Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt - Marie-Christin Spitznagel - E-Book

Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt E-Book

Marie-Christin Spitznagel

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Beschreibung

Die Apokalypse, das Ende der Welt und der endgültige Kampf "Gut gegen Böse". Ausgerechnet Kassel in Nordhessen haben sich zwei Erzengel und eine Dämonin in außergewöhnlicher Kooperationsgemeinschaft dafür ausgesucht. Eine himmelsinterne Kartei identifiziert vier Frauen aus Kassel als neue Apokalyptische Reiter. Dass sie dabei ihr Leben verlieren sollen, findet das Quartett überhaupt nicht prickelnd. Zusammen mit einer wahrsagenden Drag Queen, ihrem dämonischen Lebensgefährten und einer bösen Hexe in Ledermontur schmieden sie einen Plan, um das drohende Ende der Welt aufzuhalten.

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WARUM EINE NEUAUFLAGE?

Als ich diese Geschichte 2018 veröffentlichte, hatte ich das Ziel vor Augen, vor meinem 35. Geburtstag endlich mein erstes Buch in die Welt geschickt zu haben. Natürlich sollte es gut sein, natürlich wollte ich mein Bestes geben, aber ich setzte mich auch unter einen nicht unerheblichen Zeitdruck.

Ich wusste viele Dinge nicht, nahm mir kaum Zeit sie zu lernen und verfolgte weiter das Ziel «einfach fertig werden».

2023 hatte ich meine, zuvor im Selfpublishing veröffentlichte, Bücher bei einem Kleinverlag untergebracht, der dann leider den Weg vieler kleinen Verlage ging – er stellte seinen Betrieb ein. Da ich nun eine neue ISBN brauchte, nahm ich dies als Anlass, mich endlich wieder an meinen Erstling zu setzen und ihn etwas aufzupolieren.

Dies wollte ich in zwei Monaten erledigt haben.

Es sagt eine Menge über mich aus, dass ich erst jetzt fertig werde, da ich EIGENTLICH meine Bachelorarbeit in Literaturwissenschaft schreiben sollte.

Mein Gehirn funktioniert seltsam.

WIDMUNG

Dieses Buch ist weiterhin nicht dazu geschrieben religiöse Gefühle zu verletzen. Christliche Mythologie ist einfach sehr reich an spannenden Geschichten, die sich gut für Horrorkomödien eignen!

Wie auch die Vorgängerversion, widme ich dieses Buch meiner Stütze, meiner Inspiration, meinem besten Freund. Danke Markus, dass du in meinem Leben bist. Ein weiterer Dank geht an meine beiden zauberhaften Kinder, meine drei Nichten und meine Patenkinder. Ich hoffe, ich kann euch ein gutes Vorbild sein. Ich gebe mir Mühe!

Danke außerdem, an all die Menschen um mich herum, die meine Träume und Ziele nie kleingeredet haben, mich ermutigen und einen oder anderen «Ich bin so dumm und kann gar nichts»-Anfall mit mir durchgestanden haben. Meine Freunde, meine Familie, mein Tribe.

Danke an Lea, für dein hervorragendes Lektorat, an Felix für dein hervorragendes Coverdesign und an Kathrin für die hervorragenden Fotos!

Ihr seid toll.

Danke, fertig, los jetzt!

