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Die 12 Gebote für erfolgreiches Pferdetraining Der Bestseller aus den USA in deutscher Erstausgabe "Methoden mag es eine Million geben oder noch mehr, aber Prinzipien gibt es nur wenige. Wer Prinzipien begreift, kann mit Erfolg seine eigenen Methoden auswählen. Wer Methoden ausprobiert und Prinzipien ignoriert, wird ohne Zweifel Probleme bekommen." Zitat von Ralph Waldo Emerson, ein US-amerikanischer Philosoph und Schriftsteller Fühlen Sie sich manchmal überwältigt von der Vielzahl von Entscheidungen, die Sie bei der Arbeit mit einem Pferd treffen sollen? Abwenden, Übergänge, der korrekte Einsatz der Hilfen – wann ist was richtig? Wann bin ich auf dem Holzweg? Wie wäre es, wenn Sie statt des Erlernens hunderter Techniken und der Sammlung jeder Menge negativer Erfahrungen einfach nur bestimmte Prinzipien verstehen müssten, die für eine bestimmte Situation relevant sind? Das Buch erklärt die zwölf grundlegendsten Prinzipien, auf denen das Vorgehen erfolgreicher Pferdemenschen basiert, und veranschaulicht sie mit realen Situationsbeispielen, damit Sie voll und ganz verstehen, wie effektives Training.
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Seitenzahl: 381
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Copyright © 2024 Cadmos Verlag GmbH, München, Englmannstraße 2, 81673 München
ISBN: 978-3-8404-1538-8, 1. Auflage 2024
Deutsche Nationalbibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Autorw: Warwick Schiller
Übersetzung: Andrea Lehner, Anne-Kristin Göhlitz
Lektorat: Agnes Trosse
Korrektorat: Martin Betz
Covergestaltung, grafisches Konzept, Satz: Gerlinde Gröll
Fotos Umschlag und Innenteil: Tyler Schiller
Illustrationen: Rachel Urquhart, außer „Neurowahrnehmung von Lebensgefahr“
(adaptiert aus einem Werk von Sarah Schlote 2022). Editiert von Tyler Schiller, Robyn Schiller und Tania Kindersley.
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Haftungsausschluss: Autor*in und Verlag haben den Inhalt dieses Buches nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Für die Richtigkeit der Angaben in diesem Buch und eventuelle Schäden, die aufgrund von Beschlüssen und Handlungen, die anhand der gegebenen Informationen getroffen wurden, wird trotz sorgfältiger Recherche keine Haftung übernommen.
Inhalt
Einleitung
01 Arbeite mit dem Pferd, das du heute hast
Das Sicherheitsbedürfnis deines Pferdes
Sie wissen, wenn du es weißt
Tom Dorrance und die scheue Katze
Cody, der Mustang
Der Mustang und das Huhn
Das Gefühl, angestarrt zu werden
Leben in der Vergangenheit, Leben in der Zukunft
Große blaue Bäume und Pitchen beim Baseball
Urteilsvermögen und Selbstgespräche
02Geh nicht wütend schlafen
Das dreizehnte Kaninchen
Panikattacken
Sympathikus versus Parasympathikus
Flooding
Das traditionelle Pressure-and-Release
Empathische Resonanz und Pressure-and-Release
03Mach Falsches schwer und Richtiges leicht
Wenn Druck eine Hilfe ist
Seitliches Abbiegen
Wie du eine Trainingssituation vorbereitest
Wenn die Aufforderung schon schwer genug ist
Wann du eine Übung einsetzt, um das Falsche schwer zu machen
Übergänge - aufwärts und abwärts
04Das Donkey-Kong-Prinzip
Talent entwickeln
Donkey Kong und Pferde
Ist das Donkey-Kong-Prinzip mechanisch oder basiert es auf Gefühl?
Das Taubenexperiment
05Wähle, wo du arbeitestund wo pausiert wird
Das eingebaute GPS
Zielsucht
Ich kann es nicht mehr sehen!
Junge Pferde und gerade Linien
06 Entwickle ein Werkzeug, bevor du es anwendest
Wie repariert man eine Waschmaschine?
Wie überlebt man einen Hubschrauberabsturz?
07 Das Pferd muss die Antwort kennen, bevor du fragst
Wie man Fallschirm springt
Das Rückwärtsrichten lehren
08 Führe Veränderungen schrittweise ein
Des eigenen Glückes Schmied
09 Antizipation: Bester Freund oder schlimmster Feind
Drängelnde Pferde
Das Genie des Carl Hester
10 Tue das Gegenteil
Der Prozess der Versammlung
11 Die Anwendung deiner Hilfen
CAT-H
Die Reihenfolge der Anwendung
12 Isolieren, separieren, neu kombinieren
13 Beziehung geht vor Horsemanship
Gemeinsam „abhängen“
Mit Maul und Nüstern in Kontakt treten
Lass sie wissen, dass du sie siehst
Schlusswort
Glossar
Quellenverzeichnis
Über den Autor
Einleitung
Der Großteil meines Lebens fand in meinem Kopf statt. Ich wurde zwar als relativ sensibler und empathischer Mensch geboren, doch diese Eigenschaften wurden schon früh abgestumpft – durch eine Gesellschaft und Kultur, in der von Jungen und Männern erwartet wird, keine Emotionen zu zeigen. Wenn aber die rechte Hirnhälfte – die intuitive – ausgeschaltet wird, muss die linke Hirnhälfte die Zügel übernehmen und das Schiff steuern. Die linke Seite des Gehirns ist jene, die denkt, kalkuliert, urteilt und vergleicht.
Dieses fehlende rechtshemisphärische, also emotionale Denken half mir erheblich in meiner Karriere als Pferdetrainer. Nicht ärgerlich oder traurig oder fröhlich zu werden ist überaus hilfreich, wenn man Pferde trainiert. Andererseits war mir die linke Hirnhälfte, die berechnende und vergleichende Seite, ebenso von großem Nutzen.
Ich bemerkte Muster.
Ich bemerkte Ähnlichkeiten zwischen scheinbar zusammenhanglosen Techniken im Umgang mit Pferden.
Meine ursprüngliche Leidenschaft waren Reining-Pferde. Früh in meiner Trainerkarriere bemerkte ich Gemeinsamkeiten darin, warum ganz unterschiedliche Techniken angewandt wurden, etwa um einem Pferd den Spin beizubringen und um ein Pferd zu lehren, einen Sliding Stop auszuführen. Es handelt sich dabei um völlig verschiedene Lektionen, aber das Prinzip hinter der Anwendung der Techniken dazu war für mich klar erkennbar. Ich bemerkte diese Muster auch in anderen Disziplinen des Westernsports, wie zum Beispiel beim Cutting und den Reined Cowhorse Events. Ich konnte erkennen, warum jemand etwas Bestimmtes in einer speziellen Situation tat. Ich war vielleicht noch nicht erfahren genug, um selbst auf diese Ideen zu kommen, doch wenn man mir erklärte, welche Technik anzuwenden war, konnte ich sie sofort einem von mehreren Prinzipien zuordnen.
