Die Ablebensprämie - Ilse Anna Eichinger - E-Book

Die Ablebensprämie E-Book

Ilse Anna Eichinger

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Beschreibung

Ein dystopischer Gesellschaftsroman im Spannungsfeld einer innovativen Verjüngungsmedizin und einem manipulativen Staat, der mit Einführung der sogenannten Ablebensprämie dem demografischen Wandel entgegenzuwirken versucht. Frau Edith Müller-Heinrich, Kanzlerin und Befürworterin der sogenannten Ablebensprämie, gerät in einen inneren Konflikt, als sie sich, überzeugt von einer guten Freundin, in die Hände von Professor David Kerr begibt. Dieser gründete eine Verjüngungsklinik, getarnt als Beautyfarm "Terra Iduna", für betuchte Klientel. Bleibt ihr Besuch beim Professor unentdeckt oder büßt sie jegliche Glaubwürdigkeit ein?

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Alle Personen und Orte sind frei erfunden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten sind rein zufällig.

Inhalt

Prolog

Hedwig

Edith

Alexandra

Gotthilf

Magda

Ottilie

Joachim

Ayliz

Kamilla

Prof. David Kerr

Zuzanna

Dr. W. Cobell

Simon

Bibi

Walter

Maggie

Erna

Mira

Ella

Paul

Dr. A. Stein

Sabrina

Rosina

Igor

Joshua

Johannes

Epilog

Prolog

Ein Land, in dem sich die Menschen endlich von der Überalterung der Gesellschaft befreit haben werden, und jung, leistungsfähig, umweltbewusst, aber vor allem gesund sind.

So die Vision, so fast schon die Realität.

Aber es sollte daran noch ein wenig gefeilt werden, schließlich könne man eine solche Gesellschaft nicht von heute auf morgen formen.

Anfangs war alles sehr schwierig. Das Gesundheitssystem war in eine Schieflage geraten, die Alten- und Pflegeheime überbelegt. Auch eine Pandemie, die jüngst stattfand, konnte nicht wirklich dazu beitragen, dieses Problem dauerhaft zu lösen, obwohl das Virus sehr darum bemüht war vor allem die Alten und Geschwächten, ganz im Sinne der darwinschen Lehre, auszurotten. Mittlerweile war ein Impfstoff gefunden, das Virus hatte sich beleidigt zurückgezogen, dabei hatte es doch alles so gut gemeint. Und folglich schnellte der prozentuale Anteil der Alten wieder in die Höhe.

Der Staat musste sich also etwas einfallen lassen. Plan B sozusagen. Das Virus hatte niemand in irgendeinem Labor hergestellt, obwohl Verschwörungstheoretiker dergleichen behaupteten. Es war über die Erde gekommen, als Hinweis, als Warnung, dass zu viele Menschen den armen gebeutelten Planeten bevölkerten.

So griff man jene Botschaft auf und entwickelte daraus eine eigene Strategie. Der Mensch sollte selbstlos werden, auf das Gemeinwohl bedacht, er sollte einsehen, wann Schluss sei mit dem eigenen Anspruch auf Leben und er sollte freiwillig Platz machen für seine jüngeren Angehörigen, seine Kinder und Enkel, sofern er am Familienleben keine aktive Rolle mehr übernehmen könne.

Nachdem nicht nur das Gesundheits- und Pflegewesen überlastet, sondern auch die Rentenversorgung durch das nicht Ableben-Wollen der Alten komplett ausgeschöpft war, stellte der Staat den Rentenanspruch ab dem 75. Lebensjahr ein, stattdessen erhielt man zum 75. Geburtstag ein Geschenk der besonderen Art: 15 g Natrium-Pentobarbital in wasserlöslicher Form – garantiert tödlich, verbunden mit einer sogenannten Ablebensprämie für die Hinterbliebenen.

So gab es die einen, die, die behaupteten das Leben sollte rechtzeitig ein Ende finden. Die einen, das war der Staat, der „untaugliches Leben“ gerne vermeiden wollte, also Leben, das nur Kosten verursachte. Paradoxerweise ließ er sich das auch einiges kosten.

Und es gab die anderen, die, die der Meinung waren, dass Leben nicht bewertet werden dürfe. Jeder sollte sein Leben genießen oder eben aushalten bis zu seinem natürlichen Ende. Es waren vor allem die Gottesanbeter und Möchtegernheiligen, die so dachten.

Und dann gab es noch eine dritte Gruppe, nämlich diejenigen, die der Meinung waren, das Altern sei ohnehin würdelos, die also selbst nicht in diese Situation kommen wollten, und jene hatten sich um einen Guru geschart, der ihre Jugend zu konservieren und sogar wieder herzustellen in der Lage war.

Hedwig

Nebel lag über dem Feld hinter dem Garten und eine blass aufgehende Sonne war gerade dabei, sich einen Weg durch dieses Dickicht zu bahnen. Feuchte lag in der Luft und der Tau hatte sich auf die letzten bunten Blüten gelegt. Die waren allerdings noch recht üppig, Herbstdahlien mit ihren leuchtend gelben, spitzen Kugelblüten. Hier am Zaun zum Feld waren nicht nur die gelben, sondern auch rote und weiße, violette und welche in Pink zu finden. Eine bunte Vielfalt, ein letzter Gruß des Sommers, der nun schon zwei Monate zurücklag.

Hedwig hantierte mit ihrer Gartenschere, sie befreite die Beete von welkem Laub, sie schnitt hier und da ein Ästchen, das ihr nicht wohl gewachsen war, das dünn und schwach wirkte und unnötig Kraft verbrauchte. In aller Herrgottsfrühe stand sie hier im Garten, das machte sie oft. Besonders in der Hochzeit des Sommers genoss sie die morgendliche Kühle, die Stille, bevor alles zum Leben erwachte, wenn die Sonne ihre Strahlen ausbreitete.

Doch jetzt hatte der Herbst Einzug gehalten, ein Wunder, dass die Dahlien noch ihre Farben verschwenderisch verschleuderten, denn es war bereits Ende Oktober.

Hedwig – eine kleine, zarte, aber auch zähe ältere Frau. Viele Sommer hatte sie in diesem Garten verbracht.

Sie sah ihre Kinder herumtollen, mit dem Hund spielen, den sie damals hatten. Ein Dackel, ein roter Dackel. Er war so pfiffig! Er konnte sich so gut verstecken, dass Alina und Leo ihn nicht mehr finden konnten. Aber Hedwig wusste, wo er war. Er war immer ganz hinten unter den Sträuchern, dort wo das Gestrüpp dicht war, dort machte er sich ganz flach. Ein Lächeln spielte um ihren Mund, als sie daran dachte.

Später, die Kinder waren schon Studierende, Franz‘ letzter Geburtstag, an jenem heißen Augustabend mit vielen Gästen. Es war sein Fünfundfünfzigster. Drei Monate später war er tot.

Schnell ging es mit ihm. Sehr schnell. Insgeheim war Hedwig ihm immer noch gram, dass er sich so sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hatte. Schließlich hätte sie mit ihm noch so viel vorgehabt. Reisen, endlich gemeinsame Zeit genießen, ohne Verpflichtungen. Dabei hatte er seinen Job noch gar nicht aufgegeben. Er plante vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, doch das Schicksal kam ihm zuvor.

Alles lange her. Dreizehn Jahre waren seitdem vergangen.

Doch manches kam ihr so vor, als sei es erst gestern gewesen. Eine Eigenschaft des Älterwerdens war die Tatsache, dass sich Vergangenes in seiner Rückschau zu einem Klumpen verdichtete, der mal näher, mal entfernter auf der Umlaufbahn des Gedächtnisses kreiste.