Inhaltsverzeichnis

1 JÜRGEN

2 MICHAEL

3 GABRIEL

4 ALEX

5 KARLA

6 SOFIA

7 MAYA

8 MADAME DESTINY

9 MICHAEL

10 GABRIEL

11 KARLA

12 DAS TREFFEN IM HIMMEL

13 VIELE JAHRE ZUVOR

14 HENNING

15 GABRIEL

16 HENNING

17 ALEX

18 MAYA

19 ASRAEL – VOR CIRCA 25 JAHREN

20 SOFIA

21 AURORA – VOR LANGER ZEIT IN ITALIEN

22 SOFIA

23 ASRAEL – VOR CIRCA 25 JAHREN

24 DIE HEXE

25 CIRCA 25 JAHRE ZUVOR, VOR DEM HEXENHAUS

26 DIE HEXE

27 AURORA – IRGENDWANN IN DEN 1960ERN

28 LILITH

29 ALEX

30 MADAME DESTINY

31 VOR CIRCA 25 JAHREN IN DER HÖLLE

32 HANS-PETER

33 VOR DEM HAUS

34 GABRIEL

35 JÜRGEN

36 MAYA

37 KARLA

38 ALEX

39 SOFIA

40 JÜRGEN

41 DRUMHERUM

42 KARLA

43 AMABEND ZUVOR

44 KARLA

45 JÜRGEN

46 MAYA

47 IM HEXENHAUS

48 JÜRGEN

49 KARLA

50 IMHEXENHAUS

51 JÜRGEN

52 DIE GUTEN

53 MAYA

54 ZUM SCHLUSS

1 JÜRGEN

Jürgen Hinze bewegte sich bisher durch die Welt wie ein Käfer auf dem Wasser. Immer darauf gefasst, beim nächsten Tritt unterzugehen. Vorsichtig. Fast unsichtbar. Immer mit dem Schlimmsten rechnend. Er schlich durch die Turbulenzen seines Lebens, überdachte jeden seiner Schritte lange und bewegte sich im Zweifelsfall lieber gar nicht. Es war ihm lieber, sich nicht gegen eine Entscheidung, die jemand für ihn traf, zu wehren, als eine Entscheidung selbst zu treffen. So war er 29 Jahre gut durchs Leben gekommen. Na ja, vielleicht nicht immer gut, aber wenigstens ‹okay›. Na ja, vielleicht nicht ‹okay›, aber wenigstens ‹nicht schlecht›. Na ja, möglicherweise nicht nur ‹nicht schlecht›, sondern sogar ziemlich schlecht und vollkommen genervt von seinem Dasein.

Aber er war noch da.

Noch.

Da.

Als er langsam wieder zu sich kam und verwirrt fragte, wo er denn da war, als er zu sich kam, aber sich ganz außer sich fühlte, nahm er den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund wahr. Bevor er nur überlegen konnte, ob es sinnvoll wäre, die Augen zu öffnen, roch er den Qualm. Beißend. Brennend. In seiner Lunge. In seiner Nase. Der Geruch von brennendem Holz, brennender Erde, brennendem ... Nein. Er weigerte sich, weiterzudenken. Manche Gedanken sind zu schwer, zu folgenreich, zu viel, um sie zu denken. Dies war nicht das Umfeld, in dem Jürgen sich normalerweise bewegte. Seine Finger ertasteten den staubigen Untergrund, auf dem er lag und, ohne zu wissen warum, war er sich schlagartig bewusst, dass er dieses Mal um eine Entscheidung nicht herumkommen würde. Heute war alles anders. Sein Leben würde sehr wahrscheinlich zeitnah vorbei sein. Es galt, noch etwas herauszuholen. Die Frage ‹Warum nicht früher?› tauchte in seinem Kopf auf und wurde schnell und vehement zur Seite geschoben. Nicht jetzt.

Nicht denken.

Zu schwer.

Zu folgenreich.

Zu viel.

Jetzt war Zeit zu handeln.

Dieses Mal würde er sich wehren müssen. Er schluckte, öffnete langsam die Augen und begann sich aufzurichten. Bis auf eine zerrissene Jeans war er nackt, er blutete an der Lippe und an den Händen. Sein Rücken brannte wie Feuer, und es dauerte, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Er stand in den rauchenden Überresten einer Waldlichtung, die vor wenigen Stunden im Tageslicht so idyllisch gewirkt hatte. Es musste Nacht sein, aber weder Mond noch Sterne standen am Himmel. Nur das rote Flackern kleiner Brände um ihn herum erhellte den Ort. Als er versuchte, sich zu orientieren, hörte er einen Schrei hinter einem umgestürzten Baum. Dort musste er hin.

2 MICHAEL

Die himmlischen Engelschöre unterlagen einer strikten Ordnung. Es gab eine klare Hierarchie, in der die Unteren den Oberen antworten mussten - in der die Unteren nie wussten, was die Oberen taten. Pyramidenförmig gab es eine Menge Infanterie und eine kleine Spitze. An höchster Stelle dieser Pyramide, direkt nach dem Chef, standen die Seraphim, Cherubim und Thronoi. Sie waren die mächtigsten Wesen der Schöpfung. Unter ihnen rangierten die Kyriotetes, Dynameis und Exusiai. Sie waren für die korrekten Abläufe, das Einhalten der Regeln, das Verwalten himmlischer Aufgaben verantwortlich. Alles ein Haufen Papierschieber, wenn man Michael fragte.

Aber niemand fragte ihn.

