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Wie schätzen Lehrerinnen und Lehrer die Relvanz der Hirnforschung für die Pädagogik ein? Und welche Deutungsmuster liegen dieser Einschätzung zugrunde? Anhand der objektiv hermeneutischen Analyse dreier Interviews mit Lehrkräften geht die vorliegende Arbeit diesen Fragen nach. Eingeordnet werden die empirischen Ergebnisse in ein sozialwissenschaftliches Verstädnis des Lehrerberufes als Profession.
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Erziehungswissenschaft
Dissertationsthema
Deutungsmuster von Lehrerinnen und Lehrern zu neurowissenschaftlichen Verheißungen für die Pädagogik
Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil. im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster
Vorgelegt von Jonas Frister aus Berlin, Deutschland 2020
Dekan: Prof. Dr. Martin Bonsen
Vorsitzender: Prof. Dr. Johannes Bellmann
Erster Gutachter: Prof. Dr. Johannes Bellmann
Zweite Gutachterin: Prof. Dr. Hedda Bennewitz
Tag der mündlichen Disputation/Promotion: 19.11.2020
Einleitung
Neurowissenschaften als Bezugswissenschaft der Pädagogik: Verheißungen und Problemstellungen
2.1. Das Forschungsfeld der Neurowissenschaften
2.2. Neurowissenschaftliche Verheißungen für die Pädagogik
2.2.1. Verheißung 1: Neurowissenschaftliche Objektivierung pädagogischer Theorie und Praxis
2.2.2. Verheißung 2: Naturwissenschaftliches Handlungs- und Legitimationswissen
2.3. Empfehlungen der Neurowissenschaften an die Pädagogik
2.3.1. Motivation und Emotionen
2.3.2. Frühkindliche Entwicklungsphasen
2.4. Transferprobleme
2.5. Sachprobleme und Kommunikationsprobleme
2.6. Neuromythen
2.7. Zusammenfassung und Anschlussperspektiven
Die pädagogische Relevanz der Neurowissenschaften im Spiegel innerwissenschaftlicher Rezeptionsverhältnisse
3.1. Die Rezeption der Neurowissenschaften durch die Erziehungswissenschaft
3.1.1. Direkte Aufnahme
3.1.2. Kritische Übersetzung
3.1.3. Kritische Begrenzung
3.2. Die Rezeption der Erziehungswissenschaft durch die Neurowissenschaften
Die pädagogische Relevanz der Neurowissenschaften im Spiegel ihrer Bezugnahmen auf Praxis
4.1. Neurodidaktik: Praxisbezug zwischen Neurotechnik und Reformpädagogik
4.1.1. Der Funktionszuschnitt der Neurodidaktik
4.1.2. Kritische Einwände gegen eine neurodidaktische Technologieverheißung
4.2. Kognitive Psychologie: Das doppelte Übersetzungsproblem zwischen Neurowissenschaften und pädagogischem Handeln
4.2.1. Bezugsprobleme zwischen neurowissenschaftlichen und psychologischen Analyseebenen
4.2.2. Bezugsprobleme zwischen psychologischen und pädagogischen Analyseebenen
4.3. Evidenzbasierte Pädagogik: Verwissenschaftlichung der pädagogischen Praxis durch die Neurowissenschaften.
4.3.1. Das Paradigma der Evidenzbasierung
4.3.2. Evidenzbasierung der Pädagogik nach dem Vorbild der Medizin
4.3.3. Einwände gegen das Forschungsverständnis des Evidenzparadigmas
4.4. Zusammenfassung und Anschlussperspektiven
Die Attraktivität der Neurowissenschaften für Lehrerinnen und Lehrer: Forschungsfrage und Stand der Forschung
5.1. Erziehungswissenschaftliche Thesen zur Attraktivität der Hirnforschung für Lehrerinnen und Lehrer
5.1.1. Kategorie der Entlastung von pädagogischer Verantwortung
5.1.2. Kategorie des Legitimationsstrebens
5.2. Forschungsstand zum Interesse von Lehrkräften an den Neurowissenschaften
5.3. Vorläufige Fassung der Forschungsfrage
Pädagogische Professionalität: Handeln zwischen Optimismus und Krise
6.1. Der strukturtheoretische Professionsansatz
6.1.1. Die Funktionsfoki des professionellen Handelns
6.1.2. Die Lebenspraxis zwischen Krise und Routine
6.1.3. Die Nicht-Standardisierbarkeit der stellvertretenden Krisenbearbeitung
6.1.4. Die Krisenanfälligkeit des professionellen Handelns
6.1.5. Der Lehrerberuf als pädagogische Profession
6.1.6. Der Funktionsfokus des Lehrerberufes und der Modus der Stellvertretung
6.1.7. Die wissenschaftliche Wissensbasis des Lehrerhandelns
6.1.8. Die professionelle Strukturlogik des pädagogischen Handelns: Nicht-Standardisierbarkeit und Krisenhaftigkeit
6.1.9. Die antinomische Struktur des pädagogischen Handelns
6.2. Würdigung der strukturtheoretischen Professionstheorie in Bezug auf die Forschungsfrage
Forschungsmethodologie und Methoden
7.1. Zur Methodologie und Methode der objektiven Hermeneutik
7.1.1. Sinn als Medium der sozialen Welt
7.1.2. Bedingungen der Möglichkeit des Sinnerschließens und methodische Implikationen
7.2. Der Ansatz der Deutungsmusteranalyse
7.2.1. Methodologische Bestimmungen der Deutungsmusteranalyse
7.2.2. Methodische Bestimmungen der Deutungsmusteranalyse
7.3. Erhebung und Auswahl der Interviews
7.4. Problemreflexion zur Anlage und Darstellung der empirischen Ergebnisse der Arbeit
7.4.1. Modifikation der Untersuchungsanlage im Prozess der Erhebung und Auswertung
7.4.2. Zur Auswahl der interpretierten Interviewpassagen
7.4.3. Das Problem der Ergebnisdarstellung sequenzanalytischer Verfahren
Fallrekonstruktionen
8.1. Der Fall des Lehrers 1
8.1.1. Fallanalyse Lehrer 1
8.1.2. Abschließende Zusammenfassung der Fallstrukturhypothese
8.2. Der Fall der Lehrerin 2
8.2.1. Fallanalyse Lehrerin 2
8.2.2. Abschließende Zusammenfassung der Fallstrukturhypothese
8.3. Der Fall des Lehrers 3
8.3.1. Fallanalyse Lehrer 3
8.3.2. Abschließende Zusammenfassung der Fallstrukturhypothese
Deutungsmuster zur pädagogischen Relevanz der Neurowissenschaften
9.1. Die rekonstruierten Deutungsmuster
9.1.1. Lehrer 1: Spannungsverhältnis zwischen den Deutungsmustern „Bestätigung“ und „Übergriff“
9.1.2. Lehrerin 2: Spannungsverhältnis zwischen den Deutungsmustern „Irritation“ und „Erlösung“
9.1.3. Lehrer 3: Spannungsverhältnis zwischen den Deutungsmustern „Orientierung“ und „Selbstbedienung“
9.1.4. Zusammenfassung
9.2. Analyse der von den Lehrkräften bearbeiteten Handlungsprobleme
9.2.1. Handlungsprobleme auf der Sozialebene: Die Interaktionsdynamiken der Interviews
9.2.2. Handlungsprobleme in der Sachdimension
9.2.3. Zusammenfassung
9.3. Zur professionsspezifischen Verortung der rekonstruierten Deutungsmuster
9.4. Zusammenfassung der Ergebnisse
9.4.1. Rückbezug der Ergebnisse auf die erziehungswissenschaftliche Unterscheidung von Rezeptionsmustern gegenüber den Neurowissenschaften
9.4.2. Rückbezug der Ergebnisse auf die neurowissenschaftliche Verheißung einer Objektivierung pädagogischen Wissens
9.4.3. Rückbezug der Ergebnisse auf die erziehungswissenschaftlichen Thesen zum Interesse von Lehrkräften an den Neurowissenschaften
9.4.4. Rückbezug der Ergebnisse auf die Professionstheorie
Literatur
Die Reflexion auf das Verhältnis zur pädagogischen Praxis wie auch das Verhältnis zu benachbarten Wissenschaftsdisziplinen hat in der Erziehungswissenschaft eine lange Tradition. In Deutschland gilt die Erziehungswissenschaft gemeinhin als die Referenzdisziplin der pädagogischen Praxis. Lehrerinnen und Lehrern1 stellt sie Reflexionstheorien und Handlungskonzepte für die schulische Praxis bereit. Aus dieser Orientierungsfunktion gewinnt sie einen wichtigen Anteil ihrer Legitimität als akademisches Lehrfach und nach Ansicht nicht weniger ihrer Vertreterinnen und Vertreter auch die Grundlage ihrer disziplinären Identität. Dabei ist das Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Lehrerschaft keinesfalls ein leichtes. Deutlich wird dies an den kontinuierenden Debatten über das Selbstverständnis der Disziplin als einer ‘praktischen Wissenschaft‘ oder aber ‘Forschungswissenschaft‘ sowie an wiederkehrenden Legitimationskrisen, denen sich die Erziehungswissenschaft und die Lehrerschaft in Fragen ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit bzw. Fundierung ausgesetzt sehen.
Eine der bekanntesten dieser Krisen war der „PISA-Schock“ im Jahr 2001. Er rückte Fragen von Schule und Erziehung in das Zentrum des öffentlichen Bewusstseins. Zugleich öffnete er ein Opportunitätsfenster für die Neurowissenschaften bzw. Hirnforschung, sich der pädagogischen Praxis als ein innovatives Forschungsfeld und eine neue, unmittelbar relevante Referenzdisziplin anzuempfehlen. In den Medien und auf dem Büchermarkt brachten es seitdem nicht wenige Hirnforscherinnen und Hirnforscher mit Einlassungen und Ratschlägen zur Umgestaltung des Schulsystems und der Unterrichtspraxis zu beträchtlicher Prominenz. Die Aussicht, auf naturwissenschaftlicher Grundlage pädagogische Prozesse „hirngerecht“ fundieren und dadurch effizienter gestalten zu können als es bisher möglich gewesen sei, erzeugte auch in der Erziehungswissenschaft und der Lehrerschaft eine große Resonanz.
Die Auseinandersetzung der Erziehungswissenschaft mit den Neurowissenschaften hat in den letzten Jahren einen beträchtlichen Umfang an Literatur hervorgebracht. Dies gilt insbesondere für die Erörterung der wissenschaftlichen Beiträge der Hirnforschung zur erziehungswissenschaftlichen Theorie- und Wissensbildung und für die Diskussion von Möglichkeiten der disziplinären Annäherung oder Abgrenzung. Vergleichsweise dünner stellt sich die Literaturlage zu der Frage dar, wie Lehrerinnen und Lehrer die pädagogische Relevanz der Neurowissenschaften einschätzen. Dabei ist auch diese Frage aus erziehungswissenschaftlicher Sicht unmittelbar relevant: Konfrontiert mit dem Selbstanspruch der Neurowissenschaften, als neue – sei es zusätzliche oder sogar vordringliche – Referenzdisziplin der pädagogischen Praxis zu wirken, ist die Ergründung jener Erwartungen von Lehrerinnen und Lehrern gegenüber den Neurowissenschaften von besonderem Interesse, die auf das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis abstellen und durch die traditionelle erziehungswissenschaftliche Referenzfunktion möglicherweise nicht befriedigt werden.
Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wie Lehrerinnen und Lehrer die pädagogische Relevanz der Hirnforschung für die Pädagogik einschätzen und welche Deutungsmuster dieser Einschätzung zugrunde liegen. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, in welchem Verhältnis die Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer zu einem sozialwissenschaftlich konturierten Verständnis des Lehrerberufes als Profession steht.
Die Arbeit beginnt in Kapitel 2 mit einer Einführung in den rezenten Diskurs um die Beziehung zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik. Das Kapitel gibt einen Überblick über das Forschungsfeld sowie die pädagogischen Verheißungen und Empfehlungen der Neurowissenschaften für die Pädagogik und skizziert die Problematik des Transfers neurowissenschaftlichen Wissens in die pädagogische Theorie und Praxis. Die auf diese Weise als problematisch konturierte Beziehungsstruktur von Neurowissenschaften und Pädagogik wird daraufhin in zwei Folgekapiteln systematisch genauer untersucht: Kapitel 3 legt dabei den Fokus auf den innerwissenschaftlichen Diskurs und stellt anhand unterschiedlicher Rezeptionsmuster die Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlichen Aussagen und Wissensbeständen in der Erziehungswissenschaft und die Rezeption der Erziehungswissenschaft durch die Neurowissenschaften dar. Die dadurch konkretisierte Transferproblematik wird in Kapitel 4 sodann für das Verhältnis zur pädagogischen Praxis untersucht. Hierfür werden drei in der Literatur dominierende Versuche eines Brückenbaus von neurowissenschaftlichen Wissensbeständen in die pädagogische Praxis – es handelt sich um die Neurodidaktik, die Kognitive Psychologie und das Paradigma der Evidenzbasierung – in ihren Möglichkeiten und Grenzen sowie in ihren Verheißungen insbesondere für die Lehrerschaft analysiert. Die in diesen Kapiteln geleistete Diskussion der Transferproblematik bildet die Grundlage, auf der in Kapitel 5 die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit nach den Deutungsmustern von Lehrkräften in der Einschätzung der pädagogischen Relevanz der Neurowissenschaften konkretisiert und gegen den bisherigen Forschungsstand gespiegelt wird. Die bis dahin erreichten Ergebnisse der Arbeit werden auf Thesen bezogen, die den erziehungswissenschaftlichen Diskurs zur Einstellung von Lehrkräften gegenüber den Neurowissenschaften dominieren. Aus dem kritischen Unterton der verfügbaren Thesen wird deutlich, dass in ihnen ein Spannungsverhältnis gegenüber einem Verständnis des Lehrerberufs als Profession angelegt ist, mit dem die Erziehungswissenschaft den Lehrerberuf in seinen Merkmalen und in seinen inneren Handlungslogiken theoretisch zu beschreiben sucht. Dieses Spannungsverhältnis wird Kapitel 6 durch die Rekapitulation des hierfür einschlägigen strukturtheoretischen Professionsansatzes herausarbeiten. Mit der dadurch nochmalig möglichen Schärfung der Forschungsfrage wird in Kapitel 7 in den empirischen Forschungsteil übergeleitet, indem zunächst das methodische Vorgehen bei der Auswertung der für diese Arbeit geführten Interviews mit Lehrkräften vorgestellt wird. Die Auswertung und Ergebnisdarstellung der Interviews erfolgt in Kapitel 8. Kapitel 9 trägt die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zusammen: Die rekonstruierten Deutungsmuster werden in ihren inhärenten Spannungsverhältnissen und den objektiven Handlungsproblemen, zu denen sie in einem funktionalen Bezug stehen, systematisiert. Die dadurch gewonnenen Ergebnisse werden zurückbezogen auf die theoretischen Ausgangspunkte der Arbeit: zum einen auf die im innerwissenschaftlichen Diskurs vorfindbaren Rezeptionsmuster und diskutierten Verheißungen und Thesen zur pädagogischen Attraktivität der Neurowissenschaften und zum anderen auf das strukturtheoretische Verständnis des Lehrerberufes, auf dessen Folie die mit den Deutungsmustern rekonstruierten Spannungsverhältnisse professionstheoretisch fassbar werden.
1 In der Dissertation wird weitgehend auf geschlechtsneutrale Formulierungen zurückgegriffen. Für eine bessere Lesbarkeit, werden darüber hinaus aber auch Begriffe wie Schüler oder Professioneller als generisches Maskulinum für beide Geschlechter verwendet.
Von den Neurowissenschaften ist sinnvollerweise nur im Plural zu sprechen. Sie stellen nicht eine wissenschaftliche Disziplin, sondern ein multidisziplinäres Forschungsfeld dar. Es besteht aus traditionell getrennten Wissenschaften, die ihren neurowissenschaftlichen Nenner in der anteiligen Beschäftigung mit dem Nervensystem finden (Pickenhain 2000. S. 475f.): Die Neurowissenschaften erforschen die Bedeutung des Nervensystems für das menschliche Wahrnehmen, Erleben und Verhalten sowie seine Beeinflussbarkeit durch Umweltfaktoren natürlicher wie kultureller Art. Lassen sich die Neurowissenschaften daher nicht auf ein rein naturwissenschaftliches Projekt beschränken, da auch kulturwissenschaftliche Beiträge als Bestandteil des Forschungsfeldes identifiziert werden können, so finden sie ihre aber Grundpfeiler in der Neuroanatomie und Neurophysiologie, die sich traditionell mit Hirnstrukturen auseinandersetzen, der Neurobiologie, Neuropsychologie und Kognitiven Neurowissenschaft, die sich traditionell mit dem Zusammenhang von Hirnfunktionen und Verhalten beschäftigen, der Neuropharmakologie und Neuropathologie, die in großer Nähe zu medizinischen Fragestellungen stehen und schließlich in der Computational Neuroscience, die ein Standbein in der Informatik hat (Hennen et al. 2007). Die Neurowissenschaften haben ihre wichtigsten Bezugsdisziplinen damit in der Biologie, Chemie, Physik und Psychologie. Insofern sie sich innerhalb des breiten Spektrums der auf Nerven und Nervensysteme bezogenen Forschung maßgeblich auf das Gehirn fokussieren, lässt sich bei ihnen synonym auch von Hirnforschung sprechen.
Die zunehmende multidisziplinäre Differenzierung des neurowissenschaftlichen Feldes ermöglicht nicht nur die Integration verschiedener Wissensbestände und die Entwicklung interdisziplinärer Forschungsperspektiven, sie befördert zudem die Integration und Weiterentwicklung der Methoden des neurowissenschaftlichen Forschens. Diese Dynamik ist der wesentliche Motor hinter den bemerkenswerten Erkenntnisfortschritten, die die Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten auf verschiedenen Gebieten erzielt haben und die ihr eine große öffentliche Beachtung und Popularität einbrachten. Teilt man die neurowissenschaftliche Grundprämisse, dass alles Mentale zurückgebunden ist an Prozesse auf neuronaler Ebene (Roth 1997), so gibt es schließlich kaum einen Bereich des menschlichen Erlebens und Verhaltens, der nicht in irgendeiner Weise den Forschungsbereich der Neurowissenschaften berührt. Dies lässt sich auch an dessen Expansion veranschaulichen: In den 1950er Jahren noch konzentrierte sich die neurowissenschaftliche Forschung in erster Linie auf die Medizin. Im Vordergrund stand die Suche nach den neuronalen Auslösern und Vorgängen bei Erkrankungen des Nervensystems (z.B. Alzheimer, Epilepsie, Multiple Sklerose) und der Psyche (z.B. Depression, Psychose, Angststörungen). Bis heute machen diese medizinischen Fragestellungen das Gros der neurowissenschaftlichen Forschungsbemühungen und Forschungsinvestitionen aus. Ging es ursprünglich nur um das bessere Verständnis der Ursachen und Mechanismen solcher Erkrankungen sowie um Möglichkeiten einer medikamentösen Intervention, so zeichnet sich als eine grundlegend neue und problematische Entwicklung die zunehmende Verbreitung psychopharmakologischer Therapeutika im Alltagsleben ab (vgl. Salaschek 2013, S. 70). Unter dem Stichwort ‘Neuro-Enhancement‘ werden nunmehr die medizinischen und sozialen Folgen des steigenden Konsums entsprechender Medikamente auch bei gesunden Menschen in den Blick genommen, die sich durch die Einnahme eine Steigerung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit erhoffen.
Während der Zusammenhang von mentalen und neuronalen Phänomenen schon in der medizinisch-dominanten Phase der Neurowissenschaften als feste Annahme etabliert worden war, wurde sie später zum Ausgangspunkt und zentralen Gegenstand einer neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung. In ihr stehen die Fragen nach dem Bedingungsgefüge der beiden Phänomene, der Bedeutung von Emotionen, der Konstitution eines Ich-Bewusstseins und der individuellen Handlungsfreiheit im Fokus des Interesses (Hennen et al. 2007, S. 17).
Die Bedeutung der Emotionen war dabei lange Zeit ein vernachlässigtes Thema innerhalb der Hirnforschung und wurde lediglich als ein Störfaktor in der Untersuchung kognitiver Phänomene betrachtet. Das ist mittlerweile anders: In der neueren neurowissenschaftlichen Theoriebildung werden Emotionen als ein konstitutiver Faktor in Prozessen der Entscheidungsbildung betrachtet, der in einer Wechselwirkung zu den kognitiven Faktoren steht (vgl. Roth 2003, S. 289ff.) Die Berücksichtigung von Emotionen stellte für die neurowissenschaftliche Theoriebildung einen Meilenstein dar. Sie führte zu der Überwindung einer Analogiedeutung von Gehirn und Computer, die einst durch die Kognitionswissenschaften in die Hirnforschung eingebracht worden war. Während entsprechende Computer-Metaphern ihren Weg zwar in die Alltagssprache gefunden haben und dort bis heute fortwirken – erkenntlich an der Rede von einer ‘Bedienungsanleitung oder Gebrauchsanweisung für das Gehirn‘ (vgl. kritisch Meyer-Drawe 2008, S. 58; Müller 2005, S. 32) –, hat die hohe Komplexität der Interrelation von Emotion und Kognition eine gelingende Simulation des Nervensystems nach computationaler Funktionsweise stets verunmöglicht, was dazu führte, dass die neurowissenschaftliche Theoriebildung auf die nunmehr dominante Vorstellung eines Konnektionismus umschwenkte. Ihr zufolge beruht die Ausbildung und Funktionsweise neuronaler Netzwerke einerseits auf phylogenetischen bzw. evolutionären Bedingungen (neuronale Plastizität) und andererseits auf ontogenetischen Freiheitsgraden (individuelle Lerngeschichte).
Neben dieser innerwissenschaftlichen Bedeutung des Blicks auf Emotionen, erfährt ihre neurowissenschaftliche Thematisierung auch in der Öffentlichkeit eine große Beachtung.2 Dies gilt nicht weniger für andere Bereiche der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung. So haben etwa manche Hirnforscher aus Studien über die Zeitlichkeit von Bewusstseinsakten provokante Thesen über eine Nicht-Existenz der Willensfreiheit abgeleitet. Die sich anschließende Debatte zwischen Neurowissenschaften und Philosophie wurde öffentlichkeitswirksam in den Medien ausgetragen (siehe z.B. Hubert 2014), wo sie mit dem dramatischen Gestus der Erschütterung des Selbstbildes des Menschen unterlegt war, die ebenso tradierte wie simplifizierende Konfrontationslinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aktualisierte, und sogar manche Sozialwissenschaften dazu veranlasste, sich selbst darauf zu befragen, ob sie durch die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung irgendwie herausgefordert seien (siehe Mayntz 2008; Krauth 2008).