Der Garten war Franz’ Steckenpferd gewesen. Hedwig war eigentlich nicht „gartenaffin“, doch mit den Jahren nach Franz’ Tod erfuhr sie darin Trost, sein Paradies weiter zu hegen, das machte ihr sein Ableben erträglicher. So wuchs sie in dieses Vermächtnis hinein und es erfüllte sie zunehmend mit Freude. Es war eine schwere Zeit gewesen, das unerwartete Alleinsein zu ertragen. So suchte sie auch allerhand Zerstreuung in diversen Hobbys und Ehrenämtern. Ihre liebste Beschäftigung war schon immer der Chorgesang gewesen, besonders die Kirchenmusik lag ihr sehr am Herzen. In dunklen Zeiten erwies sich Musik immer ermutigend. Doch in der ersten Phase der Trauer hatte eine Lähmung von ihr Besitz ergriffen, die sich mitunter auf die Atemräume auszudehnen schien, die ihr jegliche Kraft raubte, zumal die Melodien sie in einer Weise berührten, die ein Singen unmöglich machten. Sie zweifelte und zog sich zunächst zurück. Johannes, der Chorleiter, war ihr immer sehr nahegestanden, doch erst einmal hielt er sich im Hintergrund. Dies entsprach seinem Charakter, er war der leise Typ von vornehmer Zurückhaltung, der Unscheinbare mit Tiefgang.

Es vergingen etliche Monate, bis das Telefon klingelte.

„Johannes, hier Johannes ...“, sie erinnerte sich noch genau an diesen ersten Anruf. Seine Stimme stockte.

„Ah, hallo Johannes, schön von dir zu hören. Wie geht es im Chor?“, antwortete Hedwig unerwartet schnell, dennoch war sie erstaunt, dass der stille Johannes bei ihr anklingelte.

„Im Chor geht es gut, aber wie geht es dir? Möchtest du nicht wieder einmal vorbeikommen – es versuchen? Der Sopran bräuchte Unterstützung.“

Hedwig war geschmeichelt, dass man sie offenbar vermisst hatte. Dennoch lehnte sie zunächst ab.

„Vielleicht brauche ich doch noch etwas Zeit ...“, war ihre Antwort.

Johannes zeigte sich verständnisvoll, aber er ließ auch nicht im Verborgenen, dass sie jederzeit willkommen sei und wenn sie wolle, sollte sie einfach spontan entscheiden an einer der Proben teilzunehmen. Sie wisse ja wann und wo diese stattfänden.

Das war ein schönes Angebot, das sich Hedwig in den darauf-folgenden Wochen durch den Kopf gehen ließ.

An einem herrlichen Abend im Mai fasste sie sich endlich ein Herz. Christi Himmelfahrt war vorbei, es ging auf Pfingsten zu. Die Tage wurden immer länger, zum ersten Mal schlich sich wieder ein wenig Leichtigkeit in Hedwigs Leben, als sie auf dem Weg zur Pfarrkirche St. Nikolaus zur Chorprobe war. Die Kastanien standen in voller Blüte und verströmten den Duft des späten Frühlings. Ein kleiner Funke regte sich in Hedwig, ein Funke, der ein lange verschwundenes Gefühl entzündete: Ja, es war so etwas wie Freude, die sich in Hedwigs Herz ausbreitete. Durfte sie sich in den letzten Monaten nicht freuen? Oder konnte sie nicht? Musste die Trauer alles überlagern, weil man das dem Verstorbenen schuldete oder war es schier unmöglich? So genau konnte Hedwig das nicht herausfinden, ein kleiner Anteil an schlechtem Gewissen machte sich allerdings bemerkbar, als sie sich plötzlich so leicht und frei fühlte an jenem schönen Frühlingsabend.

Die anderen Chormitglieder hatten ihre Plätze bereits eingenommen, als Hedwig (sie kam gerne etwas knapp zu Terminen) auf der Empore der kleinen Kirche auftauchte. Alle Augen richteten sich auf sie. Unangenehm berührt hauchte sie eine kurze Begrüßung und tauchte flugs unter auf ihrem angestammten Platz. Freundliche Gesichter wandten sich ihr zu. Sie nickte schüchtern.

Sie war froh, als Johannes zum Einsingen aufforderte, dadurch rückte sie aus dem Fokus, jeder konzentrierte sich nun auf seine Stimme.

Dann kamen bewegende Marienlieder, passend zum schönen Wonnemonat Mai.

Die Probe verflog im Nu und Hedwig fühlte sich gefestigt, es war etwas mit ihr geschehen, eine neue Phase ihres Lebens sollte anbrechen. Es war das erste Mal seit langem, dass die bleierne Schwere der letzten Monate für mehrere Stunden von ihr gewichen war.

Als die Stunde beendet war und sich die Chormitglieder zum Ausgang begaben, rief Johannes Hedwig zurück:

„Ach Hedwig, bleib doch noch einen Moment, ich wollte dich noch fragen, ob du bei der letzten Marienandacht im Mai schon mit dabei sein willst? Wie fühlst du dich mit den Liedern, fühlst du dich sicher, wenn wir nur noch eine Probe haben?“

Derweil hatte sich der Platz auf der Empore geleert und sie waren nun allein. Hedwig und Johannes.

„Nun ja“, so Hedwig, „vielleicht könntest du die Schlusspassage des ersten Liedes nochmal auf der Orgel anspielen, da fühle ich mich noch unsicher.“

„Gerne, stell dich neben mich, wir singen gemeinsam und ich begleite!“

So sangen sie, sie sangen das ganze Lied mehrmals hintereinander und es gelang immer besser. Dann sang er die Unterstimme und sie den glockenhellen Sopran. Es hörte sich wunderbar an, fast zu berührend für Hedwig. Doch sie hatte sich im Griff. In diesem Moment war alle Trauer dahingegangen, Hedwig schwebte auf den Tönen hinfort, die sie formte.

Dann zeigte sie auf das Notenblatt, eine unklare Stelle:

„Hier komme ich ein wenig durcheinander, stimmt es so, wie ich singe?“

„Ja, aber ja! Es stimmt! Und es hört sich sehr gut an!“, dabei führte Johannes seine Hand in ihre Richtung, ihre Finger ruhten noch auf der unklaren Phrase, seine Hand legte sich auf die ihre. Mit dieser Berührung hatte sie nicht gerechnet. Fast wäre sie zusammengezuckt, doch es ergab sich ganz anders. Die Wärme, die er ausströmte, hatte etwas Tröstliches, Tiefes und zugleich Starkes, dem zu entziehen sie sich nicht in der Lage fühlte. So ließ sie es geschehen, sie ließ es länger als einen Augenblick geschehen, so, als wollte sie herausfinden, dass es sich nicht um ein Versehen gehandelt haben könnte. Abschließend drückte er ihre Hand, innig, eindeutig in seiner Botschaft und sah sie an. Fast wie ein fünf-zehnjähriges Mädchen fühlte sie sich jetzt. Ein wenig beschämt und zugleich erregt. Dabei gingen ihr allerhand Gedanken wie Blitze durch den Kopf, wie zum Beispiel, dass Johannes um so vieles jünger war als sie. Wie konnte es sein, dass Johannes ausgerechnet ... Wie konnte es sein?

Johannes hingegen wirkte so gar nicht verwirrt. Er hatte diesen Schritt lange geplant. Er ging zur Tagesordnung über, fragte Hedwig, ob ihr nun alles klar sei. Diese Frage war in ihrer Zweideutigkeit nicht zu überbieten.

Mit leicht geröteten Wangen erwiderte Hedwig: „Ja, ja, mir ist alles klar jetzt.“ Dann machte sie kehrt Richtung Treppe und drehte sich auf dem Absatz noch einmal kurz um. Ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen, hob sie eine Hand zum Gruß und stammelte ein: „Ade, ade Johannes!“, worauf sie verschwand.