Eine Zeit lang stellte ich diese Zusammenhänge nur gedanklich her. Nachdem ich jedoch jahrelang rund um die Welt Seminare gegeben hatte, begann ich schließlich auch damit, sie meinen Seminarteilnehmern näher zu erklären, indem ich ihnen Leitsätze an die Hand gab, die das zugrunde liegende Prinzip jeder Technik treffend beschreiben. Bei meinen Seminaren bemerkte ich, dass sehr viele Teilnehmer sehr viel Zeit damit verbracht hatten, bei sehr erfahrenen Pferdeleuten und Trainern Hilfe zu suchen, und dass sie auch hervorragende Anweisungen bekommen hatten, wie spezielle Probleme zu lösen seien oder wie man dem Pferd eine bestimmte Fähigkeit, Bewegung oder Lektion beibringt. Sie bekamen jedoch keine Information darüber, warum gerade diese Technik in eben diesem Moment anzuwenden ist. Sie lernten nicht, Situationen danach zu analysieren, ob nun die äußeren Bedingungen oder aber das Mindset des Pferdes anders waren.
Meinen ersten großen Aha-Moment diesbezüglich erlebte ich in Neuseeland, ungefähr im Jahr 2008. Ich half einer jungen Frau mit ihrem Pferd bei einer bestimmten Lektion. Ich erklärte ihr nicht nur, was zu tun sei, sondern auch, warum sie es tun sollte und wie das Pferd das Ganze wahrnimmt. Das löste eine gewaltige Veränderung bei diesem Pferd aus. Nach dem Seminar blieb ich noch für ein paar Tage bei den Eltern der jungen Frau. Sie zeigten mir ein paar alte DVDs, die ihre Tochter und dasselbe Pferd ungefähr fünf Jahre zuvor beim Seminar eines guten, australischen Pferdetrainers zeigten. Im Video arbeiteten die drei an derselben Lektion, und der Trainer erklärte der Frau dieselben Dinge, die ich ihr wenige Tage zuvor erklärt hatte und erzielte dieselben dramatischen Leistungsveränderungen beim Pferd. Er hatte ihr jedoch nicht erklärt, warum sie diese Dinge tat und wie diese die innere Einstellung des Pferdes beeinflussten. Und bald schon hatte sie die Anleitungen wieder vergessen.
Bis zum Alter von zwei Jahren habe ich nicht gesprochen (generell geht man davon aus, dass die meisten Kinder mit ungefähr einem Jahr anfangen zu sprechen). Meine Mutter erzählte, dass es, als ich dann endlich zu sprechen begann, nicht mehr gelang, mich dazu zu bringen, wieder aufzuhören. Meine häufigste Frage war: „Warum?“ Ich wollte das Warum von allem verstehen. Vielleicht lag das in meiner Natur, vielleicht wollte ich mir auch einfach einen Reim auf eine Welt machen, die für mich keinen Sinn ergab.
Nach 2010 wurde ich auf Pferdemessen rund um die Welt eingeladen, um Vorträge zu halten, und hatte dabei die Gelegenheit, Weltklassetrainer in mir weniger vertrauten Pferdesportdisziplinen zu beobachten. Erneut stellte ich fest, dass jede Technik, die sie anwandten, für mich Sinn ergab, denn ich konnte den zugrunde liegenden Anlass erkennen, aus dem sie eine bestimmte Übung in einem bestimmten Moment durchführten. Zuweilen hatte ich Gelegenheit, Grand-Prix-Springwettbewerbe zu sehen, während ich neben Springtrainern des Olympiakaders saß und ihnen allerlei Fragen stellte. Das Gleiche tat ich, als ich neben Olympia-Medaillengewinnern im Springen saß. Ebenso sah ich DressurOlympia-Goldmedaillengewinnern bei Masterclass-Kursen zu, und bei allem, was sie sagten, nickte ich innerlich und sagte zu mir: „Ah! Ja, das folgt diesem Prinzip.“ Ich hatte das große Glück, Weltklassepferdeleute jeder Disziplin zu sehen, von Barrel Racing bis hin zu Gangpferden, und wenn ihre Techniken sowohl effektiv als auch human waren, konnte ich das Prinzip hinter jeder ihrer Entscheidungen benennen.
Im Laufe der Jahre, in denen ich Seminare gab, hatte ich damit begonnen, den Prinzipien Namen zu geben, und als ich bei Seminaren in anderen Bereichen des Pferdesports zusah, stellte ich fest, dass diese Prinzipien nicht disziplinspezifisch sind. Egal, wie vielen verschiedenen Trainern ich auf ihren Seminaren zusah, ich konnte nicht eine Sache finden, die nicht letztlich einer der von mir benannten Kategorien zuzuordnen war. Ich kam auf zwölf Prinzipien, die offenbar jede Entscheidung abdeckten, die man bei der Arbeit mit Pferden treffen kann.
WAS METHODEN ANGEHT, SO MAG ES EINE MILLION UND NOCH EINIGE MEHR GEBEN, ABER PRINZIPIEN GIBT ES NUR WENIGE.
DER MANN, DER DIE PRINZIPIEN VERSTEHT, KANN SEINE EIGENEN METHODEN ERFOLGREICH AUSWÄHLEN.
DERJENIGE, DER METHODEN AUSPROBIERT, OHNE DIE PRINZIPIEN ZU KENNEN, WIRD MIT SICHERHEIT SCHWIERIGKEITEN HABEN.
Harrington Emerson
Viele Pferdetrainer erweitern ihr Wissen und ihren Pferdeverstand durch schiere Masse, sie trainieren von morgens bis abends, sechs oder sieben Tage die Woche, jahrzehntelang. Auf diese Weise finden sie heraus, was funktioniert und was nicht. Die Fülle von Erfahrung lehrt sie, wie sie auf jedwede Situation reagieren können, die sich im Umgang mit Pferden ergibt. Ich bin allerdings inzwischen der Meinung, dass schon ein umfassendes Wissen darüber, wie Pferde funktionieren, in Kombination mit einem tiefen Verständnis der Prinzipien, es uns schon ermöglicht, fundierte Entscheidungen zu treffen – und das, ohne dieselbe Anzahl von Stunden mit Pferden zu arbeiten wie ein Berufstrainer, der dies ein Leben lang tut.
Um das Jahr 2015 herum wurde ich gefragt, ob ich eine TV-Sendung für den US-Sender „Farm and Ranch TV“ machen wollte. Man gewährte mir den kreativen Freiraum zu tun, was immer ich wollte. Ich entschied mich, die Sendung „The Principles of Training“ zu nennen, und diese Sendung wurde später auch vom britischen Sender „Horse & Country TV“ aufgegriffen und im Vereinigten Königreich und in Westeuropa sowie in Australien und Neuseeland ausgestrahlt. Ich produzierte drei Staffeln. In der ersten Staffel stellte jede Folge ein Prinzip vor, und in den späteren Staffeln demonstrierte jede Folge eines oder mehrere Prinzipien im Pferdetraining. Zu Beginn jeder Episode blendete ich das hier links stehende Zitat von Harrington Emerson ein, einem Effizienzfachmann aus dem frühen 20. Jahrhundert. Dieses Zitat spielt grundsätzlich auf die uralte Redensart an: „Gibst du einem Mann einen Fisch, so kann er seine Familie einen Tag lang ernähren, aber lehrst du ihn das Fischen, kann er seine Familie ein Leben lang ernähren.“ In unserem Fall bedeutet es jedoch eher dies: „Lehrst du jemanden zu verstehen, warum eine spezielle Technik in einer speziellen Situation anzuwenden ist, dann kann er verstehen, wie er in jedweder Situation am besten auf sein Pferd reagiert.“
IN DEM MOMENT, IN DEM DU MEINST, ANGEKOMMEN ZU SEIN, BEGINNST DU DIE REISE ERNEUT.