Die Erzengel standen in der Himmelsordnung zwar unter den Seraphim und Exusiai, doch sie waren Sprachrohr und Boten der Chefetage. Sie hatten die Spezialaufträge auf Erden erledigt und waren somit die Bekanntesten aller Engel geworden. Zu Recht! Sie waren die Klügsten und Nützlichsten der Engel. Fand Michael. Unter ihnen kamen Angeloi, die gemeinen Engel. Sie waren nur Fußvolk. Es waren die Erzengel, die ausführten, was die Schreibtischstuhlpupser sich ausdachten. Die sich in Gefahr zwischen den Menschen begaben. Die wahren Macher. Michael war einst DER Star unter den Erzengeln gewesen. Ein Krieger und eines der ältesten Wesen göttlicher Schöpfung. Nun saß er trotzig wie ein Kind in einer Ecke des Himmels und schmollte. Ihm war langweilig. Unbeschreiblich langweilig. Es war nicht etwa diese gemütliche ‹Was-fange-ich-heute-nur-mit-mir-an›-Langeweile. Es war auch nicht die ‹Ich-bin-zu-müde-für-Sachen-aber-zu-fit-zum-Schlafen› oder die ‹Mir-fällt-nicht-ein-was-ich-gerade-machen-könnte›- Langeweile. Nein, seine Form der Langeweile war allumfassend und verzehrend. Sie lähmte ihn und trieb ihn zugleich fast in den Wahnsinn. Die Erzengel sollten dem Erdenpfuhl fernbleiben, hatte man ausrichten lassen. ‹Auf unbestimmte Zeit›, hieß es. Seit 2000 Jahren.

Schließlich hätte man nun einen neuen Status quo, ein Zeitalter der Liebe und des Friedens, und somit wären Krieger unnötig. Michael war unnötig. Die Angeloi hingegen waren heute noch auf der Erde eingesetzt. Als Schutzengel. Sie mussten die haarlosen Affen vor sich selbst schützen. Den Job hätte Michael nicht übernommen, wenn man ihn darum gebeten hätte. Nicht, dass ihn jemand gebeten hätte. Er wünschte sich, jemand hätte ihn gebeten, damit er abfällig ‹Nein› hätte sagen können. Aber es hat ihn niemand gebeten.

Waren die Schutzengel nicht im Dienst, hingen sie in ihrem Teil des Himmels herum und erzählten sich, wie sie Kinder vor Bussen oder Hunden retteten. Manchmal ging Michael an diesem Himmelsteil vorbei, um laut verächtlich zu schnauben.

Mitunter musste er sogar mehrmals daran vorbei laufen und schnauben, damit man ihn bemerkte. Aber er hatte ja auch sonst nichts zu tun. Die Engel der ersten und zweiten Stufe, wie Cherubim und Seraphim, hatte er schon seit gefühlten (oder tatsächlichen) Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Dabei sahen die Cherubim mit ihren Tierkörpern und die Seraphim mit ihren sechs Flügeln wirklich lustig aus. Allerdings sollte man in ihrer Gegenwart nicht lachen. Humor hatten sie nicht und konnten schon mal einen Körper in Staub verwandeln. Das war auch für andere Engel unangenehm und immer ein Theater, bis das wieder ausgewachsen war. Die Seraphim waren machtvolle Krieger und wussten das. Leider waren sie sich schon früher zu fein gewesen, an Schlachten teilzunehmen, außer die Kacke war richtig am Dampfen.

Unruhig und frustriert erhob sich Michael, griff nach einer Hand voll Blitzen, die an der Kante seines knallroten Sofas lehnten. Ohne zu zielen, warf er sie alle zusammen mit Wucht durch die dicke Wolkendecke Richtung Erde. Den Trick hatte ihm einer der alten Götter gezeigt, der schon lange in Rente war. Ein großer Typ mit Bart, einer fatalen Schwäche für Frauen und einem grandiosen Unverständnis vom Konzept des beidseitigen Einverständnisses, der mit seiner Familie auf einer Bergspitze lebte.

Ohne Bedauern betrachtete er den Gewittersturm, den er beinahe über ganz Mitteleuropa entfacht hatte. Ein heller Blitz durchzuckte den Nachthimmel und schlug krachend in das Dach des Kölner Doms ein. Michael lauschte dem Donnergrollen mit Genugtuung. Eigentlich hatte er nichts gegen Dome oder gar gegen Europäer. Im Gegenteil: Er bewunderte sie für ihre grausame Konsequenz, die sie in den letzten Jahrtausenden gezeigt hatten. Folter, Inquisition, Hexenverbrennung, das Konzept der Christianisierung an sich. All das zeugte von einer beeindruckenden Verachtung für Menschen, die Michael durchaus teilte. Er hatte ihnen einfach schon zu lange dabei zugesehen, mit welcher Arroganz sie das Geschenk seines Vaters als selbstverständlich betrachteten. Sie waren zwar auf dem komplett falschen Dampfer, was ihre Grundidee von ‹Gottes Werk› betraf, – denn ‹macht Euch die Erde untertan› beruhte lediglich auf einem Verständnisfehler – aber darin waren sie wenigstens konsequent, fleißig und zielstrebig.