So erinnerte sie sich, jetzt, hier im Garten. Eine lange Zeit war das her.

Anfangs hatte Hedwig nicht geglaubt, dass sich diese zarten Bande zwischen ihr und Johannes festigen würden. Schließlich hatte sie mehr als er den Altersunterschied vor Augen. Zunächst nahm sie diese Liebelei nicht zu ernst und gab sich einfach dem beglückenden Reiz junger Verliebtheit hin. Umso mehr überraschte sie, dass Johannes bereits nach kurzer Zeit bei ihr einziehen wollte. Früher hatte er immer etwas verschüchtert, wenn nicht sogar verklemmt auf sie gewirkt. Man hatte ihn nie mit einer Frau gesehen. Offenbar hatte er schon lange ein Auge auf sie geworfen, doch Hedwig war das nie aufgefallen. An ihrer Seite blühte er regelrecht auf, wirkte weniger in sich gekehrt und zeigte sich wesentlich kommunikativer. Hedwig hatte lange gebraucht dieser Liebe zu vertrauen, aber irgendwann war jeglicher Zweifel von ihr gewichen, auch zum Trotz des Geredes derer, die sie argwöhnisch beobachteten. Mittlerweile war Normalität eingekehrt, keiner zerriss sich mehr das Maul, man hatte sich daran gewöhnt.

Johannes kam in den Garten. Er näherte sich Hedwig von hinten, aber sie hatte ihn bereits gehört. Er nahm sie in den Arm, sie drehte sich zu ihm um, liebevoll ergriff er ihr Gesicht, zog es ein wenig heran und küsste sie. Das machte er immer so, morgens. Diese Berührung des Gesichtes hatte etwas sehr Vertrautes, Warmes, so empfand es Hedwig

„Schon wieder fleißig?“, murmelte er noch etwas schlaftrunken lächelnd.

„Lass uns frühstücken! Ich bin sowieso fertig hier, außerdem wird mir langsam kalt“, erwiderte Hedwig.

Drinnen hatte sie bereits den Tisch gedeckt. Johannes setzte sich und strich sich die Locken aus dem Gesicht. Er hatte immer noch diese strubbeligen Locken, obwohl er inzwischen auch schon 53 Jahre alt war. Sie hatten ein wenig grau angenommen, doch das machte ihn nicht weniger attraktiv. Er wirkte nicht nur jugendlich für sein Alter, er war obendrein ein sehr gutaussehender Mann. Er blickte auf. Seine bernsteinfarbenen Augen hatten es ihr immer schon angetan.

Es war schön, wenn er sie so direkt anblickte. Hedwig war glücklich.

Umso mehr nagte dieses Programm in ihrem Inneren, das die Regierung kürzlich aufgelegt hatte. Dieses Programm, das Johannes so ungeheuerlich abscheulich fand und das ihn derart erzürnt hatte, dass es fast zu einem Streit zwischen ihnen beiden gekommen war. Das kam nämlich äußerst selten vor. Denn Hedwig fand es nicht so abwegig, was da vorgeschlagen wurde. Schließlich hatte sie lange Jahre ihre Mutter gepflegt und wusste, was es bedeutete, wenn man alt und gebrechlich war.

Gut, sie hatte noch ein paar Jahre bis dahin, ein paar Jahre, bis es ernst würde. Bis sie eine Entscheidung treffen müsste. Doch man konnte sich schon einmal mit dem Gedanken auseinandersetzen, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Johannes wollte davon nichts hören. Für ihn war diese Überlegung anzustellen noch in weiter Ferne. Obendrein war er der Ansicht, dass sie in dieser Hinsicht ein gleichwertiges Paar wären, doch das stimmte schlichtweg nicht. Hedwig war fünfzehn Jahre älter als Johannes, daran konnte man nun einmal nichts ändern.

Sollte sie noch einmal darüber sprechen? Immerhin war noch Zeit, auch für sie war noch Zeit, deshalb wollte sie noch ein wenig warten, bis sie das Thema wieder anschneiden würde. Auch wegen des Geldes würde sie es machen. Es war ein attraktives Angebot, was der Staat einem da machte. Und je eher man sich zu einer endgültigen Entscheidung durchrang, desto höher fiel die Prämie aus. Für Alina und Leo wäre es eine willkommene Finanzspritze, sie könnten das Doppelhaus bald schuldenfrei bekommen und hätten ein sorgenfreies Dasein. Außerdem wäre Hedwig die Angst genommen einmal so zu enden wie ihre Mutter. Es war ein tiefer Schock gewesen, damals, als Mama Rita so plötzlich immer hilfsbedürftiger wurde. Hedwigs Bruder Bruno hatte sich aus dieser Verantwortung zurückgezogen, er lebte schließlich über hundert Kilometer entfernt und kam nur ab und zu zum Besuch vorbei. Ihre Kinder studierten zu dieser Zeit auswärts, von ihnen war also auch keine Hilfe zu erwarten. Die Pflege blieb an Hedwig hängen. Das Erbe wurde gerecht aufgeteilt. Fünf lange Jahre war Hedwig ans Haus gefesselt gewesen, bis auf kurze Einkäufe, oder wenn sie einmal für ein paar Stunden eine Betreuung organisiert hatten, wenn Franz und sie ein Konzert besuchten.

Es war eine schwere Zeit gewesen, denn kurz nach Ritas Tod war Franz derjenige, der ihr als erster nachfolgte.

Und war es nicht so, dass die Angst vor dem Sterben dazu führen konnte, sich das Leben nehmen zu wollen?

Schließlich weiß niemand, wie es einmal sein wird. Wird sich der Tod behutsam anschleichen? Kommt er auf leisen Sohlen oder mit leidenschaftlicher Wucht? Könnte man ihn freundlich begrüßen oder wäre es einem verwehrt? Diese Fragen würden natürlich entfallen. Denn alles war ganz klar. Der Tod würde kommen, wenn man ihn persönlich einlud. Zum Dinner mit Kerzenschein, nach einer gigantischen Abschiedsparty im Kreis der Familie.

Man würde noch einmal festlich essen und trinken, man würde lachen, man würde tanzen. Vielleicht hätte man noch einmal Sex mit dem Liebsten ...

Und dann: Lichter aus. Merkwürdige Vorstellung. Aber immerhin hätte man keine Angst mehr vor dem Sterben. Es war klar, es war kurz, ein finaler Abschiedsschmerz. Eigentlich war es richtig. Es war sozial. Es war gerecht. Es war für die Gemeinschaft der höchste Akt an Selbstlosigkeit, seinen Platz zu räumen, wenn man seine Rolle erfüllt hatte. Dem Schauspiel „Leben“ ein würdiges Ende geben, ja, es war in Ordnung, es war gut.

„Woran denkst du? Du bist so ruhig heute Morgen“, mit diesen Worten wandte sich Johannes an Hedwig.

„Ach, ich musste gerade daran denken, dass Alina heute noch die Kinder vorbeibringt“, log Hedwig. Sie wollte auf keinen Fall diese ganze Diskussion jetzt aufrollen, denn sie kannte Johannes’ Einstellung.

