Die ADHS-Lüge - Richard Saul - E-Book

Die ADHS-Lüge E-Book

Richard Saul

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Beschreibung

In den vergangenen Jahrzehnten hat es eine rasante Zunahme der Diagnosen und Arzneiverordnungen für ADHS-Patienten gegeben. Bundesweit wird 6,5 Prozent aller zehn- bis zwölfjährigen Jungen ein Präparat wie Ritalin verordnet. Substanzen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, gravierende Nebenwirkungen haben, abhängig machen können und die Betroffenen nicht heilen. Dabei gibt es, laut Saul, das Krankheitsbild ADHS überhaupt nicht. In Wirklichkeit liegen den beobachteten Symptomen ganz andere Störungsbilder zugrunde. Erkennt und therapiert man diese, so verschwinden auch bald die Symptome der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsanzeichen.

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Seitenzahl: 388

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RICHARD SAUL

Die ADHS Lüge

Eine Fehldiagnose und ihre Folgen

Wie wir den Betroffenen helfen

Aus dem Amerikanischen von Dieter Fuchs

Impressum

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen und Handelsnamen, die in diesem Buch als solche nicht eigens gekennzeichnet sind, berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»ADHD does not exist. The Truth about Attention Deficit

and Hyperactivity Disorder« im Verlag HarperCollins, New York

© 2014 by Richard Saul

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Redaktion: Ulf Müller, Köln

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98046-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10788-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Buch ist all den Kindern und Erwachsenen gewidmet, die fälschlicherweise die Diagnose ADHS erhalten haben und deshalb zu spät oder gar nicht behandelt wurden.

»Man darf nicht mehr Ursachen für die in der Natur vorkommenden Dinge zulassen, als wahr sind und zur Erklärung der Erscheinungen dieser Dinge ausreichen. (…) Folglich muss man, soweit wie es möglich ist, den in der Natur vorkommenden Wirkungen von der gleichen Art die gleichen Ursachen zuschreiben.«

Isaac Newton

»Hör dem Patienten zu, er sagt dir die Diagnose.«

Sir William Osler, Mitbegründer der Johns Hopkins Medical School

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Vorwort

Einführung: ADHS – die Störung, die es gar nicht gibt

TEIL I: DIE GEBURT EINER KRISE

1. Was wir über ADHS wissen

2. Eine einfache Antwort: Die Gesellschaft ist schuld

3. Die Stimulanzien-Epidemie und ihre Auswirkungen

4. Die Störungen hinter den ADHS-Symptomen – ein Überblick

TEIL II: DIE STÖRUNGEN UND LEIDEN, DIE DEN ADHS-SYMPTOMEN ZUGRUNDE LIEGEN

5. Sehstörungen

6. Schlafstörungen

7. Substanzmissbrauch

8. Affektive Störungen (bipolare Störung und Major Depression)

9. Hörprobleme

10. Lernstörungen

11. Sensorische Verarbeitungsstörung

12. Hochbegabung

13. Anfallsleiden

14. Zwangsstörungen

15. Tourette-Syndrom

16. Asperger-Syndrom (Autismusspektrumsstörung)

17. Neurochemisch bedingte Ablenkbarkeit/Impulsivität

18. Schizophrenie

19. Fetales Alkoholsyndrom

20. Fragiles-X-Syndrom

21. Andere Ursachen

TEIL III: WAS ZU UNTERNEHMEN IST

22. Wenn es keine Diagnose gibt

23. Beurteilung der Symptome und der Umgang damit

Anmerkungen

Danksagung

Vorbemerkung des Autors

In diesem Buch werde ich »ADHS« als eine Art Abkürzung für die Gruppe von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptomen verwenden, die diese Bezeichnung von der American Psychiatric Association, deren Referenzwerk DSM1 sowie all jenen erhalten haben, die sie gutheißen konnten oder mit offenen Armen empfangen haben. Des Weiteren gehe ich an etlichen Stellen darauf ein, inwiefern und in welchen Punkten ADHS sich mit anderen Diagnosen überschneidet. In sämtlichen Fällen bitte ich Sie darum, »ADHS« als »die Summe der mit dieser Diagnose in Verbindung gebrachten Symptome« zu verstehen und meine Verwendung der Diagnose nicht etwa wörtlich zu nehmen. Wenn es mir um Letzteres ginge, gäbe es dieses Buch nicht. Schließlich empfehle ich allen wissbegierigen Lesern, nach der Lektüre jedes Kapitels den Anmerkungsteil zu konsultieren, wo sich weitere Details und Quellennachweise finden.

Vorwort

Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu provozieren. Nicht um des Provozierens willen, sondern weil ich seit Jahren mit den vielfältigen Problemen konfrontiert bin, die durch die Fehldiagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern wie auch bei Erwachsenen verursacht werden. Aufmerksamkeitsbezogene Symptome sind nur allzu real und haben negative Konsequenzen für Kinder, Erwachsene und die Gesellschaft im Ganzen; Betroffene haben im schulischen, beruflichen und sozialen Bereich mit Schwierigkeiten zu kämpfen, oft genug mit Folgen für das ganze Leben. Aber auch das Vertrauen der Schulmedizin in die ADHS-Diagnose – und deren bereitwillige Akzeptanz durch das gesamte Gesundheitswesen – hat eine Reihe negativer Konsequenzen gehabt: das Versäumnis, jene Störungen zu diagnostizieren, die den Aufmerksamkeitssymptomen zugrunde liegen und sie ganz oder zumindest teilweise erklären; den dadurch bedingten Verzicht auf eine eigentlich dringend notwendige Behandlung der jeweiligen Primärdiagnose; den gesundheitlichen, wirtschaftlichen und emotionalen Schaden, der durch nicht diagnostizierte und deshalb unbehandelte Erkrankungen entsteht. Ich habe dieses Buch geschrieben, um bei Ärzten, Patienten und anderen Interessierten ein sorgfältigeres Nachdenken über die beeinträchtigenden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptome anzuregen, wobei ich natürlich hoffe, dass dadurch mehr Menschen die Hilfe erhalten, die sie benötigen.

Der Weg, auf dem ich meine Kenntnisse im Bereich der Aufmerksamkeitsdefizitsymptome erworben habe, nahm verschiedene Wendungen. Erste Erfahrungen machte ich als Professor für Klinische Medizin an der University of Health Sciences in Chicago. Dort entwickelte ich ab den 1970er Jahren Kurse und Programme, in denen Studierende und Fakultätsmitglieder etwas über Krankheiten erfuhren, die das Lernen beeinträchtigen können. Damals rief ich ein Programm ins Leben, das im Schulsystem des Lake County, Illinois (im Norden der Metropolregion Chicago), diejenigen Faktoren bestimmen sollte, die Kinder (vom Kindergarten bis zur achten Klasse) beim Lernen behinderten. Die grundlegende Frage dabei war: »Woran liegt es, dass manche Kinder nicht lernen?« Schon vom ersten Tag in den Schulen an fiel uns ein Aspekt besonders auf: Ein sehr hoher Anteil der Kinder – über 20% – hatte Probleme mit der Aufmerksamkeit. Diese Probleme machten sich in Form von Lernschwierigkeiten und störendem Verhalten, aber auch als Traurigkeit und Zurückgezogenheit bemerkbar. Mit der Zeit entwickelte ich ein spezielles Protokoll zur Beurteilung von Kindern, die aufgrund von Aufmerksamkeitsproblemen oder anderen Dingen Lernschwierigkeiten hatten. Ich erinnere mich noch gut an den Stapel mit Aufsätzen, die ich bei Erstellung dieses Protokolls konsultierte: Er war höher als ich selbst, über 1,80 Meter!