Ausschlaggebend für das wissenschaftliche und öffentlich-mediale Momentum, das die Neurowissenschaften derzeit erfahren, ist allerdings nicht nur die Grundprämisse der Abhängigkeit mentaler und neuronaler Phänomene, mit der sich ein äußerst breites Feld potentieller und tatsächlich bearbeiteter Forschungsthemen ergibt, die zentrale Aspekte des Menschsein betreffen – von Erkrankungen, über Emotionen, die Erklärung von Entscheidungsverhalten und Lernvorgängen bis hin zur Subjektwahrnehmung eines ‘Ich‘. Auch die differenzierte Spezialisierung im neurowissenschaftlichen Forschungsfeld und die daraus resultierenden Möglichkeiten einer breitgefächerten interdisziplinären Zusammenarbeit erklären den Aufstieg der Neurowissenschaften keinesfalls erschöpfend. Vielmehr von mindestens gleichrangiger Bedeutsamkeit ist demgegenüber die technische Entwicklung der neurowissenschaftlichen Forschungsmethoden und deren öffentliche Rezeption. Neben klassischen Tierstudien sind dies insbesondere die neueren Methoden der Bildgebung. Als nicht-invasive Verfahren erlauben sie die Erforschung der Funktionen des Gehirns, indem sie seine Arbeitsweise einer Untersuchung in vivo zugänglich machen: Was passiert, wenn ein Mensch denkt, fühlt, lernt, wenn er Rechenaufgaben löst, Ekel empfindet, Wörter konstruiert, wenn er sich bewegt, schläft, meditiert? Welche Areale des Gehirns sind jeweils aktiv und können bestimmten Verhaltensmustern, Wahrnehmungen, Zuständen zugeordnet werden? Letztlich: Wie hängen das Organ und das Denken und Fühlen des Menschen miteinander zusammen? Die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften scheinen den Blick freizulegen auf die Black Box ‘Gehirn‘, auf das, was passiert, wenn es prozessiert. Damit sind sie nicht nur von großem wissenschaftlichem Wert, sie provozieren auch – und vielleicht noch stärker – eine beträchtliche Resonanz der Öffentlichkeit, denn nicht selten heißt es, man könne dem Gehirn nun beim Denken, Fühlen, Lernen zusehen. Auch wenn diese Formulierung nicht den eigentlichen Tatsachen entspricht, da bildgebende Studien Stoffwechselprozesse messen, keine Gedanken oder Emotionen, und die Visualisierung des Gemessenen mathematisch interpretiert wird, bevor daraus ein Bild entsteht: Die neuen Methoden der Bildgebung tragen wesentlich dazu bei, den Neurowissenschaften eine öffentliche Bühne zu bereiten und sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit als moderne und prestigeträchtige Leitwissenschaft zu konstituieren. An dieser Stelle seien die wichtigsten Verfahren genannt, die den Neurowissenschaften eine Bildgebung ihres Untersuchungsgegenstandes ermöglichen (die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf Hennen et al. 2007, S. 34ff., Stern et al. 2005, Kap. 4):
Eine erste Gruppe bilden die elektrophysiologischen Verfahren. Sie erlauben die Verfolgung und Visualisierung von Hirnaktivität im Zeitverlauf. Beim Elektroenzephalogramm (EEG), dem ältesten dieser Verfahren, werden einem Probanden Elektroden auf die Kopfhaut appliziert, die die elektrische Aktivität in oberflächennahen Hirnstrukturen registrieren. Während ein Proband zum Beispiel kognitive Leistungen erbringt, kann so die regionale Verteilung der elektrischen Signale in der Großhirnrinde bestimmt und mittels eines Computerbildschirms sichtbar gemacht werden. Die temporale Auflösung des EEG ist sehr hoch, allerdings fällt die räumliche Auflösung bescheiden aus. Aus diesem Grund wurde das EEG zum Magnetenzephalogramm (MEG) weiterentwickelt. Dessen Name erklärt sich daraus, dass es kleine Magnetfelder zwischen neuronalen Zellen misst, die infolge des Stromflusses entstehen, der durch die aufgesetzten Elektroden erzeugt wird. Der Vorteil des MEG zum EEG besteht darin, dass es genauere Aussagen über die Tiefe der gemessenen Ereignisse ermöglicht. Des Weiteren wurde das EEG zu einem computergestützten „brain mapping“-Verfahren fortentwickelt, mit dem sich die zerebrale Aktivität nunmehr in Hirnkarten visualisieren lässt. Alle drei elektrophysiologischen Verfahren haben allerdings einen Nachteil: Die Sensitivität ihrer Detektoren lässt mit der zerebralen Tiefe der zu messenden Ereignisse nach. Elektrische Vorgänge unterhalb der Großhirnrinde können so kaum mehr erfasst werden.
An dieser Stelle kann die Hirnforschung auf aufwendigere Apparaturen zurückgreifen, die Vorgänge im gesamten Gehirn detektieren können: Die Positron-Emissionstomographie (PET) macht sich die Tatsache zunutze, dass eine erhöhte Hirnaktivität mit einer erhöhten Stoffwechselintensität einhergeht, sodass es möglich ist, indirekt von letzterer auf erstere zu schließen. Hierfür wird dem Probanden – so es um Forschungszwecke geht – oder dem Patienten – so es um medizinische Fragen geht – eine radioaktive Markersubstanz verabreicht. Über den Zerfall dieser Markersubstanz lassen sich diejenigen Hirnregionen identifizieren, die eine besonders hohe Stoffwechsel- bzw. – korrelativ – neuronale Aktivität aufweisen. Das Problem dieser Methode ist gleichwohl offensichtlich: Eine Verabreichung radioaktiver Substanzen an gesunde Personen aus Forschungszwecken hat es mit ethischen Bedenken zu tun; dies gilt insbesondere in Bezug auf die in der Forschung häufig notwendigen Wiederholungsmessungen.
Dieser Nachteil besteht bei der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) nicht. Auch sie ermöglicht eine genaue Lokalisation von Hirnaktivitäten und daran anknüpfend die Interpretation der Funktionen von Hirnarealen. Die fMRT ist mittlerweile die am häufigsten genutzte Untersuchungsmethode in der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung. Die fMRT misst Signale, die in der Wechselwirkung eines Magnetfeldes mit Radiowellen erzeugt werden. Die Signale beruhen auf den verschiedenen Anregungszuständen des Blutsauerstoffträgers Hämoglobin in Reaktion auf das Magnetfeld. Da mit gesteigerter Aktivität eines Hirnareals auch dessen Energie- und Sauerstoffverbrauch ansteigt, deutet die Verteilung besonders sauerstoffreichen Hämoglobins im Gehirn auf entsprechende Aktivitätszentren hin. Auf diese Weise wird es möglich, bei einem Probanden, der mit bestimmten Aufgaben oder Eindrücken konfrontiert ist, jene Areale des Gehirns ausfindig zu machen, die beim Lernen, Wahrnehmen oder bei intensiven Emotionen eine besondere Aktivität aufweisen. Die räumliche und zeitliche Auflösung der fMRT ist im Vergleich zum EEG und MEG sowie zur PET äußerst hoch; dieser Umstand sowie die fehlende Notwendigkeit der Verabreichung potentiell schädlicher Markersubstanzen ließen sie zur gegenwärtig präferierten Bildgebungsmethode der Neurowissenschaften werden.
Für die Entfaltung der neurowissenschaftlichen Grundlagentheorie sind diese bildgebenden Verfahren von unschätzbarem Wert. Ihr nicht-invasiver Zugriff auf das Gehirn und seine Prozesse begründet ihre Praktikabilität auch für nicht-medizinische Forschungszwecke. In Kombination mit der hohen Öffentlichkeitswirksamkeit ihrer Bildprodukte tragen sie allerdings dazu bei, neurowissenschaftliche Forschungsvorhaben auf Fragestellungen auszudehnen, die nicht in den angestammten Bereich der Neurowissenschaften fallen, sondern zentrale Gegenstandsbereiche der Sozial- und Geisteswissenschaften berühren. So ist inzwischen häufig von sogenannten Bindestrich-Wissenschaften die Rede, die allesamt das Präfix „neuro“ aufweisen: die wohl bekanntesten sind das Neuro-Recht (Schleim et al. 2009), das Neuro-Marketing (Häusel 2007) und die Neuro-Pädagogik (Herrmann 2009).
Gerade die ‘Neuro-Pädagogik‘ manifestiert sich als vergleichsweise vielbeachteter Phä-nomengegenstand sowohl in den Diskursen der Wissenschaft und pädagogischen Praxis als auch in der Bildungspolitik und medialen Öffentlichkeit. Die Verbindung von Neurowissenschaften und Pädagogik scheint vielen eine attraktive Option darzustellen, an die sich ganz verschiedene Hoffnungen knüpfen. Beworben wird die Vereinigung sowohl innerhalb von Teilen der Neurowissenschaften selbst als auch innerhalb der Erziehungswissenschaft und pädagogischen Praxis. Vor dem Hintergrund der kontinuierenden Krisendiskussion des (deutschen) Schulwesens und ihrer neuerlichen Aktualisierungen (PISA) haben neurowissenschaftliche Stellungnahmen zu pädagogischen Belangen Konjunktur. Dies gilt sowohl für den Mediendiskurs (Becker 2006) und das Genre der Populärwissenschaft (vgl. Korte 2008, Spitzer 2012, Roth 2015) als auch für den wissenschaftlichen Diskurs (vgl. z.B. Patten & Campbell 2011). Doch worin liegen die Verheißungen einer Verbindung von Neurowissenschaften und Pädagogik?
2 Dies lässt sich aus der prominenten Berichterstattung über entsprechende Erkenntnisse der Hirnforschung ableiten, siehe z.B. den Beitrag „Wie wir die Emotionen unserer Mitmenschen verstehen“ auf Spiegel Online (o.V. 2008), den Beitrag „Dem Geheimnis der Gefühle auf der Spur“ auf dem Onlineportal der Welt (Meili 2016) oder – mit eher populärwissenschaftlichem Anspruch – den Beitrag „Wie Forscher den Gefühlskode knacken“ auf Spektrum.de (Stoléru 2018).
