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Ihre Namen sagen uns heute wenig: Friedrich Gustav Jacob Henle, Clara Immerwahr, Gustav Weil oder Hermann und Leonhard Tietz. Wenn man aber bedenkt, dass der Anatom Henle als Könner am Mikroskop der erste war, der sich teilende Zellkerne dokumentierte und Clara Immerwahr eine der ersten Frauen Deutschlands, die studierte und als Chemikerin promovierte, dass wir ohne Gustav Weil die Märchen von Tausendundeiner Nacht im Deutschen nicht lesen könnten und die Gebrüder Tietz mit der "Erfindung" des Warenhauses und der Begründung von Hertie und Galeria Kaufhof unser Einkaufsverhalten auf lange Zeit revolutionierten, dann wird klar: Jüdische Frauen und Männer des 19. Jahrhunderts haben unsere Kultur nachhaltig geprägt. Das Buch stellt zwanzig jüdische Persönlichkeiten vor – von bekannten wie Levy Strauß oder Abraham Mendelssohn Bartholdy bis hin zu heute weitgehend unbekannten Männern und Frauen. Es gewährt Einblick in deren Lebenswelt, in religiöse Traditionen und gesellschaftliche Milieus der damaligen Zeit und zeigt, dass jüdisches Leben aus unserer Kultur nicht wegzudenken ist – weder gestern noch heute.
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Bildnachweis: Titel: (v.l.n.r., oben) Rudolph Hoffmann/Wikipedia, Wilhelm Hensel/Wikpedia, (unten beide) Wikipedia; Seite 8: Bamberger „Die Gartenlaube“/Wikipedia; Seite 29: Johann Karl Heinrich Kretschmar/Wikipedia; Seite 42: ullstein bild; Seite 55: Welcome Collection/Wikipedia; Seite 66: Smithsonian Institution Libraries/Wikipedia; Seite 76: Wikipedia; Seite 88: Rudolph Hoffmann/Wikipedia; Seite 112: Robert Krewaldt/Wikipedia; Seite 124: „Die Gartenlaube“ (1883)/Wikipedia; Seite 136: Wilhelm Hensel/Wikpedia; Seite 152: Félix Nadar/Wikipedia; Seite 166: Moritz Daniel Oppenheim/Jewish Museum, New York/Wikipedia; Seite 183: Archiv/Rosenthal GmbH; Seite 190: Brendel Veit/Alte Nationalgalerie/Wikipedia; Seite 214: Wikipedia; Seite 227: Hermann Tietz/ullstein bild; Seite 244 + Umschlagrückseite: Weil F. Langbein & Co. Heidelberg/Wikipedia;
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Gesamtgestaltung: Anja Haß, Leipzig
ISBN 978-3-96038-250-8
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Impressum
Ludwig Bamberger (1823–1899) Bankier und Politiker
Amalia Beer (1767–1854) Salonnière
Hermann Burchardt (1857–1909) Forschungsreisender
Ferdinand Julius Cohn (1828–1898) Mikrobiologe
Adolph Frank (1834–1916) Chemiker
Clara Haber, geb. Immerwahr (1870–1915) Chemikerin
Friedrich Gustav Jakob Henle (1809–1885) Anatom
Heinrich Rudolf Hertz (1857–1894) Physiker
Jenny Hirsch (1829–1902) Frauenrechtlerin
Abraham Mendelssohn Bartholdy (1776–1835) Bankier
Jakob „Jacques“ Offenbach (1819–1880) Komponist
Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882) Maler
Philipp Abraham Rosenthal (1855–1937) Unternehmer
Dorothea Friederike Schlegel (1764–1839) Schriftstellerin
Levi (Löb) Strauss (1829–1902) Unternehmer
Hermann Tietz (1837–1907), Leonhard Tietz (1849–1914) und Oscar Tietz (1858–1923) Unternehmer
Gustav Weil (1808–1889) Orientalist
In meinem Heimatdorf südlich von Leipzig – wegen des Braunkohleabbaus inzwischen überbaggert – wohnte ein Jude mit dem Vornamen Oscher. Dass er mit einer Nichtjüdin verheiratet war, half ihm nicht lange. 1940 verhaftete ihn die Gestapo und verbrachte ihn in das Konzentrationslager Theresienstadt. 1945 kam er frei und konnte, zwar gesundheitlich angeschlagen, aber sonst unversehrt, zu seiner Familie zurückkehren. Juden kannte ich zu der Zeit nur aus der Bibel. Das waren literarische und vor Zeiten lebende Personen. Oscher aber war real und präsent. Hin und wieder kam ich mit ihm ins Gespräch und erfuhr von seinem Leben als Jude in Galizien und in Deutschland. Aus den Begegnungen mit diesem jüdischen Mann resultiert wohl mein Interesse für das Alte Testament, für das Land Israel und für die hebräische Sprache.
Da ich zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit als Pfarrer vor allem mit Jugendlichen zu tun hatte, war es mir wichtig, ihre Vorstellungen vom Judentum zu korrigieren, wenn sie mir falsch erschienen. Aber auch Erwachsene wollten häufig mehr über die Juden und deren Geschichte wissen. Mithin beschäftigte mich das Thema immer wieder. Aber erst als Ruheständler hatte ich endlich Zeit, den herausragenden Leistungen vieler deutscher Juden nachzugehen. Dabei ist es mir wichtig zu zeigen, dass Juden eben nicht nur Händler und Finanzdienstleister waren, sondern auch engagierte Kämpfer für die Einheit Deutschlands und Beförderer von Wissenschaft und Kultur.
Und warum geht es um jüdische Persönlichkeiten gerade des 19. Jahrhunderts? Dieses Jahrhundert war für die jüdische Emanzipationsbewegung von großer Bedeutung, weil in den deutschen Ländern zu der Zeit Dekrete erlassen wurden, die den Juden nach und nach eine formaljuristische Gleichstellung gewährten. Sie waren nun nicht mehr geduldete Fremdlinge, die nur durch Zahlung hoher Geldbeträge sogenannte Privilegien – Sicherheiten oder Zugeständnisse – erwerben konnten.
