Die anhaltende Suche nach Glück - Géraldine Dalban-Moreynas - E-Book

Die anhaltende Suche nach Glück E-Book

Géraldine Dalban-Moreynas

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Beschreibung

Ein rasanter Roman über Liebe und Leidenschaft, Hoffnung und Enttäuschung – und über die unendliche Stärke von Frauen Eine unabhängige, alleinstehende Frau, die mit ihrer Tochter in Paris lebt, meldet sich ohne größere Erwartungen bei einer Dating-Webseite an. Sie verliebt sich Hals über Kopf in den Mann, den sie kennenlernt, und er erwidert ihre Gefühle. Eine leidenschaftliche Liebe, große Gefühle und ebenso große Pläne entstehen: Sie kaufen gemeinsam eine Wohnung und ziehen zusammen ein. Doch ohne Vorwarnung verlässt er sie eines Morgens. Sie ist geschockt, trauert um die Beziehung, stellt ihr bisheriges Leben infrage. Sie reist nach Marokko, ein Land, das ihr viel bedeutet, in dem sie sich sehr wohl fühlt. Besinnt sich auf sich, will – und wird – neu beginnen.

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Seitenzahl: 194

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Die französische Originalausgabe erschien unter dem TitelElle voulait juste être heureuse bei Albin Michel, Paris.

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

© 2021, Éditions Albin Michel

Covergestaltung von Buxdesign I Ruth Botzenhardt

Coverabbildung unter Verwendung eines Motivs von Aldo Balding

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749908264

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Milo, meinen Sohn, damit er immer den Mut hat, sein Leben zu wählen.

Für Valentin, meinen Bruder, weil er so mutig war, an einem Tag im September das seine zu wählen.

PARIS

1

Letzte Woche hat er sie verlassen. Genauer gesagt, letzte Woche am Dienstagabend um 21 Uhr 15. In der Nacht zuvor haben sie drei Mal miteinander geschlafen. Einmal um Mitternacht, als sie ins Bett gingen, um halb sieben, kurz bevor der Wecker klingelte, und noch einmal mitten in der Nacht, aber da sie das Licht nicht eingeschaltet hat, weiß sie nicht genau, um welche Uhrzeit. Sie schätzt gegen drei oder vier Uhr morgens. Aber das ist eigentlich unwichtig.

Jedes Mal hat sie gespürt, wie er sich hart an sie presste, schon fast am Explodieren. Jedes Mal hat sie ihn in sich aufgenommen, bis sie spürte, dass er kam. Sie schläft gerne so ein, als wären sie ein einziges Wesen. Sie liebt sein Begehren, seine Lust auf sie, sobald sich mitten in der Nacht, zwischen zwei Träumen, seine Haut an ihre schmiegt.

Es folgten Monate wie ein böser Tagtraum und Nächte ohne Schlaf, in denen sie sich immer wieder fragte, wie ein Mann in einer Nacht drei Mal mit einer Frau schlafen kann, die er am nächsten Tag verlassen wird. Vielleicht gerade, weil er weiß, dass er sie verlassen wird. Er würde sagen, dass er es am Tag zuvor noch nicht gewusst hat.

2

Sie hat immer davon geträumt, hier zu wohnen. Als Studentin ist sie ganze Sonntage lang die Stufen von Montmartre hochgelaufen. Sie hat diesen Ort immer gemocht, ohne zu wissen, warum. Obwohl sie nicht von hier ist. Als sie klein war, ist sie einmal mit ihrem Vater nach Paris gekommen. Sie erinnert sich vage an einen unkontrollierbaren Schwindel in der ersten Etage des Eiffelturms. Sie hat immer gesagt, dass sie eines Tages ein Kind aus Montmartre haben würde. Ihre Tochter ist ein Montmartre-Kind.

Mit dreißig opferte sie eine, wie man sagt, komfortable Situation und eine geplante Hochzeit für eine Liebesaffäre mit einem verheirateten Mann. Die Sache war vom ersten Kuss an zum Scheitern verurteilt, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, bis zum letzten Abend daran zu glauben. Ein Jahr später zog sie auf den Hügel von Montmartre, um in einer kleinen Zweizimmerwohnung am Ende einer Allee ihre Wunden zu lecken. Villa Armand, Nummer 4. Vierzig Quadratmeter, in denen sie lernte, ohne ihn zu leben.