Erziehung, der Reflexions- und Handlungsgegenstand der Pädagogik, ist eine soziale Tatsache und eine Naturtatsache (Tenorth 2008, S. 17). Als Verweisungszusammenhang beider Dimensionen stellt sie eine anthropologische Konstante dar. Verstanden als soziale Tatsache erweist sich die Konstanz in zweierlei Hinsicht. Zum ersten muss Erziehung fundamental als eine soziale Beziehungsstruktur gedacht werden, die in der pädagogischen Reflexion traditioneller Weise als die „interaktive und situative Begegnung von Erzieher und Kind“3 (ebd.) beschrieben wird. Zum zweiten ist von einer Konstanz zu sprechen, weil sich Erziehung in jeder Phase der Menschheitsgeschichte in einer historisch je besonderen Form ausgeprägt hat und aufgrund dieser Variabilität gewissermaßen unabhängig von den Vorstellungen und Programmatiken der beteiligten Akteure phänomenologisch existiert. Dass dies so ist, ist wiederum dem Umstand geschuldet, dass Menschen auf die eine oder andere Weise erzogen werden müssen, denn auf die Welt kommen sie körperlich und geistig ‘unfertig‘. In dieser Hinsicht ist von Erziehung auch als Naturtatsache zu sprechen. Sie nimmt in der „Pflegebedürftigkeit des Neugeborenen und Kleinkindes […] ihren Anfang“ (ebd.) und findet ihren Endpunkt – oder ihr Etappenziel – erst in der körperlichen und geistigen Selbständigkeit sowie in der Integration des zu Erziehenden in die gesellschaftliche Ordnung. Der Mensch, so lässt sich festhalten, ist ein lernbedürftiges Wesen und diesem Bedürfnis trägt er durch das Erziehen – bzw. Lehren – Rechnung.
Von Erziehung als einer Naturtatsache lässt sich allerdings noch in anderer Hinsicht sprechen, denn der Mensch ist nicht nur lernbedürftig, sondern komplementär auch lernfähig: So ist jedes pädagogische Handeln nicht nur an sozialhistorisch kontingente Erziehungsphilosophien und ihre Relation zu gesellschaftlichen Kontextfaktoren gebunden, sondern ebenso auf die genuin natürlichen Voraussetzungen des Menschseins verwiesen, die die soziale Praxis der Erziehung zuallererst ermöglichen und ihr des Weiteren auch Grenzen abstecken.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Pädagogik kennt diese Perspektive auf ‘Natur‘ aus unterschiedlichen Teilgebieten der pädagogischen Wissenschaftsforschung (Schlüter 2010), der pädagogischen Anthropologie (Rittelmeyer 2002) und der pädagogisch-psychologischen und entwicklungspsychologischen Forschung (Mietzel 2002). Aktuelle Diskussionen um die Frage, ob die modernen Neurowissenschaften einen Beitrag zum Verständnis und zur Gestaltung pädagogischer Prozesse leisten können, stellen insofern kein Novum dar. Sie ordnen sich in eine lange Diskurstradition ein, die seit dem 19. Jahrhundert zwischen den Naturwissenschaften (insbesondere Medizin, Neurophysiologie, experimentelle Psychologie) auf der einen Seite und den Geistes- und Sozialwissenschaften (insbesondere Erziehungswissenschaft und Teile der Psychologie, aber auch der Philosophie) auf der anderen Seite besteht. Gerade im Lager der letzteren wurden naturwissenschaftliche Perspektiven auf Lernen und Erziehung immer wieder als eine Herausforderung wahrgenommen.4 So wurde schon um 1900 der „Unterschied zwischen dem hirnphysiologischen Erklären und dem psychologisch-geistigem Verstehen pädagogischer Interaktionen des Heranwachsenden mit dem Erzieher und der sozialen Umgebung […]“ diskutiert; und das „Erklären dieser Interaktionen auf der Grundlage hirnphysiologischer Erkenntnisse blieb im 19. Jahrhundert genauso umstritten wie die gegenwärtige Neuronalisierung als intendierte Naturalisierung von Pädagogik und Didaktik oder Bewusstsein und Freiheit des Menschen“ (Schlüter & Langewand 2010, S. 8f.). Nachdem aber im 20. Jahrhundert zumindest im deutschsprachigen Raum in Reaktion auf die sozialdarwinistischen Irrlehren zur Zeit des Nationalsozialismus die pädagogisch-motivierte Rezeption der Biowissenschaften stark zurückgegangen war und bis zum Beginn der 2000er Jahre noch nicht einmal mehr an den Umfang um 1900 heranreichte (Liegle 2002, S. 11) – es konnte geradezu von einer „Tabuisierung der Biologie“ (ebd.) gesprochen werden –, ist die Rezeption im Zuge des gegenwärtigen wissenschaftlichen wie öffentlichen Auftriebs der Neurowissenschaften und der angeschlossenen Diskussion um mögliche pädagogische Implikationen wieder spürbar angestiegen (Becker 2010, 2006).
Ist Erziehung (auch) eine Naturtatsache, so ergibt sich ein pädagogisch motiviertes Interesse an den Neurowissenschaften zunächst ganz allgemein aus dem Umstand, dass sich diese forschend mit den natürlichen Grundlagen des Lernens befassen. Die empirische Erforschung des Lernens ist ursprünglich die Domäne der empirischen Psychologie (vgl. Herzog 2005a). Während diese vor allem auf der Ebene der Verhaltensbeobachtung arbeitet, richten die Neurowissenschaften nunmehr den Blick auf die neuronalen bzw. biotischen Prozesse und Mechanismen, die mit Lernen einhergehen. Das betrifft zum ersten die molekulare, subzelluläre und zelluläre Ebene, auf der unter anderem die Wechselwirkungen von Nervenzellen, Neurotransmittern und Neuromodulatoren untersucht werden können. Es betrifft zum zweiten die Ebene von Nervenzellverbänden, sogenannten neuronalen Netzwerken, aus deren Zusammenwirken verschiedene Gehirnleistungen hervorgehen. Zum dritten betrifft es die Ebene funktioneller Systeme, zum Beispiel dem limbischen System, die mit verschiedenen Hirnleistungen korrespondieren, zum Beispiel der Handlungsinitiierung (Hennen et al. 2007, S. 21).5
Die Annahme einer pädagogischen Bedeutsamkeit der Neurowissenschaften basiert nun zunächst auf der zweifelsohne überzeugenden Prämisse, dass auch pädagogisch initiierte Lernvorgänge neuronale Repräsentationen haben, die mit neuroanatomischen und neurophysiologischen Begriffen und Methoden beschrieben und untersucht werden können. So wird auf der molekularen, subzellulären und zellulären Ebene in den Neurowissenschaften dann von Lernen gesprochen, wenn es zu Veränderungen an Synapsen – den Verbindungen zwischen neuronalen Zellen – kommt, die für eine längere Zeit oder dauerhaft anhalten. In den Worten des Neurobiologen Kandel (2009, S. 222): „Lernen [verändert] die Stärke der Verbindungen – und daher die Wirksamkeit der Kommunikation – zwischen bestimmten Zellen des für das Verhalten verantwortlichen neuronalen Schaltkreises.“ Die Grundbedingung hierfür ist die Plastizität des Gehirns, also die „Fähigkeit von Synapsen, Neuronen oder Hirnregionen, ihre funktionellen und strukturellen Eigenschaften in Reaktion auf ihre Verwendung oder andere Stimulationsmuster zu verändern“ (ebd., S. 473). Damit ist auf die Ebene der Nervenzellverbände und die Ebene funktioneller Systeme übergeleitet. Entsprechend lässt sich auch dort neurowissenschaftlich von Lernen sprechen. Es bedeutet dann „langfristig die Änderung kortikaler Repräsentationen“ (Spitzer 2014, S. 183), zum Beispiel, indem sich das Hirnareal, in welchem die Finger der linken Hand repräsentiert sind, vergrößert, weil die betreffende Person neuerdings regelmäßig an der Violine übt (ebd., S. 106). Der funktionelle Aspekt von Hirnregionen ist in der (populären) neurowissenschaftlichen Literatur zum Lernen ein wichtiges Thema (vgl. Hüther 2009b, Roth 2009, Spitzer 2014). Bauer (2009a, S. 50) zufolge gibt es „ein durch neurobiologische Studien erworbenes, gut gesichertes Wissen darüber, welche Nervenzell-Netzwerke im Gehirn tätig werden, wenn wir selbst handeln, wenn wir unseren eigenen Körper spüren oder wenn Emotionen in uns hochsteigen“.
Dieses Wissen versuchen pädagogisch engagierte Hirnforscher auf pädagogische Belange anzuwenden. Und auch aus der Erziehungswissenschaft und pädagogischen Praxis gibt es Initiativen, neurowissenschaftliches Wissen für die Pädagogik zu verwerten (vgl. Herrmann 2009, Arnold 2011, Friedrich 2009). Gemein ist diesen Unternehmungen die Überlegung, das Lernen dort zu erforschen, wo es sich hauptsächlich vollziehe, denn „[s]chließlich spielt sich Lernen im Kopf ab“, wie Preiß & Friedrich (2003, S. 181; vgl. auch Spitzer 2014, S. XIII) formulieren.
In der Tat besteht im Grunde kein Zweifel daran, dass die Erforschung der Entwicklung und Funktionsweise des Gehirns zu einem besseren Verständnis des Phänomens des Lernens beiträgt und so auch für die Pädagogik von Interesse sein kann. Die (neuro-)biotischen Grundlagen des Lernens, die Phasen der Gehirnentwicklung, die Entschlüsselung von Prozessen der Gedächtnisbildung oder der Verarbeitung von Sprache – dies alles sind Forschungsthemen, von denen wichtige Beiträge für die pädagogische Theoriebildung ausgehen können (Stern et al. 2005, S. 118f.). Auch auf der Ebene der Anwendungsforschung weisen die Neurowissenschaften einen praktischen Nutzen nach, indem sie insbesondere das Verständnis von Lern- und Entwicklungsstörungen vertieft und auf diese Weise zu besseren diagnostischen Möglichkeiten von Legasthenie und Dyskalkulie geführt haben (ebd. S. 27ff.).6
Die Erwartungen, die sich mit den Neurowissenschaften verbinden, reichen jedoch weiter. In Teilen münden sie dabei in pädagogische Verheißungen von fragwürdiger Plausibilität. So wird im Populärdiskurs wie auch im Wissenschaftsdiskurs zuweilen der Eindruck vermittelt, mit dem Gehirn nunmehr jene Untersuchungsebene aufgeschlossen zu haben, auf die es für das Verständnis und die Gestaltung des Lernens auch im pädagogischen Sinne eigentlich oder zumindest ganz wesentlich ankommt: „Wer lehrt, sollte etwas vom Organ des Lernens, dem Gehirn, verstehen.“, meint Spitzer (2014, S. 19), und empfiehlt die Hirnforschung als die ‘Grundlagenwissenschaft des Lernens‘, aus welcher sich schon heute „eine ganze Reihe praktischer Schlussfolgerungen für Schule, Universität und Gesellschaft ziehen“ (ebd., S. XVI) ließen. Indem die Hirnforschung die grundlegende Erklärungsebene für das Lernen im Allgemeinen taxiere, fungiere sie zugleich als relevante Expertise-Instanz auch für das Lernen als pädagogisches Phänomen. Sie sei, mit den Worten Braun und Scheichs (2009, S, 876) gesprochen, eine „neue Leitdisziplin“, sodass „zuerst die Hirnforschung fragt“, „wer heute wissen will, wie Lernen ‘funktioniert‘“. Es lassen sich in dieser Richtung zwei pädagogische Verheißungen identifizieren, die im neurowissenschaftlichen Diskurs reüssieren:
Nicht wenige Neurowissenschaftler bewerben die Hirnforschung als Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Neufundierung der pädagogischen Theorie und Praxis. Sie positionieren die Hirnforschung als Alternative oder (zumindest) neue wissenschaftliche Orientierungsinstanz gegen die tradierten pädagogischen Bezugsdisziplinen: Erziehungswissenschaft und Psychologie. Den pädagogischen Nutzen der Hirnforschung entwerfen sie als ein ‘Verwissenschaftlichungsprojekt‘, das auf die schematische Gegenüberstellung von ‘hard sciences‘, als objektiven Naturwissenschaften, und ‘soft humanities‘, als subjektzentrierten Geisteswissenschaften rekurriert (Beauchamp & Beauchamp 2013, S. 52), und im Wesentlichen nur den ersteren die Produktion eines verlässlichen Wissens für die Theorie und Praxis der Pädagogik zugesteht. Es ist dieses Topos der Wissenschaftlichkeit, das den strukturellen Kern des neurowissenschaftlichen Angebotes an die Pädagogik bildet. Im Populärdiskurs skizzieren Hirnforscher das Bild einer in ideologischen Grabenkämpfen verstrickten pädagogischen Wissenschaftstradition, die aufgrund ihrer geisteswissenschaftlichen Ausrichtung nur über eine unterentwickelte wissenschaftliche Aussagekraft verfüge und das pädagogische Feld so ohne Orientierung lasse (vgl. Roth 2015, S. 18; Spitzer 2012). Die Argumentation im Wissenschaftsdiskurs verläuft weniger pauschalisierend, doch wird auch hier ein unzureichendes empirisches Methoden-Knowhow üblicher pädagogischer Forschungszugänge problematisiert, weil zum Beispiel weder psychometrische noch ethnographische Methoden in der Lage seien, auf Basis von Verhaltensbeobachtungen zwischen kontingenten und fundamentalen Effekten auf Lernerfolg zu unterscheiden – eine Leistung, die nun aber auf neuropsychologischer Untersuchungsebene endlich erbracht werden könne. So argumentiert Kelly (2011, S. 20): “Theories are never abandoned easily, of course, but the disambiguation of claims at the hypothesis testing level using cognitive neuroscience data is likely to place upward pressure on theories, which are too often contingent descriptions of learning with little specification of mechanism or grounding in the larger set of findings in science.” Die Unterstellung eines Empirie- und Objektivitätsdefizits tradierter pädagogischer Referenzdisziplinen verknüpft sich so mit der Verheißung, die Pädagogik in Theorie und Praxis auf Basis der Naturwissenschaft zu effektivieren (Spitzer 2012, Carew & Magsamen 2010).