In den großen Städten entstand eine jüdische Reformbewegung, die sich bemühte, jüdisches Leben dem deutschen anzupassen. Die Emanzipationsbewegung zwischen den Jahren 1815 und 1850 bewirkte, dass aus jüdischen Hausierern und Trödlern Ladenbesitzer, Großhändler, Fabrikanten, Literaten und geniale Wissenschaftler wurden. Deutsche Juden waren auch entscheidend daran beteiligt, dass im 19. Jahrhundert die geistigen, technischen, politischen und sozialen Grundlagen für das 20. und 21. Jahrhundert geschaffen wurden.
Ziel des Buches ist es, eben dies durch das Wirken der darin vorgestellten Persönlichkeiten erkennbar werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund wurden bekannte und weniger bekannte jüdische Frauen und Männer ausgewählt, die Bedeutendes geleistet haben und paradigmatisch für ihre Zeit stehen.
An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, meiner Frau ganz herzlich dafür zu danken, dass sie meine Arbeit fachlich und stilistisch begleitet und mir manche Anregung gegeben hat.
Ekkehard Vollbach,
Leipzig, im Januar 2020
Ludwig Bamberger
* 22. Juli 1823 in Mainz
† 14. März 1899 in Berlin
Vom Revolutionär entwickelte sich der Bankier und Finanzpolitiker Bamberger zu einem Verehrer Bismarcks. Er gehörte zu den Gründern der Deutsche Bank AG und war nach dem Bruch mit Bismarck Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei.
Welch ein außergewöhnliches Leben: vom Pfälzer Schwurgericht in Zweibrücken zum Tode verurteilt und im gleichen Jahr Eheschließung durch den Rotterdamer Bürgermeister. Ludwig Bamberger, dem ebendieses Kunststück gelang, wurde am 22. Juli 1823 in Mainz geboren.
Sein Vater August Bamberger (1790–1858) wird als ein unbedeutender Mann beschrieben, der zuerst als Hausierer tätig und später Miteigentümer eines Bankhauses war. Seine zwölf Jahre jüngere Frau Amalie (Amele), geb. Bischofsheim (1802–1877), galt als lebhafte und geistvolle Mainzerin, die in kritischen Augenblicken durch die richtigen Worte zu deeskalieren vermochte. Ihr Vater Raphael Bischofsheim war ein wohlhabender Kaufmann.
Ludwig, zweites von sechs Kindern, besuchte ein katholisches Gymnasium in Mainz. Wie er in seinen Erinnerungen festhielt, gab es wegen der unterschiedlichen Konfessionen unter den Gymnasiasten keine Raufereien. Im Gegenteil, seine katholischen Klassenkameraden baten den Juden Ludwig Bamberger um Hilfe beim Ausfüllen ihres Beichtzettels. Es war wohl eine Art Sport unter den Jungs, möglichst viele (glaubhafte) Sünden auf dem Zettel zu haben, darum die Aufforderung: „Du, Bamberger, weißt du mir nit noch a Sünd?“
Als Gymnasiast lernte Ludwig noch Mainzer Bürger kennen, die in Erinnerungen an den „Club der Freunde der Gleichheit und Freiheit“ schwelgten. Die Mitglieder dieses „Clubs“ (darunter Schriftsteller, Gelehrte, Professoren) setzten sich enthusiastisch für die Ideale der Französischen Revolution ein. Und noch 40 Jahre später konnten die „Clubisten“ junge Leute – wie Ludwig Bamberger – für die freiheitlichen Ideen der Revolution begeistern. Die spießigen und verkrusteten Verhältnisse, in denen der junge Bamberger lebte, und sein starker „Oppositionsgeist“ drängten ihn mit Macht dazu, für Veränderungen im Land Partei zu ergreifen.
Im Jahr 1842 begann er mit dem Philosophiestudium an der Landesuniversität Gießen. Diese Stadt empfand er als „ein abscheuliches Nest, von aller Cultur unberührt“. Anders sah das der berühmte Justus von Liebig (1803–1873), der noch zur Zeit Bambergers in Gießen lehrte – übrigens 28 Jahre lang – und Berufungen nach Göttingen, Wien, London oder Heidelberg ausschlug.
Ludwig besuchte nicht nur die Kollegs der Juristen. Vor allem die philosophischen Lehrveranstaltungen des liberalen und demokratisch gesinnten Privatdozenten Moriz Philipp Carriere (1817–1895) beeindruckten ihn sehr. Beide verband trotz wachsender Differenzen eine lebenslange Freundschaft.
Der Jurastudent Bamberger beschrenkte sich nicht auf sein Fach, sonder las auch viele philosophische und belletristische Bücher und suchte mit Eifer nach Wahrheit und Erkenntnis. Ihn interessierten vor allem die Schriften der Hegel-Schule.
Bereits nach dem zweiten Semester verließ Bamberger 1843 Gießen, da ihm das Studium an dieser Universität zu abstrakt erschien, und ging nach Heidelberg. Hier freundete er sich mit dem späteren Rechtsanwalt und Politiker Friedrich Kapp (1824–1884) und dem künftigen Reichstagsabgeordneten Heinrich Bernhard Oppenheim (1819–1880) an. Bamberger wurde Mitglied der freien burschenschaftlichen Verbindung Walhalla.
Da das Wissen der drei Jurastudenten zu dieser Zeit nicht den Anforderungen eines Staatsexamens genügte und es damals noch keine Repetitorien für Jurastudenten gab, suchten sich die drei Freunde eine Universität, an der sie glaubten, bei weniger Ablenkung zielstrebig „ochsen“ zu können. Die Wahl fiel auf das damals noch ländliche Göttingen. Dort wohnte Bamberger 1844 mit den zwei Kommilitonen in einer Art WG. Die Herren hatten sich einen straffen Tagesplan auferlegt: Von sieben Uhr bis zum Mittagessen Lernen, ebenso von 15 Uhr bis 18 Uhr. Später konnte musiziert oder gelesen werden. Ein Kolleg besuchte Bamberger in dieser Zeit nicht und doch bestand er 1845 in Gießen das Fakultätsexamen „ohne Beklemmung“. Nun war er Rechtsakzessist (Referendar). Als solcher wurde er der Kanzlei des Appellhofs in Mainz (Berufungsgericht) zugeteilt. Zwei Jahre später legte er die zweite juristische Prüfung ab. Und wie weiter? In den Staatsdienst wurde er als Jude nicht übernommen – das war aussichtslos.
