres und tieferes Unbewusstes
Das höhere Unbewusste
Das kollektive Unbewusste
Das Transpersonale oder Höhere Selbst
»Scham – die tabuisierte Emotion« (Marks)
Identität, Ohnmachts-Allmachts-Komplex
Identität und Traumata
Transformation und Versöhnung
Auf der Suche nach der deutschen Identität
Deutsche Identität zwischen Macht und Ohnmacht
Annäherungen an die deutsche Identität heute: Empirische Bestandsaufnahmen
Entwicklungslinien deutscher Identität: Gaben – Potenziale – Gefährdungen
Deutsche Geschichten: Gaben und Schattenkräfte
Transzendenz und Spiritualität
Idealismus und (Früh-)Romantik. Die Schatten der Aufklärung überwinden
Der Nationalsozialismus als Politische Religion
Missbrauch der Mystik
»Sensibilität für die Transzendenz« heute
Sekundärtugenden in Staat und Wirtschaft
Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit
»Tugendprojekte« im Nationalsozialismus
Sekundärtugenden heute
Eine Zwischenbilanz
Bedürfnisse – Werte – Missbrauch – Traumata
Bedürfnisse und Bedürfnismissbrauch (Maslow)
Körperliche Grundbedürfnisse
Sicherheitsbedürfnisse
Soziale Bedürfnisse
Ich-Bedürfnisse
Spirituelle Bedürfnisse
Werte und Wertemissbrauch (Beck & Cowan)
Umgang mit Traumata – Irrwege und Wege
Teil 2DEM LEBEN DIENEN
Führungskunst entwickeln
Spiritualität und Führung
Integrale Führung
Weisheit des Weiblichen
Die weibliche Seite Gottes
Synthese von Prinzipien des Männlichen und Weiblichen
Neue Partnerschaft zwischen Frauen und Männern
Selbstführung und Führung
Sprache und Bilderwelten
Sprache
Bilderwelten
Kultur der Verbundenheit
Natürliche Mitwelt
Potenzialentwicklung
Teil 3ZUKUNFT GESTALTEN
Sich dem Leben zuwenden: Gerald Hüther
Verbundenheit wagen (Mikro- und Beziehungsebene)
Sprachfähig werden und Gefühle annehmen
Antje Pohl: Versöhnung mit sich und dem familiären Erbe
Anonyma: Aus Irrwegen lernen
Declan Kennedy: Gemeinschaft wagen und einen Lebensgarten mitgestalten
Institutionen menschlich gestalten (Mesoebene)
Margret Rasfeld: Kindern Zukunft ermöglichen
Götz Werner: Wirtschaften mit menschlichem Antlitz
Nina Trobisch/Dieter Kraft: Organisationsentwicklung mit der Kraft der Mythen: das Heldenprinzip®
Gesine Schwan: Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft: Denken, Handeln und Fühlen versöhnen
Seinen Platz in der Welt annehmen (Makroebene)
Anna Gamma: Blicke ich auf Deutschland
Thomas Hübl: Den kollektiven Schatten heilen
Nele Hertling: Europa eine Seele geben
Margrit Kennedy: Jenseits der Herrschaft des Zinses
Geseko v. Lüpke: Tiefenökologie wagen
Ausblick: Von der Kernverletzung zur Kernkompetenz – ein Entwicklungsweg
Danksagung
Literatur
Dies ist ein sehr persönliches Buch. Es geht Fragen nach, die mich seit meiner Kindheit beschäftigt haben. Es ist ein Essay zur Lage des kollektiven und individuellen Unbewussten in Deutschland nach den Traumata, die das Land und seine Menschen durch das nationalsozialistische Unrechtssystem verursacht und erlitten haben. Es ist inspiriert von dem Wunsch, beizutragen zur Versöhnung mit sich und dem eigenen Land. Dabei will es weder die Schuld leugnen, noch will es die Schuld- und Schamdynamik erneut reaktivieren. Solange diese Versöhnung nicht geschieht, bleibt ein Schatten, der viele Menschen in Deutschland daran hindert, sich mit Freude dem Leben zuzuwenden, eine befriedigende Beziehung zu sich und anderen zu entwickeln, die eigenen Potenziale zu entfalten und verantwortlich für das Gemeinwohl einzutreten. In diesem Sinne braucht Deutschland eine Chance. Es ist die Chance, sich mit dem Schatten zu versöhnen und sich auf seine Gaben und Möglichkeiten zu besinnen. Der Begriff Schatten, den ich hier verwende, ist einerseits eine Metapher für eine gefühlte und erlebbare Blockade über unserem Land, zum anderen bezieht er sich auf Dimensionen und Kräfte des Unbewussten, die individuell und kollektiv wirkmächtig sind. Sie ins Licht des Bewusstseins zu heben, ist ein Weg zu mehr Verantwortung, Heilung und Transformation.
Als junge Frau habe ich mich immer gefragt, wie die Menschen in unserem Land in die humanitäre und geistige Katastrophe hineingeraten sind. Ich habe studiert, geforscht, Bücher geschrieben, eine politikwissenschaftliche Professur angenommen und vielfältige Suchbewegungen vollzogen. Irgendwann war mir der kognitive Zugang zu diesem Thema nicht mehr genug. In einem christlichen Elternhaus aufgewachsen, dann der Kirche entwachsen, ahnte ich doch, dass es andere Quellen geben müsse, die mir Antworten auf meine Fragen geben würden. So machte ich mich auf die spirituelle Suche und wurde auf vielen Reisen mit der indischen Philosophie des Vedanta vertraut. Allmählich begriff ich im Denken und im Fühlen, in welchem Ausmaß in unserem Land geistiges Potenzial missbraucht wurde. Der Nationalsozialismus praktizierte eine menschenverachtende Politische Religion, deren Ziel es war, systematisch einen Teil der eigenen Bevölkerung wie auch der Bevölkerung anderer Länder auszubeuten und zu vernichten, um in einer Selbstüberhöhung der sogenannten arischen Herrenrasse die eigenen Herrschaftsinteressen durchzusetzen.
Dieser Missbrauch hat in Deutschland zum Einfrieren von Gefühlen und Fähigkeiten geführt, die uns heute in erheblichem Maße fehlen: die Fähigkeit, sich zu begeistern, die Fähigkeit, gelingende Beziehungen aufzubauen und zu entwickeln, die Fähigkeit, sich gemeinschaftlich mit anderen im Geist zu verbinden, die Fähigkeit, sich in den Dienst einer größeren Sache – jenseits von utilitaristischen Zielen und Zwecken – zu stellen, die Fähigkeit, sich für die höchsten spirituellen Fragen und Wahrheiten zu öffnen, Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu suchen und den »Himmel auf die Erde zu bringen«, sprich: zu einer Humanisierung der Gesellschaft beizutragen. Zugleich wirken einige der gravierenden Schwächen im deutschen »Sozialcharakter« (Erich Fromm) weiterhin als machtvolle Schattenkräfte: Rechthaberei, eine Neigung zur Regelkonformität ohne Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse, Rücksichtslosigkeit, Schamabwehr durch Entwertung anderer. Solche Kräfte werden vor allem in Situationen aktiviert, in denen das Gefühl der Sicherheit bedroht zu sein scheint, eine Situation, die im Erleben vieler Menschen in Deutschland eine Rolle spielt – egal, ob dieses Gefühl als angemessen erscheint oder nicht.
Die Schwere des geistigen Missbrauchs, den die Menschen in Deutschland willentlich oder unwillentlich getrieben oder mit sich haben treiben lassen, liegt wie ein grauer Schleier über dem Kollektiv und behindert uns im Fühlen, im Denken, im Sein. Sie verhindert, dass wir ein klareres Bild von uns selbst entwickeln und dass wir die volle Verantwortung für uns selbst und unser Gemeinwesen übernehmen hier und in der Welt.1 Damit soll nicht gefordert werden, Deutschland möge sich erneut als »Retter« aufspielen. Die Idee, »am deutschen Wesen soll die Welt genesen«, gehört endgültig der Vergangenheit an. Es bedeutet aber auch nicht, dass Deutschland die eigenen geistigen Potenziale unterschätzen oder sich aus Schuld- und Schamgefühlen heraus, die aus der Vergangenheit resultieren, zurücknehmen sollte. Deutschland kann mit seinen geistigen Potenzialen einen wichtigen Beitrag in der Völkergemeinschaft leisten. Doch das erfordert, dass wir uns besser kennen, dass wir uns von einer Schuldverhaftung lösen, die letztlich aus einer egozentrischen Verhaftung in nicht bewältigten Problemen resultiert, und dass wir mutig in die eigene Verantwortung eintreten. Wir brauchen eine Vision, wie wir die Erfahrungen der Vergangenheit so wenden können, dass sie uns zum verantwortlichen Handeln im Sinne einer posttraumatischen Reifung befähigen.