Eine solche Anbindung pädagogischer Aussagesysteme und Handlungsformen an die Reputation der Naturwissenschaft stellt den Akteuren des pädagogischen Feldes verschiedene Legitimationsgewinne in Aussicht. In Hinsicht auf die Bildungspolitik bedient insbesondere die verheißungsvolle Rede von einem ‘gehirngerechten Lernen‘ die reformpolitische Optimierungssemantik eines ‘evidenzbasierten Steuerungsregimes‘, in dessen Zuge nicht zuletzt der Evaluationsdruck auf die Leistungsfähigkeit der pädagogischen Praxis steigt. In Hinsicht auf die pädagogische Praxis suggeriert dieselbe Rede Lehrerinnen und Lehrern neurowissenschaftlich fundierte, verlässliche und konkrete Handlungsempfehlungen, die komplementär zur bildungspolitischen Steuerungsprogrammatik die Möglichkeit eines evidenzbasierten Handelns suggerieren und damit die Offerte unterbreiten, professionelle Entscheidungskompetenzen und Begründungsverpflichtungen in Teilen auf eine prestigeträchtige (Neuro-) Wissenschaft zu externalisieren. So wird die Hirnforschung nicht selten als neue und besonders geeignete Instanz zur Bearbeitung pädagogischer Praxisprobleme präsentiert, denn sie „provides the most relevant level of analysis for resolving today’s core problems in education“ (Pettito & Dunbar, zitiert nach Tommerdahl 2010). Hier verbindet sich der in Aussicht gestellte Gewinn einer neuen Legitimationsbasis für pädagogisches Handeln mit dem Modell einer technologischen Beziehung von Wissenschaft und Praxis. Durch Rezeptionsstrategien einer selektiven Bezugnahme und variablen Interpretation können neurowissenschaftliche Erkenntnisse zudem als Legitimationsausweis für ganz unterschiedliche und womöglich widersprüchliche politische und pädagogische Ableitungen in Dienst genommen werden (vgl. kritisch Becker 2010).
Beide Verheißungen sollen im Folgenden am Beispiel konkreter Empfehlungen, die Neurowissenschaftler(inne)n an die Pädagogik richten, näher inspiziert werden. Hierfür ist es zunächst notwendig, eine Unterscheidung zu treffen: Sicherlich: Lernen spielt sich (auch) im Kopf ab, sodass eine Diskontinuität zwischen seinen natürlichen Grundlagen und seiner pädagogischen Beförderung nicht sinnvoll erscheint. Es kann jedoch anhand von zwei Begriffen, die aus der psychologischen Lehr-Lern-Forschung stammen, auf eine grundlegende Herausforderung hingewiesen werden, mit der es pädagogische Ableitungen aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun haben:
Aussagen über neuroanatomische und hirnphysiologische Phänomene betreffen den Bereich des ‘natürlichen Lernens‘, der auch als privilegiertes Lernen bezeichnet werden kann (Stern et al. 2005). Von einer Privilegierung von Lernprozessen ist dann zu sprechen, wenn das Gehirn schon genetisch auf sie vorbereitet ist. Diese Vorbereitung ist das Resultat der menschlichen Evolution, in der bestimmte Probleme – aufgrund konstanter Präsenz – genetisch fixierte Antwortmechanismen provoziert haben. Hierzu zählen allen voran die Entwicklung visueller Fähigkeiten, das Erlernen einer Muttersprache, die Fähigkeit zur quantitativen Differenzierung kleiner Mengen, die Empathiefähigkeit sowie das Nachahmungsverhalten (Scheunpflug 2006). Es handelt sich um Fähigkeiten, die ohne gezielte Unterweisung, einfach in Reaktion auf Umweltreize durch biotische Entwicklungsprogramme ausgebildet werden.
Geht es um die Applikation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf pädagogische Belange, so stellt dies den Versuch dar, Erkenntnisse über das natürliche Lernen auf den Phänomenbereich des nicht-privilegierten Lernens zu übertragen. Nicht-privilegiert sind Lernprozesse dann zu nennen, wenn das Gehirn nicht schon genetisch darauf vorbereitet ist, sie in Gang zu setzen. Zwar baut das nicht-privilegierte Lernen auf dem privilegierten auf. Es unterscheidet sich von diesem jedoch darin, dass es der gezielten Unterweisung: des Zeigens bzw. Lehrens bedarf. Dafür befähigt es zur Ausbildung höherer kognitiver Funktionen, wie zum Beispiel der Fähigkeit, abstrakte Symbolrepräsentanzen zu verarbeiten – zum Beispiel Schrift und ethische Regeln oder generell alle Inhalte und Techniken, die das Ergebnis kultureller Entwicklung sind. Das nicht-privilegierte Lernen betrifft demnach alle Gegenstände schulischer Erziehung.
3 Zur Kritik an der tradierten handlungstheoretischen Rahmung und Rollenspezifikation als Definitionsgrundlage von Erziehung siehe z.B. Vanderstraeten & Biesta 2006.
4 Diese Herausforderungen haben nicht selten zu Verteidigungsreaktionen geführt. Vgl. zum Beispiel Ernst Meumanns (1911a und 1911b) Versuch einer experimentellen Pädagogik nach dem methodologischen Vorbild einer naturwissenschaftlich orientierten Psychologie und die ablehnende Reaktion Herman Nohls (1988) als Vertreter einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Für eine ausführliche historische Aufarbeitung des Verhältnisses von Psychologie und Pädagogik siehe Herzog (2005a).
5 Es sind gerade diese Relationen, die mit den modernen Verfahren der Bildgebung nunmehr eingehend studiert werden können.
6 So kann die Hirnforschung z.B. zeigen, ob die Lese-Rechtschreibschwäche bei einem Kind auf einer Störung im visuellen oder auditiven System des Gehirns beruht. Aus diesem Befund lässt sich ableiten, welche Art von Trainingsmaßnahmen den größten Erfolg verspricht – das Trainieren des Erkennens von Wörtern und Buchstaben oder das Trainieren der Hörfähigkeit und des phonologischen Bewusstseins (Stern et al. 2005, S. 28).
Der Schluss vom natürlichen Lernen auf sein nicht-privilegiertes Pendent liegt den Einlassungen pädagogisch engagierter Hirnforscher immer dann zugrunde, wenn sie aus Erkenntnissen der Neurowissenschaften pädagogische Empfehlungen ableiten. Exemplarisch werden zwei zentrale Themenbereiche, auf die sich gängige solcher Empfehlungen konzentrieren, im Folgenden vorgestellt.
Motivation und Emotionen haben eine große Bedeutung für erfolgreiche Lernprozesse. Dieser Befund ist nicht neu, sondern Allgemeingut der psychologischen Lehr-Lern-Forschung. Die Neurowissenschaften untersuchen beide Phänomene und ihren Einfluss auf das Lernen nun auf der Ebene der Hirnphysiologie. Hier konnte gezeigt werden, dass vor allem beim erfolgreichen Lernen zum einen jene Hirnareale aktiv werden, die mit der Verarbeitung von Emotionen zu tun haben und zum anderen solche Hormone und Neurotransmitter ausgeschüttet werden, die das positive Gefühlserleben verstärken und so zu einer Modulation von Hirnregionen beitragen, in denen Gedächtnisleistungen prozessiert werden. Ein Hormon, das es auch in der Öffentlichkeit zu einiger Berühmtheit gebracht hat, ist das Dopamin. In Tierversuchen zum operanten Konditionieren konnte nachgewiesen werden, dass die Ausschüttung von Dopamin durch Belohnungen befördert werden kann und positiv mit Lernerfolg korreliert ist: Je höher die Ausschüttung ausfiel, desto besser schnitten die Tiere in Gedächtnisleistungen ab – und vice versa. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist das Dopaminsystem also eng assoziiert mit dem subjektiven Motivationserleben und der Qualität von Gedächtnisleistungen. Ein Hirnareal, das wesentlich an der Regulation des Dopaminhaushalts beteiligt ist, ist das limbische System: Roth (2009, S. 60ff.) bezeichnet es als das ‘zentrale Bewertungssystem‘ des Gehirns und den „eigentliche[n] Kontrolleur des Lernerfolgs“ (ebd., S. 60): In ihm werden Motivation und Emotionen als wichtige Faktoren der individuellen Konstruktion von Wissen und Bedeutung vermittelt und „alles, was mit uns geschieht, danach [bewertet], ob es gut/vorteilhaft/lustvoll war und entsprechend wiederholt werden sollte, oder schlecht/nachteilig/schmerzhaft und entsprechend zu meiden ist“ (ebd., S. 61).