Ein paar Monate später packte sie erneut Kartons, um in eine Dachgeschosswohnung zu ziehen. Rue des Trois-Frères, Nummer 31, Montmartre. Ebenfalls zwei Zimmer, die wie eine etwas verrückte Garçonnière wirkten und einige feuchtfröhliche Partys beherbergen sollten.

Die Wohnung lag einen Steinwurf von der Place des Abbesses entfernt und war, als sie sie zum ersten Mal besichtigte, schon monatelang auf dem Markt, ohne dass sich jemand hatte vorstellen können, sie zu kaufen. Der Makler hatte sich eine Weile bitten lassen, bevor er einwilligte, die vier Stockwerke ohne Fahrstuhl hochzusteigen, obwohl die Sommerhitze einem jede Willensstärke und die Luft zum Atmen raubte.

»Ich muss Sie vorwarnen, Sie haben auf die Besichtigung bestanden, aber die Wohnung liegt direkt unter dem Dach. Die Deckenhöhe entspricht nicht der Vorschrift. Wenn Sie sie irgendwann verkaufen wollen, wird Ihnen das nicht gelingen. Daran hakt es bei jeder Besichtigung, und machen Sie sich keine Illusionen, im Gestühl ist nichts rauszuholen. Wäre es Ihnen nicht lieber, wir würden uns die Zeit nehmen, um etwas zu finden, das eher Ihren Kriterien entspricht?«

»Aber diese Wohnung entspricht meinen Kriterien.«

»Sobald ein Mann, der größer ist als einen Meter achtzig, über die Schwelle tritt, wird er Angst haben, gegen einen Balken zu rennen. Es sind kaum mehr als zwei Meter Deckenhöhe …«

»Das ist mir egal, es gibt in meinem Leben keinen Mann über einen Meter achtzig.«

Sie kaufte die Wohnung.

Und verkaufte sie wieder, wegen eines Ein-Meter-achtzig-Mannes, der jedes Mal, wenn er reinkam, das Gefühl hatte, gleich gegen einen Balken zu rennen.

Ein Baby und eine Trennung später kehrte sie nach Montmartre zurück, dieses Mal ein Stück weiter in den Westen. Rue Paul-Albert, unterhalb der großen Treppen, die zu Sacré-Cœur hinaufführen. Dort liegt einem die Stadt zu Füßen. Ihre Tochter lernte laufen, indem sie ständig diese gepflasterten Treppen rauf- und runterkraxelte.

Sie verkaufte wieder. Weil der Bewohner oben drüber zwischen zwei Klinikaufenthalten jede Nacht versuchte, seine Frau zu ermorden, und ihr mit einem Fleischermesser durch das Treppenhaus hinterherlief. Sie hatte überlegt, dass es nicht sehr vernünftig war, allein mit ihrer Tochter dort zu leben, wenn über ihren Köpfen ein Irrer wohnte, auch wenn dieser eigentlich sehr sympathisch war – solange er nicht vergaß, seine Pillen zu nehmen. Vor allem verkaufte sie, weil sie endlich die Patchworkfamilie hatte, von der sie so lange geträumt hatte.

»Ist es nicht zu früh für eine gemeinsame Wohnung?«

»Warum zu früh?« Sie sah ihre Freundin Sophie stirnrunzelnd an.

»Ich darf dich daran erinnern, dass ihr euch erst vor drei Monaten getroffen habt …«

»Wir sind über vierzig, wie viel Zeit, glaubst du, brauchen wir noch, um zu wissen, dass wir das wirklich wollen?«

»Vielleicht hast du recht. Aber ihr kennt euch doch erst seit Kurzem.«

»Wir haben den Sommer zusammen verbracht, und es war so schön.«

»Der Sommer ist nicht das Gleiche, da fehlt der Druck der Arbeit, der Alltagsstress.«

»Ich weiß, ich weiß, aber schau, ich habe Milly fast die ganze Zeit und er hat seine Söhne ständig. Wenn wir uns sehen wollen, ist das Zusammenleben also die einzige Lösung, sonst kann es einfach nicht funktionieren. Wir können nicht jeden Abend einen Babysitter nehmen und uns im Hotel treffen.«