Deutschland ist eine Nation, die immer wieder zu ungeahnter Macht gelangt. Dieser Zustand ist gegenwärtig in der Europäischen Union erreicht. Das macht es umso zwingender, mit dieser Macht umgehen zu lernen, damit sie nicht wie in der Vergangenheit ihre destruktiven Kräfte entfaltet, sondern konstruktiv dem Leben dient. Mit »dem Leben dienen« meine ich jedoch mehr als die grundlegende Abkehr von einer vernichtenden, gegen das Leben gerichteten Energie, wie sie im Nationalsozialismus vorherrschte. Damit meine ich eine Führungskunst, die die Würde von Mensch und Natur achtet und sich mit Entschiedenheit für Frieden nach innen wie nach außen einsetzt (vgl. Teil 2).
Damit dies gelingen kann, braucht es einen Blick auf die Schattenkräfte des individuellen und kollektiven Unbewussten, die in so fataler Weise den Missbrauch ermöglicht haben. Wer sich der Untiefen in der eigenen Psyche bewusst ist, kann sich der Gefährdung besser erwehren. Dieser Schritt steht weiterhin an. Transformation geschieht, wenn wir als Menschen Licht in das Dunkel des Unbewussten bringen, wenn wir die eigenen Untiefen erkennen und uns entschieden und kraftvoll auf unsere Verantwortung vor Gott und den Menschen besinnen.
Dieses Buch schöpft aus zahlreichen Quellen. Es steht in einem breiten Strom der Auseinandersetzung mit dem deutschen Schicksal. Eine solche Auseinandersetzung ist in allem und jedem in unserem Land zu spüren. Keine Familie, in der nicht – sei es durch Verdrängung oder Abspaltung, sei es durch den Versuch der Überwindung – eine direkte oder indirekte Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte stattfindet. Das Geschehene hat seine Spuren tief im individuellen und kollektiven Unbewussten hinterlassen und wird über Generationen weitergegeben. Heute sind es die Kinder der zweiten, dritten und vierten Generation, die sich zu Wort melden und auf die Wunden und Narben verweisen, die das Erlebte, Erlittene und Unaufgearbeitete in der Psyche hinterlassen haben. Hinzu kommt die bis heute anhaltende breite literarische und sonstige künstlerische Auseinandersetzung mit dem Geschehen, die den unbewussten und bewussten Prozessen auf der metaphorischen, intuitiven und intellektuellen Ebene Ausdruck verleihen. Last but not least versucht die schier uferlose wissenschaftliche Erörterung in immer neuen Schritten, das Geschehene einzuordnen und damit seiner habhaft zu werden.
Dieser Prozess der Aneignung und Transformation des Bewusstseins geht weiter. Er verläuft in Etappen und Stufen. Heute steht eine weitere Stufe an: Es gilt, von einer Erinnerungskultur zu einer Versöhnungskultur zu gelangen, in der eine posttraumatische Reifung ihren Ausdruck findet. Gelingt es, eine solche Versöhnungskultur zu entwickeln, können wir uns entschiedener dem Fortwirken von Schattenkräften entgegenstellen, die uns hindern, unser Potenzial zu entfalten oder die zu einem erneuten Machtmissbrauch führen können.
Die Gefahren eines Machtmissbrauchs sind real. Die Morde der Zwickauer Terrorzelle zeigen dies ebenso wie die weit verbreitete Ausländerfeindlichkeit in unserem Land. Sie lassen grundlegende Störungen in unserem Gemeinwesen erkennen. Solange das tiefe Bedürfnis von Menschen nach Sinn, Verbundenheit, Einbindung, Zugehörigkeit und Anerkennung gesellschaftlich nicht angemessen wahrgenommen und befriedigt wird, überlassen wir Menschen, die in seelischer, sozialer oder ökonomischer Not sind, den geistigen Rattenfängern, die sie (erneut) für ihre inhumanen Ziele missbrauchen. Diese Gefahr zeichnet sich bereits ab.
Es ist Zeit, sich den Schattenkräften so zu stellen, dass die durch das Trauma der deutschen Missbrauchsgeschichte eingefrorenen Gefühle, Ideale, Aspirationen und Tugenden wieder auftauen können. Wir dürfen uns mutig dem zuwenden, was sich – bevor es zum kitschigen Stereotyp verkam – in der Formel vom »Guten, Wahren, Schönen« fand. Platon, auf den sie zurückgeht, verwies mit den Begriffen auf so Elementares wie die wesensmäßige Ordnung, auf das Wahre als die letzte Wirklichkeit hinter den Erscheinungen und auf die Schönheit, die dem Sein innewohnt.2 Da Strebungen und Sehnsüchte, die über die Person hinausweisen, im Nationalsozialismus auf das Intensivste missbraucht wurden, ist heute mehr als nur ein Rückgriff auf die alten Ideale gefragt. Wir brauchen eine aufgeklärte Spiritualität, die sich in den bewussten Dienst an Mensch, Gesellschaft und Natur stellt.
Solchen Themen geht das Buch in drei Teilen nach:
Im ersten Teil wähle ich einen historisch-systematischen Zugang. Dabei lasse ich mich von folgenden Fragen leiten: In welcher Situation befindet sich Deutschland derzeit nach innen und außen im Hinblick auf seinen historisch belasteten Umgang mit Macht? Gibt es Schattenkräfte, die im Kollektiv weiterhin wirksam sind?
Diese Ausgangsfrage führt mich zu (sozial-)psychologischen Konzepten des Unbewussten, um einen Zugang dazu zu gewinnen, wie Schattenkräfte im individuellen und kollektiven Unbewussten wirken. Dabei konzentriere ich mich vor allem auf den Ansatz der Psychosynthese, der davon ausgeht, dass in Schattenkräften Gaben verborgen sind, die sich im Sinne einer posttraumatischen Reifung (re-)aktivieren lassen. Außerdem erkläre ich, was ich unter Traumata und Missbrauchsdynamiken verstehe.
Dies führt zu der schwierigen Frage nach der Identität bzw., ob es im deutschen »Sozialcharakter« Elemente gibt, die in besonderer Weise zum traumatisierenden Umgang mit Macht im Nationalsozialismus beigetragen haben. Dabei konzentriere ich mich auf drei Elemente, die ich für besonders relevant erachte: Ohnmachts-Allmachts-Dynamiken, Spiritualität und Transzendenz sowie die sogenannten Sekundärtugenden. Diese verorte ich jeweils historisch in ihrer Bedeutung während der Zeit des Nationalsozialismus sowie in der Gegenwart. Der erste Teil schließt ab mit dem Versuch einer systematischen Einordnung der stattgefundenen Missbrauchsdynamiken und Traumata anhand der sozialpsychologischen Modelle, den Bedürfnis-, Motivationsund Wertetheorien von Abraham Maslow einerseits und Clare W. Graves andererseits. Diese einschlägigen Ansätze helfen, besser zu verstehen, wie sich die aktiven und passiven Missbrauchsdynamiken und ihre traumatisierenden Wirkungen entfalten konnten, und welche Ansatzpunkte es für Heilung und Transformation im Sinne einer geistig-seelisch-moralischen (Neu-)Orientierung gibt.
Im zweiten Teil befasse ich mich mit einer Führungskunst, die dem Leben dient. In der Tradition des Serving Leadership werden zentrale Anliegen formuliert, die über die spezifischen Missbrauchsdynamiken im Nationalsozialismus hinausweisen. Führungskunst betrifft die Ebenen des Geistigen und des Materiellen ebenso wie die Ebenen von Ich und Du. Wegen der Bedeutung des Geistigen für jede Art von Führungskunst liegt der Schwerpunkt der Argumentation auf dieser Ebene.