Während er sich volkswirtschaftliche Kenntnisse aneignete, erreichte ihn die Nachricht vom Ausbruch der Revolution im Februar 1848 in Frankreich. Sofort reiste er mit einem Freund nach Straßburg, um das revolutionäre Flair zu erleben. Als aber die Franzosen sie als Deputierte der deutschen Studentenschaft feierten, bekamen sie kalte Füße und verschwanden wieder in Richtung Deutschland. Doch das kurze Frankreichabenteuer hatte Folgen: Bereits im Frühjahr 1848 wurde ein Untersuchungskommissar mit Ermittlungen zur Person Bambergers beauftragt. Der machte folgende Angaben:
„Bamberger, Ludwig, Gerichtsakzessist aus Mainz Alter: 25 Jahre / Statur: schlank, hager / Haare: rot / Stirn: gewölbt / Augenbrauen: blond Augen: grau / Nase: spitz / Gesichtsfarbe: blass und trägt eine Brille“
Bamberger bewarb sich bei der Mainzer Zeitung und konnte dort als Journalist tätig sein. Bekannt wurde er durch einen Leitartikel, in dem er schrieb:
„Der einstimmige Ruf nach einem Parlament ist bloß der Ausfluß der allgemein und ohne Widerspruch anerkannten Wahrheit: daß nichts wünschenswerter sei, als Deutschland in einen einzigen Staat verwandelt zu sehen.
Er beteiligte sich an den „Mainzer Forderungen“, die die hessische Regierung zu Veränderungen drängten. Federführend dabei war der Chef der Demokratischen Linken im Großherzogtum Hessen-Darmstadt, der Rechtsanwalt und Oberst der Mainzer Bürgerwehr, Franz Heinrich Zitz (1803–1877). Auf den Straßen von Mainz sang man damals den Gassenhauer: „Hecker, Struve, Zitz und Blum / Kommt und stoßt die Fürsten um.“
Die journalistische Tätigkeit Bambergers, in der er offen die Bildung einer Republik forderte, weckte auch das Interesse von Karl Marx. Der wollte Bamberger für den Bund der Kommunisten gewinnen, doch Bamberger störte sich an dem „herausfordernden kalten Diabolismus“ (Aggressivität, Bösartigkeit) der Marxisten. Er schloss sich Robert Blum an, dem Führer der radikalen Demokraten in der Frankfurter Nationalversammlung. In seinen Erinnerungen schrieb er über Blum: „Bei Blums Anblick konnte man zweifeln, ob er ein Brauer oder ein Zimmergeselle sei, vierschrötig, eckig, struppig, stumpfnasig, durch und durch derb, meist in Hemdsärmeln, wie geschaffen, das idealisierte Proletariat zu repräsentieren.“
Im April 1848 trat Bamberger bei einer großen Volksversammlung in Mainz als Redner auf. Er plädierte für eine republikanische Form des künftigen Deutschen Reiches. Da sein Verleger wegen Bambergers republikanischer Radikalität Ärger mit einflussreichen Leuten befürchtete, entließ er den leidenschaftlichen Republikaner. Bamberger und andere gründeten einen „demokratischen Verein“, dem zwar offiziell Franz Zitz vorstand, Bamberger jedoch derjenige war, der den Verein inhaltlich prägte und motivierte. Nachdem Zitz infolge des Pfingstweidenaufstandes Mainz verlassen musste, war Bamberger mithin gezwungen, den demokratischen Verein allein weiterzuführen. (Nach der Volksversammlung auf der Pfingstweide in Frankfurt, bei der Zitz als Redner aufgetreten war, provozierten antidemokratische Kräfte einen Aufstand, der dann blutig niedergeschlagen wurde.)
Nach nur zweistündigem Prozess wurde Robert Blum am 9. November 1848 in Wien trotz seiner Abgeordnetenimmunität erschossen. Daraufhin fanden in vielen Orten Trauerfeiern für den Ermordeten statt. So auch in Mainz. Wie alle, die zur Trauerfeier kamen, war auch Bamberger voller Zorn über diese Bluttat. Vor der Büste Blums und der roten Fahne stellte Bamberger fest, die Monarchie sei nun erst recht verloren. Und voller Eifer startete Bamberger einen scharfen verbalen Angriff gegen die tieferen Urheber und Mitschuldigen des Mordes (an Blum), gegen die Volksfeinde im Parlament und die in der Reichsregierung, an deren Spitze der „edle Heinrich von Gagern“ (Präsident der Frankfurter Nationalversammlung) stehe. Schließlich ließ sich Bamberger zu dem berühmten Satz hinreißen: „Es liegt noch ein Ozean von Bluttränen zwischen uns und dem neuen Land der Freiheit“, der als Aufruf zum blutigen Kampf verstanden wurde. (Diese Rede blieb zwar vorerst ohne Folgen, aber nach der Niederschlagung der Aufstände in der Pfalz und in Baden im Jahr 1849 entsann man sich dieser Rede und des Satzes von den „Blutstränen“. Bamberger wurde am 21. März 1851 wegen dieser Rede angeklagt und contumaciam – in Abwesenheit des Beklagten – zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.)