Zu der Zeit teilte ich noch die konventionelle Ansicht über die Aufmerksamkeitsdefizit-Diagnose. Wir sagten damals allerdings noch Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder ADS (die »Hyperaktivität« kam erst später hinzu), was ja nach wie vor eine gängige Abkürzung für das hier zu diskutierende Phänomen ist. Zwei unserer Fragen lauteten: »Haben alle Kinder mit Lernschwierigkeiten ADS?« (dies war nicht der Fall), und: »Haben alle Kinder mit ADS Lernschwierigkeiten?« (bei den meisten war es so, wobei sie gleichzeitig auch höhere IQs als ihre Altersgenossen besaßen). Ohne mir damals darüber im Klaren zu sein, bildete eine der von mir für das Lake-County-Programm entwickelten Komponenten die Grundlage für meine später gewonnene Überzeugung, nach der es sich bei Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität nicht um eine Diagnose, sondern eher um Symptome handelt. Um unseren Medizinstudenten zu verdeutlichen, welche Probleme durch Aufmerksamkeitsdefizite entstehen, arrangierten wir eine Klassenzimmersituation und ließen sie »umgekehrte Ferngläser« aufsetzen, mit denen alles viel weiter entfernt wirkte, als es tatsächlich war. Aufgrund der gestörten Sicht neigten die Ferngläser tragenden Studenten dazu, Dinge vom Tisch zu stoßen oder beim Herumgehen im Klassenzimmer ihre Kommilitonen anzurempeln – zwei wichtige Anzeichen von ADHS. Außerdem setzten wir unseren Studenten Kopfhörer auf, über die sie Lehrstoff vermittelt bekamen, nur dass der Vortrag von kurzen Momenten der Stille (also Löchern im Gesagten) unterbrochen war. Auf die Art entstanden Verständnisprobleme, die ein weiteres Symptom von Aufmerksamkeitsdefizit oder einer Lernstörung sind. Rückblickend musste ich feststellen, dass ich nicht nur Aufmerksamkeitsdefizite simulierte, sondern auch ihre zugrundeliegenden Ursachen. Wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, sind Probleme mit Sehvermögen und Gehör, oder auch nur kurzzeitige Absence-Anfälle, bei einer großen Anzahl von Patienten für die Diagnose ADHS verantwortlich. Es überrascht kaum, dass sich bei unseren Studenten in dem Moment, in dem sie Ferngläser oder Kopfhörer abnahmen, die »ADHS«-Symptome in Luft auflösten.

Unmittelbar nach den Erlebnissen an den Lake-County-Schulen prägte eine weitere Erfahrung aus einer gänzlich anderen Ecke meine Haltung zu Aufmerksamkeitsdefiziten. Die Mutter eines Patienten namens »Bobby«, einem Viertklässler, erzählte mir, die Lehrerin des Jungen habe um ein Gespräch mit ihr gebeten, weil Bobby regelmäßig den Unterricht störe. Wie seine Mutter mir sagte, habe sie das überrascht, denn sein Verhalten sei bis dahin stets tadellos gewesen. Ich bat sie herauszufinden, ob ihr Sohn sich den ganzen Tag so verhielt oder nur zu bestimmten Zeiten. Bei ihrem nächsten Besuch berichtete sie, Bobbys störendes Verhalten, bei dem er beispielsweise mit Gegenständen warf, mit Klassenkameraden redete oder mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, trete nur im Mathematikunterricht auf. Außerdem erfuhr ich, dass Bobby erwiesenermaßen in mehreren Fächern begabt war und das gesamte Mathe-Pensum für die vierte Klasse bereits im ersten Monat des Schuljahrs absolviert hatte. Plötzlich machte das Verhalten meines Patienten mehr Sinn: Vermutlich war ihm einfach langweilig. Wie seine Mutter mir sagte, verlangte man von ihm, er solle »ruhig dasitzen«, während die anderen ihre Aufgaben lösten. Den Viertklässler, der das schaffte, hätte man allerdings erst erfinden müssen! Ich half Bobbys Mutter, den Jungen am Matheunterricht der fünften Klasse teilnehmen zu lassen. Sein störendes Verhalten war von einem Tag auf den nächsten verschwunden. Und ich konnte mitverfolgen, wie eine spezielle Befindlichkeit oder Eigenschaft – in diesem Fall Hochbegabung – sich in Aufmerksamkeitsdefizitsymptomen äußerte. Zwar blieb Bobby die ADHS-Diagnose erspart, doch es ist leicht ersichtlich, dass ein Kind wie er sie unter anderen Umständen leicht hätte erhalten können. Ein Kapitel dieses Buches ist Kindern wie Bobby gewidmet, deren Begabungen bisweilen zu Langeweile und schließlich zur Fehldiagnose ADHS führen.

In den frühen 1980er Jahren begann ich dann, mich intensiver mit meiner Hypothese zu Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität zu beschäftigen. Ich hatte ein mehrjähriges Bundesstipendium erhalten, um gemeinsam mit einem Sonderschuldirektor in einer landesweiten Kampagne auf die Lern- und Aufmerksamkeitsprobleme bei Kindern hinzuweisen. Unsere Arbeit steigerte aber nicht zuletzt mein eigenes Bewusstsein von den institutionalisierten Missständen, die mit den genannten Problemen im Zusammenhang stehen. Zum Beispiel wurde mir klar, dass Ärzte bei Kindern mit Aufmerksamkeits- und Lernproblemen gar keine umfassenden Untersuchungen durchführten, obwohl die American Academy for Pediatrics (US-Verband der Kinderärzte) und andere Gesundheitsorganisationen dies empfahlen. Dafür gab es mehrere Gründe. Einer davon war mangelnde Kenntnis (die Ärzte wussten einfach nicht, wie sie ihre Patienten untersuchen sollten), ein weiterer die Kostenfrage (die Kostenerstattung für die nötigen Untersuchungen wurde zunehmend schwierig). Diese und andere Beobachtungen bewegten mich im Jahr 1983 dazu, eine »Überweisungspraxis« zu eröffnen. Das ist eine Praxis, an die andere Ärzte, Psychologen oder auch Privatpersonen kranke Menschen überweisen oder vermitteln können, etwa wenn es sich um komplizierte Fälle handelt oder ein Patient auf eine Behandlung nicht anspricht. Viele der Patienten, die zu mir kamen, waren vorher schon bei mehreren Ärzten gewesen, aber ohne Erfolg.

Ein Jahrzehnt der Beschäftigung mit Überweisungspatienten bestätigte dann, was ich schon seit Jahren vermutet hatte: Die Symptome von ADHS lassen sich durch andere Erkrankungen oder Leiden besser erklären. Mit anderen Worten: ADHS, wie es derzeit verstanden wird, existiert als Krankheit nicht. Bei der Mehrzahl der Patienten, die mit der Diagnose ADHS in meine Praxis kamen, konnten alternative Diagnosen die Symptome erklären. Viele Patienten waren nicht einmal krank. Bei anderen, für die alternative Diagnosen in Frage kamen, hatten die bisherigen Ärzte diese als komorbide (parallel auftretende) Erkrankungen von ADHS diagnostiziert. Sobald ich anfing zu behandeln, was sich mir als eigentliche Diagnose präsentierte (also nicht die ADHS-Diagnose), verschwanden die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptome in der Regel, was mir immer klarer machte, dass »ADHS« das Produkt anderer Leiden und mitnichten eine eigenständige Erkrankung ist.