Im dritten Teil des Buches porträtiere ich Menschen und Situationen, in denen solche Führungskunst lebendig wird. Ihnen gemeinsam ist, dass – im Sinne einer posttraumatischen Reifung – eine Kultur der Verbundenheit unterstützt wird, und zwar auf allen drei Ebenen des Handelns: dem privaten Lebens- und Beziehungsalltag, dem Alltag von Institutionen und Organisationen und bezüglich der deutschen Gesellschaft als Ganzes im Verbund mit anderen Gesellschaften. In diesen Porträts wird sichtbar, wie sehr gerade die Erfahrungen der deutschen Vergangenheit Menschen inspirieren, nach neuen Wegen der Führung von sich und anderen zu suchen. Eingeleitet wird dieser Teil durch ein Porträt, welches alle Ebenen des Handelns berührt.
Ein solches Buch entsteht nur, wenn es auch biografische Beweggründe dafür gibt. Ich bin in einer politischen Familie aufge wachsen. An meiner Wiege standen – metaphorisch gesprochen – Thron und Altar, repräsentiert durch zwei übermächtige Großväter. Mein Großvater väterlicherseits, Hans v. Meibom, war überzeugter Monarchist und Vizepräsident des Preußischen Staatsrats. Für einen kurzen Zeitraum wurde er unter dem Reichskanzler Franz v. Papen Oberpräsident der Provinz Grenzmark, Posen, Westpreußen. Als Mitglied der DNVP, der Deutschnationalen Volkspartei, sagte er von sich selbst, rechts von ihm sei nur noch die Wand. Er war ein enger Vertrauter von Alfred Hugenberg, dem Vorsitzenden der DNVP, der als Pressemagnat, Vertreter der deutschen Schwerindustrie und als Mitglied im ersten Kabinett Hitler einer von dessen Wegbereitern wurde. Als Hugenberg 1933 aus dem Kabinett ausschied, trat auch Hans v. Meibom von seinem Posten zurück. Mein Großvater mütterlicherseits, Ernst Stoltenhoff, war bis 1949 Generalsuperintendent der Kirchenprovinz Rheinland. Als die Nationalsozialisten ihren Angriff auf die christlichen Kirchen starteten und diese gleichschalteten, verblieb er zwar im Amt und wirkte vor allem als Seelsorger, nahm jedoch entschieden Abstand von dem Versuch, ein Deutschchristentum zu etablieren. Mein Vater Hanspeter v. Meibom stand durchaus in Opposition zu seinem Vater, war jugendbewegt und fand über diesen Weg zu den Nationalsozialisten, wurde Parteigenosse und verfasste 1937 eine brillante Dissertation über die »Verbrecherische Gemeinschaft«, offenbar ohne sich darüber bewusst zu sein, dass die Nationalsozialisten genau eine solche darstellten. Nach dem Krieg setzte er sich intensiv für sein Land ein. Als Verfassungsjurist wirkte er in den 1950er-Jahren entscheidend daran mit, die Römischen Verträge zu formulieren, die juristische Grundlage der Europäischen Gemeinschaft. Meine Mutter Irmgard v. Meibom war eine starke und machtbewusste Frau, die – wie sie selbst sagte – durch ein gnädiges Schicksal im Dritten Reich nicht ins Rampenlicht geriet, da sie nur knapp der höchsten Ehrung bei einem Reichs wettbewerb entging. Stattdessen kümmerte sie sich nach der Heirat 1940 um ihre Familie. Sie hat sich nach dem Kriegsende ehrenamtlich intensiv in drei Feldern engagiert: der Verbraucher-, der Frauen- und der Kirchenpolitik. Dabei trat sie konsequent für eine Verständigung über die Grenzen der Interessengruppen hinweg ein. Erwähnt werden muss auch mein hochgeschätzter geschiedener Ehemann Peter Mettler. Als Wissenschaftler und Soziologe lehrte er mich, einen unabhängigen Blick auf meine eigene Herkunft zu werfen, sie in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen und die Aufgaben zu entdecken, die daraus geistig erwachsen. Er selbst war durch die Spätfolgen des Nationalsozialismus tief traumatisiert. So musste ich im Zusammenleben – ursprünglich noch ganz unbewusst – miterleben, welche Spuren der Verletzung diese Zeit in den Seelen von Menschen hinterlassen kann. Unsere beiden Kinder, Nathalie und Pascale, tragen einen Teil dieses kollektiven Erbes in sich. Ich hoffe und wünsche von ganzem Herzen, dass sie freier durchs Leben gehen können, als es vielen in meiner Generation möglich war, und dass sie bei der Entfaltung ihres Potenzials nicht länger von der Last der Vergangenheit zurückgehalten werden.
Aus dieser biografischen Linie und diesen lebensgeschichtlichen Erfahrungen heraus habe ich für mich den inneren Auftrag abgeleitet, meinen Beitrag zur Versöhnung von Macht und Liebe zu leisten. Dies ist aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe für uns Deutsche, hat unser Land doch die traumatisierende Erfahrung gemacht, was es bedeutet, wenn Macht ohne Liebe ausgeübt wird. Sie wird, wie Laotse sagt, gewalttätig. Das zu verhindern ist eine Herausforderung für unser Bewusstsein. Dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten.
Berlin, im Frühsommer 2013
»Macht ohne Liebe macht grausam.« Laotse
Angela Merkel hat es noch unterstrichen: An Deutschland können weder die europäischen Nachbarn noch die Verbündeten jenseits des Atlantik, noch die aufstrebenden Nationen des Ostens vorbeigehen. Selbst wenn dieses Land militärisch bestenfalls in einer mittleren Liga spielt (sieht man von den Rüstungsexporten ab), ist es aufgrund seiner ökonomischen Potenz zu einer Bedeutung gelangt, die seine Partnerländer sicherlich nicht gewollt haben, als sie in die Wiedervereinigung einwilligten. Schwieriger noch: Unser Land erlebt das, was jetzt geschieht, eher als eine wenig erwünschte Herausforderung. »Zaudernde Führungsmacht«, überschrieb der Tagesspiegel einen entsprechenden Kommentar.3 Für dieses Zögern gibt es gute Gründe, außen wie innen. Von außen wird jeder deutsche Großmachtanspruch mit Recht kritisch beäugt, wachsam registriert und möglichst umgehend angeprangert. Die Herrscherattitüde der nationalsozialistischen Führungselite hat sich so tief in das kollektive Gedächtnis unserer Nachbarn eingebrannt, dass selbst kleinste Anlässe die alten Wunden wieder aufreißen und die entsprechenden Erinnerungen reaktivieren. Ein Land, das einst eine Schneise der Vernichtung, Unterdrückung und Ausbeutung in Europa geschlagen hat, darf – so das gemeinsame Credo aller, die je davon betroffen waren – nie wieder Macht über andere gewinnen. »Wehret den Anfängen« lautet daher die Parole. Wann immer ein Dominanz- oder Herrschaftsanspruch aufblitzt, reagiert die öffentliche Meinung in den betreffenden Ländern mit einer Referenz auf Nazi-Deutschland.
Doch auch im Inneren gibt es tief verwurzelte Gründe, warum Deutschland und die Deutschen eine führende Rolle in Europa und in der Welt vermeiden oder ablehnen. Wie gesagt: Macht macht Angst, insbesondere, wenn man sie einmal missbraucht hat und sich dies eingestehen muss. Die politische Klasse in Deutschland hat sich den Missbrauch eingestanden. Seit den 1970er-Jahren hat sie eine Erinnerungskultur geschaffen, die in der Welt einzigartig ist. Ihre Botschaft – wir haben gefehlt, und das vergessen wir nicht – ist in der politischen Kultur unseres Landes verankert. Eine solche Erinnerungskultur ist viel wert, sehr viel sogar, gerade wenn man die Situation mit anderen Ländern vergleicht, in denen ebenfalls gravierende Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Eine Erinnerungskultur setzt Zeichen. Sie ruft auf Ähnliches, wie in der Vergangenheit geschehen, niemals wieder zuzulassen. Doch sie ist noch in der Abwehr gefangen. Ihr Impetus richtet sich gegen das Unmenschliche. Es ist keine Bewegung hin zu dem, wofür die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit befreien sollte. Erinnerungskultur bewahrt vor Vergessen. Doch sie befreit noch nicht zur Verantwortung in Freiheit. Stattdessen überwiegt die Furcht, erneut Macht zu missbrauchen.