„Wir könnten ein wenig in den Wald gehen, zum Hirschgehege. Was meinst du?“

„Warum nicht? Ich muss erst um 18 Uhr zur Abendmesse. Wann wollte Alina vorbeikommen?“

„Ich denke um zwei Uhr, denn dann wollte sie mit René das Haus besichtigen.“

„Ach, sie haben also immer noch diese Pläne? Ich halte davon gar nichts. Ist doch okay wo sie jetzt wohnen. Eine schöne Altbauwohnung mit Gartenanteil, günstige Miete, was will man mehr?“

„Ja, aber wenn sie jetzt noch ein Baby bekommen wird es zu eng!“

„Papperlapapp! Unsinn! Schließlich haben sie noch das Gästezimmer, das könnten sie als weiteres Kinderzimmer einrichten!“

„Ja, aber das will René nicht! Wenn seine Eltern zu Besuch kommen ist kein Platz.“

„Ich verstehe nur nicht, was sie an dieser beengten Neubausiedlung finden. Das kann ihrem jetzigen Häuschen das Wasser nicht reichen. Allein der Garten!“

„Ist halt was Eigenes. Sie wollten ja immer schon was Eigenes. Eine Doppelhaushälfte, wenn Leo und Ayliz mitziehen. Und es ist näher zu Renés Arbeit.“

„Na ja, sollen sie machen was sie wollen, schön von dir, dass du dich nicht einmischst. Ich würde ihnen schon sagen was vernünftig ist. Aber es steht mir nicht zu.“

„Einen Tipp kannst du immer geben!“

„Einen Tipp ja, aber keinen Vortrag halten und darauf würde es hinauslaufen, deshalb halte ich mich lieber raus!“

Johannes’ Verhältnis zu Alina konnte man durchaus als angespannt bezeichnen, auch wenn er es tunlichst vermied, das zuzugeben. Aber Hedwig wusste es. Johannes missfiel Alinas Art, sämtliche Unterstützung ihrer Mutter als selbstverständlich zu erachten. Sie lieferte die Kinder ab wann immer sie wollte, erbat finanzielle Unterstützung und lud ihre Sorgen zu jeder Tages- und Nachtzeit ab.

Inzwischen war Hedwig dabei, den Tisch abzuräumen. Es ging ihr so vieles durch den Kopf und natürlich ging es auch um ihre Kinder. Wenn sie in ein paar Jahren den Schritt wagen würde, dann wäre das auch für Alina und Leo das Beste. Ihre finanziellen Sorgen würden sich in Grenzen halten. Gerne würde sie ihren Kindern das gönnen. Und außerdem hatte sie ja noch sieben Jahre bis dahin. Sieben lange Jahre.

Edith

Nachdem die Weltbevölkerung aus den Fugen geraten war und der Klimawandel schon etliche bewohnbare Gegenden in Wüsten oder Wasserlandschaften verwandelt hatte, gab es immer noch mehr Menschen denn je. Die kürzlich überstandene Pandemie war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Regierung war nun gefragt, kreative Lösungen zu finden.

Als der Gesetzesvorschlag damals von der Bundesregierung vorgetragen wurde, löste er im Parlament zunächst Entsetzen aus.

Doch schon bald hatte man das Moralempfinden der Vertreter des Bundestages in eine andere Richtung gelenkt, woran auch die Experten des Ethikrates nicht unschuldig waren. Schließlich brauchte man ein Mittel, um den Bundeshaushalt nachhaltig zu entlasten. Die Überalterung der Gesellschaft hatte ein derart hohes Maß angenommen, dass es in den nächsten Jahren schier unmöglich sein würde, die Renten sicherzustellen.

Als das Gesetz verabschiedet wurde, wurden Kampagnen gestartet, die an die Selbstlosigkeit der Bürger appellieren sollten. Natürlich war das nicht der alleinige Grund, der dazu führte, dass immer mehr Menschen dazu bereit waren. Es war das Geld, das dazu beitrug, den finalen Schritt zu wagen. Immerhin war eine Einmalzahlung günstiger für den Staat, als Rente und Pflege für eine unbestimmte Anzahl von Jahren zu bestreiten. Außerdem hatte man dadurch ein Mittel an der Hand, Rentenzahlungen ab einem gewissen Alter zu verweigern. Wer länger leben wollte, brauchte eigene Rücklagen oder solvente, liebende Angehörige.

Die Demokratisch-Ethische Volkspartei, kurz DEVP, hatte schon länger die Mehrheit im Bundestag. Schließlich hatte die Kanzlerin zusammen mit einigen Abgeordneten den Gesetzesvorschlag eingebracht.

Edith Müller-Heinrich war seit vier Jahren im Amt. 52 Jahre, jugendliches Äußeres, fit und schlank, doch in letzter Zeit merkte auch sie, dass die anstrengenden Amtsgeschäfte nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren. Da halfen auch die auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Trainingspläne ihres Personal Coachs sowie die Ernährungsempfehlungen ihres Gesundheitsberaters nichts.

Alles in allem war sie eine sehr disziplinierte Person, streng mit sich und anderen. Sie hatte ein glänzendes Jurastudium hingelegt und war einige Jahre Rechtsbeistand eines großen Wirtschaftsprüfungsunternehmens, bis es sie in die Politik verschlug. Damals war die DEVP noch eine junge Partei, die jedoch alles, was der Wähler bei den alteingesessenen Parteien vermisste, ansprach und versprach zu ändern. Nicht zuletzt durch viele Sponsoren, die Kampagnen unterstützten, wurde die DEVP so schnell erfolgreich. Viele Parteimitglieder hatten zudem gute Beziehungen zu einflussreichen Wirtschaftsunternehmen.

Was die Umweltpolitik anging, konnte sich die DEVP für den weniger kritischen Wähler gut verkaufen. Viele der versprochenen Maßnahmen zum Klimaschutz und zu einer umweltverträglicheren Industrie entwickelten sich jedoch äußerst schleppend. Mit sehr offensiven Aktionen wurde diese Tatsache werbewirksam vertuscht. Immerhin gehörten Kernkraftwerke endgültig der Vergangenheit an, Solar- und Windanlagen wurden in den letzten Jahren ausgebaut und die ökologische Landwirtschaft gefördert. Was den CO2Ausstoß der Industrie anbelangte, steckte man allerdings noch in den Kinderschuhen. Das Dilemma der Staatsverschuldung war allerdings Grund genug, den einflussreichen Wirtschaftsunternehmen immer wieder entgegenzukommen.

Edith Müller-Heinrichs Eltern waren schon lange verstorben, sie hatte demnach keine persönlichen Belange hinsichtlich der Ablebensprämie. Für sie war das eine theoretische Angelegenheit, zumal sie sich in einem Alter befand, wo das eigene Ableben zu gestalten noch in weiter Ferne war. Man konnte sie für herzlos halten, doch es war eher die Realitätsferne, ihr Mangel darin, sich Situationen vorzustellen, die sie nicht schon selbst erlebt hatte.

Sie hatte sich schon seit ihrer Jugend politisch engagiert und als sich einige CDU-Mitglieder entschlossen, eine neue Partei zu gründen, war sie zur Geburtsstunde der DEVP dabei.

Das Privatleben blieb dabei allerdings auf der Strecke. Während ihrer ersten Ehe hatte sie sich einmal kurz mit einem etwaigen Kinderwunsch auseinandergesetzt, doch es kam immer wieder Wichtigeres dazwischen. Auch dieser Umstand hatte zum Scheitern der Beziehung beigetragen. Dann war sie längere Zeit Single, sie konzentrierte sich vollkommen auf Beruf und Karriere. Da sie nicht unattraktiv war, hatte sie einige Affären, zum Teil mit einflussreichen Vorgesetzten.

Als sie jedoch in der Politik kein unbeschriebenes Blatt mehr war, wollte sie ihren Leumund nicht gefährden und heiratete einen langjährigen Jugendfreund, der sie schon seit der Schulzeit verehrte. Zugegeben, er war nicht ihr Traummann, eher ein guter Kumpel und er lag ihr zu Füßen. Er bewunderte sie. Er hatte keine Minderwertigkeitsgefühle, wie sonst Männern häufig zu eigen, wenn sie erfolgreiche Partnerinnen haben. Heribert Heinrich, auch ein Jurist, führte ein eher unaufgeregtes und stilles Dasein in einer Anwaltskanzlei mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht. Es handelte sich um ein Team von fünf Anwälten, die sich gegenseitig austauschten, es war ein gutes Arbeitsklima.