Zwei Monate nach der Konstituierung des Frankfurter Parlaments war Bamberger von dessen Arbeit und Durchsetzungsvermögen schwer enttäuscht. Er war nunmehr überzeugt, dass nur eine Opposition im Lande, außerhalb des Parlaments, wirklich Veränderungen schaffen könne. Er wünschte sich eine zweite Revolution. Und im Mai 1849 setzte er diese Überlegungen in die Tat um. Am 7. Mai 1849 zog Bamberger an der Spitze eines Freiwilligenkorps in Richtung Pfalz, um die preußische Invasion in die Pfalz zu verhindern. Bambergers Euphorie und Siegesgewissheit schwand allerdings sehr rasch, als er in Wörrstadt den Zustand der „revolutionären Truppe“ sah, deren Unordnung und Disziplinlosigkeit, aber auch die Unfähigkeit einzelner Führer. Er machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl und erteilte den Rat, die Freischar den Heimweg antreten zu lassen. Doch es kam, wie Bamberger es befürchtete: Die Freischar erlitt bei Kirchheimbolanden (im Südosten von Rheinland-Pfalz) im Kampf gegen 3.000 Preußen eine schmerzliche Niederlage. Bambergers Befehl zum Rückzug erreichte die Nachhut nicht. Deren Kämpfer wurden alle von den Preußen erschossen.
Am 18. Juni 1849 gingen die Revolutionäre aus der Pfalz über den Rhein, um sich mit den badischen Freischaren zu vereinigen, doch die Freikorps hatten gegen die gut ausgerüstete, disziplinierte und erfahrene Armee der Preußen keine Chance. Nachdem diese die Festung Rastatt, die letzte Bastion der Aufständischen, eingenommen hatten, war das Ende der Revolution gekommen. Bamberger erklärte sie am 20. Juli 1849 für gescheitert. Er und Franz Zitz flohen in die Schweiz. Dort trafen sie auf eine ganze Reihe deutscher Politiker und Kämpfer. Vor ihnen allen stand die Frage, was sie nun tun und wovon sie leben sollten.
Friedrich Kapp und Franz Zitz setzten sich in die USA ab und eröffneten dort eine Anwaltskanzlei. Auch Ludwig Bamberger dachte daran, sich als Anwalt in den USA niederzulassen, aber er ging dann doch einen anderen Weg.
Seine Mutter stammte aus jener Familie, der das Bankhaus Bischofsheim in Mainz gehörte. Ihre Brüder Louis Raphael (1800–1873) und Jonathan Raphael (1808–1883) heirateten die Schwestern Amelie und Henriette Goldschmidt, deren Vater ebenfalls Bankier war. Die Familie riet dem flüchtigen Revolutionär Ludwig, in ein Bankgeschäft der Familie einzutreten. Die Brüder Bischofsheim gründeten Banken in Antwerpen, Amsterdam und Paris. Ein Verwandter seiner Frau war auch bereits in London aktiv. Er gründete das Bankhaus Bischofsheim, Goldschmidt & Avigdor, das später sein Sohn Henry Louis (1829–1908) übernahm. Nach London also sollte nun der 26-jährige promovierte Volljurist reisen, um als Banklehrling ein neues Leben zu beginnen. Aber so einfach war das nicht. Der flüchtige Revolutionär wurde nämlich an der Grenze vom französischen Präfekten, der die Reisepapiere ausstellen sollte, gefragt, ob er es sei, der die Regierung gestürzt habe. Bamberger antwortete dreist, er habe dies nur in ungenügendem Umfange getan. Diese kesse Antwort erschwerte die Aushändigung der notwendigen Papiere natürlich erheblich.
Der Leiter der Bank in London war ein Schwager der Bischofsheims, ein „Doktor utriusque iuris“. Er hatte Verständnis für die demütigende Situation, in der sich nun der Akademiker Bamberger mit seinen glänzenden Abschlüssen befand. Der musste sich als blutiger Anfänger wie ein kleiner Lehrling die gewöhnlichsten Dinge des Bankgeschäfts aneignen und lernen, was Debet, valutarisches Saldo, Aktiva, Passiva und anderes in der Welt der Banker bedeuten. Er lernte das Bankwesen von der Pike auf, was ihm später sehr zugute kommen sollte. Übrigens, der erste Schritt zur Anpassung an das neue Metier war die Rasur des „anstößigen“ Vollbarts, denn der Vollbart war zu der Zeit das äußere Kennzeichen eines Revolutionärs. Nach der Bartabnahme erkannten ihn selbst seine Freunde und Bekannten nicht. Die Bank, an der er lernte, tätigte ausländische Bankgeschäfte, Kommissionsgeschäfte für Auslandskunden und die Arbitrage (Bankgeschäfte, die durch Kurs-, Preis- oder Zinsunterschiede Gewinn bringen) in Wechseln, Edelmetallen und Effekten.
Da es Bamberger in England nicht sonderlich gefiel, folgte er einem seiner Onkel, der 1850 Vorstand der Filiale des Bankhauses Bischofsheim in Antwerpen wurde. Aber gerade zu der Zeit sollten alle ausländischen Flüchtlinge Belgien auf polizeiliche Anordnung hin verlassen. Das bereitete Ludwig Bamberger nun wieder ein Problem, doch die Intervention seines angesehenen Onkels verschaffte ihm das Bleiberecht. 1851 konnte er seine Banklehre beenden. Er ging nach Rotterdam und gründete dort seine eigene Bank „L. A. Bamberger & Co.“. Er hatte tatsächlich ein wenig Erfolg, konnte sich sogar ein Haus kaufen, als ihn die Nachricht erreichte, dass er von den Pfälzer Assisen (Schwurgericht) in Zweibrücken zumTode verurteilt worden war, „zu vollziehen auf dem Marktplatz von Zweibrücken“.