Jay Shetty
In den ersten zwölf Kapiteln dieses Buches beschreibe ich die ursprünglichen und vielfach bewährten zwölf Prinzipien, die ich über die Jahre erkannt habe und die alle Techniken abdecken, die von sämtlichen guten Pferdetrainern verwendet werden. Im dreizehnten Kapitel findest du ein Prinzip, das zwar bisher nicht allgemein Verwendung findet, von dem ich persönlich aber überzeugt bin. Ich nenne dieses Prinzip Beziehung geht vor Horsemanship. Horsemanship bezieht sich in diesem Fall auf die Techniken, die gute Pferdeleute und Trainer benutzen, um Pferde zu willigen, gehorsamen Partnern zu machen. Wenn man jedoch mit den Pferden auf einer tieferen, beinahe spirituellen oder seelischen Ebene arbeitet, stellt man fest, dass das alleinige Anwenden von Techniken sich ein wenig so anfühlt, wie meisterliche Manipulation. Nach meiner Erfahrung sollte zuerst eine Verbindung geschaffen werden, eine echte Verbundenheit durch Einstimmen auf das Gegenüber (Empathische Resonanz), durch das Mitteilen unserer Achtsamkeit gegenüber den kleinsten Dingen. Wenn wir das schaffen, dann eröffnet es uns und unseren Pferden eine Reise, die uns als Person verändert, nicht nur zum Nutzen des Pferdes, sondern aller fühlenden Wesen, denen wir begegnen.
Dieses 13. Kapitel mag das letzte in der Reihenfolge dieses Buches sein, aber es ist das wichtigste von allen. Es macht alles andere leichter.
Dieses Buch ist keine Schritt-für-SchrittBedienungsanleitung, auch wenn es vielleicht verschiedene Methoden aufzeigt, um ein Prinzip zu veranschaulichen. Dies dient jedoch lediglich dem Zweck, ein besseres Verständnis für das Prinzip zu vermitteln. Das Buch ist dazu gedacht, gelesen zu werden, Denkanstöße zu geben, mit dem Pferd zu experimentieren, um es dann später wieder zur Hand zu nehmen und noch einmal nachzulesen und schließlich zu einem eigenen, noch tieferen Verständnis des Prinzips zu gelangen.
Kapitel 01
Arbeite mit dem Pferd, das du heute hast
Das Sicherheitsbedürfnis des Pferdes Der Mustang und das Huhn Große blaue Bäume
Pferde sind ganz erstaunliehe Geschöpfe. Umgang und Arbeit mit ihnen erwecken in uns wunderbare Gefühle aller Art: Freude, Stolz, Aufregung, Begeisterung, Selbstvertrauen, Glück und eine Reihe anderer angenehmer Empfindungen. Oft rufen sie aber auch negative, ungesunde Emotionen hervor, wie das Gefühl des Scheiterns, Enttäuschung, Bitterkeit, Verwirrung, Ärger, Zorn, Irritation und Frustration. Die Liste der Emotionen, die ich selbst bei der Arbeit mit Pferden erlebt habe, ließe sich unendlich fortsetzen. Ich weiß, dass ich damit nicht allein bin, denn häufig berichten mir Menschen von ihren negativen Erfahrungen, wenn sie mich um Rat zu Problemen mit ihren Pferden bitten. Dieses Kapitel soll nun helfen zu verstehen, wie unsere eigenen Gefühle, Gedanken und inneren Energiezustände unser Pferd beeinflussen. Dabei möchte ich jeden Einzelnen zu einer gewissen Selbstreflexion ermutigen, denn vieles von dem, was wir an unseren Pferden (und oft auch an anderen Menschen) gerne ändern würden, ist nur ein Spiegelbild unserer eigenen inneren Konflikte.
EXPECTATION IS THE ROOT OF ALL HEARTACHE.
Auf Deutsch:
ERWARTUNG IST DIE WURZEL ALLEN KUMMERS.
Unbekannt
Unser „New Webster Collegiate“-Wörterbuch, das meine Frau Robyn zum HighSchool-Abschluss von ihrem Onkel Marc geschenkt bekam, definiert das englische Wort „heartache“ wie folgt:
* heartache (noun): anguish of mind
Das bedeutet auf Deutsch so viel wie: Seelenpein, Kummer, Herzschmerz. Gemäß dieser Definition umfasst es tatsächlich alle negativen Gefühle, die wir im Umgang mit Pferden erleben können. Scheitern: Der Verstand bekundet uns eine Niederlage. Enttäuschung: Die Dinge laufen nicht, wie man es sich vorgestellt hat. Verbitterung: Eine Erfahrung hinterlässt einen beunruhigenden, bitteren Nachgeschmack. Verwirrung: Man weiß schließlich nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Und so weiter und so fort ...
Das erste Trainingsprinzip lautet: Arbeite mit dem Pferd, das du heute hast. Um das gefürchtete Horsemanship-Heartache zu vermeiden, müssen wir in der Lage sein, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, und zwar ohne zu urteilen oder Erwartungen zu hegen. Wenn man mit dem Pferd arbeitet, das gerade vor einem steht, und nicht mit dem Pferd, das vor einer Stunde im Stall stand oder das vor einer Woche auf dem Turnier war, oder gar dem Pferd, das im nächsten Monat vor einem steht, müssen wir in der Lage sein, alle Erwartungen draußen vor der Stalltür zu lassen. Keines der anderen in diesem Buch erwähnten Prinzipien wird funktionieren, wenn wir uns bei der Arbeit nicht auf das Pferd konzentrieren, das jetzt gerade vor uns steht.
Pferde haben eine hochgradig sensible Wahrnehmung für alles, was in ihrer Umgebung geschieht und – was sogar noch wichtiger ist – für unsere Energie. Wenn wir Erwartungen in unser Training einbringen, verschwenden wir unsere Konzentration und unsere Energie auf Dinge, die eigentlich gerade gar nicht passieren. Das Einzige, worauf wir uns konzentrieren sollten, sind die Informationen, die uns unser Pferd im gegenwärtigen Moment übermittelt. Wenn wir die Handlungen unserer Pferde urteilsfrei betrachten, ändert sich unsere Einstellung zur Situation. Dies erinnert an die Worte des vielseitigen Piraten Jack Sparrow aus dem Film „Fluch der Karibik“, wenn er sagt: „Das Problem ist nicht das Problem; das Problem ist deine Einstellung zum Problem.“
Die Geschichten, die wir selbst hineininterpretieren – in unsere Pferde und in das, was sie tun –, wirken sich direkt auf unsere innere Einstellung aus. Und diese wiederum bewirkt physische Veränderungen in unserem Körper. Wenn ein Pferd zum Beispiel Menschen zwickt oder mit dem Maul an ihnen zupft, tendieren diese häufig dazu zu glauben, es würde versuchen, sie zu beißen, also sie zu attackieren oder ihnen Schaden zuzufügen. Das Pferd wird dann wahrscheinlich dafür bestraft, was dazu führt, dass es Menschen misstraut. Zusätzlich spannt sich der Mensch an und weicht vor ihm zurück, was das Verhalten des Pferdes wieder verstärkt.