Sophie nickte. Automatisch, ohne wirklich daran zu glauben. Obwohl alle daran glauben. Oder glauben wollen, weil alle Geschichten mit Happy End lieben. Vielleicht eher aus Egoismus als aus Nächstenliebe, um die eigenen Hoffnungen auf eine Liebesgeschichte, von der wir im dunklen Kinosaal träumen, zu nähren. Denn woran gehen sie eigentlich innerlich zugrunde, diese lebhaften, wilden und unabhängigen Frauen und Männer, die sich in einer Gesellschaft behaupten, in der mit der richtigen App die meisten Begehren gestillt werden können? Sogar das sexuelle. Und doch gehen sie zugrunde, ohne überhaupt zu merken, dass sie ziellos im Kreis rennen, nur um sich lebendig zu fühlen. Daran, nicht geliebt zu werden. Und nicht zu lieben. Sie wusste nicht, was zuerst kam.

An einsamen Sonntagen hat sie früher dem Blues ein Schnippchen geschlagen, indem sie sich auf ihrem Bildschirm durch diverse Typen mit Sex- oder Liebesbedürfnis gescrollt hat. Sie waren nicht da draußen, weil sie dort waren, an ihren Tastaturen. Der nicht enden wollende Regen war schuld. Die Straßen von Paris waren wie ausgestorben. Durch ihr Fenster sah sie das triefend nasse Pflaster von Montmartre, ein paar Regenschirme von verirrten Touristen, die entschlossen waren, trotz des schlechten Wetters zu Sacré-Cœur hinaufzugehen, und das war alles. In den Cafés hatten sich wohl ein paar Pariser zum traditionellen Sonntagsbrunch zusammengepfercht, aber sie sprachen nicht mit den Leuten am Nachbartisch. Sie waren als Paar oder mit Freunden gekommen, sie brauchten niemanden zum Reden. Nein, diejenigen, die reden wollten, waren dort, das wusste sie. Als sie ihren Computer öffnete, sah sie an der Seite des Bildschirms die Gesichter vorbeiziehen, in der unteren Ecke ein grünes Symbol, das leuchtend bestätigte, dass sie online waren. Alle saßen sie dort bequem an ihren Bildschirmen, auf dem Sofa, und warteten auf ein Zeichen.

Wenn es bei ihr geklappt hatte, hieß das, dass es auch bei ihnen klappen konnte. Bei all denjenigen, die davon träumten, nach vierzig noch einmal ein neues Leben zu beginnen, trotz einer ersten gescheiterten, da zu früh eingegangenen Ehe (wie ihr Psychiater ihnen erklärt hatte), die auf einem wunderschönen, zu diesem Anlass gemieteten Anwesen in der Normandie oder im tiefsten Luberon geschlossen worden war. Die Eltern hatten willig die 40.000 Euro aus ihrem Bausparvertrag geopfert, um den Caterer zu bezahlen, und die Schwiegereltern, die unbedingt noch eins draufsetzen mussten, hatten sich das letzte Geld aus den Rippen geleiert, um als Überraschung Papierlaternen in die Luft steigen zu lassen, während die Torte angeschnitten wurde. Sie waren ziemlich stolz auf ihren Einfall, auch wenn sie wegen des Winds fast das Feld des Bauern nebenan in Brand gesetzt hätten. Es wurde bis zum Morgengrauen getanzt und sich die ewige Liebe geschworen, und das war es dann. Zehn Jahre und zwei Kinder später standen sie vor der Tür des Paartherapeuten, bei dem sie für zwei wöchentliche Sitzungen seit sechs Monaten ordentlich Geld ließen und der ihnen soeben mitgeteilt hatte: »Hören Sie, ich kann wirklich nichts mehr für Sie tun. Ich glaube, dass Sie sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, Ihr lang angestauter Groll auf den anderen sitzt zu tief, irgendwann muss man akzeptieren, dass es das Beste ist, sich zu trennen und sein Leben ohne den anderen weiterzuführen. Nur ein Anwalt kann Ihnen jetzt noch helfen, indem er Sie so gut es geht bei der Scheidung begleitet, für Ihre Kinder, aber natürlich auch für Sie selbst, denn Ihr Leben ist damit nicht zu Ende, wissen Sie! Es gibt nicht nur gelungene Ehen, sondern auch gelungene Scheidungen!«, hatte er abschließend gesagt, mit einem kräftigen Augenzwinkern, um die Atmosphäre zu entspannen und wie um ihnen zu sagen: Machen Sie sich keine Sorgen, es wird alles gut gehen.