Wie Sie sich vorstellen können, waren meine Patienten und ihre Familien sehr erleichtert, endlich über eine Diagnose zu verfügen, die Sinn machte, und außerdem eine Therapie zu haben, die tatsächlich anschlug. Im Zuge des Erfolgs, den ich bei der Behandlung von Kindern hatte, geschah etwas höchst Interessantes: Etliche Eltern sagten, sie selbst hätten ebenfalls Aufmerksamkeitsprobleme, und fragten, ob ich ihnen helfen könne. Indem ich bei ihnen genauso wie bei den Kindern vorging, konnte ich auch diese Patienten behandeln und ihre Symptome erheblich reduzieren. Derart viele Erwachsene wandten sich auf einmal ihren Aufmerksamkeitsproblemen zu, dass der Erwachsenenanteil in meiner Praxis von anfänglich rund 25% auf satte 75% anwuchs, was natürlich nichts daran ändert, dass ADHS bei Kindern häufiger vorkommt. Die Diagnose und Behandlung von Kindern und Erwachsenen haben meine Überzeugung gefestigt, dass Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität vornehmlich als Symptome anderer Leiden oder Erkrankungen angesehen werden müssen.

Den Patienten, die das Etikett ADHS verpasst bekamen, dabei zu helfen, die richtige Diagnose und die darauf abgestimmten Maßnahmen zu finden, ist für mich zur Lebensaufgabe geworden. In meine Sprechstunde kommen unablässig Menschen, bei denen ADHS diagnostiziert wurde oder die glauben, sie hätten diese Störung. Ich arbeite außerdem mit diversen medizinischen Vereinigungen zusammen, deren Fokus auf ADHS und den damit zusammenhängenden Leiden liegt. Dazu gehören die Society for Developmental & Behavioral Pediatrics sowie die Abteilung Behavior & Development der American Academy of Neurology. In diesen beiden Vereinigungen helfe ich meinen Kollegen, einerseits die Gefahren von ADHS-Fehldiagnosen zu erkennen und andererseits zu verstehen, wie problematisch der zunehmende Gebrauch oder Missbrauch von Stimulanzien/Aufputschmitteln ist. Unser Austausch soll dazu beitragen, die Praxisleitlinien nicht nur dieser Gruppen zu verbessern, sondern hoffentlich irgendwann auch die des Gesundheitswesens insgesamt.

Zu Beginn des Vorworts sagte ich, ich hätte dieses Buch geschrieben, um zu provozieren. Was ich zu provozieren oder herauszubilden hoffe, ist ein tieferes Verständnis der Aufmerksamkeitsdefizitsymptome – bei Patienten, Ärzten und der Gesellschaft insgesamt –, auf dass die fast schon reflexartig erfolgende Diagnose ADHS bald der Vergangenheit angehört. Wie ich im Lauf der folgenden Kapitel noch ausführen werde, gibt es etliche Gründe für die ADHS-Fehldiagnose und deren Befürwortung durch Patienten, Mediziner, Pharmakonzerne, Medien und andere. Außerdem entsteht für die Personen und Familien, die von der Diagnose betroffen sind, ein erheblicher Aufwand, sei es medizinischer, finanzieller oder psychologischer Art. Indem ich die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptome in einem neuen Zusammenhang präsentiere, will ich vielen weiteren Betroffenen zu dem verhelfen, was meine eigenen Patienten bereits besitzen: eine akkurate Diagnose, die entsprechende Behandlung und ein bei weitem erfüllteres Leben.

Einführung: ADHS – die Störung, die es gar nicht gibt

In den USA haben über 4% aller Erwachsenen und 11% der Kinder die Diagnose ADHS, was einer Zunahme um 40% innerhalb des vergangenen Jahrzehnts entspricht. Zwei Drittel dieser Kinder nehmen auf Anweisung des Arztes Stimulanzien wie Ritalin ein. Darüber sollten Sie einen Moment nachdenken … Denn das bedeutet, dass viele Erwachsene und Jugendliche durch Einnahme dieser Medikamente gleichzeitig auch ihre Leistungen in Schule und Beruf steigern.

Das sind alarmierende Erkenntnisse. Noch beunruhigender ist vielleicht die zentrale Aussage dieses Buches: dass es ADHS gar nicht gibt. Na schön, werden Sie sagen, ADHS ist einfach überdiagnostiziert. Und ja, manche Leute, die Aufputschmittel einnehmen, brauchen sie eigentlich gar nicht, etwa der Student, der sich auf eine langweilige Vorlesung konzentrieren will, oder das Kind, das nach Meinung der Lehrerin zu viel herumzappelt. Aber wie kann es möglich sein, dass von den Millionen Menschen, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, kein einziger diese Krankheit wirklich hat? Denn jeder von uns kennt Menschen, die ernsthafte Probleme mit Aufmerksamkeit oder Hyperaktivität haben – den Jungen, der immer seinen Tagträumen nachhängt; das Mädchen, das seinen Platz verlässt und im Klassenzimmer herumrennt, während die anderen Kinder ruhig dasitzen; die Frau, die immer wieder Fragen stellt, die gerade erst beantwortet wurden; der Mann, der wie ein Wasserfall redet. Zumindest einige von ihnen werden doch ADHS haben!

Tatsächlich ist das bei keinem Einzigen der Fall. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Die Grundprämisse dieses Buches ist, dass niemand – nicht einmal derjenige, der einfach nicht aufpassen oder stillsitzen kann – von einer Störung namens ADHS, so wie man sie heute definiert, betroffen ist. Seitdem im Jahr 1937 Dr. Charles Bradley herausfand, dass Kinder, die Symptome leichter Ablenkbarkeit zeigten, gut auf Aufputschmittel reagierten, ist die Definition von ADHS so gut wie unverändert geblieben. Die frühere Version der Störung wurde, wie Sie sich vielleicht erinnern, als ADS oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom beschrieben, und zwar in dem von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (American Psychiatric Association) herausgegebenen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (oder DSM, dt. Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen, auf das wir später noch genauer eingehen werden). Die Definition basierte ganz auf Symptomen der Unaufmerksamkeit, etwa der Unfähigkeit, auf Details oder Anweisungen zu achten, Problemen mit der Selbstorganisation sowie einer verstärkten Ablenkbarkeit. Spätere Ausgaben des DSM erweiterten die Definition um Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität, was aus ADS eine ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, machte. Zu diesen neu hinzugekommenen Symptomen gehörten Herumzappeln, ausgiebiges Sprechen, das Unterbrechen anderer und die Unfähigkeit, stillzusitzen und zu warten, bis man an der Reihe ist. (Im folgenden Kapitel handele ich die Symptome von »ADHS« der Reihe nach ab.)

Bei all dem ist aber höchst erstaunlich, wie wir diese »Krankheit« definieren – nämlich anhand ihrer Symptome, und nicht etwa ihrer Ursachen. Würden wir analog dazu einen Herzinfarkt anhand der Schmerzen in der Brust definieren, die ein Betroffener währenddessen verspürt, wäre eine angemessene Behandlung die Verabreichung von Schmerzmitteln – und keineswegs eine Revitalisierung und Instandsetzung des Organs, also des Herzens. Weitere Beispiele sind unschwer zu finden: So kann eine verstopfte Nase das Symptom einer Erkältung, einer Allergie oder manch anderer Befindlichkeiten sein, aber eine laufende Nase ist nun mal keine Diagnose; Schmerzen im Unterleib können mit einer Blinddarmentzündung, einer Gastroenteritis (Magen-Darm-Entzündung), einer Krebserkrankung oder anderen Leiden zusammenhängen, aber Bauchschmerzen allein sind keine Diagnose. Dementsprechend vertrete ich im Folgenden den Standpunkt, dass der Symptomkomplex, den man der Diagnose ADHS zuschreibt, mit mehr als zwanzig anderen medizinischen Diagnosen zusammenhängt, bei denen es im Fall einer erfolgreichen Behandlung zum Verschwinden der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptome kommt.