Die Gefahr, die mit solcher Furcht vor Größe einhergeht: Sie liefert die Legitimation, die eigene Macht zu leugnen, zu verkleinern oder herunterzuspielen. Man nimmt für sich das Recht in Anspruch, sich um sich selbst zu drehen, und übersieht dabei die Wirkung des eigenen Tuns auf andere. So rückt auch die Wirkung, die Deutschland als ökonomische Großmacht und stärkste Macht in Europa für das Wohlergehen der Menschen in der Europäischen Union und weit darüber hinaus besitzt, nicht wirklich ins öffentliche Bewusstsein. Der Boden wird bereitet für eine neue Art des Hochmuts und des Sich-über-andere-Erhebens. In diesem Sinne warnte Altbundeskanzler Helmut Schmidt in der Finanzkrise vor einem »nationalegoistischen Versagen« und einem zu starken Selbstbewusstsein des wirtschaftlich starken Deutschland.4 Und der Journalist Harald Schumann kritisiert im Tagesspiegel den deutschen Irrweg in der Eurokrise, indem er fachkundig Angela Merkel und Wolfgang Schäuble einen »Wirtschaftsnationalismus« wie zu Vorkriegszeiten vorwirft – mit verheerenden Folgen für andere Staaten in Europa5. Die Herrscherattitüde kehrt als belehrender Zeigefinger zurück, der anderen zeigen will, wie sie sich zu verhalten haben.
Was fehlt, ist eine aufgeklärte Selbstermächtigung, die nach angemessenen Antworten sucht auf die faktisch ausgeübte Macht. Der Gebrauch der eigenen Macht bleibt tendenziell unbewusst und blind. Macht – eine unverzichtbare Größe in der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Zusammenlebens – verliert damit an Möglichkeiten, dem Leben in einer gefährdeten Gegenwart nach innen wie nach außen zu dienen. Die Chance Deutschlands, mit seiner Macht einen wichtigen, in manchen Bereichen entscheidenden Beitrag zu leisten, um die Menschheit aus einer selbst geschaffenen Gefährdung herauszuführen, wird nicht voll genutzt, weil die Heilung im Inneren nicht vollzogen wurde.
Noch eine weitere Gruppe von Menschen in Deutschland zeigt, wie wichtig es für uns Deutsche ist, sich dem schwierigen kollektiven Vermächtnis im Umgang mit Macht zu stellen: Es sind die Neonazis, deren Anzahl in erschreckender Weise zunimmt und deren Einfluss in einzelnen östlichen Gebieten Deutschlands (aber keineswegs nur dort) unübersehbar geworden ist. Diese Tatsache ist erst nach dem Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle allmählich im öffentlichen Bewusstsein angekommen.6 Diese Unverbesserlichen und Unbelehrbaren setzen eine unheilvolle Tradition fort, die bereits einen wichtigen Nährboden für den Nationalsozialismus bildete: das Gefühl, zu kurz zu kommen, missachtet zu sein, die eigene Würde nicht respektiert zu finden. Statt sich solche Minderwertigkeitsgefühle, die besonders in den ostdeutschen Bundesländern einen relevanten gesellschaftlichen Boden finden, einzugestehen, statt sich den eigenen Ohnmachtsgefühlen zu stellen, wird mit aller Vehemenz der Griff nach der Macht gesucht. Die Opferdynamik verwandelt sich in eine Täterdynamik, die sich der Großmachtsparolen aller Art bedient und mit Wut und Aggression die eigenen Forderungen durchsetzen will, um das reduzierte Selbstwertgefühl zu kompensieren. Größenwahn, der aus einem reduzierten Selbstwertgefühl gespeist wird, wird national aufgeladen und in altbekannte Ansprüche auf Herrschaft und Gefolgschaft übersetzt, von denen sich die Aufgeklärten im Lande mit Grausen abwenden.
Ob wir es also wollen oder nicht, es gibt gute Gründe, sich kollektiv und individuell dem eigenen Verhältnis zur Macht zu stellen – sei es, um unsere Aufgabe in der Welt angemessener wahrnehmen zu können, sei es, um im Inneren Schlimmes zu verhindern. Eine solche Aufgabe enthält eine Aufforderung, sich mit dem Unbewussten auseinanderzusetzen, sowohl mit dem biografischen als auch mit dem kollektiven Unbewussten.
Es ist das Jahr 1992. Die Sommerolympiade wird feierlich eröffnet. Spannung und Begeisterung liegen in der Luft. Schüler und Schülerinnen des United World College in Swasiland/Afrika verfolgen am Fernseher den Einmarsch der Nationen. Aus rund fünfzig Ländern stammen die Jugendlichen, die an diesem College studieren. Sie alle finden sich in dem Eröffnungsspektakel wieder und jubeln ihren Landsleuten begeistert zu. Nur einmal breitet sich betretene Stille im Raum aus. Es ist, als die deutschen Athleten und Athletinnen das Stadion betreten.
Wir haben das Jahr 2006. »Die Welt zu Gast bei Freunden« lautet der Slogan der Fußball-Weltmeisterschaft. Die Welt lernt ein neues Gesicht von Deutschland kennen: Die Menschen feiern ausgelassen, schwingen deutsche Fahnen, hängen sie aus den Fenstern, fahren sie im Auto spazieren, kleiden, tätowieren und schminken sich ungehemmt in Schwarz-Rot-Gold und geben ihrer Freude überschwänglich während des Public Viewing Ausdruck. Die Deutschen sind Gastgeber, die verlieren können, sich mit den Siegern freuen und die Welt mit ihrer strahlenden Fröhlichkeit begeistern. Ein »Sommermärchen« beglückt Gastgeber und Gäste.
November des Jahres 2011. Im sächsischen Zwickau geht ein Haus in Flammen auf. Nach kurzer Zeit wird bekannt, dass eine rechtsextremistische Gruppierung, die sogenannte Zwickauer Terrorzelle, auch »Nationalsozialistischer Untergrund – NSU« genannt, dort ihr Zentrum hatte. Zwei der drei Mitglieder sind tot, die dritte, Beate Zschäpe, wird verhaftet. Nach und nach kommt heraus, dass die Gruppe im Laufe der letzten Jahre, von Polizei und Verfassungsschutz unbemerkt, eine Mordserie begangen hat, deren Opfer vor allem Menschen mit Migrationshintergrund (vorwiegend türkisch-islamisch) waren. Mit nationalem, nationalsozialistischem Gestus wird das Deutschtum verherrlicht und Legitimität für das Töten von ausländischen Bürgern beansprucht.7 In den nachfolgenden Wochen und Monaten werden immer mehr Einzelheiten bekannt, die zeigen, dass sich die NSU auf ein Netz von Sympathisanten stützen konnte, bei dem zu vermuten ist, dass es bis in den Verfassungsschutz hineinragte. Immer deutlicher wird, dass unser Land das Wiedererstarken rechtsextremistischen Gedankenguts in einer Weise übersehen hat, die unser Zusammenleben und die demokratische Substanz gefährdet.
Es ist das Jahr 2012. Die Euro-Krise greift um sich. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beherrscht die europäische Bühne mit einem Sparkurs und einer Fiskalpolitik nach deutschem Beispiel. Vor diesem Hintergrund werden Griechenland strenge Maßnahmen diktiert, die vor allem die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen treffen. Eine Erholung der griechischen Ökonomie ist jedoch nicht in Sicht. Es fehlen die entsprechenden Infrastrukturen und industriellen Produktionsmittel, um aus der Krise herauszukommen. Während die kleinen Leute in Griechenland ausbluten, zieht man an deutschen Stammtischen mit erhobenem Zeigefinger über die griechischen Nachbarn her. Deutsche, deren Land mehr als jedes andere europäische Land von der Eurozone profitiert hat, fühlen sich ausgenutzt. In Griechenland gehen die Menschen in wütenden Protesten auf die Straße; die deutsche Kanzlerin wird als Diktatorin mit Nazisymbolen gezeigt. Man fühlt sich in der nationalen Würde verletzt, und Deutschen schlägt in Griechenland alles entgegen – von Ablehnung bis hin zu Hass.