Ihnen war die Atmosphäre egal. Hier, vor der Tür dieser Therapeutenpraxis, waren ihr Leben und ihre Träume gescheitert.

Ihre Ehe endete mit einem Einschreiben, denn sie mussten nicht einmal vor Gericht, um ihre Freiheit wiederzuerlangen. Sie hatten die Schließung der Ehe ein Jahr geplant und sie innerhalb von fünfzehn Tagen und mit einem gesalzenen Scheck für ihren Anwalt wieder aufgelöst. Eine Unterschrift genügte. Hier, ganz unten. Als ob ein Einschreiben genügte, um die Erinnerung an das Versprechen ewiger Liebe auszulöschen, einfach so, ohne vor einen Richter zu treten, der dem Ganzen einen feierlichen Anstrich gegeben hätte, nur weil die Gerichte entlastet werden mussten und Symbolik angesichts des Budgetdefizits des Justizministeriums wenig Gewicht hat.

Heute lässt man sich mit Leichtigkeit scheiden, weil man alles entdramatisieren muss, weil nichts wirklich zählt, abgesehen von der verrinnenden Zeit. Wer auf der Suche ist, wird aber bald feststellen, dass sich hinter den starren Gesichtern derjenigen, die die Behörden als »geschieden« einordnen, geschundene Seelen verbergen. Es bleibt nichts zurück außer dem Gefühl von gewaltiger Leere und Vergeudung, das nicht so schnell verschwindet.

»Ich muss trauern, verstehst du?«

Sie schaut ihre Freundin Sophie ungläubig an: »Aber du hast seit Jahren mit dieser Scheidung gerechnet! Hast du die vielen Abende vergessen, an denen du mich angerufen hast, um mir zu sagen, dass du nicht mehr kannst, dass es dir am liebsten wäre, er würde endlich ausziehen? Als du es nicht mehr ausgehalten hast, ihn direkt neben dir im Bett zu haben? Als du nachts nichts mehr geschlafen hast, weil du zu große Angst vor einer Berührung hattest, bis an die Bettkante gekrochen bist, ganz an den Rand, sodass du fast aufs Parkett gekracht wärst, um von der Stelle wegzukommen, an der er lag? Um nicht zufällig seine Haut zu berühren, die du doch jahrelang mit Genuss gestreichelt, geküsst, berührt hast, aus Angst, er könnte denken, es sei ein Wink mit dem Zaunpfahl, die letzte Chance. Hast du sie vergessen, all die Male, die ihr miteinander geschlafen habt und du vor fehlender Lust so geweint hast? Er hat die Augen geschlossen, um deine Tränen nicht zu sehen und noch ein wenig daran zu glauben, um noch einmal zu kommen, während du immer noch geweint hast. Hast du sie vergessen, die Nächte, in denen du ihm den Rücken zugedreht hast, damit er dich von hinten nahm, nur weil du es leichter fandest, zu warten, bis es vorbei war, zu warten, bis er fertig war, wenn du sein Gesicht nicht sehen konntest, wie es sich kurz vor dem Orgasmus vor Lust verzerrte, während du dich gefragt hast, wann es endlich vorbei wäre und dir vorgenommen hast, dich nie wieder zu zwingen?«

»Ich habe nichts davon vergessen. Aber als wir geheiratet haben, dachte ich, es sei für das ganze Leben. Das ist dumm, oder? Ich weiß, dass er nicht der Mann für mich ist, ich weiß, dass wir nicht mehr zueinanderpassen, ich weiß, dass ich es nicht mehr ertragen habe, wenn er mich ansah, und noch weniger, wenn er mit mir schlief. Aber, siehst du, auf den Stufen des Gerichts konnte ich nicht anders, als in seinen Armen zu weinen. Was nicht bedeutet, dass ich es bereue, ich habe um etwas anderes geweint, um meinetwillen, glaube ich.«