Sicher, die Symptome der Ablenkbarkeit und Impulsivität sind nur allzu real, doch wir verwenden eine veraltete und somit ungültige Definition von ADHS, eine, die jahrzehntelang von Ärzten und anderen Praktikern im Medizinischen Bereich sowie von Pharmakonzernen, Medien und nicht zuletzt von den Patienten selbst hochgehalten wurde. Die millionenfachen Fehldiagnosen haben viele Konsequenzen, darunter die verzögerte oder gar verweigerte Behandlung der tatsächlichen Erkrankung, eine steigende Kostenspirale im Gesundheitswesen sowie gravierende gesundheitliche Risiken und Enttäuschungen bei den Patienten und ihren Familien. Dabei müssten weder sie weiterhin leiden noch wir als Gesellschaft die gewaltigen und stetig wachsenden Kosten der ADHS-Stimulanzien-Epidemie länger tragen. Es ist an der Zeit, dass wir unser Denken auf die echten Ursachen von Unaufmerksamkeit und Impulsivität richten und dafür sorgen, dass die Menschen richtig behandelt werden.

Mein Ziel ist, einen unvoreingenommenen, ehrlichen Blick auf die ADHS genannte Störung zu werfen und den Menschen die Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen es gelingt, die richtige Diagnose und die entsprechende Behandlung ihrer mit ADHS zusammenhängenden Symptome zu erhalten. Ich habe dieses Buch für Sie geschrieben, egal, ob Sie die Mutter oder der Vater eines Kindes mit Aufmerksamkeitsproblemen sind oder ein Lehrer mit zu vielen unkonzentrierten und medikamentös behandelten Schülern, ob Sie ein Arzt sind, der sich Sorgen wegen des starken Anstiegs von ADHS-Diagnosen macht, oder ob Sie selbst unter Unaufmerksamkeit und Impulsivität leiden. Ich möchte, dass Ihnen dieses Buch als Anleitung dient und dabei hilft, Ihr Wissen zu den vielen möglichen Ursachen von ADHS-Symptomen wie auch zu der richtigen Behandlung dieser Leiden und Störungen zu erweitern. Falls Sie die Diagnose ADHS erhalten haben und weiterhin unter Problemen leiden oder Aufputschmittel einnehmen müssen, können Sie Mut schöpfen: Sobald die zugrundeliegende Erkrankung oder Störung entdeckt ist, verschwinden die Symptome so gut wie immer.

Im ersten Teil des Buches möchte ich die ADHS-Problematik in ihrer Gesamtheit darstellen: von der Geschichte der Störung über ihre gegenwärtige Definition und Behandlung bis hin zu den Faktoren, die zu Fehldiagnose und Fehlbehandlung führen, und den immensen Kosten, die dem Einzelnen und der Gesellschaft daraus erwachsen. Ich werde darüber hinaus dem Gedanken nachspüren, dass Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptome voll und ganz durch diverse andere Leiden erklärt werden können, und außerdem auf jüngere Erkenntnisse der Genforschung eingehen, die darauf hindeuten, dass zwischen ADHS und etlichen dieser Leiden Überschneidungen bestehen. Ein komplettes Kapitel widme ich zum einen den Wirkungen und Konsequenzen von Stimulanzien und zum anderen den Gründen dafür, dass diese bestenfalls »Pflaster« sind und sowohl die Symptome verschlechtern als auch gefährliche Nebenwirkungen hervorrufen können. Im zweiten Teil gebe ich detaillierte Einblicke in die sechzehn häufigsten Störungen und Leiden mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptomen (samt einem Überblick über die weniger häufigen), wobei ich jeweils erkläre, woran man sie erkennt und welche die effektivste Behandlungsform ist. Jede Störung oder Erkrankung illustriere ich durch Fallbeispiele aus meiner eigenen Praxis. Im dritten Teil stelle ich das Werkzeug zur Verfügung, mit dem man die Leiden beurteilen kann, die den Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptomen zugrunde liegen. Darüber hinaus gebe ich grundsätzliche Tipps, wie man mit diesen Situationen umgehen kann.

Meine Hoffnung ist, dass Ihnen dieses Buch zu eben der Einsicht verhilft, die ich im Lauf meiner jahrzehntelangen Behandlung von Patienten mit ADHS-Symptomen gewonnen habe: dass nämlich das Verständnis von ADHS als einer echten Störung uns allen einen schlechten Dienst erweist, wobei natürlich in erster Linie die Patienten und ihre Familien die Leidtragenden sind. Mein Ziel ist, unsere fehlgeleitete Definition von ADHS zu beseitigen, eine Definition, die einen so gewaltigen wie katastrophalen Überverschreibungs-Teufelskreis in Gang hält, dem zu entkommen nicht nur den USA, sondern auch dem Rest der Welt immer schwererfällt.

TEIL IDIE GEBURT EINER KRISE

Kapitel 1 Was wir über ADHS wissen

Stellen Sie sich eine Person mit fahrigem oder impulsivem Naturell vor. Jemand aus ihrem Umfeld – ein Freund, Elternteil, Angehöriger oder Lehrer – schlägt vor, dass sich die Person von einem Fachmann untersuchen lässt. Man vereinbart einen Termin beim Hausarzt oder einem anderen, über die Gelben Seiten oder auf Empfehlung gefundenen Spezialisten. Wenn dieser Arzt wie die meisten der heute praktizierenden Ärzte ist, wird er dem Patienten ein paar allgemeine Fragen zu seinen Symptomen stellen. Gewissenhaftere Ärzte bitten den Patienten vielleicht, einen Fragebogen auszufüllen – womöglich gar einen speziell auf ADHS zugeschnittenen (etwa die Vanderbilt Assessment Scale2) –, wobei solche Fragebögen immer seltener zum Einsatz kommen. Im Anschluss daran wird der Arzt die Antworten des Patienten mit der folgenden Liste vergleichen, die sich in der fünften Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen findet:3

Unaufmerksamkeit

Kann nicht auf Details achten (macht beispielsweise Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten).

Hat Schwierigkeiten, bei der Sache zu bleiben.

Scheint nicht zu hören, obwohl direkt angesprochen.

Befolgt Anweisungen nicht (etwa bei Schularbeiten oder anderen Aufgaben).

Hat Probleme mit der Organisation von Aufgaben/Aktivitäten.

Vermeidet oder hasst es oder weigert sich, Aufgaben zu erledigen, die kontinuierliche geistige Anstrengung erfordern (zum Beispiel Hausaufgaben).

Verliert Dinge, die zur Durchführung bestimmter Aufgaben nötig sind (etwa das Aufgabenheft).

Lässt sich leicht durch äußere Reize ablenken.

Ist vergesslich im Rahmen der alltäglichen Verrichtungen.

Hyperaktivität-Impulsivität

Zappelt mit Händen/Füßen.

Steht vom Platz auf, wenn Sitzenbleiben erwartet wird.

Rennt oder klettert in Situationen, in denen dies als unangemessen erachtet wird (was sich bei Heranwachsenden/Erwachsenen oft als Ruhelosigkeit äußert).

Hat Probleme, in Ruhe einer Freizeitaktivität nachzugehen.

Ist immer auf dem Sprung oder verhält sich, als sei sie/er von einem Motor angetrieben.

Redet ohne Unterlass.

Platzt mit den Antworten heraus.

Kann nicht warten, bis sie/er an der Reihe ist.

Unterbricht oder stört andere (etwa im Gespräch).