Wenn Leute sagen, dass ihr Pferd an ihnen knabbert oder sie zwickt, verweise ich gerne auf John und Julie Gottman vom Gottman-Institut in Seattle, Washington. Er – Mathematiker und Psychologe – und sie – Psychotherapeutin – zählen zu den weltweit führenden Experten in der humanwissenschaftlichen Beziehungsforschung. Ihrer Ansicht nach besteht einer der wesentlichsten Aspekte in Beziehungen darin, „Bitten nach Verbundenheit“ wahrzunehmen.
Eine derartige Bitte ist jeder Versuch eines Partners, vom anderen Aufmerksamkeit, Bestätigung, Zuneigung oder eine andere positive Bestärkung zu erhalten. Die Gottmans haben drei unterschiedliche Arten definiert, wie eine Bitte nach Verbundenheit beantwortet werden kann, von denen zwei zum Beziehungsabbruch führen. Die beiden, die der Beziehung auf diese Weise Schaden zufügen, heißen sich abwenden und sich dagegen richten. Diejenige Antwort, die Beziehungen verbessert, heißt sich zuwenden.
Übertragen wir dies nun auf ein zwickendes Pferd: Wenn wir nun glauben, dass das Pferd versucht, uns zu beißen, könnten wir darauf reagieren, indem wir es bestrafen, womit wir uns gegen das Pferd richten. Wir könnten auch vor ihm zurückweichen, womit wir uns von ihm abwenden würden. Wenn wir das Zwicken jedoch als ein Angebot zur Kontaktaufnahme oder zur Schaffung von Verbundenheit betrachten, also als Anfrage des Pferdes, ob wir präsent sind, und wenn wir dann umsichtig und sicher für uns mit seinem Maul und seinen Nüstern interagieren, dann wenden wir uns dadurch dem Pferd zu.
Wenn wir uns also von dem Vorurteil des „Beißens“ lösen und hinterfragen, warum das Pferd zwickt, können wir das tatsächliche Problem behandeln, und nicht die Geschichte, die wir uns zusammengereimt haben. Sobald wir die allgegenwärtigen Vorurteile und Erwartungen abstreifen, können wir daran arbeiten, die Ursache des Problems zu beheben. Wenn wir uns also mit unseren Händen einem knabbernden Pferd zuwenden, sodass sein Bedürfnis nach Kontakt gestillt wird, und wir uns gleichzeitig vor gefährlichem Verhalten schützen, können wir das Problem lösen, anstatt es aufrechtzuerhalten.
Der einzige Unterschied zwischen unseren Entscheidungen, sich in dieser Situation entweder auf das Pferd einzulassen oder es zu bestrafen, ist unsere Sichtweise auf das Geschehen. Um effektiver mit unseren Pferden kommunizieren zu können, müssen wir allerdings zunächst verstehen, wie Pferde in ihrer natürlichen Umgebung agieren.
Das Sicherheitsbedürfnis deines Pferdes
Das moderne Pferd ist ein Beutetier, das sich im Laufe von 55 Millionen Jahren aus einem kleineren, eher hirschartigen Pflanzenfresser namens Eohippus entwickelt hat. Aus einem gemeinsamen Vorfahren, von dem auch Eohippus abstammt, haben sich ebenfalls Nilpferde, Schweine, Giraffen, Kamele und auch Wale entwickelt. Dies ist insofern relevant, als dass die meisten Arten, die auf diesen alten Vorfahren zurückgehen, in erster Linie Herden- oder Rudeltiere sind, die in Gemeinschaften leben. Über die Zeitachse von Jahrmillionen nahm die Evolution ihren Lauf und schuf eine Reihe hochsensibler Tiere, die in der Lage sind, in einer ansonsten friedlichen Situation auch den kleinsten Hinweis auf eine Gefahr wahrzunehmen. Ohne diese evolutionäre Entwicklung einer speziellen Wachsamkeit wären Herdentiere zum leichten Opfer für hungrige Säbelzahntiger geworden.
Die Domestizierung des Pferdes begann vor nur 6.000 Jahren in den Steppen der heutigen Ukraine und im westlichen Kasachstan. Wenngleich wir durch selektive Zucht erfolgreich ein modernes Pferd geschaffen haben, das den Menschen toleriert, trägt jedes Einzelne von ihnen noch immer Jahrmillionen an evolutionärer Intelligenz in sich. Ein einfaches Verständnis dieser tief verwurzelten evolutionären Verhaltensweisen ermöglicht es uns, diese im Zuge des Trainings und der Ausbildung zu unserem Vorteil zu nutzen.
In freier Wildbahn sind Pferde vom Moment ihrer Geburt an bis zu ihrem Tod nur selten außer Sichtweite eines anderen Pferdes. Ihr Überleben hängt von den wachen Sinnen der anderen Herdenmitglieder ab, sie bilden sozusagen ein Gemeinschaftsradar. Wenn sich ein Pferd auf der Weide zum Schlafen niederlegt, steht fast immer ein anderes Pferd in der Nähe. Das schlafende Pferd vertraut auf das Urteilsvermögen des stehenden Pferdes und auf dessen Warnung, sollte es eine Bedrohung wahrnehmen.
Vor ein paar Jahren war ich in Kenia, um einigen Menschen mit ihren Pferden zu helfen. Mein Quartier war von 3.500 Hektar unbebautem Land umgeben, und ich konnte, bloß eine Viertelmeile vom Haus entfernt, Herden von Zebras, Antilopen und Gnus beobachten, die durch die Landschaft streiften.
Ich bemerkte, dass das jeweils mir am nächsten stehende Tier aufhörte zu fressen und seinen Kopf hob, wenn ich mich einer grasenden Zebraherde bis auf Fluchtdistanz näherte – diese war schon erreicht, wenn ich noch mehrere hundert Meter entfernt war. Obwohl es vielleicht das einzige war, das mich sah, spürten die anderen gleich, wie seine Energie sich von Ruhe zu Neugier erhöhte, und auch sie hörten auf zu fressen, hoben ihre Köpfe und beobachteten mich.
Sobald ich signalisierte, dass ich keine Bedrohung darstellte, indem ich anhielt und wartete oder mich seitlich drehte und parallel zu ihnen bewegte, wandten sie sich schließlich wieder dem Grasen zu.
Die Fähigkeit der Pferde, die Absichten anderer Tiere zu erkennen, ist von grundlegender Bedeutung für unser Verständnis, wie wir besser mit ihnen interagieren können. Aus einer Entfernung von mehreren Fußballfeldern waren diese Zebras in der Lage, meine nicht bedrohliche Absicht zu erkennen, und mühelos in die Homöostase zurückfinden, d. h. in die stabile Ausgeglichenheit, in die Tiere nach einer körperlichen Bedrohung, wie z. B. der Flucht vor Raubtieren, zurückkehren. Im Fall der Zebras kehrte ihr Körper mühelos in einen entspannten Zustand zurück, sobald sie erkannten, dass keine Bedrohung vorlag.
Während meines Aufenthalts dort beobachtete ich auch, dass sich ein Teil der Herde zum Schlafen niederlegte, während die übrigen Mitglieder der Herde in einem Zustand entspannter Aufmerksamkeit umherstanden. In diesem Gemeinschaftsradarsystem fungieren die stehenden Herdenmitglieder als Wächter vor Raubtieren und anderen Gefahren.