Roth und andere Neurowissenschaftler ziehen hieraus pädagogische Konsequenzen. Schulischer Unterricht sollte mit Spaß aufgeladen sein und Angst und Stress – als neuromodulatorisch den Lernerfolg hemmende Faktoren – vermeiden. Positive Emotionen machen den Unterricht demnach für seine Adressaten ‘attraktiv‘, steigern so die Lernbereitschaft und führen zu besseren Lernergebnissen. Die Neurowissenschaften würden somit zeigen, „dass Lernen bei guter Laune am besten funktioniert“ (Spitzer 2014, S. 167; vgl. auch Goswami 2009, S. 33).7
Ohne diese Ergebnisse als solche in Frage zu stellen, ist aus einer pädagogischen Perspektive darauf hinzuweisen, dass sie maßgeblich in Studien an Tieren fundiert sind, in denen nur sehr basale Emotionen (Angst, Furcht) und nur bestimmte motivationale Belohnungsmechanismen (Nahrung und Drogen) in den Blick genommen werden können: nämlich solche, die in den Bereich des natürlichen bzw. privilegierten Lernens fallen und die evolutionär-biotische Programmierung des Gehirns nicht transzendieren. Damit entsteht die Frage, inwieweit sie sich auf nicht-privilegierte Lernprozesse übertragen lassen, wie sie für schulisch-organisiertes Lernen kennzeichnend sind, in welchem etwa abstrakte Symbolrepräsentanzen die Grundlage sowohl des Lernstoffs als auch möglicher Belohnungsmechanismen darstellen: Dies betrifft wesentlich die sozialkommunikative Fundierung pädagogischer Situationen im Medium der Sprache: „Die große Rolle der Sprache beim schulischen Lernen und alltäglichen Belohnungslernen ist neurowissenschaftlich so gut wie nicht untersucht.“ (Jacobs et al. 2006).8 Hier ist zu vermuten, dass sich über Mittel der Verhaltensbeobachtung ein ergiebigerer Zugang zur Erforschung des Einflusses von Motivation und Emotionen auf das unterrichtliche Geschehen ergibt. Und wenn Roth (2009, S. 60) darauf hinweist, dass in der Kognitiven Psychologie das limbische System noch bis vor kurzem keine Rolle spielte, so ist anzumerken, dass die pädagogische Bedeutung von Motivation und Emotionen durch die Lehr-Lern-Forschung lange schon belegt und theoretisiert ist, wie jeder Blick in ein Lehrbuch der Pädagogischen oder Kognitiven Psychologie nachweist (vgl. Jäncke 2009, Schumacher & Stern 2012). Eine Neufundierung der Pädagogik auf neurowissenschaftlicher Grundlage, wie sie oben unter Verheißung 1 aufgeworfen wurde, steht somit – zumindest im viel beachteten Themenbereich von Motivation und Emotionen – nicht in Aussicht.
Ein anderes Themengebiet, das sowohl im Wissenschaftsdiskurs als auch in populärwissenschaftlichen Zugriffen auf die Schnittstelle von Neurowissenschaften und Pädagogik eine wichtige Rolle spielt, fragt nach pädagogischen Konsequenzen, die sich aus einer Phasenabfolge der Gehirnentwicklung ergeben mögen. In Entsprechung zu der Rede von genetisch determinierten Entwicklungsprogrammen lässt sich neurobiologisch auch von ‘kritischen Phasen‘ innerhalb der Ontogenese sprechen, in denen ohne gezielte äußere Anleitung, aber in Reaktion auf Umweltreize, mühelos Fähigkeiten wie das Sehen, Laufen, Sprechen ausgebildet werden. Nach dem Schließen dieser Zeitfenster im frühen Kindesalter lässt sich das Erlernen dieser Fähigkeiten nicht mehr nachholen. An dieses Konzept hat sich in den Neurowissenschaften eine Diskussion darüber angeschlossen, ob kritische Phasen auch Lerninhalte von pädagogischer Relevanz betreffen können – nach dem Motto: ‘Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr‘ – und entsprechende Reaktionen und Programme auf den Plan rufen sollten. Eine demgegenüber entschärfte Position möchte lediglich von ‘sensiblen Phasen‘ der Gehirnentwicklung sprechen, in denen das Erlernen bestimmter Fähigkeiten zwar leichter fällt, aber auch im Nachhinein nicht verunmöglicht ist. Je nach Positionierung variiert der Grad an Dramatisierung. Braun (2009, S. 135) verwendet eine besonders ernste Rhetorik, wenn sie von „frühkindlichen Entwicklungsfenstern“ spricht, die „zeitlich begrenzt seien“ und die Eltern und Erzieher „nicht ungenutzt verstreichen“ lassen dürften, sondern es darauf anzulegen hätten, „aus den genetisch vorgeformten Entwicklungsprogrammen das optimale Ergebnis herauszuholen“. So gelangt sie tatsächlich zu dem Appell: „‘die Schule muss mit der Geburt beginnen‘, um bleibende und im weiteren Leben positiv nutzbare Spuren im Gehirn zu hinterlassen“ (ebd., S. 136). Während Braun davon ausgeht, dass das kindliche Gehirn in seinen Leistungsressourcen gar nicht überfordert werden könne, geben sich andere Hirnforscher vorsichtiger. Singer etwa warnt davor, das Gehirn durch zu viele und zu vielgestaltige Stimuli von jenen Reizen abzulenken, die für seine Entwicklung von eigentlicher Wichtigkeit wären: „A more effective strategy is probably to carefully observe the spontaneous development behaviour of the children, to find out what their needs and interests are at the various developmental stages“ (Singer 2006, S. 18). Gleichwohl vermutet auch Singer, dass es kritische Phasen gibt, die eine Rolle sogar in der Entwicklung höherer kognitiver Funktionen spielen, und hält die Erforschung von Entwicklungszeitfenstern für „highly valuable for a better management of educational curricula“ (ebd. S. 15, vgl. auch 2002). Auch die Entwicklungspsychologin Pauen (2009) sieht empirische Hinweise für die Existenz und Unterscheidbarkeit zerebraler Entwicklungsphasen vorliegen, möchte sich aber auf eine definitive Aussage nicht festlegen. Sie hält es zudem nicht für sinnvoll, sogleich zu pädagogischen Optimierungsempfehlungen überzugehen, wie es etwa Braun tut. Denn letzten Endes führe die Diskussion um eine pädagogische Relevanz solcher Phasen in eine Wertfrage über, die sich einfachen Antworten entzieht: „nicht alles was lernbar ist, ist auch sinnvoll zu lernen“; es sei gerade ein „zentraler Aspekt von Lernen […] zu unterscheiden, was wichtig und was unwichtig ist, damit man seine Energie auf die Verarbeitung relevanter Informationen konzentrieren kann“ (Pauen 2009, S. 40). Demzufolge ist für Pauen nicht nur die Bedeutsamkeit der potenziellen Phasen ungeklärt – weswegen sie sich wie Singer für intensivierte Forschungsbemühungen ausspricht: Indem sie den Blick auf die Inhaltsdimension von Lernen lenkt, betont sie gegenüber neurowissenschaftlich basierten Empfehlungen explizit die Verantwortungskompetenz der Pädagogik, wenn es darum geht, die pädagogische Relevanz der Phasen zu beurteilen und einen angemessenen Umgang mit ihnen zu finden. Damit wäre der Pädagogik das Primat gegeben, geht es um die pädagogische Bewertung und den pädagogischen Umgang mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien.
Dass die Bedeutsamkeit von Phasen der Gehirnentwicklung im neurowissenschaftlichen Diskurs nicht konsensual geklärt ist (vgl. etwa Singer 2002 vs. Jäncke 2009) und sie unabhängig davon auch in Hinsicht auf pädagogische Konsequenzen unterschiedlich interpretiert werden kann, gibt Becker (2010, S. 24) Anlass noch für eine weitere Problematisierung – die Gefahr beliebiger pädagogisch-politischer Instrumentalisierung: „So wird im Rahmen der Rezeption im Kontext frühkindlicher Erziehung neuronale Plastizität als zeitlich begrenzter und äußerst fragiler Prozess in den Vordergrund gestellt, während sie im Kontext der Diskussion über lebenslanges Lernen als empirische Basis für die lebenslange Wirksamkeit und Notwendigkeit von Bildung gedeutet wird.“ (ebd. S. 24) Wie bei Pauen (2009), so fungieren auch in Beckers Problematisierung neurowissenschaftliche Wissensbestände als ein Deutungsangebot an pädagogische (und politische) Rezipienten. Wies Pauen auf die zweifelsfreie Notwendigkeit hin, diese Angebote in erster Linie pädagogisch auszudeuten, so deutet Becker auf die Option eines ‘Missbrauchs‘ hin, der in einem Bezug auf Wissenschaft besteht, der nicht auf empirische Validierung, sondern lediglich auf diskursive Legitimationsgewinne ausgerichtet ist – Verheißung 2.
Sicherlich stellen die zwei aufgeführten Themenbereiche nur einen Ausschnitt aus dem Spektrum neurowissenschaftlicher Bezüge und Empfehlungen gegenüber der Pädagogik dar. Sie ließen sich ergänzen durch neurowissenschaftliche Deutungsangebote des Gehirns als „Sozialorgan“ (Hüther 2009a, S. 43) und mögliche Konsequenzen für die pädagogische Beziehungsstruktur (vgl. Bauer 2009a, 2009b); des Gehirns als ‚Regelextraktionsmaschine‘ (Spitzer 2014, S. 75) und mögliche Konsequenzen für die unterrichtliche Gestaltung durch Wiederholungsübungen und Alltagsrelevanz (vgl. Brand & Markowitsch 2009, Spitzer 2014); der Aufgabenverteilung von Neuronenverbünden und mögliche Konsequenzen für die Gestaltung von mehrere Sinne beanspruchenden Lernumwelten; u.v.m. Gemein ist all diesen Empfehlungen, dass sie auf der Prämisse beruhen, aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen unmittelbar auf pädagogisches Handeln schließen zu können.
Eine gänzlich ablehnende oder ausschließende Positionierung diesem Anspruch gegenüber würde der Gefahr unterliegen, interessante Impulse für die Pädagogik zu verpassen. Dennoch ist es wichtig, auf Limitationen hinzuweisen, mit denen es der Transfer zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik grundlegend zu tun hat. Vor dem Hintergrund der oben genannten Verheißungen ist die Beachtung dieser Limitationen für realistische Einschätzungen von grundlegender Bedeutung.
Geht es um die Diskussion der Transferbedingungen von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen in die pädagogische Theorie und Praxis, so geht es ganz wesentlich um die Frage, inwieweit die neurowissenschaftliche Beschreibungsebene dafür geeignet ist, den Gegenstand ‘Lernen‘ als ein pädagogisches Phänomen zu fassen und zu theoretisieren. Hier wird schnell klar, dass die neurowissenschaftliche Lernforschung gegenüber pädagogisch interessierenden Fragestellungen das Problem einer prinzipiellen wie forschungspragmatischen Unterbestimmtheit aufweist (Schumacher und Stern 2012).