Heribert war Ediths ruhender Pol, ihre Zuflucht, wenn sie erschöpft von den Amtsgeschäften nach Hause kam. Er kochte leidenschaftlich gerne und Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen.

Doch in letzter Zeit nahm ihre Müdigkeit zu, da half auch der friedliche Hafen im trauten Heim nichts, Edith fühlte sich ausgebrannt und alt. Durch ihre beste Freundin Kamilla wurde sie auf David Kerr aufmerksam, jenen Verjüngungs- und Gesundheitspapst, der seit einiger Zeit in der Regenbogenpresse präsent war. Doch über seine Behandlungsweisen wurde lediglich gemutmaßt, niemand wusste Genaueres. Schließlich munkelte man, dass er Methoden hätte durch die die Alterung gebremst werden könnte und der Traum ewiger Jugend für jedermann zum Greifen nahe sei. Das würde das Konzept jener Ablebensprämie aushebeln, welches die Kanzlerin so vehement bewarb und dem Staat dazu diente, enorme Summen für Pflegeeinrichtungen und Renten zu sparen. Unglaubwürdig wollte sie nicht erscheinen, daher waren ihre Kontakte zu Herrn Kerr streng geheim und nicht einmal Heribert wusste davon.

Alexandra

Auf dem Kaminsims, da standen sie nun, auf dem Kaminsims in Alexandras schöner Stadtwohnung. Ihre lieben Großeltern, in einem verschnörkelten Bilderrahmen verewigt, altsilbern mit Blütenornamenten. Sie lächelten, sie strahlten Freude aus und Zufriedenheit, das war noch einige Jahre vor ihrem Freitod. Sie waren ein harmonisches Paar, sie planten und unternahmen alles gemeinsam, bis zum Schluss.

Alexandra sah sie an, heute, an diesem schönen Morgen, die Sonne spiegelte sich auf dem Glas des Bilderrahmens und dahinter lächelten sie, Ottilie und Joachim, wie immer und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit. Dankbarkeit ergriff Alexandra und liebevolle Erinnerungen, wann immer sie das Bild betrachtete, aber je mehr Zeit seit deren Tod verstrich, desto mehr wurden diese auch von Zweifeln durchkreuzt.

Ottilie und Joachim waren zwei der ersten Stunde, was die Inanspruchnahme der Ablebensprämie betraf. Bereits im Jahr ihrer Einführung waren sie bereit gewesen, diesen finalen Schritt zu unternehmen. Zu dieser Zeit waren beide schon fast neunzig Jahre alt und zudem gesundheitlich angeschlagen. Ottilies Sehvermögen hatte in letzter Zeit durch eine Makuladegeneration sehr nachgelassen und Joachim war seit seinem Schlaganfall vor zwei Jahren körperlich beeinträchtigt. Ihre Enkelin Alexandra sollte schließlich davon profitieren.

Hatten sie sich diesen Schritt leicht gemacht? Immer öfter stellte sich Alexandra diese Frage, wenn sie jenes Bild aus unbeschwerten Tagen betrachtete.

Was würde sie selbst tun? Diese Frage hatte sie bisher weit von sich gewiesen, war sie doch in einem Alter, wo der Tod allenfalls in Literatur oder Kino eine Rolle spielte, zumal auch in ihrem Bekanntenkreis gottlob niemand dabei war, der einen frühen Tod in seinem Umfeld zu beklagen hatte.

Aber die Gedanken kamen, sie kamen immer häufiger und das ließ jegliche Freude über den finanziellen Vorteil, der ihr schließlich zugutekam, verblassen. Musste sie ein schlechtes Gewissen haben? Aber nein, der Schritt war immerhin aus freien Stücken geschehen. Auch wenn ihr damaliger Freund Thomas damit nicht umgehen konnte und sich schließlich von ihr trennte. Doch hätten sie sich auch dazu entschieden, wenn es keine Prämie dafür gegeben hätte?

Immer wieder kreisten Gedanken dieser Art in Alexandras Kopf und je öfter sie davon übermannt wurde, desto mehr ärgerte sie sich darüber. Thomas hatte sie damals in einen Konflikt gestürzt. Aber warum rückte er so spät heraus mit der Sprache? Warum sagte er ihr erst, als alles vorbei war, dass er Schuldgefühle hätte und die Sache hinter sich lassen müsste, denn sonst würde er nie mehr froh. Außerdem könnte er sich niemals in dieser Wohnung wohlfühlen. Eine Wohnung, finanziert durch den Tod zweier Menschen. Hätte Alexandra das eher gewusst, dann wäre sie wahrscheinlich in ihrer Zweizimmermietwohnung wohnen geblieben, als Einzelperson. Insgeheim hoffte sie mit Thomas auf baldige Familiengründung. Dieser Traum war jedenfalls zunächst geplatzt. Sie arbeitete in einer Werbeagentur, sie hatte Glück. In dieser Branche war es nicht einfach, einen Job zu finden. Ihr Gehalt war durchschnittlich, wahrscheinlich hätte sie sich in absehbarer Zeit keine Eigentumswohnung leisten können.

Nun war sie hier, vier Zimmer mit Dachterrasse und mitten in der Stadt! Ein Neubau noch dazu! Irgendwann würde dann auch „Mister Right“ kommen und mit ihr zusammen sein wollen, hier in diesem kleinen Paradies.

Sie öffnete die Terrassentür und ging mit ihrem Kaffee hinaus zu den schönen Gartenstühlen, setzte sich in die noch wunderbar warme Herbstsonne und wies ob dieses herrlichen Ortes alle etwaigen Schuldgefühle in ihre Schranken.

Gotthilf und Magda

Der Boden der Altbauwohnung knarzte, Magda trug den Tee ins Wohnzimmer. Sie hatten es gemütlich hier. Für ihr Alter hatten sie erstaunlich wenig Probleme, und die, die sie hatten, hatten sie sich selbst gezimmert. Gotthilf war bereits in seine Zeitung vertieft. Es hatte sie immer gestört, dass er seine Zeitung offenbar mehr liebte und als wichtiger erachtete als ein Gespräch mit ihr und irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, ohne ihm jemals gesagt zu haben, dass sie sich so gerne mit ihm unterhalten hätte.

Sie schenkte erst ihm, dann sich selbst Tee ein und stellte die Kanne aufs Stövchen. Sie teilten sich ein Brötchen. Aber sie schnitten es in der Mitte – also längs – durch, um jegliche Ungerechtigkeit zu vermeiden, wer die flauschige Ober- und wer die dürre Unterseite bekam. Dazu gab es für jeden ein Frühstücksei. Magda liebte Marmelade, Gotthilf bevorzugte Streichwurst. So begann jeder Tag bei den beiden, werktags und sonntags, immer wieder das Gleiche. Nach einer halben Stunde Schweigen stand einer der beiden auf, meistens war es Magda, die zuerst aufstand, denn sie hatte ja nichts zu tun, außer Gotthilf beim Lesen zuzusehen, räumte ab, und sie überlegten, was sie zu Mittag essen sollten. Heute sollte es ein Braten sein, immerhin hatten sie letzten Sonntag nur einen Gemüseeintopf gekocht, weil sie kein Fleisch mehr in der Gefriertruhe hatten. Gotthilf wünschte sich heute einen Rinderbraten in dunkler Soße, dazu Spätzle und Rosenkohl.

Meistens kochten sie gemeinsam, denn Gotthilf liebte das Kochen seit jeher, Magda hingegen wollte sich das Zepter dahingehend nur ungern aus der Hand nehmen lassen, schließlich war sie es so gewohnt, als Gotthilf noch zur Arbeit ging.