Sie dagegen war nie verheiratet. Aber immer, wenn sie jemanden trifft, der geschieden ist, ob Frau oder Mann, spürt sie diesen inneren Knacks, die Verwüstung durch eine erste gescheiterte Ehe, wie heftig dieses neue, zweigeteilte Leben im Rhythmus der Kinder ist, die wochenweise von einem Haus ins andere gezerrt werden, von einer Welt in die andere, von einer Erziehung in die andere. Wie brutal Abwesenheit sein kann, wenn ein Vater abends allein vor dem Fernseher sitzt. Wenn keine Türen mehr schlagen, keine Kinder mehr schreien, seine Frau nicht mehr schimpft, weil er wieder die Tennistasche im Flur hat stehen lassen. Am Ende fehlt es ihm sogar, zu hören, wie sie sich wegen einer Tennistasche im Flur beschwert. Seine neue Wohnung erscheint ihm zu groß, zu still, ohne die Familie, die seine Tage und Nächte einnahm und ihm keine Minute für sich selbst ließ. Aber nun, da er Zeit hat, weiß er nicht mehr recht, was er mit ihr anfangen soll. Er sitzt auf dem Sofa und sucht in seinen Kontakten nach jemandem, den er zum Essen einladen könnte. Als er sie durch hat, sucht er bei seinen Facebook-Freunden. Er stößt auf eine Freundin aus der Uni, eine aus den Augen verlorene Kollegin, die ihm einen Theaterbesuch vorschlägt. Er nimmt Kontakt mit ein paar alten, bereits geschiedenen Freunden auf, die ihm sagen, wie wunderbar das Leben sei, bleibt länger im Büro. Als er eines Abends von einem Essen bei einer Nachbarin aus dem gleichen Stockwerk früher heimgeht, weil er sich so sehr langweilte, traut er sich endlich. Er öffnet eine Flasche Wein, macht es sich auf dem Sofa bequem und meldet sich an. Er muss nur ein nicht allzu dämliches Pseudonym finden. Aus Erfahrung weiß er, dass das nicht so einfach ist. Traummann42 ist schon vergeben, es ist immer das Gleiche.

Ihre Laune wird von den Erschütterungen innerhalb der Patchworkfamilien bestimmt, die aus neuen Lebenspartnern und neuen Kindern, Halbgeschwistern und halb verschütteten Träumen bestehen, weil die zweite Frau nie die erste sein wird. Sie wird immer diejenige sein, die später kam, nachdem er mit der davor schon alles erlebt hat, oder fast. Die Zweite wird sich jedes Mal fragen, ob er mit der davor schon in diesem Hotel war. In jenem Restaurant. Die Zweite wird nie wieder nach Amsterdam fahren, weil sie weiß, dass er dort die Erste um ihre Hand angehalten hat. Obwohl sie Amsterdam liebt. Sie weiß, dass sie nie auf Mauritius reisen werden, weil er dort mit der Ersten auf Hochzeitsreise war. Sie weiß, dass sie ihn trösten wird, wenn er erfährt, dass die Ex schwanger ist, auch wenn er schwört, dass es ihm wirklich nichts ausmache. Sie weiß, dass sie immer die Zweite sein wird, und sie, wenn sie dieser neuen Beziehung eine Chance geben will, keine andere Wahl hat, als das zu akzeptieren.

Zur Beruhigung sagen sich alle, dass die zweite Ehe die der unendlichen Möglichkeiten ist, der Reife, der wiedergefundenen Gelassenheit. Sie würden nicht wieder die gleichen Fehler begehen, sie würden sich nicht mehr wegen der in einer Zimmerecke vergessenen Socken aufregen, wegen eines nicht abgeräumten Frühstückstellers, schließlich ist das nicht so schlimm, was bedeutet das schon, angesichts von Einsamkeit und Scheitern, von Reue und Sonntagen, die es zu füllen gilt, um sich nicht zu fragen, was sie wohl tut, sie, die er vor nicht allzu langer Zeit noch »meine Frau« nannte, die nun aber nicht mehr sein ist. Was hat sie heute Morgen eigentlich mit den Kindern gemacht, in ihrer alten Wohnung, in der er nicht ist, nicht mehr, weil er dort nicht mehr zu Hause ist? Also sucht er nach einer zweiten Geschichte. Sie wollen mit jemandem zusammen sein. Wiederverheiratet. Wie ein Facebookstatus, der besagt, dass sie am Ende nicht alles in den Sand gesetzt haben. Dieser Wunsch bringt sie dazu, auf dem Bahnsteig nach Blicken zu suchen, nach einem Zeichen auf einem retuschierten Foto oder hinter einem Pseudonym, auf einer dieser Seiten, die Träume und eine Zukunft für 69 Euro im Monat verkaufen. Einsamkeit, die Krankheit unserer Zeit, einer Welt, die Freiheit zum Dogma erhoben hat, bis man sie mit dem Handrücken wegwischte, die alten Wegweiser einer Gesellschaft, die dachte, dass man ohne den anderen nichts wert sei oder nur die Hälfte eines Ganzen. Heute ist man frei. Und oft ist man heute frei und allein.