Die prinzipielle Unterbestimmtheit betrifft vor allem das Formalobjekt der Hirnforschung, nämlich die Art und Weise, wie das Phänomen des Lernens in neurowissenschaftlichen Beschreibungen konturiert ist. Wie oben dargestellt, wird Lernen neurowissenschaftlich als die elektro-chemische Modulation neuronaler Verbindungen und Netzwerke begriffen, womit sich die Frage ergibt, wie von hier aus pädagogische Aussagen über das Lernen als mentales bzw. bedeutungskonstruierendes Phänomen getroffen werden können. Auf neurobiologischer Grundlage allein lässt sich nicht zwischen einem pädagogisch erwünschten bzw. ‘richtigen‘ und einem pädagogisch uninteressanten oder sogar ‘falschen‘ Lernen diskriminieren, da Unterschiede dieser Art auf biotischer Ebene nicht repräsentiert werden (Schumacher & Stern 2012, 388ff.). Der neurowissenschaftliche Diskurs zeigt sich in Bezug auf diese Transferproblematik durchaus sensitiv, sodass nach Möglichkeiten gesucht wird, die Kluft zwischen biotischen und mentalen Beschreibungsebenen zu überbrücken (vgl. Kapitel 2).
Andere limitierende Faktoren des Transfers zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik finden sich auf der Ebene des Materialobjekts der neurowissenschaftlichen Lernforschung. Hierzu zählt zum ersten, dass die neurowissenschaftliche Lernforschung gegenstandskonstitutiv das Lernen fokussiert, nicht jedoch das Lehren. Pädagogisch relevant ist aber stets der Zusammenhang, der zwischen beiden besteht und folglich auch den Gegenstandsbezug tradierter pädagogischer Bezugsdisziplinen wie Erziehungswissenschaft und psychologischer Lehr-Lern-Forschung darstellt. So ist Voraussetzung für einen pädagogisch relevanten Lernbegriff die Beschreibung des Lernens in seiner Sozialdimension: also als ein interaktionales Geschehen zum Beispiel zwischen Lehrer(in) und Schü-ler(inne)n. Doch selbst in Bezugnahmen auf das Gehirn als „Sozialorgan“ sowie auf Spiegel-Nervenzellen als neuronale Basis eines ‘Lernens am Modell‘ (Hüther 2009a, S. 43; Bauer 2009a, S. 54), wird das Lehren als komplementärer Gegenpart des pädagogisch interessierenden Lernens abgeblendet. Es ist geradezu erstaunlich, wie wenig Bedenken im pädagogisch engagierten Diskurs der Neurowissenschaften der Umstand erzeugt, dass „we know a little of what goes on in the brain when we learn, but hardly anything about what goes on in the brain when we teach”, wie ihre Kolleginnen Blakemore und Frith (2008, S. 118)9 einräumen (vgl. auch Goswami 2008, S. 34 sowie Meyer-Drawe 2008).
An dieses Desiderat schließt – zum zweiten – mit der Inhaltsdimension pädagogischer Vorgänge eine weitere Leerstelle des neurowissenschaftlichen Gegenstandsbezugs auf Lernen an (vgl. Müller 2007, S. 210ff.): Pädagogisches Lernen bezieht sich auf das Lehren und Lernen konkreter Sachverhalte. Deren Inhaltsstruktur prädisponiert wesentlich die operative Struktur ihrer Vermittlung und muss somit als maßgeblicher Faktor für die Gestaltung erfolgreicher Lernarrangements berücksichtigt werden. Pauschalisierende Forderungen, etwa eine beträchtliche Lernflexibilität und Lernleistung in frühen kindlichen Entwicklungsphasen optimal auszunutzen (Braun 2009), verbleiben im Bedeutungshof einer ‘Semantik der Anpassung und Optimierung‘, die aufgrund ihrer weitgehenden Wert- und Inhaltsneutralität pädagogisch unterkomplex strukturiert ist (vgl. Schaller 2012). Sicherlich lässt sich das Abblenden der Inhaltsdimension wie auch des Lehrens in der neurowissenschaftlichen Lernforschung mit dem Verweis auf forschungspragmatische Gründe plausibel rechtfertigen. Es muss dann aber in Rechnung gestellt werden, dass diese Beschränkung die Möglichkeit pädagogischer Schlussfolgerungen aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen stark limitiert. Geschieht dies nicht, so drohen argumentationslogische Inkonsistenzen, wie sie typisch sind vor allem – aber nicht nur – für den populärwissenschaftlichen Diskurs der pädagogisch engagierten Neurowissenschaften. Diese Inkonsistenzen nehmen dann häufig die Gestalt eines „pädagogischen Fehlschluss“ an (Becker 2006, S. 207), bei dem nicht nur von neurowissenschaftlich-deskriptiven Aussagen über das Lernen (Ist-Zustand) präskriptiv darauf geschlossen wird, wie ‘gutes‘ Lernen auszusehen habe (Soll-Zustand), sondern darüber hinaus die so konstruierte Zieldimension in eine Relation zu pädagogischen Mitteln gesetzt wird, die sich aus der neurowissenschaftlich-deskriptiven Referenzbasis logisch gar nicht ableiten lässt (ebd. vgl. auch Kraft 2010, S. 63).
Vor dem Hintergrund der pädagogischen Unterbestimmtheit der Hirnforschung überrascht der optimistische Gestus, mit dem im neurowissenschaftlichen Diskurs verbreitet an der Aussicht auf eine Neufundierung der Pädagogik auf neurowissenschaftlicher Grundlage festgehalten wird – zumeist sogar mit Dringlichkeitsappell. Es ist daher an dieser Stelle angebracht, argumentative Strategien in den Blick zu nehmen, mit denen auftretende Inkonsistenzen überblendet werden. Diese Strategien lassen sich als ‘Umdeutung von Sachproblemen in Kommunikationsprobleme‘ bezeichnen (Müller 2009) und sollen in ihren Varianten im Folgenden dargestellt werden.
7 Siehe kritisch vor allem zum Bezug der pädagogischen Ratgeberliteratur auf die neurowissenschaftliche Emotionsforschung Becker (2008).
8 Es gibt durchaus auch Studien, an denen Menschen partizipieren und die auf dem Einsatz bildgebender Verfahren beruhen (vgl. etwa ein Experiment zur Wort-Memorisierung, das durch die Arbeitsgruppe von Spitzer durchgeführt wurde: Spitzer 2014 S. 165f.). Doch auch hier stehen lediglich basale Emotionen und basales Memorieren im Vordergrund, sodass die emotionalen wie kognitiven Anforderungen pädagogischer Settings in ihrer Komplexität nicht annähernd simuliert werden können. Zudem lässt sich „selbst durch die besten Hirnscannings nicht zwischen verschiedenen Emotionen unterscheiden. Wir wissen also durch den Blick ins Hirn nicht, ob jemand gerade traurig oder fröhlich ist.“ (Schumacher & Stern 2012, S. 391). Neurowissenschaftliche Experimente, die Menschen einbeziehen, sind damit trotz des Einsatzes der Bildgebungsmethoden wesentlich auf Techniken der Befragung und Verhaltensbeobachtung angewiesen.
9 Erste Versuche, die Perspektive auf Lehre in die neurowissenschaftliche Theoretisierungen des Lernens zu integrieren, beschränken sich weithin auf die Interaktion zwischen zwei Gehirnen (vgl. Howard-Jones 2010), also eine bisubjektive Lehrer-Schüler-Beziehung, die der sozialen Komplexität pädagogischer Alltagssituationen (Lehrer-Schüler-Peers-Schulklasse) nicht gerecht wird.
Die Re-Interpretation von Sachproblemen als Kommunikationsprobleme nimmt im neurowissenschaftlichen Diskurs verschiedene Formen an. Die wohl verbreitetste Variante besteht darin, das Sachproblem einer unklaren oder mangelnden pädagogischen Relevanz der Neurowissenschaften schlichtweg zu hintergehen. Hierfür bietet ein Aufsatz der Neurowissenschaftler Devonshire und Dommett (2010), der der Frage nachgeht: „Neuroscience: Viable Applications in Education?“, ein gutes Beispiel. Anhand des Themas ‘Lesefähigkeit’ diskutieren die Autoren die Limitationen einer pädagogischen Aussagekraft der Neurowissenschaften anhand von fünf Analyseebenen neurowissenschaftlicher Forschung: Auf den unteren drei Analyseebenen – der molekularen und genetischen Ebene (1), der Ebene der Neurotransmitter und kleinen Neuronenverbünde (2) und der Syndrom-Ebene (3) – würden in erster Linie pathologische Entwicklungen und Defizitzustände adressiert, wie sie im Fall von Dyslexie oder ADHS auftreten. Pädagogische Schlüsse für normale Entwicklungsverläufe seien aus dieser Forschung nicht abzuleiten, denn das negative Wissen „proves somewhat fruitless for applications to education, beyond suggesting that certain medications may or may not improve reading ability in a specific subset of individuals” (Devonshire & Dommett 2010, S. 351). Nicht-pathologische Ausprägungen von neuronalen Aktivitäts- und Fähigkeitsmustern sowie von Verhalten stünden hingegen auf den zwei anderen Analyseebenen im Fokus: “specific brain regions and circuits” (ebd., S. 351) (4), wo der Einsatz bildgebender Verfahren möglich ist, und die Ebene der Beobachtung von normalem Verhalten (5). Hier sehen die Autoren am ehesten den Ansatzpunkt für eine auch neurowissenschaftliche Forschung von pädagogischer Relevanz. Sie schränken allerdings ein, dass die Untersuchung höherer kognitiver Funktionen – wie sie unzweifelhaft im Fall des Erwerbs von Sprach-, Lese- und mathematischen Fähigkeiten bedeutsam sind – bisher vergleichsweise wenig praktiziert werde, sodass die Ausschöpfung eines möglichen Potentials für die Pädagogik nicht unmittelbar in Aussicht steht: „Again, immediate relevance to education is difficult to see.“ (ebd., S. 351) An dieser Stelle vollzieht aber der Schlussappell des Aufsatzes eine argumentative Volte. Im Impetus der Dringlichkeit appellieren sie, den Dialog zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik zu intensivieren, Forschungsziele abzusprechen und über die Prüfung pädagogischer Interventionskonzepte die pädagogische Praxis effektiv zu orientieren. Warum die neurowissenschaftliche Forschung für diese Aufgabe geeignet sei, erläutern die Autoren nicht.10 Stattdessen müssen sie sogleich wieder einschränken, dass eine brauchbare neurowissenschaftliche Interventionsprüfung sich auf „healthy human participants of the appropriate age in a suitable environment“ stützen müsste – eine Forschungsausrichtung, die aktuell eher rar sei. Die Frage, wie dies mit laborgebundenen bildgebenden Untersuchungsdesigns, die die Komplexität sozialer Interaktionen im Klassenzimmer bei weitem unterlaufen, umzusetzen sei, bleibt unthematisch. Der Dringlichkeitsappell im Resümee wirkt somit merkwürdig unbeeindruckt vom vorangegangenen Argumentationsgang. Das in diesem aufgeworfene Problem von gegenstandsbezogenen und forschungspraktischen Barrieren für die praxispädagogische Verwertbarkeit neurowissenschaftlicher Wissensproduktion solle sich durch einen verstärkten Dialog von Wissenschaft und Praxis angehen lassen. Das ursprüngliche Sachproblem wird so als Kommunikationsproblem neu gerahmt. Diese Argumentationsstrategie ist in der pädagogisch engagierten Literatur der Neurowissenschaften ein immer wiederkehrendes Phänomen.