Dennoch heiratete er frohgemut am 5. Mai 1852 seine Cousine Anna Belmont aus Alzey (Nähe Worms). Der Vater der Braut war ein Handelsmann in Alzey. Bamberger nannte ihn in seinen Erinnerungen einen Harpagon (Geizhals) in des Wortes verwegenster Bedeutung. Er war zwar seit vielen Jahren getrennt von seiner Frau (Schwester der Mutter Bambergers), doch seine Tochter Anna lebte unter den abenteuerlichsten Verhältnissen beim Vater – wenn auch nicht bei diesem selbst, sondern bei einem Pflegevater, der Dorfmusikant war. Später kam Tochter Anna in ein Pensionat in Mannheim. Das begabte Mädchen hatte sehr bald ihre Wissenslücken geschlossen, so dass sie später in Paris einen Salon führen, andere Salons besuchen und mit gebildeten Leuten verkehren konnte. Der „väterliche Consens“, die Zustimmung des Brautvaters zur Hochzeit, musste erst vor Gericht erstritten werden. Man mochte es gar nicht glauben: Statt eines Hochzeitsgrußes sandte der Vater den Brautleuten einen Fluch! Und es gab noch ein Hindernis: Der Flüchtling Bamberger besaß die für die Eheschließung notwendigen Ausweispapiere nicht. Sie mussten erst mit einigen Schwierigkeiten beschafft werden. Nachdem das geschafft war, wurde das Paar am 5. Mai 1852 vom Rotterdamer Bürgermeister in Anwesenheit weniger Freunde und Bekannter getraut. Ein Onkel bot Ludwig an, als Prokurist die Bischofsheimer Bank in Paris zu führen. Er sollte dafür sogar einen (allerdings kleinen) Gewinnanteil erhalten. Ludwigs Frau Anna war begeistert und bestürmte ihren Mann, er möge doch den Posten in Paris annehmen. Für sie hatte Rotterdam – eine damals nicht gerade kultivierte Handelsstadt – wenig Reiz. Dazu kam, dass wahrscheinlich das Bankhaus L. A. Bamberger & Co. keine großen Gewinne machte. Wie dem auch sei, im Herbst 1853 wurde Bamberger Prokurist des Bankhauses Bischofsheim in Paris.
Aber als Flüchtling konnte Bamberger nicht einfach so von Belgien nach Frankreich reisen. Ein Freund half ihm mit einem Trick, die Grenze zu passieren. Einmal über die Grenze gekommen, blieb er unangefochten, obwohl ihn die Polizei überwachte. In der Polizeiakte wurde er als Bandenführer bezeichnet, der das Blutbad in der Pfalz angerichtet hatte. Bamberger erhielt in Paris lediglich ein Bleiberecht. Das heißt, die Polizei konnte ihn jederzeit aus Paris, der damals reichsten Stadt in Europa, ausweisen. In der französischen Hauptstadt besuchte Bamberger vor allem Salons, in denen gegen Kaiser Napoleon III. polemisiert wurde, er selbst war aber politisch in keiner Weise aktiv.
Der veritable Vertreter des Bankhauses Bischofsheim hatte nicht nur gute Kontakte zu Personen aus Politik und Wirtschaft, er begegnete auch Schriftstellern wie Iwan Turgeniew oder George Sand, Dichtern wie Alphonce de Lamartine und Komponisten wie Giacomo Meyerbeer. Bambergers Frau, die ja, wie bereits erwähnt, sehr begabt war, konnte in Paris selbst einen eigenen Salon führen und vielerlei Verbindungen pflegen.
Gegen die Politik Napoleons III. und dessen Diktatur hatte sich längst eine aus unterschiedlichen Gruppierungen bestehende Opposition gebildet. Führende Oppositionelle waren Kunden der Bank Bischofsheim.
Als er mit seinem Onkel über die eigene Vermögenslage und die Sicherstellung Annas im Falle seines Todes verhandelte, meinte der, sein Neffe Ludwig würde durch seine Schriftstellerei dem Kontor einen Teil seiner Kräfte entziehen, darum sei die nicht so hohe Beteiligung Ludwigs am Gewinn rechtens.
Die Einschätzung des Onkels war nicht von ungefähr, denn Bamberger hatte sich tatsächlich außerordentlich bemüht, Paris von allen Seiten kennenzulernen – eben nicht nur die Salons der Künstler und die Gesellschaften der Reichen und der Schönen, sondern auch die Gassen der Straßenkehrer und das Leben der brotlosen Emigranten. Während dieser Zeit stand er der Bank in der Tat nicht zur Verfügung. Hinzu kam, dass sich Bamberger auch noch die Zeit nahm, die deutsche Politik ständig genau zu beobachten. Er blieb die ganze Zeit seines Exils an den Geschehnissen in Deutschland und den dortigen politischen Entwicklungen interessiert.
Anlässlich des Regierungsantritts Wilhelms I. in Preußen am 12. Januar 1861 wurde in Deutschland eine Generalamnestie verordnet. Der völlige Straferlass galt auch für alle diejenigen, die wegen politischer Dinge verurteilt worden waren. (Die badische Regierung verkündete die Generalamnestie allerdings erst mit Dekret vom 7. August 1862.) In der Allgemeinen Zeitung von Augsburg konnte man daraufhin am 1. Oktober 1862 folgende Mitteilung lesen:
„Das großherzogliche Ministerium hat unserem in Folge der politischen Ereignisse des Jahres 1849 flüchtigen Landsmanne Dr. Ludwig Bamberger, seit längerer Zeit schon Chef des Bankhauses Bischofsheim, Goldschmidt & Comp. in Paris auf eine Eingabe seiner bejahrten Mutter dahier gestattet, zum Zwecke des Besuches seiner Familie in Mainz einen vorübergehenden Aufenthalt zu nehmen, jedoch unter der Bedingung, sich während seines Hierseins aller politschen Tätigkeit zu enthalten.“
In seiner Gedächtnisrede zur Erinnerung an den demokratischen Politiker und das ehemalige Mitglied der Nationalversammlung August Heinrich Simon (geb. 1805), der 1860 bei Murg am Walensee (Schweiz) ertrank, bekannte sich Bamberger nochmals zu seiner demokratischen Vergangenheit. Er veröffentlichte eine ganze Reihe publizistischer Schriften. Darin vertrat er unter anderem die Ansicht, „daß Preußen, welches allein etwas Bleibendes für Deutschland geschaffen, den Beruf zur Oberherrschaft in Deutschland besitze“. Seinen ehemaligen Weggenossen in Süd- und Westdeutschland empfahl er, sich mit Preußen zu verbinden.