Insgesamt sind das achtzehn Symptome, aber um die Kriterien für eine ADHS-Diagnose zu erfüllen, müssen beim Patienten nur fünf davon (aus einer oder beiden Kategorien) feststellbar sein. Und mir nichts, dir nichts, wahrscheinlich innerhalb weniger Minuten, ist aus der fahrigen oder impulsiven Person jemand mit einer klassifizierten »Störung« geworden.

Falls bei Ihnen (oder Ihrem Kind) ADHS diagnostiziert wurde, ist das vermutlich unter ähnlichen Umständen wie oben beschrieben erfolgt. Vielleicht war das für Sie ein ziemlich surrealer Moment, vielleicht aber auch einer, den Sie erwartet haben. Womöglich fiel das Urteil Ihrem Empfinden nach zu schnell, um wirklich richtig sein zu können, oder aber Sie waren dankbar für eine Erklärung all Ihrer Probleme (oder der Ihres Kindes). Wie wir aber noch sehen werden, gibt es bei der Suche nach den Ursachen von ADHS-Symptomen keine Abkürzungen. Damit eine Beurteilung effektiv ist, muss sie gründlich sein.

Ihnen ist sicher aufgefallen, dass die oben aufgeführten Symptome in zwei Kategorien unterteilt sind: Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität-Impulsivität. Personen, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, gehören einem von drei Subtypen an:

vorwiegend unaufmerksamer Typus,

vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus,

oder ein kombinierter Typus oder Mischtypus.

Laut DSM ist es so, dass die Symptome unter anderem mit Wutausbrüchen, Dickköpfigkeit, Stimmungsschwankungen, Ablehnung durch Gleichaltrige und einem geringen Selbstwertgefühl einhergehen. Muss ich Sie noch davon überzeugen, dass die oben angeführte Checkliste der Subjektivität tatsächlich Tür und Tor öffnet? Welches Ausmaß an Unorganisiertheit ist denn »zu unorganisiert«? Und ab wann redet man »ohne Unterlass«? In der Tat kann man ohne weiteres behaupten, dass die genannten unpräzisen Kriterien das Ausmaß an diagnostizierter Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivität in der Bevölkerung künstlich aufgebläht und zugleich die Schwelle für die Diagnose herabgesetzt haben. Und eine grauenhafte Entwicklung ist, dass sich diese Schwelle mit dem Erscheinen des DSM-5 noch weiter abgesenkt hat.

Die Leichtigkeit oder Unbekümmertheit, mit der ADHS diagnostiziert wird, ist nichts weniger als skandalös, aber wie so viele andere Missstände hat auch die ADHS-Diagnose eine ganze Weile gebraucht, um ihre Vorherrschaft zu erringen und den Rand der Klippe zu erklimmen, die wir heute wahrnehmen. Dieses Kapitel handelt davon, wo wir uns im Hinblick auf die Diagnose ADHS im Moment befinden und wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Wir werden erkennen, wie sich unser Verständnis von ADHS im Lauf der Zeit entwickelt hat und warum das heute für das Individuum ebenso wie für die Gesellschaft ein Problem darstellt.

Eine kurze Geschichte von ADHS

Die Geschichte vom Zappel-Philipp

»Ob der Philipp heute still

Wohl bei Tische sitzen will?»

Also sprach in ernstem Ton

Der Papa zu seinem Sohn…

Doch der Philipp hörte nicht,

Was zu ihm der Vater spricht.

Er gaukelt

Und schaukelt,

Er trappelt

Und zappelt

Auf dem Stuhle hin und her.…

Die Geschichte vom Hanns Guck-in-die-Luft

Wenn der Hanns zur Schule ging,

Stets sein Blick am Himmel hing.

Nach den Dächern, Wolken, Schwalben

Schaut er aufwärts, allenthalben:

Vor die eignen Füße dicht,

Ja, da sah der Bursche nicht,

Also dass ein jeder ruft:

»Seht den Hanns Guck-in-die-Luft!«

Reime aus dem Struwwelpeter4

Für manche sind diese Gedichte der früheste Niederschlag dessen, was wir heute unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung verstehen. Denn bei Philipp und Hanns sind Symptome der beiden Kategorien erkennbar, in die sich unsere ADHS genannte Störung unterteilt: Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität-Impulsivität. Heute, mehr als einhundertfünfzig Jahre nach Niederschrift dieser Verse, können alle Eltern und Lehrer in ihrem Umfeld mindestens einen Zappel-Philipp oder Hanns Guck-in-die Luft (oder eine Philippa oder Hanna) benennen. Und es muss sich auch keineswegs immer um Kinder handeln; der Erwachsenenanteil bei den ADHS-Diagnosen beträgt geschätzte 4,4%.5 Jeder von uns hat einen Freund, Kollegen oder Angehörigen, der sich nicht recht konzentrieren oder nicht bei der Sache bleiben kann. Und viele Erwachsene schreiben sich »ADS« sogar selbst zu und sagen Sachen wie: »Tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe, mein ADS hat wieder zugeschlagen.«

Wie in der Einleitung schon angedeutet, gibt es dabei allerdings ein Problem: Sowohl die Diagnose als auch die Behandlung von ADHS, wie wir es heute verstehen, sind falsch. Die Symptome von Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität können voll und ganz durch andere Störungen erklärt werden, wobei das Spektrum von einem simplen Grund wie etwa Schlafmangel bis zu komplexen Zusammenhängen, zum Beispiel einer bipolaren Störung reicht. In ihrem Buch Zwanghaft zerstreut erwähnen Edward Hallowell und John Ratey die erste wissenschaftliche Beschreibung der Störung: Damals beschäftigte sich der Kinderarzt George Still mit einer Gruppe von zwanzig Kindern (fünfzehn Jungen und fünf Mädchen), die allesamt ein äußerst renitentes und enthemmtes Verhalten an den Tag legten.6 Wie George Still ausführte, genoss jedes der Kinder eine ordentliche Erziehung, weshalb er annahm, das Verhalten basiere auf einer biologischen Prädisposition oder Veranlagung, sei also vererbt worden. Für die damalige Zeit war das ein höchst unkonventioneller Gedanke, denn psychologische oder verhaltensbezogene Symptome schrieb man damals weitgehend dem familiären Umfeld zu. Auch der Psychologe William James (1842–1910) hielt bei einem derartigen Verhalten von Kindern einen neurologischen Zusammenhang für möglich. Im Jahr 1934 veröffentlichten Eugene Kahn und Louis Cohen dann einen Beitrag im New England Journal of Medicine, in dem sie Hyperaktivität und Impulsivität mit Enzephalitis (Gehirnentzündung) in Verbindung brachten.

1937 stieß der schon erwähnte Charles Bradley auf weitere Belege für die biologische Grundlage von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivität, als er Kinder mit entsprechenden Symptomen mit dem Stimulans Benzedrin behandelte. Wenig später erhielten Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsymptomen die Diagnose »Minimale zerebrale Dysfunktion«. Dieser begegnete man in den USA mit den Stimulanzien Ritalin und Cylert. Das DSM-II, das im Jahr 1968 veröffentlicht wurde, bezeichnete die Symptome als »hyperkinetische Kindheitsreaktion«.7 Maurice Laufer stellte die Hypothese auf, das Syndrom beruhe auf einem überaktiven Thalamus (einem Teil des Mittelhirns); dies war mit die erste in einer ganzen Reihe von Erklärungen, die übermäßige Aktivitäten im zentralen Nervensystem als Ursache in Betracht zogen.