Auf eine andere, weniger offensichtliche Variante der Umwandlung von Sach- in Kommunikationsprobleme weist kritisch Meyer-Drawe hin, die in vielen Einlassungen der ‘neuro-pädagogischen‘ Literatur einen „bloßen Sprachzauber“ erkennt (2008, S. 74f., Hervorhebung J.F.) – etwa wenn von „‘gehirnbasierter‘ Lehrerausbildung, „‘gehirnmä-ßige[r]‘ Schul- und Lehrplanreform“, ‘gehirnfeindlichem Unterricht‘ die Rede ist oder wenn das Gehirn in seinen biotischen und physiologischen Prinzipien erläutert wird und daraus dann in zweifelhafter Qualität des Deduzierens pädagogische Forderungen formuliert werden, die zwar inhaltlich nicht neu, begrifflich aber neu gerahmt sind (ebd.). Die Problematik dieses Vorgangs sieht sie in der prekären Verheißung, die damit installiert wird: „Mit einer neuen Sprache verbinden sich neue Versprechungen. […] Alle Konflikte werden grundsätzlich als Vermittlungsaufgabe aufgefasst. Sie werden auf der Ebene der Kommunikation und nicht auf der Ebene des Handelns formuliert, wenngleich ständig suggeriert wird, dass hier etwas nie Dagewesenes, Spektakuläres und ungemein Praktisches geschieht.“ (Meyer-Drawe 2008, S. 75) In dieser Lesart poltert auf der Ebene der Kommunikation die Ankündigung des Neuen, während auf der Ebene der Sache das Neue nicht kommt, sondern das Alte – die alten pädagogischen Probleme – fortbesteht.
Allerdings wird mit der neurowissenschaftlichen Rhetorik ein neues Begriffsvokabular installiert, das nicht ohne Auswirkungen bleiben muss auf die Handlungs- und Deutungsmuster seiner Rezipienten (vgl. ebd.; Pongratz 2004; Müller 2013, S. 30f.). Vor allem im öffentlichkeitswirksamen Diskurs populärwissenschaftlicher Sachbücher verengen sich zum Beispiel genuin sozial-dimensionierte Phänomene begrifflich auf die Ebene des Individuums. Es ist dann nicht von Unterricht oder Lehre, sondern „Lernen“ (Spitzer 2014) die Rede, nicht von Erziehung, sondern „Bildung“ (Roth 2015), nicht von Klasse, sondern „Kind“ und nicht von den Risiken und Unwägbarkeiten des pädagogischen Handelns, sondern von einem „Handbuch für den Schulerfolg“ (Korte 2008). Hierbei ist danach zu fragen, ob mit den semantischen Verlagerungen auch Abblendungen einhergehen, die das Selbstverständnis und das Handeln pädagogischer Akteure – seien es Lehrkräfte, Eltern oder sogar Schüler – verändern. Dass sich Begriffe ändern, ist der normale Gang auch wissenschaftlicher Evolution und muss nicht zwangsläufig problematisch sein. Doch wie Müller (2013, S. 31) festhält, sollte der „Rekurs auf eine neurowissenschaftliche Semantik […] uns nicht zu der Annahme verleiten, dass pädagogische Fragen und Probleme durch diesen Rekurs definitiv geklärt sind und im pädagogischen Feld keinerlei Überraschungen mehr auf uns warten“.
Ein neurowissenschaftlich anmutender ‘Sprachzauber‘ oder generell ein unreflektierter Gebrauch neurowissenschaftlicher Semantik, ist dann risikobehaftet, wenn er eine Wirklichkeit vorgibt, die so nicht existiert bzw. mit der empirischen Wirklichkeit in Konflikt steht. Sowohl Neurowissenschaftler als auch seriöse Rezipienten warnen inzwischen vor der Verbreitung sogenannter Neuromythen: Fehlrezeptionen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, die Auswirkungen auf soziale Praxis haben.
Neuromythen können unterschiedliche Ursachen haben (vgl. für den folgenden Abschnitt: Pasquinelli 2012), und stets ist die Wissenschaft aktiv oder passiv durch Bemühungen involviert, wissenschaftliches Wissen zu popularisieren. Im Grunde kann jede Vermittlung eines wissenschaftlichen Sachverhaltes als Popularisierung bezeichnet werden, sobald sie an ein Publikum gerichtet ist, das über den kleinen Kreis an Wissenschaftlern, der direkt mit der Erforschung des Sachverhalts befasst ist, hinausgeht. Das grundlegende Problem jeder Popularisierung ist die mit ihr notwendig einhergehende Simplifizierung. Da die Adressaten, selbst wenn es sich bei diesen um Vertreter benachbarter Wissenschaftsfelder handelt, nur über eine jeweils eingeschränkte Expertise verfügen, muss die Komplexität der Entstehungs- und Begründungskontexte des zu vermittelnden Wissens reduziert werden.11 In den Lücken, die das Weggelassene hinterlässt, lauert die Gefahr für Missverständnisse. Diese wächst, je weniger die Adressaten mit den prinzipiellen Beschränkungen der epistemischen Geltungsansprüche von Wissenschaft sowie mit der jeweils betreffenden Fachexpertise vertraut sind. Tangieren die missverständlich rezipierten Wissenschaftsinhalte offensichtlich oder auch nur augenscheinlich lebensweltliche Problemstellungen, so können sie sich als mehr oder weniger persistierende Mythen kulturell festsetzen.
Neuromythen, die einer übersimplifizierten Popularisierung und Rezeption wissenschaftlichen Wissens geschuldet sind, finden sich zum Beispiel in medial verbreiteten Annahmen über die Bedeutung der Unterscheidbarkeit von Gehirnhemisphären. Wissenschaftliche Erkenntnisse über bestimmte funktionelle Spezialisierungen der Hemisphären haben in der Öffentlichkeit die Fehlannahme provoziert, Menschen ließen sich in eher rechte- oder linke-Gehirnhälfte-Typen unterteilen, und dass es für eine Person von Vorteil sei, durch bestimmte Trainings eine sonst nicht gegebene Balance zwischen den Hemisphären herzustellen (Geake 2008, S. 128). Eine andere Quelle von Neuromythen stellen einst popularisierte wissenschaftliche Hypothesen dar, die innerhalb der Forschung schon wieder verworfen sind, in der Öffentlichkeit aber persistieren. Ein bekanntes Beispiel solch wissenschaftlicher Altlasten ist der sogenannte Mozart-Effekt. In einer Studie unter Erwachsenen, fielen die kognitiven Fähigkeiten im Bereich des räumlichen Denkens höher aus, wenn die Probanden zuvor klassischer Musik gelauscht hatten. Das Forschungsergebnis wurde medial stark verbreitet und in der Öffentlichkeit äußerst populär. Da es aber in nachfolgenden wissenschaftlichen Studien nicht repliziert werden konnte, nahm die Wissenschaft vom Mozart-Effekt bald wieder Abstand. Dessen unbeeindruckt zeigen Umfragen in der Normalbevölkerung noch Jahre später die große Beliebtheit dieser einstigen Hypothese an und ganze Produktketten vermarkten weiterhin erfolgreich klassische Musik als Mittel der Intelligenzförderung bei Kindern.12 Ein weiterer Ursprung von Neuromythen liegt in Fehlinterpretationen experimenteller Forschungsergebnisse. Dies gilt zum Beispiel für die eine übertriebene Auslegung der schon beschriebenen ‘kritischen Zeitfenster‘, bei der nicht hinreichend zwischen einer anatomischen und einer funktionalen Plastizität des Gehirns unterschieden wird (Pasquinelli 2012; Stern et al. 2005).
Was sind nun aber die Gründe für die weite Verbreitung vielfältiger Neuromythen? Hier lässt sich zuerst auf die Seite der Wissenschaft blicken. Sicherlich: „Neuromyths would not exist unless neurosciences had breached the perimeter of the scientific community and reached the laypeople by means of popular media.“ (Pasquinelli 2012, S. 90, Hervorhebung weggelassen, J.F.). Der Gedanke einer gezielten Fehlinformation der Öffentlichkeit durch die Neurowissenschaften kann allerdings mit ebenso großer Sicherheit vernachlässigt werden. Nichtsdestotrotz suggeriert Bruer (2006) eine gewisse Mitschuld der Neurowissenschaften. Neurowissenschaftler müssen sich demnach stärker Rechenschaft darüber ablegen, ob sie nicht durch wissenschaftlich ungedeckte Spekulation – und seien diese auch „most innocent“ (ebd., S. 106) – über den praktischen Nutzen ihrer Forschung ganz wesentlich zu Fehlerwartungen seitens der pädagogischen Praxis und der weiteren Laienöffentlichkeit beitragen. Bruers Aufforderung läuft darauf hinaus, dass die Neurowissenschaften in der Außenkommunikation ihrer Forschungsleistungen eine prophylaktische Selbstbescheidung einbauen sollen. Diese könnte im Verzicht darauf liegen, aus deskriptiv-neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, pädagogisch-präskriptive Schlüsse zu ziehen (Christodoulou & Gabb 2009, S. 555). Sie müsste des Weiteren darin bestehen, nur solche Befunde als Erkenntnisse zu kommunizieren, die wissenschaftlich tatsächlich stabilisiert sind, sei es mithilfe von Wiederholungsstudien, die die Reliabilität der Ergebnisse anzeigen, oder durch den Verzicht auf die Popularisierung von Forschungsergebnissen, die nicht durch peer-review-Verfahren zusätzlich geprüft sind. Beide Formen der Selbstbescheidung laufen allerdings gegen den Trend in jenen Anteilen der Neurowissenschaften, die gerade ihr pädagogisches Engagement weniger im Austausch der wissenschaftlichen Disziplinen, als vielmehr über den Kanal der öffentlichkeitswirksamen Popularisierung betreiben. Zudem beißt sich gerade die erste Form mit einem Kommunikationsgebaren, das die Wissenschaftshistoriker Hagner und Borck als die „proleptische Struktur“ (hier zitiert nach Slaby 2011, S. 378) in der Außenkommunikation der Neurowissenschaften bezeichnet haben: der stetige Verweis auf eine nahe Zukunft, in der sich die neurowissenschaftliche Forschung in größtem Praxisnutzen auszahlen werde. Stellt man allerdings die legitimatorische Funktion in Rechnung, die eine solche Argumentationsstrategie in Hinsicht auf Ansprüche der Forschungsfinanzierung erfüllt, so ist nicht zu erwarten, dass Bruers Forderung nach Selbstbescheidung durch die Neurowissenschaften demnächst erfüllt wird.
Abseits des neurowissenschaftlichen Beitrags zur Verbreitung von Neuromythen lassen sich Bedingungsfaktoren identifizieren, die auf der Seite der Rezipienten wissenschaftlichen Wissens wirken. Ein ausreichend integratives Konzept, das hier in Anschlag gebracht werden kann, haben Racine et al. mit dem Begriff des ‘Neuro-Realismus‘ geliefert (Racine et al. 2005). Neuro-Realismus tritt auf, wo der Realitätsnachweis eines Phänomens von seiner neurowissenschaftlichen Beschreibbarkeit abhängig gemacht wird, unabhängig davon, inwieweit diese in Bezug auf alternative Beschreibungszugänge überlegen oder unterlegen ist.13 Während Racine et al. (2005) ihre Beobachtungen auf Medienberichte über die Ergebnisse neurowissenschaftlicher Bildgebungsstudien stützen, lässt sich das Konzept auf jegliche Art neurowissenschaftlicher Forschung ausweiten.14 In der Medienberichterstattung über Neurowissenschaften ist die Weitergabe irrelevanter und die Auslassung relevanter Informationen