Im Jahr 1866 schickte ihn seine Bank nach Berlin, um mit dem „europäischen Eisenbahnkönig“, dem Großunternehmer Bethel Henry Strousberg (1823–1884), über eine Beteiligung an dessen Eisenbahnunternehmung zu verhandeln. Im gleichen Jahr verließ Bamberger die Bank Bischofsheim. Der Abschied von Paris fiel Bamberger nicht leicht. Vor allem seine Frau konnte sich nur sehr schwer von Paris trennen, denn sie hatte sich wunderbar eingelebt. (Sie erkrankte noch im gleichen Jahr an einem Krebsleiden, dem sie nach acht Jahren, am 19. Dezember 1874, erlag.)
Bamberger wollte nun nicht mehr dem Geschehen in Deutschland passiv zuschauen, darum wurde er Mitglied der nationalliberalen Partei. Er war inzwischen vom Idealisten und Republikaner zum „Vernunftsmonarchisten“ mutiert und von Bismarcks Persönlichkeit und dessen Taten ganz erfüllt. Er unterstützte die Bismarck’sche Politik mit „Wort und Tat“.
Breits 1869 lag dem ein Jahr zuvor gegründeten Zollparlament eine Petition hinsichtlich einer Münzreform vor. Nationalgesinnte Abgeordnete wollten vor allem das Dezimalsystem und die Goldwährung einführen. Wie notwendig eine grundlegende Reform des Währungssystems in Deutschland war, zeigen folgende Fakten: Durch Verträge zwischen den Zollvereinsländern konnte zwar die Anzahl der Währungen auf deutschem Gebiet bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stark reduziert werden. Aber auch noch nach der Reichsgründung kursierten in den 25 Bundesstaaten sieben unterschiedliche Währungssysteme mit 117 Banknoten und 119 Münzen. Besondere Probleme bereitete die enorme Vielfalt des Kleingeldes. Diese Münzen waren nämlich nur schwer und nur unter deutlichen Verlusten in die Währung eines benachbarten Bundeslandes umzutauschen. Bereits 1857, als der Münzvertrag zu Wien zustande kam, wurde gefordert, dass man von der zu dieser Zeit üblichen Silberwährung zur Goldwährung übergehen solle. Im August 1871 tagte in Lübeck der volkswirtschaftliche Kongress, auf dem beschlossen wurde, dass in Hinblick auf eine künftig einheitliche Währung folgende Vorgaben zu berücksichtigen wären: 1. dass das neue Münzsystem von der Talerwährung abzuleiten ist, 2. dass das Dezimalsystem ins Münzsystem einbezogen wird und 3. dass die Goldwährung eingeführt wird. Alle drei Forderungen wurden von Bamberger stark unterstützt.
Gottlieb Adelbert Delbrück (1822–1890), Inhaber der Bank Delbrück, Leo & Co., konnte inzwischen den Banker und Politiker Ludwig Bamberger für seine Idee gewinnen, eine Bank zu gründen, deren Schwerpunkt die Erleichterung der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und den überseeischen Märkten sein sollte. Beide widmeten sich dieser Idee mit Kräften. Am 18. März 1870 konnte die preußische Staatsregierung schließlich die notwendige Konzession dazu erteilen, und so eröffnete am 9. April 1870 die „Deutsche Bank“ ihre Pforten – die Bank, die heute aus den negativen Schlagzeilen nicht herauszukommen scheint.
Im Sommer 1870 war Bamberger in Paris. Seine dortigen Recherchen ergaben, dass Frankreich auf einen Krieg mit Deutschland zusteuerte. In einem Brief an den preußischen Minister Rudolph von Delbrück (1817–1903) teilte er diesem seine Beobachtungen mit. Im Juli 1870 verließ Bamberger Paris.
Wie bereits erwähnt, war Bamberger seit geraumer Zeit von Otto von Bismarck (1815–1898) beeindruckt. 1867 versuchte er mit einer Schrift, bei den Franzosen Verständnis für „Monsieur de Bismarck“ zu gewinnen und sie für den Mann zu interessieren. Am 2. August befand sich Bamberger in Mainz sogar im Hauptquartier Bismarcks. Er war als Pressereferent, Berater und Unterhändler in besonderen Fällen für den Fürsten tätig. Eine Zeit lang gehörte Bamberger in Straßburg zum Stab des Militärgouverneurs Bismarck-Bohlen, aber wohl fühlte er sich als Zivilist unter den Militärs nicht. In seinem Tagebuch hielt er fest, er sei „der einzige, der einen Hut trägt und gar kein Abzeichen“, und in einem Brief klagte er darüber, dass „jetzt die roten Kragen Herr sind, dass Willem zum allgemeinen Fetisch wird und der erzreaktionäre Moltke unsere Geschicke leitet“. Hart fiel sein Urteil über die kleinen deutschen Fürsten und die „prinzlichen Hanswürste“ aus, die wegen ihrer privaten und partikularen Interessen die deutsche Einheit behinderten. Die Offiziere sahen verächtlich auf den Zivilisten und Juden herab. Bismarck-Bohlen redete in Abwesenheit Bambergers vom „roten Juden“ Und Bamberger – auch nicht gerade zimperlich – charakterisierte seinen Chef als „gutmütigen beschränkten Menschen“. Der ehemalige Banker war ein Fremdling im Hauptquartier. Und er mochte die Preußen auch nicht besonders. Er ärgerte sich über ihre monarchische Treue. Ihn störte ihre „schnarrende Blechstimme“, die „bittere Ernsthaftigkeit“ und er war verwundert über ihre „spaßlose Disziplin.“
1871 wurde Bamberger in den ersten deutschen Reichstag gewählt. Seine Partei, die nationalliberale Partei, erhielt 120 Stimmen und wurde stärkste Fraktion im Reichstag. Die Partei war eine sogenannte Honoratiorenpartei, die zwar nicht sehr viele, aber teils doch bedeutende Mitglieder hatte (zum Beispiel Werner von Siemens, Theodor Mommsen, Heinrich von Treitschke, Eduard Lasker) und in besonderer Weise mit Interessenverbänden zusammenarbeitete.