In den 1970er Jahren herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität meist gemeinsam auftreten und dass außerdem die Symptome am besten genetisch-biologisch erklärt werden konnten, auch wenn sich dies nicht abschließend beweisen ließ. Das DSM-III (1980) behandelte das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom dann erstmals in den Varianten mit und ohne Hyperaktivität (ADS/H oder ADS). Sieben Jahre später änderte die revidierte Fassung des DSM-III (genannt DSM-III-R) die Bezeichnung dann in Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), den für das Symptombild bis heute gebräuchlichen Namen.8 Das DSM-III-R und das DSM-IV (1994 erschienen) verwendeten für ADHS ganz ähnliche Kriterien. Die Untersuchungen, die zum jeweiligen Veröffentlichungszeitpunkt angestellt wurden, stimmten weitgehend miteinander überein.9

Ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass ADHS nicht als eigenständige Krankheit diagnostiziert werden sollte, findet sich in dem Umstand, dass einige psychische Störungen (von denen etliche in diesem Buch besprochen werden) eine gemeinsame genetische Grundlage mit »ADHS« haben. Eine an der Harvard University durchgeführte und 2013 publizierte Studie zeigte erstmals, dass bei den genetischen Mustern von Autismus, Depression, bipolarer Störung, Schizophrenie und ADHS partielle Übereinstimmungen bestehen.10 Im Rahmen der Studie wurden die Erbanlagen von über 60000 Menschen analysiert (sowohl betroffene als auch gesunde) – es handelt sich dabei um die bislang größte genetische Untersuchung zu diesen Erkrankungen. Der Leiter der Studie bezeichnete das Ergebnis als »Gipfel des Eisbergs« und ließ anklingen, dass es wohl nur eine Frage der Zeit sei, bis man tieferliegende genetische Verbindungen zwischen vielen verschiedenen Krankheiten finden würde. Wenngleich diese Ergebnisse keineswegs »beweisen«, dass ADHS-Symptome stets durch andere Diagnosen erklärt werden können, deuten sie doch an, dass die Schnittmenge zwischen dem, was wir ADHS nennen, und anderen Krankheiten oder Störungen größer ist als bislang gedacht – was letzten Endes meine These weiter untermauert.

Auf jeden Fall zeigt diese lange und wechselhafte Geschichte von ADHS, wie zwiespältig und kontrovers der Umgang mit den Symptomen und ihren Ursachen seit jeher war – ein Muster, das sich bis zum heutigen Tag fortsetzt.

Die jüngsten Änderungen im Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen

Im Mai 2013 veröffentlichte die American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft) die fünfte Ausgabe ihrer »Bibel«, des Diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Zahl der Menschen, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, im Verlauf der letzten zehn Jahre gewaltig angestiegen ist, legt das DSM-5 für ADHS weit weniger strenge Kriterien an als sein Vorgänger, das DSM-IV. Wo etwa das DSM-IV fordert, dass das Symptommuster »häufiger und schwerwiegender ist, als es bei Personen auf vergleichbarer Entwicklungsstufe typischerweise beobachtet wird«,11 verlangt das DSM-5 nur noch, dass die Symptome »der Entwicklungsstufe nicht entsprechen« sollen.12 Auf ähnliche Weise wurde gegenüber dem DSM-IV die Altersgrenze angehoben: Während das DSM-IV für eine ADHS-Diagnose das Auftreten der Symptome vor dem siebten Lebensjahr fordert, liegt die Altersgrenze im DSM-5 bereits bei zwölf Jahren, was das Fenster bis in eine Lebensphase erweitert, in der Unaufmerksamkeit und Impulsivität viel öfter ganz spontan auftreten. Das DSM-5 reduziert außerdem die Anzahl der Symptome, die ein Erwachsener für eine Diagnose aufweisen muss, von den im DSM-IV geforderten sechs auf nur mehr fünf. Diese geringfügig anmutenden Änderungen erweitern den Kreis derer, die die Kriterien für eine ADHS-Diagnose erfüllen, ganz ungemein.

Aber das ist noch nicht alles. Für eine ADHS-Diagnose verlangte das DSM-IV »deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit« (Hervorhebung von mir).13 Im DSM-5 ist dieses Kriterium erkennbar abgeschwächt, hier fordert man nur »deutliche Hinweise darauf, dass die Symptome die soziale, schulische oder berufliche Leistungsfähigkeit nicht behindern oder gar verschlechtern«.14 Schließlich – und im Gegensatz zum DSM-IV – widmet das DSM-5 bei seiner Beschreibung von ADHS einen ganzen Abschnitt dem Thema Komorbidität, also der Möglichkeit eines parallelen Auftretens anderer Krankheiten. Laut DSM-5 leiden demnach Menschen mit ADHS »häufig« unter komorbiden Erkrankungen, darunter etwa Angststörung, Depression, Persönlichkeitsstörung und Autismus.15 Aufgrund eines derartigen Verständnisses von Komorbidität werden Ärzte vermutlich noch leichter ADHS diagnostizieren als bislang, dabei handelt es sich – wie ich im vorliegenden Buch zu zeigen suche – bei diesen »komorbiden« Störungen jeweils um die alleinige Ursache der Ablenkbarkeits- oder Impulsivitätssymptome.

Das DSM ist problematisch

Die American Psychiatric Association (APA) und viele andere Fachleute im Gesundheitswesen haben ein starkes Vertrauen in die diagnostischen und epidemiologischen Informationen, die das DSM-5 in geballter Form liefert. Selbst Krankenversicherungen konsultieren das Kompendium, um zu entscheiden, für welche Behandlungen oder Maßnahmen sie aufkommen wollen. Wir konnten bereits sehen, wie ADHS diagnostiziert wird, welche Probleme den aufgestellten Kriterien innewohnen und wie diese Kriterien immer mehr aufgeweicht werden. Darüber hinaus sollte man sich auch klarmachen, dass das DSM-5 – so weit es auch verbreitet ist – nicht bei allen darin behandelten Störungen als »oberste Instanz« angesehen werden darf. Die besonneneren Ärzte betrachten das Handbuch als eine Art »work in progress«, ein Verständnis, welches durch die Tatsache gestützt wird, dass es mittlerweile fünf Versionen (zuzüglich diverser Überarbeitungen) davon gibt, angefangen mit dem DSM-I aus dem Jahr 1952 bis hin zu einem vorläufigen, DSM-5 genannten Abschluss aus dem Jahr 2013. Schon unmittelbar nach dem Erscheinen herrschte in der Fachwelt große Uneinigkeit darüber, wie mit bestimmten Erkrankungen umgegangen werden soll (beispielsweise kommt das Asperger-Syndrom nicht mehr vor, auf das wir später in einem eigenen Kapitel eingehen werden).

Worum es mir geht, ist Folgendes: Fraglos liefert das DSM nützliche Richtlinien für die Beurteilung und Diagnose einer Vielzahl von Krankheiten, doch müssen Ärzte, wenn sie eine Diagnose stellen, auch ihre eigenen Erfahrungen und ihr individuelles Urteilsvermögen mit einbringen. Wie ich im Schlusskapitel dieses Buchs detailliert dargelegen werde, sollte zudem unbedingt vermieden werden, dass sich die breite Öffentlichkeit beim Versuch einer Selbstdiagnose auf das Handbuch stützt (das sich auch über Fachkreise hinaus sehr gut verkauft). Wir, die wir als praktizierende Ärzte nah an den Menschen dran sind, erkennen Trends bei Fragen der Diagnose und Behandlung meist eher als die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft; bei meiner Haltung bezüglich der Fehldiagnose von ADHS verhält es sich ebenfalls so. In den folgenden Kapiteln werden wir die im DSM-5 aufgestellten Kriterien für eine Reihe spezifischer Leiden oder Störungen (zum Beispiel affektive Störungen wie etwa Depressionen) mit der immer gleichen Warnung betrachten: Das Handbuch taugt für die Erläuterung oder das Verständnis der allgemeinen Richtlinien, nicht aber als oberste Instanz. Mit anderen Worten: Es ist der beste allgemeine Ratgeber, den es zurzeit gibt, doch man sollte es nie verwenden, ohne einen erfahrenen Fachmann zu Rate zu ziehen – wobei selbst Ärzte vorsichtig sein sollten, eine Diagnose ausschließlich anhand des DSM zu stellen. Wie ich finde, hat die APA im Hinblick auf ADHS genau wie der Rest der Fachwelt übersehen, dass ganz unterschiedliche Leiden (ob im DSM-5 behandelt oder nicht) eine viel bessere Erklärung für Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität liefern können.