Illustration © Rachel Urquhart
Zebras, Pferde und die meisten anderen vierbeinigen Herbivoren (Pflanzenfresser) können zwar im Stehen schlafen, doch es handelt sich dabei nur um leichtes Dösen. Pferde müssen sich tatsächlich niederlegen, um in den REM-Schlaf zu fallen (REM steht für Rapid Eye Movement und damit für die Traumschlafphase. Gekennzeichnet ist diese Schlafphase durch absolute körperliche Entspannung und daher funktioniert der REM-Schlaf nur im Liegen. Obwohl der REM-Schlaf die kürzeste Phase ist, ist er absolut essenziell für die Regeneration des Pferdes!). Ich weiß zwar nicht, wie viel REM-Schlaf Zebras benötigen, aber Pferde benötigen mindestens alle 24 Stunden etwa 30 bis 40 Minuten davon.
Wohlgemerkt waren die umstehenden Zebras nicht in höchster Alarmbereitschaft – die liegenden wären bei derartiger Spannung in der Luft nicht zur Ruhe gekommen –, aber sie waren keinesfalls unaufmerksam. Sie grasten nicht, während die anderen schliefen, sie kraulten sich nicht gegenseitig und sie träumten auch nicht von dem grünen Gras auf der anderen Seite des Berges. Sie befanden sich in einem absoluten Zustand der Gegenwärtigkeit, indem sie sich weder Gedanken über das machten, was passieren könnte, noch über das, was bereits passiert war.
Dieser Geisteszustand ist für uns Menschen fast unvorstellbar, da wir die meiste Zeit unseres Lebens damit verbringen, entweder die Zukunft zu planen oder die Vergangenheit zu reflektieren. Die Fähigkeit, sich in einem bewussten Zustand der Gegenwärtigkeit zu befinden und die Energie der anderen Herdenmitglieder zu lesen, ist für Pferde hingegen Teil ihres evolutionären Sicherheitssystems. Wenn sich die Energie der Herde verändert, wird ein schlafendes Zebra dies sofort bemerken und sich aus seinem Schlummer erheben, bevor es zum saftigen Snack wird.
Ganz gleich, mit welchem Pferd wir heute arbeiten, es wird immer innerhalb seiner evolutionär angepassten Verhaltensweisen agieren und reagieren. Wir können nicht erwarten, die Natur des Pferdes zu unseren Lebzeiten zu ändern. Das Radar der Herdengemeinschaft ist eines der grundlegendsten Konzepte in jeglichem Training, das auf Bindung basiert. Zu unserem Glück müssen wir uns nicht wie Pferde verkleiden, um in ihrer Herde akzeptiert zu werden und ebensolche vertrauensvollen Beziehungen aufzubauen. Alles, was wir tun müssen, ist, unseren Pferden konsequent zu vermitteln, dass sie unserem Urteilsvermögen vertrauen können, wenn der Fall eintritt, dass sich eine Gefahr zeigt. Wann immer wir mit unseren Pferden interagieren, dürfen wir nie ihre evolutionäre Vergangenheit vergessen und inwiefern diese ihren Entscheidungsprozess beeinflusst.
Sie wissen, wenn du es weißt
Ray Hunt war der Urvater der modernen Horsemanship-Bewegung. Ray lernte Horsemanship von Tom Dorrance. Tom und seine Brüder Bill und Fred lernten es, so glaube ich, durch ihre enge Verbindung zur Erde, zu den Tieren und zu anderen Menschen. Je mehr ich über die soziale Entwicklung des Menschen und die Geschichte indigener Völker erfahre, desto mehr stelle ich fest, dass diese Völker überall auf der Welt eine Verbindung zum Leben selbst aufrechterhalten haben. Die meisten modernen Menschen haben den Kontakt zur Natur verloren, weil sie in von Menschen geschaffenen Gesellschaften leben, die sich selbst der Verbindung zur Natur beraubt haben.
Obwohl ich die Dorrances nie getroffen habe, stellten all jene, die ich traf und die sie kannten, fest, dass die Brüder einen prozessorientierten Ansatz verfolgten, der im Gegensatz zu dem sonst häufig gängigen ergebnisorientierten Zugang stand. Sie arbeiteten stets an dem, was im Moment ihre Aufmerksamkeit erforderte, und zwar einzig und allein aus diesem Grund, und nicht wegen eines erhofften späteren Nutzens.
Die spirituellste der alten hinduistischen Praktiken wird Karma-Yoga genannt. Im Wesentlichen geht es beim Karma-Yoga darum, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, ohne dabei an das Ergebnis dieser Aufgabe zu denken. Es geht darum, gegenwärtig zu sein und sich nur auf das zu konzentrieren, was im Jetzt geschieht, ohne an die Früchte der eigenen Handlungen oder Entscheidungen zu denken. Es heißt auch, dass Karma-Yoga einen Weg beschreibt, wie man spirituelle Befreiung durch Arbeit erreichen kann.
Ray Hunt sagte immer: „They know when you know, and they know when you don’t.“ Auf Deutsch: „Sie wissen, wenn du es weißt, und sie wissen, wenn du es nicht weißt.“
Ich dachte früher, das sei nur ein weiterer kerniger Spruch, der mehr oder weniger bedeutet, dass ein Pferd weiß, wenn man keine Ahnung von dem hat, was man tut. So wie man ein Greenhorn im Umgang mit Pferden schon von Weitem erkennt. Ich lag gewaltig falsch: Es geht nicht darum, WAS man weiß, sondern vielmehr WANN, also ob man gewisse Dinge zum Zeitpunkt X weiß beziehungsweise bemerkt.
Ich habe diesen Satz nie verstanden, bis ich einen Artikel von jemandem las, der viel mit Ray gearbeitet hat. In dem Artikel sagte der Autor, dass man sich seines Pferdes jederzeit bewusst sein muss. Man muss wissen, was die Füße tun, was die Augen tun, was die Ohren tun, was der Schweif macht, wie es atmet und was Maul und Nüstern tun, denn „Sie wissen, wenn du es weißt, und sie wissen, wenn du es nicht weißt“.
Sie wissen, wann wir mit unseren Gedanken gegenwärtig und geistig präsent im Moment sind: wenn wir nicht an unsere Kinder, unseren Job oder das Abendessen denken. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit ist einer der Hauptgründe für Probleme, die ich Menschen verursachen sehe, und einer jener, die ehrlich gesagt am leichtesten zu verhindern wären.
In meinen Seminaren frage ich oft in die Runde: „Hat jemand von euch schon einmal eine Waffe in der Hand gehabt?“
Stets heben mindestens ein paar Leute die Hand.
Dann frage ich: „Habt ihr, während ihr die Waffe in der Hand hattet, jemals vergessen, dass ihr sie in der Hand hattet?“ Alle Teilnehmer schütteln sofort den Kopf und lachen ein wenig, so, als ob das eine dumme Frage wäre.
„Natürlich nicht!“, ist die einhellige Antwort.
„Aber“, sage ich dann, „ihr habt kein Problem damit, selbstvergessen herumzustehen, während euer 500 Kilo schweres Nutztier den Kopf schnaubend in den Himmel reckt und wegen jedem herabfallenden Blatt ausflippt.“
In den letzten Jahren wurden meine Seminare immer weniger und weniger aufregend: Ich jage die Pferde nicht mehr herum und lasse sie auch nicht mehr wieder und wieder mit der Hinterhand weichen.