Im März 2013. Das ZDF strahlt eine dreiteilige Sendereihe mit dem Titel »Unsere Mütter, unsere Väter« aus. Sie zeigt die Lebensrealität von fünf jungen Erwachsenen unter dem Nationalsozialismus, einer von ihnen jüdischer Herkunft. Jeder verstrickt sich in Schuld, wird Täter und Opfer. Die Überlebenden enden unter der Last des Gewissens und des Erfahrenen im Schweigen. Die Einschaltquoten für die Sendereihe sind exorbitant, sie steigen am dritten Abend auf annähernd 25 Prozent oder 7,63 Millionen.8 Die Nation diskutiert, die Feuilletons sind voll davon. Es bewegt sich etwas in Deutschland. Tabuisierte Schichten des Bewusstseins brechen erneut auf. Es wird geredet.
Wir haben April 2013. Der erfolgreiche US-amerikanische Investor George Soros hält im Center for Financial Studies der Goethe-Universität in Frankfurt am Main einen Vortrag, in dem er in eindringlichen Worten Deutschland den Spiegel vorhält. Kanzlerin Merkel verfolge eine Fiskalpolitik, die nicht nur in Ländern wie Griechenland und Italien politische Verwerfungen hervorrufe, sondern Menschen ins Elend treibe und den Zusammenhalt des großartigen Friedensprojekts der Europäischen Union mit unabsehbaren Folgen gefährde. Ob Deutschland dies wolle oder nicht, es sitze am Lenker und müsse seine Verantwortung wahrnehmen. Eine Lösung der Krise hänge davon ab, dass Deutschland seine Haltung grundlegend korrigiere.9
Wo stehen wir heute in Deutschland, fast siebzig Jahre, nachdem die Alliierten den Zusammenbruch des »Tausendjährigen Reiches« besiegelten? Wie ist es um die Schattenkräfte im individuellen und kollektiven Unbewussten bestellt? Wie bereit sind wir, als Menschen in Deutschland individuell und als Deutschland in Europa und in der Welt, verantwortlich mit unserer Macht umzugehen?
Bereits in den 1960er-Jahren hielten Alexander und Margarete Mitscherlich der deutschen Öffentlichkeit einen beeindruckend klaren Spiegel vor: Sie konstatierten eine Gesellschaft, deren Mitglieder unfähig sind zu trauern (Mitscherlich/Mitscherlich 2007). Statt sich den Geschehnissen, die in das »Tausendjährige Reich« geführt und dessen Vernichtungsmaschinerie in Gang gehalten hatten, zu stellen, Verantwortung zu übernehmen und über das Schuldhafte ebenso zu trauern wie über das Erlittene, reagierten die Menschen in unserem Land überwiegend mit Verdrängung, Abspaltung, Projektionen und Leugnung. In diesem Sinne beklagten die beiden Psychoanalytiker die Lethargie und Dumpfheit, mit der die bundesrepublikanische Bevölkerung auf existenzielle Herausforderungen reagierte, sowie die Unfähigkeit, Mitgefühl zu entwickeln und das Geschenk der Demokratie libidinös zu besetzen und zu verteidigen.
Zu den gleichen Erkenntnissen kommt die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan in ihrer beeindruckenden Studie zu Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens (Schwan 1997). Mit Bezug auf die Auschwitzprozesse der 1960er-Jahre, in denen die Frage der Verantwortlichkeit erstmals breite öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, ohne dass daraus die erlösende Katharsis eines Eintritts in die Verantwortung und damit ein versöhnender Bewusstseinswandel erwuchs, stellt sie fest, dass es eher zu einem »Bekräftigen des Beschweigens« gekommen sei, »weil nicht deutlich erklärt wurde, dass die Würde der Menschen ohne individuelle Verantwortlichkeit nicht gesichert werden kann«.10
Heute, rund ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen der Studie von Alexander und Margarete Mitscherlich und rund fünfzehn Jahre nach Gesine Schwans Werk, wächst das Bewusstsein, dass die Nachwirkungen dieser Prozesse bis in die Gegenwart reichen. Inzwischen mehren sich Untersuchungen über die erste, zweite und dritte Generation der Kinder von Tätern und Opfern, 11 interessanterweise inzwischen auch von Menschen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind (Hacker et al. [Hg.] 2012).12 Wer tiefenpsychologisch arbeitet, kann sich der Einsicht nicht verschließen, dass die Lebensgeschichten vieler Klienten auch heute noch Ausdruck einer seelischen Entwicklung sind, die ihren Ursprung in Kriegserlebnissen, in nicht aufgearbeiteten Konflikten sowie in Schuld- und Schamkomplexen der Eltern- und Großelterngeneration haben, welche diese an die nachfolgenden Generationen weitergaben. Die Aufgabe der Heilung und Transformation bleibt also bestehen.
Menschliches Leben ist ein Weg zur Erweiterung des Bewusstseins. Wir werden geboren, bringen Gaben und Potenziale mit, machen Erfahrungen, entwickeln Konzepte und Wünsche und erfahren bald, dass wir an unsere eigenen Grenzen und die von anderen stoßen. Wie gehen wir damit um? Rebellieren wir, begehren wir auf, stellen uns tot, passen uns an, verbiegen das eigene Rückgrat, verharren im Blick auf uns selbst und unsere Bedürfnisse, entwickeln Gefühle wie Zorn, Aggression, gar Rache oder Hass? Oder wählen wir einen anderen Weg? Wählen wir den Weg, die eigenen Gaben gegen alle Widerstände zu leben, eigene Fehler und Unzulänglichkeiten zu erkennen, die eigenen Interessen gegen die der anderen abzuwägen, die eigenen Wahrnehmungen vor dem Hintergrund der Wahrnehmung von anderen zu überprüfen, die eigenen Konzepte und Glaubensvorstellungen infrage zu stellen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir unsere Gaben zum eigenen Wohlergehen und dem von anderen einsetzen und nutzbar machen können? Solche Fragen stellen sich nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für Organisationen und Kollektive.
An der Haltung, die wir uns selbst und anderen gegenüber individuell und kollektiv entwickeln, entscheidet sich, ob wir als Individuum, Organisation oder Nation egoistisch und egozentrisch unser »eigenes Ding« machen wollen oder ob wir zu einem friedlichen Miteinander von Menschen, Organisationen, Völkern, Nationen beitragen.
Mit der Entwicklung von Bewusstsein haben sich nicht nur Philosophie, sondern auch Psychologie und spirituelle Traditionen befasst. Die analytischen und tiefenpsychologischen Schulen der Psychologie und Psychotherapie lehren uns, wie wichtig es ist, die Kräfte des Unbewussten zu beachten und einen Weg zu finden, um die Botschaften des Unbewussten zu erkennen und in die Persönlichkeit zu integrieren. Die spirituellen Traditionen, insbesondere die östlichen, lehren uns die Schulung des Geistes und lassen erkennen, dass wir als Menschen die Wahl haben, uns auf unsere niederen Instinkte oder auf unsere höchsten Potenziale auszurichten.
Wenn wir uns mit Gaben und Schattenkräften in Deutschland beschäftigen, ist es wichtig, sich beider Möglichkeiten zu vergewissern, einerseits um die Wirkkräfte der Psyche zu erkennen, andererseits um Handlungsoptionen zu gewinnen. Selbst wenn sich die Argumentationslinie vorwiegend auf das Individuum bezieht, gilt sie auch für die Mesoebene der Organisationen, Verbände und Vereine sowie für die Makroebene, d.h. offene Systeme wie z.B. eine Nation. Der Grund hierfür liegt in der grundlegenden Verwobenheit allen Lebens (alles hängt mit allem zusammen) und in der Tatsache, dass Prozesse und Gegebenheiten des Unbewussten nicht nur im Leben von Individuen, sondern auch im Leben von Organisationen und Nationen eine gewichtige Rolle spielen.