Häufigkeit und Zunahme von ADHS

Der Anstieg der ADHS-Diagnosen ist schockierend. Laut DSM-5 trifft die Diagnose ADHS auf etwa 5% aller Kinder zu;16 das ist ein deutlicher Unterschied zu den »3–5%«, die das DSM-IV anführt.17 Aber eine relativ neue Studie (mit Daten aus den Jahren 2011 und 2012) der US-Bundesbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC; Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention) deutet auf einen noch höheren Prozentsatz hin: Bei rund 11% aller Kinder im Schulalter wurde irgendwann ADHS diagnostiziert, von den Jungen im Highschool-Alter sind rund 20% betroffen. Das entspricht einem Anstieg von 41% innerhalb eines Jahrzehnts. Zwei Drittel der Kinder bekamen Stimulanzien, also Aufputschmittel verschrieben. Zu Beginn des neuen Jahrtausends nahm der Stimulanzienverbrauch jährlich um 11,8% zu. Von den Erwachsenen sind, wie eingangs erwähnt, 4,4% betroffen. Obgleich die Zunahme von ADHS bei Erwachsenen weit weniger gut belegt ist, konnte ich doch beobachten, wie die Zahl der Menschen mit ADHS-Diagnose Jahr für Jahr größer wurde. Nach meiner Einschätzung kommen in der Bevölkerung mittlerweile zwei Kinder auf einen Erwachsenen mit ADHS, was sich mehr oder weniger mit den vorhandenen Statistiken deckt. Die Fallbeispiele in den späteren Kapiteln spiegeln dieses Verhältnis ebenfalls wider.

Für mich resultiert die schockierende Zunahme sowohl von ADHS als auch des Stimulanzienverbrauchs allerdings nicht daraus, dass es auch tatsächlich immer mehr Leute mit dieser Diagnose gäbe. Vielmehr gründet sie sich auf ganz unterschiedliche Trends, die genau diese Diagnose und die Einnahme oder den Missbrauch von Medikamenten erleichtern oder gar nahelegen. In den nächsten Kapiteln werden wir die Triebkräfte, die diesen Trends zugrunde liegen, genauer untersuchen.

Die Kosten von ADHS

Was bedeutet dieses Fehlverständnis von ADHS für den Einzelnen und die Gesellschaft? Wie schon in der Einleitung erwähnt, sind die Symptome von ADHS, das es als Erkrankung gar nicht gibt, nur allzu real – und sie haben, wenn sie nicht behandelt werden, drastische Konsequenzen für die Betroffenen, deren Familien und die Gesellschaft. Es gibt keine gezielten Untersuchungen zu den Belastungen, die ADHS dem Sozialbereich, der Wirtschaft, dem Bildungs- und Gesundheitssystem aufbürdet, aber vor rund zehn Jahren haben die CDC eigene und fremde Studien ausgewertet, um diese Kosten ungefähr abschätzen zu können.18 Hier sind einige der Ergebnisse:

Mit einer geschätzten Prävalenz (Häufigkeit) von 5% der Bevölkerung hat ADHS in den USA theoretisch Kosten in Höhe von 36–52 Milliarden US-Dollar verursacht (Kurswert 2005), pro US-Bürger also bis zu 17458 US-Dollar. (Bitte beachten Sie, dass die Prävalenz mittlerweile deutlich höher liegt.)

Von diesem Betrag wurden nur 1,6 Milliarden US-Dollar (das entspricht nicht mehr als 3% der Gesamtsumme) für die Behandlung der Patienten verwendet; 12,1 Milliarden US-Dollar betrugen darüber hinausgehende gesundheitsbezogene Kosten der Betroffenen, 14,2 Milliarden US-Dollar gingen zulasten ihrer Familienangehörigen.

ADHS hat in zehn Ländern zum Verlust von insgesamt 143,8 Millionen Arbeitstagen pro Jahr geführt; Arbeiter mit ADHS fehlten aufgrund von Krankheit im Durchschnitt einmal mehr pro Monat als ihre Kollegen ohne die Diagnose.

Die National Education Association (entspricht dem Verband Bildung und Erziehung in Deutschland) zitiert eine wissenschaftliche Untersuchung, in der die »verborgenen« Kosten von ADHS (wie etwa der Produktivitätsausfall von Eltern, die ihr Kind mit der Diagnose ADHS früher von der Schule abholen müssen) für die USA auf bis zu 266 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010 geschätzt werden, was rund 2360 US-Dollar pro Haushalt entspricht.19 Eine kleinere, aber spezifischere Studie hat darüber hinaus Kosten aufgeschlüsselt, die im Zusammenhang mit ADHS in ganz unterschiedlichen Bereichen entstehen. So sind Familien von Kindern mit ADHS mit höherer Wahrscheinlichkeit Konflikten oder Stress ausgesetzt und es kommt öfter zu Scheidungen. Warum das so ist, bleibt unklar, dennoch handelt es sich dabei um ein wichtiges Ergebnis.20 Wie wir weiter unten noch sehen werden, treten bipolare Störung und Depression familiär gehäuft auf und sind für gewöhnlich von ADHS-Symptomen begleitet; beide affektiven Störungen können also zu Familienkonflikten beitragen.

Ohne jeden Zweifel belasten die mit ADHS in Verbindung gebrachten Symptome die Gesellschaft auf mehreren Ebenen finanziell ganz erheblich. Indem man also die wirklichen Ursachen dieser Symptome aufspürt und den Betroffenen zu einer angemessenen Behandlung verhilft, können die mit ADHS verbundenen Kosten merklich reduziert werden. Das ist die Stoßrichtung dieses Buches.

Kapitel 2 Eine einfache Antwort: Die Gesellschaft ist schuld

Wir haben bereits gesehen, wie subjektiv bei der Diagnose von ADHS vorgegangen werden kann. Darüber hinaus unterstützt unsere Gesellschaft auf vielfältige Weise gänzlich falsche Vorstellungen von der Störung. Wie oft hören wir die Ausrede: »Tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe, mein ADS hat wieder zugeschlagen«? Und wie oft kommt es vor, dass die Begriffe »freigeistig« und »ADS« zur Beschreibung ein und derselben Person verwendet werden? ADHS ist ein bequemes und überaus leicht verfügbares Etikett für Kinder und Erwachsene, die Probleme mit der Konzentration und/oder ihrer Impulsivität haben. Im Gegensatz zu anderen Diagnosen, die sich auf Symptome aus dem Umfeld von Aufmerksamkeit und Hyperaktivität beziehen, trägt ADHS diese Merkmale im Namen: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Es liegt in der Natur des Menschen, für ein einmal erkanntes Muster die einfachste Bezeichnung zu wählen, und was könnte einfacher sein als eine Diagnose, die klar und deutlich ihre wichtigsten Symptome benennt. Dazu kommt, dass Lehrer und Eltern weniger Zeit als je zuvor haben und deshalb eher dazu neigen, ein Kind, das schlecht in der Schule ist oder den Unterricht stört, in die einfachste Kategorie zu stecken. Die meisten Lehrer und Eltern haben keine medizinische Ausbildung, was es ihnen noch leichter macht, das ADHS-Etikett zu vergeben. Leider sind diese und andere Missstände Schuld daran, dass es zu Unmengen von ADHS-Fehldiagnosen kommt.