Häufig passieren schon große Veränderungen bei den Pferden, wenn ich lediglich den Führstrick übernehme und beginne zu lesen, wo sich das Pferd gerade befindet, sowohl physisch als auch mental. Allein die Tatsache, dass ich dem Pferd Aufmerksamkeit schenke, führt oft zu einer sofortigen Reaktion. Plötzlich steht das Pferd, das seit es mit seinem Besitzer die Halle betrat, nicht einen Moment stillstehen konnte, geduldig vor mir, mit gesenktem Kopf, ruhiger Atmung, deutlich entspannter – und ich habe noch nicht einmal etwas getan!
Das mag vielleicht ein bisschen verrückt klingen. Was ich jedoch damit ausdrücken möchte, ist Folgendes: Pferde können im Grunde unsere Gedanken lesen. Sie wissen, ob man sich dessen bewusst ist, was um einen herum geschieht, oder ob man mit den Gedanken ganz woanders ist. Wenn wir in der Nähe unserer Pferde sind, verhalten wir uns entweder wie ein Teil der Herde und wie ein Teil ihres Sicherheitssystems oder eben nicht. Wenn wir im Moment gegenwärtig sind, uns unserer Umgebung, unseres Körpers und der Gefühle unseres Pferdes bewusst sind, kann es sich in unserer Gegenwart entspannen und weiß, dass wir im Falle eines Falles aufmerksam genug sind, wichtige Informationen durch eine Veränderung unserer Energie weiterzugeben.
In ihrem Buch Animals In Translation (deutsch: „Tiere übersetzt“) spricht die Autorin und Autismus-Botschafterin Temple Grandin über ihren eigenen Autismus und ihre Erfahrung als jemand, der nur in Bildern und nicht in Worten denkt. Sie ist der Meinung, dass viele autistische Menschen und präverbale Kinder dies ebenfalls tun und aus diesem Grund so gut mit Tieren in Kontakt kommen.
Nachdem ich dieses Buch gelesen und mit Pferden experimentiert habe, glaube ich tatsächlich, dass all unser mentales Geplapper für Pferde wie weißes Rauschen sein muss. Ich habe festgestellt, dass das Pferd umso besser auf mich reagiert, je mehr ich mich ganz auf das Pferd einlasse und dadurch das geistige Geschnatter ausschalte.
Die Vorstellung, dass Pferde unsere Gedanken lesen können, mag zunächst seltsam erscheinen. Es bedeutet jedoch nicht, dass sie die kleine Stimme in unserem Kopf hören können; sondern es bedeutet lediglich, dass sie wissen, ob wir geistig in der Gegenwart präsent sind.
Um mit unseren Pferden effektiv kommunizieren zu können, müssen wir dies auf eine Weise tun, die sie verstehen. Denn Pferde leben immer nur im gegenwärtigen Moment. Unsere größte Herausforderung besteht also darin, uns selbst auf diese Ebene des Bewusstseins zu begeben. Wir müssen unsere alten Gewohnheiten und Vorurteile abbauen, um uns mit unseren Pferden auf eine Wellenlänge zu begeben. Für einige wird dies natürlicher sein als für andere, aber jeder hat die Möglichkeit, sich wieder mit der natürlichen Welt zu verbinden, und unsere Pferde bieten uns einen wunderbaren Resonanzboden, um zu prüfen, ob wir bei dieser Wiederverbindung gute Arbeit leisten.
Tom Dorrance und die scheue Katze
Der menschliche präfrontale Kortex ist eines der am weitestentwickelten Systeme im Universum. Die Entwicklung der menschlichen Sprache und Gesellschaft hat es dem Menschen allmählich ermöglicht, sich von reaktiven, instinktgesteuerten Tieren in berechnende, reaktionsfähige Halbgötter zu verwandeln, die Wettermuster vorhersagen und Wirtschaftssysteme schaffen können. Der moderne Mensch muss sich nicht mehr so sehr auf die Körpersprache verlassen, da wir jetzt die Fähigkeit haben, in über siebentausend von uns erdachten Sprachen zu sprechen, und kann auf Facebook mit Menschen kommunizieren, die Tausende von Kilometern entfernt sein können.
Pferde hingegen sind nicht in der Lage, ihre Gefühle verbal zu kommunizieren, und sie haben zum Glück noch nicht herausgefunden, wie man Facebook benutzt. Sie können den Löwen nicht fragen, ob er nur einen Spaziergang zur Wasserstelle macht, oder ob er plant, sie heute zum Abendessen zu verspeisen. Pferde verlassen sich noch immer auf die äußere Körpersprache anderer Tiere, um herauszufinden, was vor sich geht, und darin sind sie sehr gut. Eine der größten Diskrepanzen, die ich zwischen Menschen und ihren Pferden sehe, ist die Tatsache, dass die Menschen vergessen, dass Pferde die Gefühle, die wir in uns tragen, sowie deren äußerliche Anzeichen (angespannte Schultern, starrender Blick usw.) wahrnehmen. Wenn wir eine wirklich tiefe Verbindung zu unserem Pferd haben wollen, müssen wir daran arbeiten, wer wir innerlich sind.
Vor ein paar Jahren traf ich einen älteren Horseman namens John, der viel Zeit mit Tom Dorrance verbracht hatte. John hatte eine wilde Stallkatze auf seiner Ranch, die allerdings stets so schnell von einem Versteck zum anderen huschte, dass sie kaum zu entdecken war. Er wusste nicht einmal, wie sie wirklich aussah – einzig, dass sie irgendwie schwarz-weiß gefleckt war, wusste er.
Er erzählte, dass Tom ihn eines Tages besuchte, nachdem sie sich ein paar Jahre lang nicht gesehen hatten, und sie saßen in der Stallgasse und unterhielten sich. Nach einer Weile huschte die wilde Scheunenkatze quer über das andere Ende der Stallgasse. Kurze Zeit später saß die Katze am anderen Ende der Stallgasse, und John erzählte, dass dies das erste Mal gewesen sei, dass er die Katze richtig betrachten konnte.
Während John und Tom sich unterhielten, wurde die Katze auf wundersame Weise immer mutiger und setzte sich näher und näher an die beiden Männer heran.
„Irgendwann stand die Katze plötzlich da und rieb ihren Kopf an Toms Bein“, erzählte John ungläubig. „Tom blieb zwei Tage lang, und die Katze folgte ihm die ganze Zeit über wie ein Hund. Als Tom abreiste, wurde die Katze wieder so scheu und verwildert wie zuvor. Es war einfach unglaublich.“
Tom lockte die Katze nicht, ermutigte sie nicht, er sah sie nicht einmal an. Die Katze muss einfach etwas in Tom gespürt haben, was sie normalerweise bei Menschen sonst nicht wahrnahm, und das war es, was sie angezogen hat. Es ist diese Art von Energie, die es Tieren ermöglicht, sich in unserer Nähe zu entspannen. Wenngleich es für Tom die natürlichste Sache der Welt war, beweist dies zumindest, dass so etwas möglich ist. Es ist dieselbe Art von Bewusstseinsenergie, die jene Zebras haben, die wachen, während die anderen schlafen.
Cody, der Mustang
Als ich begann, die Trainingsprinzipien zu entwickeln, hieß das Prinzip Arbeite mit dem Pferd, das du heute hast noch Höre auf das Pferd, das du heute hast. Dieses Prinzip war eine bittere Pille, die ich schlucken musste, als jemand, der in der Vergangenheit stundenlang geredet hatte, oft auch über andere Menschen. Ich war so sehr daran gewöhnt, meinen Pferden, Kunden und Mitarbeitern zu sagen, was sie zu tun hatten, dass ich übersah, wie wichtig es ist zuzuhören.