Nach ihrer morgendlichen Einkaufstour standen sie dann in der Küche und Magda schabte die Spätzle ins kochende Wasser, während Gotthilf die Soße des Bratens mit Portwein verfeinerte.

„Was machst du denn jetzt schon wieder?“, mäkelte Magda.

„Wir haben das doch letztes Mal auch so gemacht“, erwiderte Gotthilf.

„Nein, da hatten wir Rotwein zugegeben, mit Portwein wird das Ganze zu süß!“

„Ach was, ich weiß doch noch, was ich gemacht habe! Du weißt es nicht mehr, du hast die Soße nicht gemacht!“

„Jedenfalls wird es so nicht schmecken!“, so Magda, und sie hob den Deckel des Topfes, wo inzwischen der Rosenkohl kochte.

„Sieh dir das an! Der ist ja viel zu weich, der ist ja gar nicht mehr grün, sondern schon fast grau, wie lange hast du denn den wieder gekocht?“

„Ach lass mich in Ruhe, ich mag den so!“

„Und was ist mit mir? Ist dir wohl egal, was ich mag und was nicht!“

So keiften sie sich gegenseitig an und auch das gehörte fast immer zur täglichen Routine, wenn sie das Mittagessen zubereiteten.

Meistens fing Magda an zu nörgeln und meistens sagte Gotthilf nichts oder nur wenig dazu. Er war es gewohnt und schaltete oft auf Durchzug.

Wer hatte nun dieses Mal recht? Gotthilf war sich sicher, dass er nichts verändert hatte. Er hatte in letzter Zeit zunehmend den Eindruck, dass Magda nicht nur störrischer, sondern auch immer vergesslicher wurde.

Magda hingegen ließ keine Gelegenheit aus, ihren Unmut kundzutun. Es hatten sich viele Enttäuschungen und Verletzungen über die Jahre angestaut, die nie ausgesprochen wurden und so machte sie auf diese Weise ihrem unterdrückten Zorn unterschwellig Luft. Ihr Keifen und Zetern und an allem etwas zu beanstanden, was Gotthilf tat, war ihr unvollkommenes Bemühen, seine Beachtung zu erheischen. Der traurigen Erkenntnis über ihr vergiftetes Eheleben war sie allerdings nicht in der Lage anders zu begegnen als mit diesen unbewussten Mechanismen. Nun, Gotthilf war kein Heiliger gewesen, er hatte oft mit Kollegen gefeiert, wenn sie zuhause auf sein Heimkommen wartete und nicht fortkonnte, des Sohnes wegen.

Auch diesen Ärger hatte sie in sich hineingefressen. Sie glaubte auch, dass er einmal eine Affäre gehabt hatte, allerdings hatte sie diesen Verdacht nie geäußert und er hatte dahingehend auch Stillschweigen bewahrt.

Aber das war lange her.

Sie saßen sich gegenüber und nahmen wortlos das Mittagessen ein, das im Übrigen ganz gut gelungen war. Die Soße war nicht zu süß und der Rosenkohl war weich, aber nicht verkocht. Das dachte sich Magda, aber sie sagte selbstverständlich nichts dazu. Schließlich wollte sie nicht eingestehen, dass ihr ganzes Zetern völlig umsonst gewesen war. Stattdessen aß sie reichlich, was Gotthilf dazu veranlasste, genau diesen Schluss zu ziehen, den sie nicht fähig war zu erwähnen. Mit einer gewissen Genugtuung räumte er ab, es war kaum etwas übriggeblieben, was nicht an Gotthilf lag.

Nach dem Essen klingelte das Telefon.

„Ach, hallo Olaf, wie geht es dir?“, meldete sich Magda.

„Wie soll es mir schon gehen, heute habe ich Konkurs angemeldet! Keine Ahnung wie ich jemals wieder auf die Beine kommen soll! Sogar Herr Demmler macht mir Druck, weil ich die Wohnungsmiete die letzten zwei Monate nicht gezahlt habe.“

„Ach, das tut mir leid! Leider haben auch wir nichts mehr auf der hohen Kante, alles Ersparte haben wir dir schon gegeben!“

„Ja, ich weiß.“

„Ist das Olaf? Gib ihn mir doch mal“, ertönte Gotthilfs Stimme aus dem Wohnzimmer. Magda reichte ihm das Telefon.

„Olaf?

Nein Olaf, habe ich noch nicht. Aber so schnell geht das nicht.

Ja, ich schon, ich wäre bereit dazu.

Ich muss mit deiner Mutter noch darüber sprechen, hörst du?

Ja, ich gebe dir Bescheid so schnell ich kann!

Tschüss Olaf!“

„Was war los? Was habt ihr gesprochen? Was Bescheid geben? Wozu Bescheid geben?“, erkundigte sich Magda.

Gotthilf nahm sie bei der Hand und führte sie zum Sofa. Er hatte sie schon lange nicht mehr bei der Hand genommen und diese Überraschung konnte der Grund sein, dass Magda vorübergehend verwirrt war, doch eigentlich war ihm klar, dass sie manches nicht mehr nachvollziehen konnte, dass sie geistig immer mehr nachließ.

„Setz dich“, sagte er in einem ungewöhnlich liebevollen Ton.

„Hör mal, ich wollte es schon vor einiger Zeit ansprechen, dass ich Olaf dieses Angebot gemacht habe.“

„Welches Angebot denn?“

„Na, du weißt schon, das von der Regierung!“

„Was von der Regierung?“

Es schien, als habe sie auch diese Option nicht mehr im Gedächtnis. Das, worüber vor zwei Jahren die Zeitungen voll waren, das, worüber sich die Ethikräte den Kopf zerbrachen und das, was schließlich dazu geführt hatte, dass es als ein Akt der Nächstenliebe eingestuft worden war, zum Wohle aller, zum Wohle der Menschheit und zum Wohle der Umwelt.

„Magda, ich habe mir überlegt, dass wir es tun sollten.“

„Was tun?“

„Wir sollten das Geld anfordern und ein für alle Mal verschwinden!“

„Wohin verschwinden?“

„Verstehst du mich immer noch nicht? Weißt du nicht mehr, dass es viel, viel Geld gibt, wenn man sich dazu entschließt, freiwillig ins Jenseits zu verschwinden?“

„Was? Du machst Witze!“

„Magda, die Regierung überweist eine Menge Geld, wenn die Alten dem Staat nicht mehr auf der Tasche liegen! Das könnte Olaf vor dem Ruin retten! Zumindest hätte er so viel, dass er sorgenfrei in seiner Wohnung bleiben kann, dass er Zeit hat, sich einen Job zu suchen. Und selbst wenn er keinen mehr findet, kann er sich wohl so bis zur Rente über Wasser halten! Ich würde es für Olaf tun. Und wenn wir es beide täten, dann würde es auf jeden Fall reichen für Olaf!“

„Was sagst du da? Was sagst du da nur?“

Magda war verwirrt.

Aber langsam stieg eine vage Erinnerung in ihr auf, ja, das Thema war vor einiger Zeit sehr präsent in den Medien. Aber nie hatte sie daran gedacht, davon Gebrauch machen zu müssen. Damals war noch nicht abzusehen, dass Olaf einmal insolvent werden würde. Die Krise durch die Pandemie war zwar allgegenwärtig, aber zunächst sah es danach aus, als würden die Kunden wieder zurückkommen, als würde sein Geschäft für Sportartikel wieder Fahrt aufnehmen. Doch das Einkaufsverhalten hatte sich geändert, die Leute bekamen bei den Versandhändlern alles, wonach sie suchten, in einem unbeschreiblich schnellen Tempo vor die Haustür geliefert und noch dazu meist zu einem geringeren Preis, dass viele Geschäfte nach der Pandemie aufgeben mussten. Auch wenn Olaf erst einmal noch Hoffnung hatte, musste er schließlich einsehen, dass auch er gescheitert war. Zunächst wollte er verkleinern, Personal abbauen, doch erst vor ein paar Jahren hatte er diverse Umbauten vorgenommen, durch die er sich verschuldet hatte. Saisonware war liegen geblieben, er schaffte es nicht, in der Kürze der Zeit einen vernünftigen Onlinehandel auf die Beine zu stellen.