Doch sie ist nicht mehr allein.

Es ist der 1. September 2015.

3

»Mir gefallen Absätzebesser, aber wenn du in Ballerinas auftauchst, gefällst du mir auch, glaube ich.«

Sie schreiben sich seit zehn Tagen. Zu Anfang Nichtssagendes. Nur um ein wenig mehr Klarheit zu bekommen, um nicht in die Falle eines Dates zu tappen, das zehn Minuten später ein abruptes Ende nimmt. Sie klammern sich an das kleinste Indiz, das ihnen versichert, dass sie sich nicht irren.

»Moment mal, er macht keine Rechtschreibfehler, den darf ich mir nicht durch die Lappen gehen lassen, er gehört zu einer aussterbenden Art.«

Die Renaissance des schriftlichen Flirts hat zumindest den Vorteil, dem Duden zu neuer Ehre zu verhelfen. Wie viele Flirts wurden wohl wegen eines falsch konjugierten Verbs abgebrochen?

Ihre Freundin Sophie lacht sie freundlich aus. Sie gehört zu den letzten, die sich eisern weigern, sich von der Einfachheit einer Begegnung über die Tastatur verführen zu lassen. Das Ergebnis ist, dass sie seit Monaten keinen Mann mehr im Bett hatte, aber dieser besondere Status verschafft ihre eine gewisse Legitimität, um über diejenigen herzuziehen, die sich gleich nach dem Aufwachen auf die Nachrichten der einsamen Schlaflosen stürzen, während sie mit halbem Ohr die Morgennachrichten im Radio hören.

»Er hat mir erzählt, dass er oft am Wochenende nach New York fliegt, um Jeans zu kaufen.«

»Noch so ein Kerl, der sich ein Leben erfindet.«

»Vielleicht stimmt es …«

»Hast du ihn gegoogelt?«

»Natürlich, er ist Schuster in Neuilly.«

»Es gibt wirklich wenige Schuster, die samstags in Manhattan shoppen gehen, nur um eine Jeans zu kaufen, aber gut, das ist so überzogen, dass du denkst, dass er sich so was nicht ausdenken kann. Das klingt nach einem echten Lebenskonzept, seine Jeans samstags in New York zu kaufen, mit einem Schustertypen aus Neuilly.«

»Machst du dich über mich lustig?«

»Überhaupt nicht.«

Sie und der Unbekannte schreiben sich weiter, um zu überprüfen, ob sie die gleichen Wertvorstellungen haben. Die gleichen Bezugspunkte. Man fühlt vor, beschnüffelt sich, als ob so ein animalisches Ritual ein zwingender Schritt wäre, um ein gelungenes Verlassen der virtuellen Sphäre zu garantieren.

»Er hört den Jazzsender.«

»Und schaut natürlich Arte?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie doof – wenn alle Typen, die in Dating-Portalen behaupten, den Jazzsender zu hören und Arte zu schauen, es wirklich täten, wären das Massenmedien …«

»Stimmt schon.«

»Und ich nehme an, dass auf seinem Nachttisch Die Schöne des Herrn und das neueste Philosophiebuch von Edgar Morin liegen?«

Sie hat ihn noch nie gesehen. Anfangs hatte sie tatsächlich keine große Lust, ihn zu treffen. Er schreibt ihr, dass sie die einzige Frau sei, an der sein Blick haften geblieben sei, und das inmitten der tausend anderen Gesichter, die den ganzen Tag auf seinem Blackberry vorbeiziehen, damit er nicht bis zum Abend warten muss, um zu wissen, ob er mit der möglichen Frau seines Lebens gematcht hat. Man kann an der roten Ampel nachschauen. In der Supermarktschlange. Im Aufzug. In einem Meeting mit einem wichtigen Kunden, während man vorgibt, eine relevante Information zu überprüfen. Immer. Wie ein Drogensüchtiger, den es nach hypervernetzter Liebe dürstet.