Zuhören war eine Fähigkeit, die ich erst entwickeln musste. Häufig, wenn ich dachte, dass ich eigentlich „zuhöre“, war ich tatsächlich damit beschäftigt, eine Antwort in meinem Kopf zu formen, während ich der Person oder dem Pferd nur am Rande Aufmerksamkeit schenkte. Als ich jedoch anfing, mich voll und ganz aufs Zuhören zu fokussieren, ohne derweil eine Antwort zu formulieren oder bestimmte Erwartungen zu hegen, eröffnete sich mir eine ganz neue Welt: Wenn wir einem Pferd unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, beginnt es, sich in unserer Gegenwart wohl und sicher zu fühlen.
Wie deutlich Pferde unsere Aufmerksamkeit wahrnehmen, habe ich vor ein paar Jahren bei einem dreitägigen Seminar in Texas erfahren. Eine der Teilnehmerinnen, Hannah, hatte einen neunjährigen Mustang namens Cody. Nachdem er sechs Jahre lang bei Hannah gelebt hatte, war Cody im Großen und Ganzen gut erzogen, bis auf das eigenartige Problem, dass er völlig willkürlich durchging. Es war nicht etwa so, dass er immer oder regelmäßig durchging: Es geschah scheinbar zufällig und ohne erkennbaren Auslöser.
Die übliche Problemlösung bei durchgehenden Pferden dreht sich in der Regel darum, die Angst oder Phobie zu erkennen, die sie zum Durchgehen veranlasst, und sie dann langsam an diesen Auslöser zu gewöhnen. Psychologen bezeichnen dieses Vorgehen als Expositionstherapie oder sukzessive Annäherung. Bei der sukzessiven Annäherung führt man langsam den kleinstmöglich rekonstruierbaren Teil des Auslösers ein und steigert die Intensität dieses Auslösers schrittweise, bis sich das Pferd daran gewöhnt hat. Wenn man jedoch nicht weiß, was der Auslöser ist, ist das Problem sehr schwer zu lösen. Manchmal haben die Fälle auch mehr mit einem grundlegenden Angst- oder Spannungsniveau zu tun, das sich leicht in ein Durchgehen entladen kann. Bei derart unberechenbaren Fällen ist ein Ansatz erforderlich, der die Beunruhigung des Pferdes bereits in den frühen Phasen des Trainingsprozesses von Grund auf abträgt.
Die meisten meiner Seminare haben zwölf Teilnehmer. Obwohl ich es inzwischen etwas anders handhabe, hatte ich früher sechs Menschen und Pferde in der Vormittagsgruppe und sechs in der Nachmittagsgruppe. Am ersten Tag erarbeitete ich mit Cody Grundsätzliches am Boden, nichts Besonderes. Am zweiten Tag arbeitete Hannah daran, Codys Hinterhand weichen zu lassen. Dabei fordert man das Pferd auf, mit den Hinterbeinen überzutreten – idealerweise sollte es das tun, indem es seine Bauchmuskeln anspannt und mit dem inneren Hinterbein unter den Körper tritt, anstatt die Beine steif nebeneinander zu stellen oder etwa einen Schritt nach hinten zu machen.
Die Fähigkeit der Pferde, sich mit beiden Hinterbeinen gleichzeitig abzustoßen, ist seit Tausenden von Jahren eine ihrer besten Überlebenstaktiken. Ihre muskulöse Hinterhand bietet unmittelbaren Zugang zu enormer Kraft. Damit Pferde diese Kraft jedoch effektiv nutzen können, müssen ihre Hinterfüße parallel zueinander in der Körperachse stehen. Wenn ein Pferd beim Übertreten der Hinterhand mit den Hinterbeinen zusammen oder nach hinten tritt, ist das ein ernst zu nehmendes Anzeichen dafür, dass es unter Spannung oder unter Stress steht, was in hochexplosives Verhalten wie Durchgehen, Bocken, Springen, Treten usw. münden kann. Wenn ein Pferd beim Weichen mit der Hinterhand jedoch entspannt mit dem inneren Bein nach vorwärts-außen tritt und dabei vor das äußere Bein kreuzt, ist das ein Zeichen dafür, dass es sich sicher genug fühlt, um auf die Option zu verzichten, im Falle einer Gefahr über alle Berge zu flüchten.
Hannah sagte mir, dass sie ein Problem mit Cody beim Weichenlassen der Hinterhand hatte. Wenn sie sich seiner linken Seite von vorne näherte, stellte er sich ihr mit seinem Kopf in den Weg. Oftmals, wenn so etwas passiert, ist es so, dass das Pferd die Gedanken des Menschen liest. Wenn der Mensch die Position vor dem Pferd verlässt, denkt er nicht: „Ich gehe um seine Schulter herum“, sondern: „Ich gehe um seine Schulter herum und lasse ihn mit der Hinterhand weichen.“
Das Pferd liest dieses mentale Bild, die Energie und die Körpersprache und beginnt gleich zu erahnen, dass es im nächsten Moment mit der Hinterhand weichen muss. Wenn der Mensch nun beginnt, um die Schulter herumzugehen, wird das Pferd seine Hinterhand bereits nach rechts bewegen, was dazu führt, dass sich sein Kopf nach links bewegt. In der Folge denkt der Mensch, das Pferd würde versuchen, sich ihm in den Weg zu stellen.
Wenn jemand ein Problem mit einer Technik hat, übernehme ich normalerweise und probiere sie selbst aus. Wenn ich die Hinterhand eines Pferdes weichen lasse, konzentriere ich meine Absicht zuerst voll darauf, auf die Seite des Pferdes zu gelangen, und normalerweise blockt mich das Pferd dann auch nicht ab. Auch bei Cody hatte ich die Absicht, lediglich um seine linke Seite herumzugehen, aber als ich dazu ansetzte, drehte er seinen Kopf und blockte mich ab. In der Vergangenheit hätte ich darauf vielleicht anders reagiert, aber ich war zu dieser Zeit dabei, mit neuen Ansätzen zur Problemlösung zu experimentieren. Anstatt das Verhalten zu korrigieren, nahm ich es als eine sehr subtile Mitteilung wahr, dass er meinetwegen beunruhigt war.
Ich trat also etwas zurück und wartete auf ein Zeichen von Cody, dass seine Besorgnis zurückging. Ich wartete, bis er wieder zu blinzeln begann, denn ein starres Auge ist ein deutliches Zeichen dafür, dass ein Pferd sich gestresst fühlt.
Dann versuchte ich es erneut, und wieder blockte er mich ab. Ich trat erneut zurück, um ihm zu zeigen, dass ich auch diese kleine Geste der Beunruhigung gesehen hatte. Das Ganze wiederholte ich etwa zehn Minuten lang.
Schließlich konnte ich auf dieser Seite um ihn herumgehen, ohne dass er mich abblockte oder Besorgnis zeigte.
Dann dachte ich: „Ich frage mich, was ich sonst noch an Kleinigkeiten ausprobieren könnte, um zu sehen, ob er auch dabei Anzeichen von Beängstigung zeigt?“
Ich beschloss, einfach meine Hand auf seinen Hals zu legen und auf ganz subtile Anzeichen von Stress zu achten. Als meine Hand seinen Hals berührte, hob er seinen Kopf etwa einen Zentimeter an, woraufhin ich meine Hand wieder wegnahm und von ihm zurücktrat.