Bamberger mietete in der Margarethenstraße 18, einem zweistöckigen Gebäude in Berlin, eine Wohnung. Später kaufte er das Haus und bewohnte es bis zu seinem Tode. In Interlaken im Berner Oberland (Schweiz) erwarb er 1875 eine Villa. Hier verbrachte er regelmäßig die Sommerpause des Parlaments.
Das Münzgesetz konnte 1873 endlich vom Reichstag verabschiedet werden. Bambergers Sachkunde im Hinblick auf Geldwirtschaft und Bankwesen wurde übrigens auch von den Mitgliedern anderer Parteien voll anerkannt. Einen wichtigen Beitrag leistete Bamberger bei der Gründung der Reichsbank, die am 1. Januar 1875 vom Parlament beschlossen wurde. Sie hatte die Aufgabe, als die zentrale Notenbank in Deutschland die Preise und die Menge des Geldes zu bestimmen. Zufrieden schrieb er später:
„Auf solche Weise wenigstens habe ich die Genugtuung, auf dem Boden der Privatwirtschaft Dauerndes von Bedeutung mitgeschaffen zu haben, wie auf dem Boden des Staates durch meine Mitarbeit von der Begründung der Reichsbank, der Goldwährung und der Münzgesetzgebung.“
Mit Missvergnügen konstatierte Bamberger, dass Reichskanzler Bismarck ständig daranging, die Reichsregierung mehr und mehr vom Parlament unabhängig zu machen. Obwohl Bamberger in Sachen Reichseinheit immer aufseiten des Kanzlers stand, führten Bismarcks Alleingänge und Entscheidungen ohne parlamentarische Zustimmung jedoch dazu, dass er immer mehr auf Distanz zu ihm ging. Deutlich wird das bereits in Bambergers Haltung zum sogenannten Sozialistengesetz.
Er sah durchaus die Gefahren, die durch die Agitation der sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) der bürgerlichen Gesellschaft drohte, aber er widersprach in seiner Schrift „Deutschland und der Socialismus“ einer zwangsweisen Unterdrückung der Sozialdemokratie. Doch nach dem zweiten Attentat auf Kaiser Wilhelm I. stimmte auch er am 19. Oktober 1878 (wie die anderen Nationalliberalen) für das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz).
Auch in der Schutzzollangelegenheit hatte Bamberger eine konträre Meinung zu Bismarck. 1879 veröffentlichte er seine Streitschrift „Was uns der Schutzzoll bringt“. In Frankreich, dem klassischen Land der Schutzzölle, hatte er deren negative Folgen genau beobachten können. Er hatte gesehen, wie gerade durch Schutzzölle Geldmagnaten Schwächere übervorteilten, wie bestimmte Kreise riesiges Kapital ansammelten, wie der politischen Korruption Vorschub geleistet wurde und wie man bestimmte Produkte durch Schutzringe protegierte. Bamberger war von Hause aus als Kaufmann und Banker gegen jedwede Einmischung des Staates in Handelsgeschäfte, aber er konnte nicht verhindern, dass im Juli 1879 204 Abgeordnete des Reichstages für das Schutzzollgesetz stimmten.
1871 entzündete sich auch ein Streit zwischen Regierung und Parlament wegen des sogenannten Pausch-Betrages. Dabei handelte es sich um einen feststehenden Geldbetrag zur Finanzierung der Armee, der für eine begrenzte Zeit bewilligt wurde. In dem Streit ging es nicht nur darum, für welchen Zeitraum der Armee Gelder zur Verfügung gestellt werden, sondern auch darum, wer über den Wehretat entscheiden sollte, das Parlament oder die Regierung. In Bambergers Partei war man nicht einhelliger Meinung. Er selbst suchte zu vermitteln, doch ohne Erfolg. Bamberger wandte sich auch vehement dagegen, dass Plantagen oder Besitzungen in Übersee durch den Staat finanziell abgesichert wurden.
Da die Meinungsunterschiede in der nationalliberalen Partei nicht mehr zu überbrücken waren, verließ Bamberger am 30. August 1880 mit 27 anderen Kollegen die Partei. Der Austritt Bambergers aus der nationalliberalen Partei bedeutete auch den endgültigen Bruch mit Bismarck, der künftig in Bamberger einen sehr kritischen Opponenten hatte. Die 28 ehemaligen Nationalliberalen schlossen sich zur „Liberalen Vereinigung“ zusammen, die später mit der „Deutschen Fortschrittspartei“ fusionierte. Die neu entstandene Partei hieß nun „Deutsch Freisinnige Partei“. Kronprinz Friedrich III. schickte Bamberger anlässlich der Gründung dieser Partei ein Glückwunschtelegramm.
Spötter nannten die Freisinnige Partei die „Kronprinzenpartei“. Kronprinzessin Victoria (1840–1901), eine britische Prinzessin, war von ihrem Vater in einem politisch liberalen Geiste erzogen worden. Unter ihrem Einfluss öffnete sich auch ihr Gatte, Kronprinz Friedrich (1831–1888), liberalen Gedanken. Doch sein Liberalismus hielt sich in Grenzen, vor allem dann, wenn diskutierte Veränderungen seiner Meinung nach die Macht der Krone einzuschränken drohten. Dennoch hofften die Freisinnigen auf Unterstützung durch den Kronprinzen und künftigen Kaiser. Ludwig Bamberger war lange Zeit Informator und Berater der Kronprinzessin Victoria.
Bamberger hatte übrigens wegen seiner jüdischen Herkunft immer wieder Verunglimpfungen, Diskreditierungen und Anfeindungen zu ertragen. Von Karl Marx (selbst ein Jude) stammte der böse Satz, bei Ludwig Bamberger sei die „Zigeunersprache der Pariser Börsensynagoge“ herauszuhören.