Das 19. Jahrhundert bescherte uns das Wissen um die Existenz eines Unbewussten in unserer Psyche. Sigmund Freud, C. G. Jung und Roberto Assagioli gehören zu den wichtigsten Vertretern, die sich mit der Erforschung dieser Dimension unserer Psyche beschäftigten. Sie entdeckten, dass die Seele in Bildern »denkt«, dass sie sich über Träume und Botschaften jenseits des rationalen Verstandes mitteilt und dass das Unbewusste ungeheuer wirkmächtig ist – selbst und gerade dann, wenn wir von dessen Beschaffenheit nichts wissen.
Sigmund Freud (1856–1939) versteht unter dem Unbewussten vor allem verdrängte oder abgewehrte Kräfte der Psyche, vielfach auch Triebkräfte, die tabuisiert sind. Sie machen den sogenannten Schatten aus, der zur Entwicklung von seelischen Erkrankungen wie Neurosen oder Psychosen beitragen kann. Freud suchte den Zugang zu den unbewussten Kräften vor allem über Träume und deren Bilder. Das Ziel der Psychoanalyse nach Freud besteht darin, erlittene Traumata oder gesellschaftliche Prägungen, die der Psyche schaden, zu heilen, indem die verdrängten oder abgespaltenen Inhalte des Unbewussten dem Bewusstsein (wieder) zugänglich gemacht und integriert werden.
Ergänzend zu Freud prägte C. G. Jung (1875–1961) den Begriff des kollektiven Unbewussten. Damit zeigte er, dass wir nicht nur ein individuell-biografisches Unbewusstes in uns tragen, sondern auch ein kollektives Unbewusstes, in dem archetypische Menschheitsbilder wie z.B. Animus und Anima, die Archetypen des Männlichen und des Weiblichen, verankert sind. Auch die Inhalte des kollektiven Unbewussten prägen unser Denken, Fühlen und Handeln, meist, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Anders als bei Freud handelt es sich hier aber nicht notwendigerweise um Inhalte, die abgewehrt oder verdrängt werden. Vielmehr gehören sie quasi zu unserer menschheitsgeschichtlichen Ausstattung und bilden in unserer Psyche Inhalte der kollektiven Erfahrung ab.
Der Italiener Roberto Assagioli (1888–1974), selbst ein Schüler Freuds und Kollege C. G. Jungs, entwickelte ein Modell des Bewusstseins, das Elemente der Psychoanalyse Freuds und der Tiefenpsychologie Jungs aufgriff und im sogenannten Ei-Modell des Bewusstseins erweiterte. Als Vertreter einer transpersonalen, d.h. die Dimension des Spirituellen einbeziehenden Psychologie und Psychotherapie, unterschied er zwischen bewusstem Selbst oder Ich sowie zwischen unterschiedlichen Ebenen des Unbewussten und dem Höheren bzw. transpersonalen Selbst.
1. Das tiefere Unbewusste
2. Das mittlere Unbewusste
3. Das höhere Unbewusste oder Überbewusste
4. Das Feld des Bewusstseins
5. Das bewusste Selbst oder Ich
6. Das transpersonale Selbst
7. Das kollektive Unbewusste
Abb.1:
Das Ei-Modell des Bewusstseins13
Im Feld des Bewusstseins findet sich alles, was ich mit meinem Wachbewusstsein über mich und die Welt weiß. Es prägt mein Ich-Bewusstsein und bildet die Grundlage meiner Welt- und Selbstwahrnehmung. Dieser Bewusstseinsinhalt ist – verglichen mit dem Raum des Unbewussten – verschwindend klein. Im mittleren Unbewussten hingegen finden sich Inhalte, die ein Mensch mit gewisser Leichtigkeit ins Bewusstsein holen kann. Mit einiger Konzentration kann ich mich z. B. daran erinnern, wo ich einen Schlüssel verlegt habe oder was ich mir hatte merken wollen, als ich mir einen Knoten ins Taschentuch machte. Im tieferen Unbewussten finden sich Vitalkräfte der Persönlichkeit, und zwar zum einen solche, die unbewusst blieben, weil die Lebensumstände sie nicht ans Licht gebracht haben, oder aber solche, die als »gefährlich« erlebt und verdrängt wurden und die sich daher nicht entfalten konnten. Die Psyche »ummantelt« diese Potenziale und entwickelt Überlebensstrategien, mit denen der Mensch meint, ohne Gefahr leben zu können. Wer beispielsweise seine eigene Gestaltungskraft nicht entwickeln durfte, wird vielleicht zur Personifikation des Neides gegenüber anderen. Wer seine Macht unterdrücken musste, wird unter Umständen die Ohnmachtsdynamik ausleben oder zum Rebell/zur Rebellin. Wer sein Sicherheitsbedürfnis missachtet fühlt, wird vielleicht permanent den Kritiker/die Kritikerin ausagieren. Assagioli nennt diese unbewussten Dynamiken in der Persönlichkeit Teilpersönlichkeiten. Sie agieren aus dem Unbewussten heraus und der Mensch ist ihnen mehr oder weniger ausgeliefert, solange die dahinter liegenden Emotionen/Gaben/Potenziale abgespalten und verdrängt sind. Hier finden wir also Aspekte des Freud’schen Schattenkonzepts. Erst wenn wir uns den Teilpersönlichkeiten in einer Haltung der Akzeptanz zuwenden, also in der Wahrheit unseres Verhaltens ankommen, können wir die Überlebensstrategie loslassen und uns der dahinterliegenden Gabe bzw. dem Potenzial zuwenden.
Auch im höheren Unbewussten finden sich Aspekte der Persönlichkeit, die noch nie entdeckt oder als bedrohlich erlebt und abgespalten wurden und darum als unbewusste Teilpersönlichkeiten agieren. Doch hier verortet Assagioli Gaben der Persönlichkeit, die die höchsten Ideale und die dem Leben zugewandten Anlagen eines Menschen repräsentieren. Dazu gehören Mitgefühl, Begeisterungsfähigkeit, Einsatzfreude, Achtsamkeit, Respekt, Wertschätzung, Mut, Furchtlosigkeit, Hilfs- und Opferbereitschaft, Gleichmut. Auch sie können abgelehnt oder abgespalten sein, z. B. weil sie im biografischen Umfeld unerwünscht waren und nicht gelebt werden durften oder weil wir traumatische Erfahrungen gemacht haben, wenn wir sie gelebt haben. Dann entwickeln sich wiederum Teilpersönlichkeiten, die versuchen, die verdrängten Inhalte zu verbergen. So kann z.B. die Empathische zur Zynikerin werden, der Begeisterte zum Verstummten, der Menschenfreund zum Menschenverächter. Wie gefährlich einem Menschen die hellen Seiten der Seele erscheinen können, hat niemand deutlicher geäußert als Marianne Williamson in der immer wieder Nelson Mandela zugeschriebenen Äußerung »Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, was uns am meisten schreckt.«14
Das kollektive Unbewusste umfasst bei Assagioli mehr als nur die Archetypen. Hier finden sich auch die Glaubenssätze und Annahmen, welche die Kultur, das Umfeld, das Milieu, in denen ein Mensch aufwächst und lebt, prägen. Sie teilen sich unbewusst mit; sie modellieren die Vorstellungen von Menschen und Dingen; sie prägen Menschen- und Weltbild. Dass solche Glaubenssätze existieren, wird oft erst dann erfahren, wenn sie durch äußere Umstände infrage gestellt werden: durch Auslandsreisen, Begegnung mit anderen Kulturen, Milieuwechsel, Lebenskrisen. Solche Erfahrungen fordern dazu auf, das Bewusstsein zu erweitern. Lassen wir sie zu und überprüfen die bisherigen Glaubenssätze, dann erweisen sie sich oft im wahrsten Sinne als Vor-Urteile, ohne dass man sich dessen vorher bewusst gewesen ist.