Ich wartete, dann trat ich erneut vor und versuchte es noch einmal. Wieder hob er den Kopf, und ich trat zurück, um seine Besorgnis zu würdigen. Auch das ging etwa zehn Minuten lang so, bis ich schließlich vor ihn treten, um ihn herum bis zu seiner Schulter gehen und dann meine Hand auf seinen Hals legen konnte, ohne dass er Anzeichen von Beunruhigung zeigte.
Als Nächstes arbeitete ich am Übertreten der Hinterhand, wie Hannah es getan hatte, und konnte schließlich von vorne auf seine Seite gehen, meine Hand auf seinen Hals legen und ihn dann mit der Hinterhand weichen lassen, ohne dass Cody jegliche Zeichen der Angst zeigte.
Dieser schrittweise Prozess ähnelte sehr der zuvor erwähnten sukzessiven Annäherung, obwohl ich mich dieses Mal hauptsächlich auf die subtilen Anzeichen von Anspannung, das leichte Anheben des Kopfes, das Blinzeln (oder dessen Fehlen) und das Zucken um Maul und Nüstern konzentrierte. Ich machte erst weiter, wenn Cody mit der Position meiner Hand komplett einverstanden war.
Das dauerte insgesamt etwa eine halbe Stunde. Dann übergab ich ihn zurück an Hannah. Sie fragte: „Was soll ich jetzt mit ihm machen?“, worauf ich antwortete: „Bleib einfach da stehen, sei bei ihm und lass ihn über all das nachdenken.“
Ich ging und widmete meine Aufmerksamkeit also einem anderen Seminarteilnehmer. Etwa zehn Minuten später hörte ich ein kollektives Luftschnappen der Zuschauer. Ich drehte mich um und sah, wie Cody sich auf die Vorderfußwurzelgelenke fallen ließ, dann auf den Bauch legte und einschlief, wobei er kleine Staubwolken über den Hallenboden schnarchte. Er döste eine Weile, dann wälzte er sich genussvoll, stand auf, schüttelte sich, legte sich wieder hin und schlief erneut ein.
Illustration © Rachel Urquhart
Wir alle sahen einige Minuten lang schweigend zu, während er schlief. Er wälzte sich noch einmal und schlief wieder ein. Er schlief bis Mittag, ohne sich um die Menschenmenge, den Lärm der Lautsprecher und die anderen Pferde, die an ihm vorbeiliefen, zu kümmern.
Während er seine Ruhe genoss, fragte ich Hannah, ob er sich denn häufiger einfach so hinlegt und schläft. Sie erzählte mir, dass sie ihn in den sechs gemeinsamen Jahren nur ein einziges Mal habe liegen sehen. Damals habe er auf der Weide gelegen, aber sobald er ihre Anwesenheit in der Ferne bemerkte, sei er aufgesprungen.
Als Hannah Cody am nächsten Morgen in die Arena führte, fragte sie mich, was sie mit ihm tun sollte. Ich meinte, sie könne vielleicht einfach bei ihm bleiben und sehen, was passiert. Das tat sie, und nach etwa zwanzig Minuten legte er sich wieder hin und schlief fest ein. Obwohl andere Pferde um ihn herumgeritten wurden, blieb er für die nächsten drei oder vier Stunden regungslos liegen.
Nach diesem Seminar recherchierte ich ein wenig, um herauszufinden, warum Cody so plötzlich eingeschlafen war. Ich fand heraus, dass Pferde sich hinlegen müssen, um in die REM-Schlafphase zu gelangen, und dass sie ängstlich und unruhig werden können, wenn sie nicht ausreichend REM-Schlaf bekommen. Während dieser Schlafphase befinden sich Säugetiere in einem tiefen Lähmungszustand des Körpers, auch wenn ihr Geist relativ aktiv ist. Um sich dazu hinlegen zu können, müssen sich Pferde jedoch auch sicher genug fühlen.
Offenbar hatte sich Cody in den sechs Jahren zuvor nicht sicher gefühlt. Drei Jahre nach diesem Seminar sprach ich mit Hannah und erfuhr, dass er seither nie wieder durchgegangen war.
Die Frage drängt sich auf: „Was habe ich getan, damit er sich sicher fühlt? Sicher genug, um sich mitten im Seminar hinzulegen, und sicher genug, um nie wieder durchzugehen?“
Ich ließ Cody wissen, dass ich sehr präsent war. Ich ließ ihn wissen, dass ich präsent genug war, um all die kleinen Dinge zu bemerken.
Ich ließ ihn wissen, dass ich geistig im Hier und Jetzt war, keine Agenda verfolgte und – das war wohl am wichtigsten – dass ich bereit war, ihm zuzuhören und mich geduldig mit ihm durch seine Besorgnis hindurchzuarbeiten.
Diese Herangehensweise war anders als alle anderen Methoden, die ich normalerweise bei einem Durchgänger vorgeschlagen hätte. Aber seither bin ich viel achtsamer geworden, wenn es darum geht, die leiseste Anspannung eines Pferdes zu erkennen und zu lösen.
Cody hat mir die Augen geöffnet und ließ mich erkennen, wie wichtig Bewusstheit ist und wie sie den Pferden in unserer Nähe Sicherheit vermitteln kann. Als ich erkannte, dass Cody nicht bereit für das war, was ich zu tun versuchte, musste ich mich von meinen Erwartungen lösen. Ich musste mich selbst zurücknehmen und herausfinden, was Cody in diesem Moment brauchte. Ich habe mit dem Pferd gearbeitet, das ich an diesem Tag hatte.
Der Mustang und das Huhn
Ein ähnliches Erlebnis bescherte mir einige Monate später ein anderer Mustang in einem Seminar auf unserer Ranch in Kalifornien. Der Mensch, der den Mustang zu dem Seminar mitbrachte, war ein sogenannter TIP-Trainer (Trainer Incentive Program, deutsch: Trainer-Anreiz-Programm) der Mustang Heritage Foundation. Das TIP wurde gegründet, um die Kluft zwischen der Öffentlichkeit und dem Übermaß an Mustangs, die nach dem Einfangen in sogenannten Off-Range-Corrals gehalten werden, zu schließen. Die Mustang Heritage Foundation bezahlt die Trainer für die Ausbildung der Pferde, die anschließend auf einer Auktion verkauft werden.
Dieser TIP-Trainer jedenfalls wollte mit dem Mustang an einem Extreme Mustang Makeover teilnehmen. Das ist ein Wettbewerb, bei dem die Trainer im Vorfeld 100 Tage für die Ausbildung der Pferde zur Verfügung haben, um in dieser Zeit so viel wie möglich zu erreichen, bis sie bei einem Makeover-Event gegeneinander antreten. Anschließend werden die Pferde öffentlich versteigert.
Dieses Pferd war seit sieben Wochen in menschlicher Obhut und bereits kastriert worden. Der Ausbilder war ein geschickter Reiter, machte mit dem Pferd bereits einiges an Bodenarbeit und war sogar schon ein paarmal auf ihm geritten.
Das Erste, was mir auffiel, war, dass der Mustang zwar gehorsam war, aber irgendwie verschlossen schien. Ein Pferd im „Shutdown“-Modus hat sich mental in sich selbst zurückgezogen und tut so, als ob es gar nicht da wäre. Es läuft nicht weg und es kämpft nicht; es hat seine Niederlage akzeptiert und wartet darauf, dass alles irgendwie vorübergeht.