Er sagt ihr wieder, dass sie die Einzige sei. Sicher hat er das Gleiche noch zweihundert anderen geschrieben. Aber es zu glauben, kostet nichts.

In ihr Profil hat sie geschrieben: »Sie weiß nicht genau, was sie sucht. Sie weiß, welches Leben ihr gefällt: Die Energie von New York, der Morgennebel hinter den Fenstern, wenn der andere noch schläft, erschöpft von den Freuden der letzten Nacht, Fußspuren im Sand, ein Buch,das Geräusch von Absätzen auf einem Pariser Bürgersteig. Sie weiß, was ihr nicht gefällt: Die überfüllten Mittelmeerstrände, tätowierte Männer mit lauten Stimmen, die ihre Black Card zücken, als würden sie Penislängen vergleichen.«

Wenn sie sich umschaut, hat sie den Eindruck, dass alle in Paarbeziehungen sich langweilen. Voreinander fliehen. Sich anschauen, ohne sich zu sehen. Sich streifen, ohne sich zu berühren, vorgebend, dass sie die Anfänge, als sie sich nächtelang streichelten, vergessen haben. Manche haben resigniert. Andere suchen ihre Dosis Gänsehaut und Gefühl woanders, bei gestohlenen Rendezvous. Sie hat noch nicht resigniert. Sie hat Lust zu fühlen, wie sich ihr Körper öffnet, der Schwindel sie erfasst, ihr den Kopf verdreht, diese Sache, die dazu führt, dass alles egal ist und nur noch der andere existiert, sein Mund, sein Geschlecht, seine Haut. Sie will keine banale Bettgeschichte, sonst würde sie sich einfach einen Abend lang an den Tresen unten in der Bar setzen. Auch das Konzept von Freundschaft plus hat sie nie verstanden. Also hat sie keinen Sex. Oder nicht mehr.

Seine erste Nachricht war so banal, dass sie hätte heulen können. Rasch warf sie einen Blick auf sein Profil. Blond und Ingenieur. Sie mag weder Blonde noch Ingenieure. Freundlich antwortete sie, dass sie ihm alles Gute wünsche. Woanders. Er ließ nicht locker. Sie erhält ein paar Zeilen, antwortet schmallippig, aus Höflichkeit, sicher auch, um in dieser virtuellen Welt einen Hauch Menschlichkeit walten zu lassen, oder weil man ja nie weiß und man dem Schicksal immer eine Tür offen halten sollte, damit es seine eigene Geschichte schreiben kann. Einen Monat später bringt eine Nachricht von ihm sie zum Lächeln. Irgendeine Sache mit Schuhen. Ihr Abonnement läuft ab. Sie wird es nicht erneuern. Also denkt sie, warum nicht.

Es ist der 1. Juni 2015.

4

»Ein Glas Wein?«

»Okay.«

»Und Abendessen?«

»Ein Glas Wein.«

»Ein Glas Weinund dann Abendessen?«

»Ein Glas Wein, und dann sehen wir weiter.«

»HeuteAbend?«

»Ich bin schon zum Essen eingeladen.«

»Ein Glas Wein nachdeinem Essen?«

»Okay.«

»Ich warte in der Hotelbar vom Bristol aufdich.«

»Ich trage Ballerinas.«

»Ist mir egal. Ich träume von dir in hohen Schuhen, aber ich glaube, du wirst mir auch in Ballerinas gefallen.«

Sie kommt in hohen Schuhen. Er sitzt an der Bar des Bristols. Das ist nicht sein erstes Getränk. Sie denkt sich nichts dabei. Später, viel später, versteht sie, dass er zu schnell trinkt. Später wird sie den Riss sehen. Aber an dem Abend sieht sie nur ihn. Sie kommt in die Bar vom Bristol, er schaut sie an und lächelt. Sie weiß, dass es gelaufen ist. Sie gehört ihm.

»Gehen wir raus, eine rauchen?«

»Wenn du willst.«

»Rauchen wir eine am Ende der Welt?«

»Wenn du willst.«