Ganz besonders übel verhielt sich Bambergers Fraktionskollege Prof. Dr. Heinrich von Treitschke (1834–1896). Er war ein getreuer Gefolgsmann der Bismarck’schen Politik. Als der Reichskanzler sich wegen Kritik an seiner Politik von der Nationalliberalen Partei distanzierte, obwohl sie ihm bisher die Mehrheit im Reichstag verschafft hatte, versuchte Treitschke, die Partei auf Bismarcks neuen politischen Kurs einzuschwören. Diesen seinen Bemühungen stellten sich Ludwig Bamberger, sein Freund Eduard Lasker (1829–1884) und andere entgegen. Da veröffentlichte Treitschke am 19. November 1879 in den Preußischen Jahrbüchern einen sehr geschickten, aber überaus hässlichen Artikel mit dem Titel „Unsere Aussichten“. Dieser Artikel entfachte den sogenannten Antisemitismusstreit, der von 1878 bis 1881 dauerte. In seinem Artikel behauptete der Geschichtsprofessor Treitschke unter anderem:
„Unter den Symptomen der tiefen Umstimmung, welche durch unser Volk geht, erscheint keines so befremdlich wie die leidenschaftliche Bewegung gegen das Judentum. … Der Instinkt der Massen hat in der That eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens richtig erkannt; es ist keine leere Redensart, wenn man heute von einer deutschen Judenfrage spricht ... in tausenden deutscher Dörfer sitzt der Jude, der seine Nachbarn wuchernd auskauft … es war ein Unglück für die liberale Partei und einer ihrer Gründe ihres Verfalls, daß gerade ihre Presse dem Judenthum einen viel zu großen Spielraum gewährte.“
Treitschkes Pamphlet gipfelte in dem Satz:
„Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück.“
Durch diesen Artikel machte Treitschke den Antisemitismus in Deutschland „hoffähig“! Vor allem die christlich soziale Partei des Oberhofpredigers Adolph Stoecker (1825–1909) befleißigte sich der gleichen antisemitischen Propaganda. All das hatte auch negative Folgen im alltäglichen Leben. So randalierten zum Beispiel im Jahr 1880 Besucher einer antisemitischen Versammlung in Berlin. Sie warfen Fensterscheiben ein und skandierten: „Juden raus!“ Als Bamberger 1883 von einer Auslandsreise nach Berlin zurückkehrte, war er sehr betroffen über die Ausbreitung des Antisemitismus. Er notierte:
„Gleich in den ersten Tagen hörte ich im Vorübergehen zweimal gemeine Äußerungen über Juden, ohne daß dabei eine Absicht auf mich im Spiel war, sondern nur weil mein Ohr sie erhaschte. Einmal waren es sogar Arbeiter. Jetzt nach längerem Aufenthalt, ist man wieder aguerri [kampferprobt].“
Bamberger wehrte sich mit verschiedenen Streitschriften gegen diesen Antisemitismus und die ihn persönlich betreffenden Angriffe. Er sieht den Grund für den Antisemitismus im „Haß und Neid der Gebildeten, Professoren, Juristen, Pastoren, Leutnants stimuliert vom Geist der Reaktion“. In Reaktion auf Treitschkes Aufsatz stellte er fest:
„Die herbe Kritik deutschen Wesens, deutscher Persönlichkeiten, einigen Juden besonders anzurechnen, beweist, daß man sie eben nur als Geduldete, die das Gastrecht verletzen, ansieht.“
Man meint, Bamberger würde über den Antisemitismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts schreiben, wenn man seine Entgegnung auf Treitschkes Artikel liest:
„Es gab immer und überall und es gibt z. Zt. in Deutschland besonders viele Schwärmer, die den Feuereifer für ihr eigenes Ideal nicht wirksamer schüren zu können vermeinen, als indem sie alles andere geringschätzen oder hassen. Gerade der Cultus der Nationalität trägt diese Versuchung mehr als jeder andere in sich und artet leicht dahin aus, den Haß gegen andere Nationen zu Kennzeichen echter Gesinnung zu machen. Von diesem Haß gegen das Fremdartige jenseit(s) der Grenzen bis zum Haß gegen das, was sich etwa noch als fremdartig in der eigenen Heimat ausfindig machen läßt, ist es nur ein Schritt.
Je mehr Haß, desto mehr Tugend. Wo der Nationalismus nach außen seine Schranken findet, wird der Feldzug nach innen eröffnet … Treitschke selbst kann nicht umhin, daran zu erinnern, daß die Judenverfolgungen von 1819 mit dem Teutonismus zusammenhingen.“
In den 1880er Jahren versuchte Bismarck durch die Sozialgesetzgebung, die Arbeiterschaft stärker an den Staat zu binden. Bamberger wandte sich strikt dagegen, da er glaubte, dass die Sozialgesetzgebung die Freiheit des Einzelnen einschränken würde. Mit Eugen Richter stimmte er gegen die Krankenversicherung, das Unfallversicherungsgesetz und andere diesbezügliche Gesetzesvorlagen. Als er 1889 aufstand, um im Parlament eine Rede gegen die Alters- und Invalidenversicherung zu halten, verließ Bismarck den Plenarsaal und mit ihm die Regierungsvertreter und viele Abgeordnete. Der bekannte Abgeordnete Bamberger redete vor einem fast leeren Plenarsaal. „Er hielt eine leidenschaftliche Rede für eine schlechte Sache.“
Im Jahre 1887 wird Bamberger trotz intensiver Bemühungen seiner Gegner wieder in den Reichstag gewählt. 1890 ging „der Lotse von Bord“. Bismarck war entlassen. Doch Bamberger stimmte nicht in die Schmährufe ein, die den Abgang des Kanzlers begleiteten. Er schrieb über seinen einstigen Gegner:
„Preußen hätte drei Moltkes und dreimal so große Herren haben können; ohne den Kopf Bismarcks wäre die Tat (die Gründung eines deutschen Reichs) nie vollbracht worden.“
Seinen 70. Geburtstag feierte Ludwig Bamberger am 27. Juli 1893. Aus diesem Anlass wurden ihm große Ehren erwiesen. Im gleichen Jahr hatte er mit einer Augenkrankheit zu kämpfen. Und langsam verlor er seine Kampfeslust. Am 18. April 1898 erlitt er einen Schlaganfall und hatte fortan Schwierigkeiten zu sprechen.