Assagioli ging von der Existenz eines Höheren Selbst als der zentralen steuernden Instanz im Menschen aus. Dies macht den transpersonalen Kern seiner Theorie und Therapie aus. Das Höhere Selbst kann man auch als den göttlichen Funken bezeichnen, der jedem Menschen innewohnt, das Licht, von dem die Bibel sagt, dass wir es nicht unter den Scheffel stellen sollen.15 Solange wir dessen Existenz leugnen, identifizieren wir uns mit dem Ich oder Ego. Wir meinen, selbst das Stück unseres Lebens zu schreiben. Öffnen wir unser Bewusstsein hingegen für die Existenz eines Höheren Selbst, können wir das Ich oder bewusste Selbst unter die Führung dieses Höheren Selbst stellen. Der »transpersonale Wille«, d.h. der Wille, der über unser personales Selbst hinausweist, hilft in diesem Prozess. Assagioli spricht in diesem Zusammenhang davon: »Ich bin ein Zentrum reiner Selbst-Bewusstheit. Ich bin ein Zentrum des Willens, fähig, alle meine psychischen Prozesse und meinen physischen Körper zu beherrschen, sie in bestimmte Richtungen zu lenken und zu gebrauchen.«16 Damit steht er in der östlichen Tradition der Geistes- und Bewusstseinsschulung, die darauf abzielt, Emotionen wie Hass, Neid, Gier, Eifersucht, Zorn zu transformieren und damit die dem Menschen innewohnende Liebesfähigkeit freizulegen. Gebraucht wird für einen solchen Prozess der Bewusstseinsentwicklung und Bewusstseinstransformation ein spezifischer Wille; Assagioli nennt ihn den »transpersonalen Willen« (Assagioli 71994). Im Sinne des christlichen »Herr, dein Wille geschehe« stellt sich der Mensch hier bewusst unter die Führung des Höheren Selbst und öffnet sich für die Einheit und Würde alles Lebendigen. Dies ist die Quelle einer Wertschätzung von sich selbst, von anderen und der natürlichen Mitwelt (Mettler-v. Meibom 2006 und 2008).
Auch die Forschungen des Psychotherapeuten Stephan Marks zum Thema Scham als einer tabuisierten Emotion und zum Umgang der Deutschen mit der Menschenwürde (Marks 2007) liefern eine Verständnisbrücke, warum es zu derart massiven Abspaltungen im Unbewussten kommt und warum Menschen sich an Strukturen, Ideologien und Situationen anpassen, die mit ihren Werten und ihrem Gewissen nicht in Übereinstimmung stehen.
Marks unterscheidet zwischen Anpassungsscham, Gruppenscham, empathischer Scham, Intimitätsscham, traumatischer Scham und Gewissensscham. Während sich die Anpassungsscham auf die eigene Person richtet (etwa weil ich Frau, Jude, behindert, alt, mittellos oder leistungsschwach bin), richtet sich die Gruppenscham auf andere, von denen ich mich vielleicht distanzieren möchte (die Frauen, die Juden, die Behinderten, die Alten, die Mittellosen, die Leistungsschwachen). Gelingt es den politisch Herrschenden, eine bestimmte Gruppe der Gesellschaft zu stigmatisieren und mit Scham zu belegen (so z.B. im Nationalsozialismus Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle…), dann sorgt die Gruppenscham dafür, dass Menschen sich von dieser Gruppe zu distanzieren suchen, um nicht in den Sog des sich Schämens zu gelangen. Die empathische Scham kann sich einstellen, wenn wir Zeuge der Beschämung eines anderen werden17, und Gewissensscham entsteht nach Marks, wenn wir nicht in Übereinstimmung mit unserem Gewissen gehandelt haben. Sie hat die Aufgabe, die eigene Integrität zu schützen.18 Im Unterschied zu diesen Arten der Scham geht die traumatische Scham auf ein psychisches Trauma zurück (z.B. durch Vergewaltigung oder Verletzungen der Würde) und wird als so bedrohlich erlebt, dass die traumatisierten Personen »sich nirgends mehr, auch nicht im eigenen Körper zu Hause fühlen. Sie sind erniedrigt und sich selbst entfremdet. Durch die erfahrene Traumatisierung wurde ihr Selbstgefühl zerstört und ihr Identitätsgefühl fragmentiert.«19
Die unterschiedlichen Arten von Scham lösen verschiedene Dynamiken aus. Während Gruppen-, Anpassungs- und traumatische Scham Menschen dazu verleiten können, gegen die eigene Würde und die anderer zu verstoßen, helfen – wie Marks betont – die Gewissens- und die empathische Scham, sich selbst treu zu bleiben. Sie aktivieren im Menschen Widerstandskräfte, die davor bewahren, das »eigene Rückgrat zu brechen«. Mitmenschlichkeit und die Achtung der Würde des Menschen haben also auf das Intensivste damit zu tun, wie wir mit »Scham, dem verbotenen Gefühl« (Marks 2007) umgehen. Dass Machthaber die Gruppen- und Anpassungsscham nutzen, um sich Menschen gefügig zu machen, versteht sich von selbst ebenso wie die Tatsache, dass die Einladung zur Denunziation dabei eine wichtige Rolle spielt (vgl. Diewald-Kermann 2000; Schubert 31990; Stieglitz 2013).
Scham, die als bedrohlich für die eigene Sicherheit und Identität erlebt wird, lässt sich auf vielfältige Weise abwehren. Unterschieden werden kann zwischen den drei psychologischen Grundmustern: Totstellen, Angriff, Flucht, neben die Marks als vierte Möglichkeit noch die Projektion stellt, bei der die eigenen Gefühle auf andere verlagert und dort bekämpft werden. In diesem Sinne listet er auf: Verstecken (Maske entwickeln, sich einigeln, emotional erstarren), Angreifen (Beschämen, Verachten, Zynismus, Negativismus, Schamlosigkeit, Arroganz, Groll, Neid, Ressentiment, Trotz, Zorn, Wut, Gewalt, Wiederherstellen der verlorenen Ehre), Fliehen (Größenfantasien, Idealisierung, Perfektionismus, Schwerverständlichkeit, Rätselhaftigkeit, Sucht und Projektion).20
Die Schamdynamik war bei Entstehung, Existenz und Nachwirkungen des Nationalsozialismus ungeheuer virulent (Marks 1997). Sie hat nicht nur dazu beigetragen, dass Größenfantasien vom Herrenmenschentum entwickelt wurden, um die als nationale Schmach erlebte Beschämung des verlorenen Krieges nicht mehr zu fühlen und die eigene Identität wieder aufzubauen, sie hat auch als Anpassungs- und Gruppenscham den Boden bereitet für Mitläufertum und Mittätertum. Und als traumatische Scham hat sie sowohl das Leben von Millionen Verfolgten des Naziregimes beschädigt wie auch das Leben von Millionen Deutschen, die Vertreibung, Vergewaltigung und Zerstörung an Leib, Leben und Beziehungen erleben mussten.
Offen bleibt die Frage, was Menschen früher und heute dazu befähigt, Gewissensscham und empathische Scham zu fühlen und aus diesem Gefühl heraus für die Würde des Menschen auch in verbrecherischen oder krisenhaften Zeiten einzutreten. Wo dies nicht gelingt, finden Abspaltungsprozesse ins Unbewusste statt, die – um es in der Sprache der Psychosynthese zu formulieren – als nicht kontrollierbare Teilpersönlichkeiten die verdrängten Gefühle ausagieren, ohne dass diese Menschen in der Lage sind, ihre eigenen Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen in eine konstruktive Richtung zu lenken. Spuren dieser Dynamiken lassen sich gestern wie heute auf den verschiedensten Ebenen finden. Wie dies in der NS-Zeit aussah, darauf werde ich später eingehen. Heute erleben wir Beschämung und Schamabwehr z.B. bei medialem Bashing und Hetzen, egal, ob es sich um den zu Recht in die Kritik geratenen Bundespräsidenten a.D. Christian Wulff oder um einen Teenager handelt, der von den Mitschülern und -schülerinnen medial gemobbt wird. Sie spielen eine Rolle bei der systemischen Entlastung für nicht eingestandenen Antisemitismus, wenn man ihn auf bestimmte Personengruppen wie z.B. Rechtsradikale projiziert; sie machen sich aber auch bemerkbar in der Schamabwehr als »reiche Deutsche« gegenüber dem »armen Süden«, wenn auf dieser Grundlage ökonomische Mechanismen des ungleichen Tauschs legitimiert werden.