„Du würdest es also tun?“, fragte Magda, nachdem sie ihre Erinnerung wiedergefunden hatte.

„Ich würde es tun“, gab Gotthilf zur Antwort.

Magda schwieg. Gotthilf konnte nicht erkennen, ob ihr Schweigen ein Nachdenken bedeutete oder ob sie bereits wieder dabei war, das Ganze zu vergessen. Das machte ihn ein wenig ängstlich, denn wenn es bei Magda so wäre, dass ihre kognitiven Fähigkeiten auch aus ärztlicher Sicht als eingeschränkt angesehen würden, dann könnte ihre Entscheidung als ungültig erachtet werden. Er durfte also keine Zeit verlieren sie zu überzeugen.

Und wie stand es mit ihm? Wollte er tatsächlich sein Leben für seinen Sohn opfern? Konnte er so selbstlos sein?

Er war fast 76 Jahre alt. Wie viel Zeit würde ihm noch bleiben? Vielleicht wären es noch ein paar Jahre, ein paar schöne Jahre. Immerhin war er gesundheitlich noch ganz gut aufgestellt. Wenn Magdas beginnende Demenz nicht wäre, dann wäre auch sie noch ganz fit. Aber ihre Vergesslichkeit und Begriffsstutzigkeit machten ihm in letzter Zeit Sorgen. Noch hatte niemand etwas davon bemerkt, nur er, der immer mit ihr zusammen war, ihm war es natürlich aufgefallen. Finanziell könnte er auch ohne Rente noch ein paar Jahre überstehen, denn er hatte noch ein geheimes Bankkonto. Sein Instinkt hatte ihm dazu geraten, als noch niemand davon ausging, dass es für alte Leute einmal brenzlig werden könnte. Ursprünglich hatte er es auch aus einem anderen Grund gemacht, denn er wollte sich trennen, in jüngeren Jahren. Ihm schwebte vor einmal abzuhauen, mit Helga, seiner jüngeren Geliebten. Aber die machte sich dann aus dem Staub, sein Bankkonto besparte er aber trotzdem weiter. Er wollte sich ein Polster schaffen, unabhängig sein, auch im Falle einer Scheidung wollte er Geld auf der Seite haben, das nicht in einen Unterhalt für Magda einfließen würde. Das kam ihm jetzt zugute. Übernächstes Jahr würde seine Rente auslaufen. Die von Magda in drei Jahren. Dann wären sie blank. Die offiziellen Ersparnisse hatten sie Olaf schon überlassen, in der Hoffnung, er möge sein Geschäft noch einmal sanieren. Da die Ablebensprämie erst seit zwei Jahren eingeführt war, befanden sich Gotthilf und Magda noch in der Übergangsphase, bei der der Rentenanspruch sukzessive nach dem 75. Geburtstag eingestellt werden sollte, jedoch mit erheblichen Minderungen verbunden war.

Je mehr Gotthilf über sämtliche, ihm zur Verfügung stehende Möglichkeiten nachdachte, desto mehr formte sich ein Plan in seinem Inneren, den er einerseits als ungeheuerlich empfand, andererseits aber genau die Bedürfnisse in ihm befriedigen würde, denen er sein ganzes Leben hinterhergelaufen war. Er wollte frei sein, endlich mal machen, was er wollte, noch den wohlverdienten Lebensabend genießen, sich vielleicht auch noch eine Geliebte anlachen. Magda und er hatten seit Jahren keinen Sex mehr, er hatte aber dahingehend noch Bedürfnisse. Er träumte oft von tollen jungen Frauen, die ihn umgarnten wie einen ältlichen Filmschauspieler, die ihn verwöhnen sollten, in jeder Hinsicht. Das wollte er noch erleben! Darum wollte er sich bemühen, auch wenn er eine Frau fände, die nicht mehr ganz so jung war, das würde ihm auch genügen. Hauptsache, das mit der Lust wäre noch da, und lustig sollte sie auch sein. Nicht so eine Miesmuschel wie seine alte Magda! Lustvoll und lustig, so stellte er sich seine nicht mehr allzu lange Zukunft vor! Denn er hatte noch Power, er hatte noch Pläne! Die sollte ihm auch Olaf nicht durchkreuzen! Also gab es nur einen Weg zu aller Zufriedenheit: Er würde bleiben, Olaf sollte abgesichert sein, Magda sollte gehen. So wäre es am besten. Magda würde sowieso bald nichts mehr haben vom Leben, sie würde immer mehr vergessen, sie würde verblassen, ganz langsam würde sie nur noch ein Schatten ihrer selbst sein. So wollte man sie doch nicht in Erinnerung behalten! Dann lieber als Miesmuschel! Als zänkische Person, die sie fast ihr ganzes Leben war. Und als sie beide jung waren? Ja tatsächlich, er war einmal in sie verliebt. Da hatte sie auch noch andere Seiten. Interessiert an so vielem, so machten sie Urlaube in aller Herren Länder, gingen ins Konzert und Theater. Sexuell war sie allerdings immer schon langweilig für ihn. Da war sie eintönig und er hatte das Gefühl, als hätte sie diesen Akt, der ja einer der Liebe sein sollte, über sich ergehen lassen, um möglichst schnell zur Tagesordnung zurückzukehren. Darüber wurde selbstverständlich nicht gesprochen, Sex war kein Gesprächsthema, so Gotthilf, Sex war da, um ihn zu praktizieren. Alles hatte sich geändert im Laufe der Jahre, man hatte sich immer mehr auseinandergelebt. Warum hatte man so lange aneinander festgehalten? Die Macht der Gewohnheit, es musste so sein.

Nun aber, nun wollte er diese Gelegenheit nutzen, um sein Leben noch einmal grundlegend zu verändern. Er wollte frei sein und leben! Ja, das wollte er.

Edith

An einem dunklen, verregneten Spätsommerabend steuerte Edith ihren 5er BMW durch unwegsames Gelände, in der Hoffnung, nun bald ihr ersehntes Ziel zu erreichen. Sie fuhr selten selbst, zu offiziellen Anlässen wurde sie ohnehin chauffiert und privat war es meistens Heribert, der am Steuer saß. Heute war es anders. Heute war sie in geheimer Mission unterwegs.

Es war nicht einfach, einen diskreten Termin bei Prof. Kerr zu bekommen. Immerhin war er sehr ausgebucht und Personen, die inkognito bleiben wollten, mussten sich ziemlich lange gedulden, denn in diesem Fall wurden diverse Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Im Haupthaus durfte sich zu dieser Zeit niemand aufhalten, wenn Herr Kerr Prominenz empfing und es wurde ein Codename angelegt, um Diskretion zu bewahren. So viel wusste Edith schon, als sie durch den finsteren Waldweg fuhr, aber nicht viel mehr. Teilweise war die dürftige Straße so eng, dass die Zweige der umstehenden Bäume das Fahrzeug streiften. Hätte Edith nicht gewusst, dass man sehr lange durch eine derartige Wildnis fahren musste, so hätte sie geglaubt sich verirrt zu haben. Ein wenig mulmig war ihr, was würde auf sie zukommen? Nur ihre enge Freundin Kamilla wusste von ihrem Vorhaben, sie hatte sie auf diese Idee gebracht, denn sie selbst war bereits Patientin bei Prof. Kerr.