Der Diagnose innewohnendes Manko

Um ADHS zu diagnostizieren, müssen die Symptome laut DSM-5 vor dem zwölften Lebensjahr aufgetreten sein und in mindestens zwei Lebensbereichen – im sozialen, schulischen oder beruflichen – zu Beeinträchtigungen führen. Wenn Kinder älter werden, schwächt sich das Symptombild meistens ab, und die ausgiebigen Bewegungen (etwa Herumrennen) und die Zappelei lassen nach. Dies zeigt, dass viele Kinder aus ihrem impulsiven Verhalten »herauswachsen«. Den Beleg dafür liefert eine Untersuchung aus Kanada, in der man festgestellt hat, dass die Störung eher bei den jüngsten Kindern einer beliebigen Klassenstufe diagnostiziert und somit eine normale, altersbedingte Unreife für ADHS gehalten wurde.21 Dennoch befürchten wir oft, ein impulsives Kind könne sich zu einem schlecht funktionierenden Erwachsenen entwickeln, wenn es nicht in jungen Jahren schon behandelt wird. Diese Sorge bewegt viel zu viele Eltern dazu, ihr Kind zum Psychiater zu schicken und dabei schon recht genau zu wissen, was der Grund für die Probleme des Kindes sein könnte.

Bei Erwachsenen mit ADHS geht man davon aus, dass sie die Störung schon als Kind hatten, auch wenn zu der Zeit keine offizielle Diagnose gestellt wurde. Erneut sind wir mit Subjektivität und einer daraus sich ergebenden Verzerrung konfrontiert, denn Erwachsene können sich leicht an Aufmerksamkeitsprobleme in der Kindheit (vor dem zwölften Lebensjahr) »erinnern« und die aktuell bestehenden aufbauschen, wenn sie erst einmal davon überzeugt sind, »ADS« zu haben. Genau wie Kinder mit der Diagnose ADHS leiden auch die Erwachsenen mit diesem Etikett unter Konzentrationsmangel und Unaufmerksamkeit. Erwachsene zappeln tendenziell weniger als Kinder, vermeiden aber sitzende Tätigkeiten wie etwa eine Arbeit, bei der man lange an ein und demselben Platz bleiben muss. Außerdem ist bei erwachsenen Menschen mit diagnostizierter ADHS die Wahrscheinlichkeit eines Job- oder Partnerwechsels höher als bei Menschen ohne Diagnose. In der Gesellschaft existieren eine ganze Reihe von Klischeevorstellungen oder Stereotypen über Erwachsene mit ADHS, von denen eine der »Freigeist« ist. Bei Künstlern, Schauspielern, Tänzern, Förstern und einer Vielzahl anderer kreativ arbeitender Menschen wird vermutet, sie würden zu ihrem Beruf neigen, weil sie Probleme mit dem »Fokussieren« haben. Wie Ihnen aber jeder Schauspieler erläutern kann, ist für seine Arbeit jede Menge Fokus nötig. Man ist allgemein auch der Ansicht, dass Menschen mit ADHS einen überdurchschnittlichen IQ haben (was statistisch gestützt wird). Nach dem Ansatz dieses Buches ist es aber ein Problem, die Menschen mit ADHS-Diagnose den anderen ohne diese Diagnose gegenüberzustellen, denn meiner Ansicht nach beruhen die individuellen Symptome ja auf ganz unterschiedlichen Störungen oder Leiden. Die genannten Klischeevorstellungen steigern die Gefahr einer Selbstdiagnose erheblich, und weil der Beurteilungsprozess so stark auf den Aussagen des Patienten beruht, ist eine Besserung in diesen Fällen oftmals nur vorübergehend.

Ein weiterer Bereich, in dem die Diagnose gesellschaftlich beeinflusst wird, ist das Geschlecht. ADHS wird bei Jungen häufiger diagnostiziert als bei Mädchen; so beziffert das DSM-5 das Verhältnis von Jungen und Mädchen mit 2:1. Die CDC setzen die Prävalenz von ADHS bei den Jungen mit 15% an, bei den Mädchen hingegen mit 7%, was dem genannten Verhältnis von 2:1 entspricht. Bei den Erwachsenen ist die Situation ausgeglichener: Das DSM-5 nennt als Verhältnis zwischen Mann und Frau 1,6:1, wohingegen andere Quellen behaupten, die Diagnose sei bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig.22 Ich denke, es gibt eine Erklärung für das unterschiedliche Geschlechterverhältnis im Erwachsenen- und Kindesalter: Gerade in der Vergangenheit war es bei Jungen eher normal, dass sie »aufdrehen« und für Störung sorgen, indem sie ihren Platz verlassen oder andere unterbrechen; das sind Symptome, die sich leicht beobachten lassen. Von Mädchen hingegen wurde eher erwartet, dass sie sich ruhig verhalten. Symptome wie etwa Tagträumen waren also weniger leicht zu erkennen. Als Erwachsene sind Männer und Frauen seit jeher deutlich weniger dem Druck ausgesetzt, diesen gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, was das bei ihnen annähernd ausgeglichene Geschlechterverhältnis in Sachen ADHS erklären könnte.23 Da sich diese soziokulturellen Rollenbilder im Wandel befinden, vermute ich, dass sich auch bei den ADHS-Diagnosen im Kindesalter das Geschlechterverhältnis ein Stück weit angleichen wird.

Weitere Gründe für die Fehldiagnose ADHS

Die Medien bombardieren die Menschen mit Informationen zu ADHS.

Es dürfte schwierig sein, in unserer westlichen Welt jemanden zu finden, der nicht weiß, was es mit ADHS auf sich hat. Überall stößt man darauf – in Printmedien, im Fernsehen und im Internet. Zu dem Zeitpunkt, als ich dieses Buch verfasste, ergab eine Google-Suche nach »ADHD« (der englischen Abkürzung der Störung) über 60,5 Millionen Treffer, was mehr ist als bei »Depression«. Eine Suche nach dem Stimulans »Ritalin« – dem bekanntesten Mittel – ergab 18,6 Millionen Treffer; das in den USA ebenfalls populäre »Adderall« tauchte 19,6 Millionen Mal auf. Angesichts der Leichtigkeit, mit der man heute an Informationen zu ADHS kommt, überrascht es nicht, dass der Prozentsatz der Diagnosen so emporgeschnellt ist.

Ärzte haben zu wenig Zeit und zu wenig Anreiz für umfassende Untersuchungen und stellen die Diagnose ADHS manchmal sogar wider besseres Wissen.

»Ich glaube, ich habe ADHS.« Das ist ein häufig angegebenes Beschwerdebild in amerikanischen Arztpraxen, darunter auch meiner. Ständig kommen Erwachsene an und haben diese Selbstdiagnose gleich mit im Gepäck. Eltern bringen ihre Kinder zu mir und sagen: »Ich fürchte, er hat ADHS«, oder: »Ihre Lehrerin vermutet, dass sie ADHS hat«. Als Mediziner sind wir dazu verpflichtet, eine umfassende Untersuchung vorzunehmen, bevor wir eine klinische Diagnose stellen. Die Realität sieht aber so aus, dass viele Ärzte angesichts immer kürzerer Sprechstunden und der Anforderungen vonseiten der HMO (Health Maintenance Organisation, dem privaten Krankenversicherungs- und Versorgungsmodell in den USA) sowie den Richtlinien der Krankenkassen den Weg zu einer Diagnose immer mehr verkürzen. Und wir sind, wie alle anderen Menschen