Identität und Selbstwertgefühl hängen auf das Engste zusammen. Als Menschen brauchen wir ein Selbstwertgefühl, das sich in der Regel rund um das konstituiert, was wir als Identität erleben. Identität ist in diesem Sinne eine in Interaktionen und durch Erfahrungen gewonnene Vorstellung von uns selbst. Sie ist nicht starr, sondern entwickelt sich im Laufe des Lebens. Sie entsteht durch die Identifikation mit Werten, Erfahrungen und Glaubensvorstellungen, durch die Interaktion mit Personen, Gruppen, Institutionen, durch Zugehörigkeit zu Menschen, Organisationen, Ethnien, Religionen, Glaubensgemeinschaften und Nationen. Identität, so sie nicht starr ist, sondern eine flexible Antwort des Individuums auf menschliche und gesellschaftliche Anforderungen darstellt, verschafft Sicherheit, Zugehörigkeit, Einbindung. Gelingt eine gute Identitätsbildung, so kann sich der Mensch in seiner Identität als einzigartig erleben und zugleich als zugehörig begreifen und daraus Sicherheit gewinnen. In diesem Sinne ist die Entwicklung und Weiterentwicklung von Identität eine wesentliche Voraussetzung psychischer Gesundheit und sozialen Wohlergehens.
Kommt es zu Störungen in der Identitätsbildung, z.B. durch Erfahrungen der Entwertung, Scham, Isolierung, Verletzung der eigenen Würde oder der körperlichen Unversehrtheit, so kann es passieren, dass der Mensch aus »seiner Mitte geworfen« wird und den Bezug zu sich selbst, zur Beziehungsfähigkeit und zur Selbstverantwortung einbüßt. Eine Reifung der Persönlichkeit stellt sich erst dann ein, wenn die Identitätsbrüche verarbeitet werden – sei es durch psychische Integration, sei es, weil die betroffene Person Zugang zu der transpersonalen Kraft findet, welche die Psychosynthese das Höhere Selbst nennt und das Christentum das »Licht, das wir nicht unter den Scheffel stellen sollen«. Geschieht eine solche transpersonale Öffnung hinein in einen geistigen Raum, der über den Menschen hinausweist, so kann sich das spirituelle Wissen darum entfalten, dass die Identität jedes Menschen letztlich in der Essenz, im Urgrund, in der Quelle gründet. Der Mensch ahnt dann, dass das einzig Beständige der Wandel ist. Er befreit sich zunehmend von dem letztlich unmöglichen Versuch, Identität durch Zugehörigkeit zu etwas zu entwickeln, was ohnehin ständig im Fluss ist (Stiegler 2005). Als reife Persönlichkeiten erleben wir deswegen Menschen, die in diesem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung die Relativität aller Selbstkonzepte entdeckt haben und sich allmählich von dem Zwang zur Identitätsbildung befreien konnten.
Ein schwaches Selbstwertgefühl hingegen geht einher mit einem anhaltend hohen Bedürfnis, den eigenen Selbstwert zu stabilisieren. Dies macht besonders anfällig dafür, sich eine für wichtig erachtete Identität zuzulegen, um sich selbst Sicherheit und Stabilität zu verschaffen. Dabei gibt es eine Psychodynamik, die für unser Thema von besonderem Interesse ist: die Ohnmachts-Allmachts-Dynamik (Richter 1979). Menschen, die ihre Identität als beeinträchtigt oder bedroht erleben, neigen dazu, entweder in die Ohnmachts- oder die Allmachtsrolle abzudriften. In der Ohnmachtsrolle wählt der Mensch Wege der Flucht oder des Sich-Totstellens, aber auch des Idealisierens anderer, der Aufopferung und der Selbstausbeutung und versucht damit Scham abzuwehren. Die (All-)Machtsrolle wählen hingegen diejenigen, die Scham und Ohnmachtsgefühle vermeiden wollen, indem sie sich über andere erheben und diese Selbstüberhöhung je nach Disposition in unterschiedlichen Graden von Aggressivität anderen gegenüber ausleben: Verachtung, Ächtung, Beschämung, Wut, Hass, Gewalt, Vernichtung. Sämtliche Gefühle der Erniedrigung werden auf andere verschoben, und diese anderen werden dann bekämpft, um »der eigenen Ehre willen«, der »eigenen Sicherheit willen«, des »eigenen Überlebens willen«. Solche Selbstüberhöhung basiert in starkem Maße auf Freund-Feind-Denken und hat letztlich vor allem eine Funktion: die Sicherung der eigenen Identität und damit des eigenen Selbstwerts.
Dieser Ohnmachts-Allmachts-Komplex ist überall und auf allen Ebenen am Werk – intrapersonal, interpersonal, zwischen Gruppen, zwischen Organisationen, zwischen Nationen. Wir begegnen ihm im Rosenkrieg zwischen Beziehungspartnern, in den »Kriegen« von Wirtschaftsakteuren, in der Interaktion zwischen Terroristen und ihren Opfern, in den blutigen Spuren der Rasseideologie der Nationalsozialisten. Auch in der Rhetorik eines George W. Bush sind sie zu erkennen, der die amerikanische Kriegführung gegen den Irak mit der »Achse des Bösen« begründete. Wo der Ohnmachts-Allmachts-Komplex gelebt wird, fehlt die Möglichkeit einer Partnerschaft auf Augenhöhe. Je virulenter dieser Komplex wirkt, desto bedrohlicher können seine Folgen für Menschen, Gruppen, Organisationen und ganze Kollektive sein.
Traumata sind eine besondere Art von Identitätsstörung. Sie verursachen so schwerwiegende Störungen des seelischen Haushalts, dass Menschen, Organisationen, Kollektive darauf mit einer Zersplitterung ihrer Identität reagieren und unbewusstWege suchen, den eigenen Selbstwert neu zu stabilisieren. Je schwerer das Trauma, je tiefer die Verletzung, je mehr sie Kernelemente der Identität betreffen, desto größer ist in der Regel das Bedürfnis, die als bedrohlich erlebten Erfahrungs- und Bewusstseinsinhalte und Gefühle »wegzusperren«, durch Dissoziation, Abspaltung, Verdrängung, Projektion, Regression … Diese Abspaltungsprozesse können so weit gehen, dass das traumatisierende Erlebnis dem erinnernden Bewusstsein völlig entzogen wird. Wird es (re-)aktiviert, ohne dass die Psyche darauf vorbereitet ist, kann es zu einer Re-Traumatisierung kommen, weil die Psyche mit Informationen überschwemmt wird, für die keine Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. Traumatherapien arbeiten deswegen zunächst daran, das Ich zu stabilisieren und die Identität zu stärken, bevor sie einen Durchgang durch Schattenkräfte des Unbewussten wagen. Die Zeit muss reif sein, um sich dem zu stellen, was die Psyche nicht wahrhaben will. Solange dies nicht der Fall ist, wird der Weg zur posttraumatischen Reifung nur schwer gefunden. Von einer posttraumatischen Reifung sprechen wir, wenn in einem schmerzhaften Prozess die ins Unbewusste abgespaltenen Inhalte dem Bewusstsein zur Verfügung stehen und es gelingt, eine kohärente Identität herzustellen, in der die einst verdrängten Schattenanteile erkannt, angenommen und im besten Falle transformiert worden sind.
Solche Transformationsnotwendigkeiten und -möglichkeiten gibt es sowohl für Individuen als auch für ganze Kollektive wie das deutsche und das israelische. Am Beispiel Israels wird dies besonders deutlich. Die heutigen Spannungen zwischen Palästinensern und Israelis haben ihren Ursprung sowohl in der Weltpolitik (Holocaust, englische Kolonialpolitik, Zionismus) als auch in jahrhundertelangen traumatisierenden Alltagserfahrungen von Juden in aller Welt und zuletzt besonders in Deutschland. Diese Erfahrungen wiederum übersetzen sich bei jüdischen