Endlich, nach über einer halben Stunde Fahrt durch Gebüsch und Wald, verbreiterte sich der Weg und Edith gelangte zu einem hohen Tor, dahinter lag ein weitläufiger Hof mit mehreren Gebäuden. Sie gab den Code ein, der ihr mitgeteilt worden war, um das Tor zu öffnen.

Der gesamte Komplex nannte sich Schönheitsfarm „Terra Iduna“, doch es war viel mehr, zumal es auch eine Klinik für Schönheitsoperationen mit angeschlossenem Kurbereich gab. Darüber hinaus fanden Veranstaltungen zu gesunder Lebensführung statt. Es gab ein Seminarhaus, man konnte unterschiedliche Module zum Thema Anti-Aging buchen, darunter das beliebte „Life-style im Alter“, oder „Fit bis 100“, „Wechselwirkung von Ernährung und Substitution“, um nur einen Bruchteil der Vortragsreihen und mehrwöchigen Seminare zu nennen.

Edith steuerte den Wagen Richtung Tiefgarage, trotz Dunkelheit wollte sie nichts riskieren. Von dort konnte man das Hauptgebäude bequem mit einem Lift erreichen. Hier sollte sich momentan niemand mehr aufhalten. Trotzdem fühlte sie sich ein wenig unsicher. Die Angst, gesehen zu werden, würde sich erst legen, wenn sie in Prof. Kerrs Zimmer sitzen würde.

Sie stellte den Wagen auf Parkdeck eins ab und begab sich direkt zum Lift. Als sie ihn anforderte, zog sie die Kapuze ihres Mantels tief ins Gesicht, man konnte ja nie wissen, ob nicht doch jemand ausstiege. Aber die Luft war rein.

Das Besprechungszimmer befand sich im Dachgeschoss, die Tür stand offen, Edith trat ein. Ein wenig verloren kam sie sich vor, so ganz allein in dem hohen Raum mit altem Gebälk.

In der Mitte des Zimmers stand ein mächtiger Schreibtisch, dunkelbraunes Holz, antik. Davor ein den Klient*innen vorbehaltenes Sofa mit geschwungener Lehne und einem rosa Bezug aus Samt. Edith nahm Platz und legte ihren Mantel neben sich auf die Lehne. Auf der anderen Seite des Schreibtisches stand ein riesiger Chefsessel aus schwarzem Leder, es roch angenehm nach einem frischen Herrenduft, was darauf schließen ließ, dass Herr Kerr den Raum noch nicht lange verlassen hatte. Hinter dem Stuhl entdeckte Edith eine Tür, kaum auffällig, denn sie war so weiß wie die Wand und besaß keinen Knauf. Stürmisch flog sie auf, kurz nachdem Edith ihrer gewahr wurde, sonst wäre ihre Überraschung noch größer gewesen, denn der Anblick, der sich ihr bot, hatte ihre Vorstellungen von Herrn Kerr noch bei weitem übertroffen.

Es erschien ein altersloser, hoch gewachsener, schlanker Mann mit gewelltem, tiefschwarzem Haar und einem sehr freundlichen Gesichtsausdruck.

„Einen wunderschönen guten Abend Frau Müller-Heinrich! Sie haben zu mir heraufgefunden!“, begrüßte Herr Kerr seine neue Klientin, selbstverständlich ohne Händeschütteln. Diese überholte Begrüßungsformel hatte er schon in Zeiten vor der Pandemie abgelegt, denn er fand sie völlig überflüssig. Allerdings kamen andere Formen der Berührung bei ihm nicht zu kurz.

„Guten Abend Professor Kerr!“, erwiderte Edith.

„Kommen wir gleich zum Punkt würde ich sagen. Sie wollen jung und schön, gesund und glücklich sein, beziehungsweise bleiben? Sie wollen die Alterung aufhalten, oder sich sogar noch ein wenig verjüngen? Ich kann Ihnen sagen, dass das kein frommer Wunsch bleiben muss, es ist Realität. Was nur wenige wissen, ist, dass es Instrumente gibt den körperlichen Verfall aufzuhalten oder umzukehren, nur die Krux ist, dass niemand daran glaubt. Meine Forschungen haben mich in der Annahme bestätigt, dass die Einbuße der Jugend kein natürlicher Prozess ist, wie landläufig angenommen, sondern es handelt sich tatsächlich um eine Krankheit, die man behandeln kann und muss! Niemand muss mehr den typischen Altersleiden zum Opfer fallen, sondern kann in Gesundheit und Schönheit an Jahren gewinnen! Seien wir doch einmal ehrlich: Allein die äußerliche Veränderung, die das Altern mit sich bringt, ist eine Unverschämtheit, die sich kein menschliches Wesen gefallen lassen sollte. Es gibt Mittel und Wege, das Voranschreiten der Hässlichkeit für immer und ewig aufzuhalten. Und damit meine ich nicht das Lifting der Haut, ja, natürlich, auch das ist ein Weg, wenn man schon zu viel Zeit verstreichen ließ, aber grundsätzlich bevorzuge ich den Weg der Prävention. Wobei wir damit schon ans Eingemachte kämen: ...“

Während seines Monologes ging er auf und ab und trotzdem gelang es ihm, sich seiner Hörerin zuzuwenden, indem er seine stechenden, eisblauen Augen bisweilen auf ihr ruhen ließ. Wie alt mochte er wohl sein? Seinem blendenden Äußeren nach zu urteilen, würde man ihn höchstens für Mitte vierzig halten, aber das konnte schlichtweg nicht sein. Wahrscheinlich war er schon in den Sechzigern, aber mittels seiner Verjüngungsmethoden konnte er die Frische der Jugend bewahren. Als Aushängeschild seiner Firma machte er damit beste Werbung in eigener Sache. Bisher hatte Edith nicht darauf geachtet, ob man herausfinden könnte, wie alt er sei, aber jetzt würde sie es zu gerne wissen.

Nur um seine Augen herum konnte sie winzige Fältchen erkennen, Fältchen, die ein Vierzigjähriger wohl noch nicht haben würde, aber wann hatte sie eigentlich einen Vierzigjährigen so genau gemustert? Dieses Alter schien weit zurückliegend in ihrer Erinnerung.

Edith beobachtete Herrn Kerr aufmerksam. Hinsichtlich seiner Ausführungen über die chemischen Prozesse des Stoffwechsels und des Alterungsprozesses der Zellen schweifte sie jedoch ab. Nicht nur sein attraktives Äußeres zog sie in seinen Bann, sondern auch die Art und Weise, wie er seinen Vortrag darbrachte. Mal sprach er in die Weite des Raumes mit einem Blick, als würde ihm in der Ferne eine Erleuchtung zuteil, dann wiederum sah er seinem Gegenüber fast zu nüchtern in die Augen. Gezielt setzte er sein Charisma ein, dennoch untermauerte er seine Thesen wissenschaftlich, so gewann er auch jene für sich, die ihn für einen esoterischen Spinner hielten. Mit diesen beiden Werkzeugen konnte er sehr gut überzeugen, den Klient*innen wurde der Zweifel genommen, dass es sich um Scharlatanerie handeln könnte, obwohl er natürlich nicht nur auf der rein stofflichen Ebene arbeitete, sondern er bezog auch Praktiken mit ein, die solch einer Analyse nicht standhielten. Beispielsweise räumte er der Kraft der selbsterfüllenden Prophezeiung eine große Rolle ein. Der Satz: „Ich bin jung und schön, kraftvoll und gesund, glücklich und Herr*in meines Schicksals“, gehörte zu einer jener Affirmationen, die seinen Klient*innen von Anfang an ans Herz gelegt wurden, zur ständigen Wiederholung und Übung.

Den Kopf voll mit Informationen, nachdenklich und auch ein wenig verwirrt, trat Edith den Nachhauseweg an.