Er sah sich keineswegs als Fan des neuen, reformierten Kurses, des so genannten Neuen Testaments. Diese Meinung behielt er allerdings tunlichst für sich. Leider wurden die Werte der alten Herren mit Füßen getreten, wenn die jüngere Generation das Ruder übernahm. Michael schüttelte den Kopf, als er die Geschichte der Menschheit Revue passieren ließ. Nach fast 1500 Jahren permanenten Massakrierens waren selbst die Europäer in den letzten paar Jahrhunderten verachtenswert weich geworden. Was waren es einst für Kerle gewesen, was konnten die massakrieren! Sie waren sogar über die Meere gefahren, um neue Menschen zum Massakrieren zu finden. Aber damit war es leider auch seit ein paar Jahrhunderten vorbei. Jetzt wurde nur noch missioniert. Und das nicht mehr wie früher, mit Schwertern und Zwang. Nun predigte man Liebe. Auch wenn sich natürlich nicht alle daran hielten. Für Michael und die anderen Erzengel gab es nichts mehr zu tun. Nachdem die letzten Blitze verklungen und die Wolken im nachtschwarzen Himmel versunken waren, ließ sich Michael wieder auf sein Sofa fallen, streckte sich lang aus, seine nackten Füße baumelten über die Lehne. Er hatte sich seinen Platz als gefürchtetster Krieger des Herren hart erarbeitet, hatte Luzifer bezwungen, Städte in Schutt und Asche gelegt und war seinem Herren blind und treu gefolgt. Ein Erzengel alter Schule, ein Soldat. Es war auch nicht nur die Langeweile, die an ihm nagte. Das grausame Gefühl, überflüssig zu sein, ein Anachronismus, quälte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er schloss die Augen und versuchte, seine dunklen Gedanken in andere Bahnen zu lenken, da hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich, die dort nicht hätte sein dürfen.

«Hallo, Engelchen!»

Er fuhr auf. «Schlange! Was tust du hier und wie kommst du überhaupt herein?»

3 GABRIEL

In einer riesigen Halle von überirdischer Perfektion und Schönheit saß Gabriel in einem schneeweißen Ledersessel und dachte nach. Wände und Boden der Halle waren so weiß, dass man nicht sehen konnte, wo das eine begann und das andere endete. Keine Fuge oder Kante zerstörte das perfekte Gesamtbild. Er saß in seinem Sessel mit geschlossenen Augen und probierte etwas aus, das ihm ein Neuzugang beigebracht hatte. Me-di-ta-tion hieß es. Jeder Engel hatte im Himmel seinen eigenen Raum, der seiner Natur entsprach. Michael machte sich immer darüber lustig, dass Gabriels Bereich so weiß und leer war. Sein Vorstellungsvermögen gäbe nicht mehr her, sagte Michael. Gabriel hingegen war sich sicher, dass dieser Raum der Reinheit und Klarheit seines Geistes entsprach. Er war kein Krieger wie seine Brüder, sondern ein Verkünder, ein Sprachrohr und die Kontaktperson für die Propheten.

Gewesen.

Früher.

Vielleicht war das auch der Grund, warum Gabriel etwas anders aussah als seine Erzengelbrüder. Sein Äußeres war der Aufgabe angepasst mit Propheten, Heiligen oder anderweitig wichtigen Menschen zu kommunizieren. Seine langen, blonden Haare fielen in weichen Locken über seine Schultern.

Sein Gesicht war markant und schön, auf eine unaufdringliche Weise. Bei seinen letzten Besuchen auf der Erde war er mit 1,90 Meter größer als die meisten Menschen. Jetzt würde ihn niemand mehr automatisch als überirdisch erkennen. Gabriel behauptete, dass ihn das überhaupt nicht störe. Aber ein bisschen störte es ihn doch. Michael war schon vor geraumer Zeit in das Zimmer gekommen, was sowohl Jahre als auch nur wenige Minuten her gewesen sein konnte. Zeit war im Himmel ein eher fließendes Konzept. Wortlos hatte er einen Köcher mit Blitzen neben den weißen Sessel geworfen, der Gabriel gegenüber stand, und sich in Selbigen fallen lassen, um dann wortlos vor sich hinzustarren. Michael kam häufig in sein Zimmer gepoltert, schmollend wegen eingebildeter Kränkungen und gähnender Langeweile. Mal laut schimpfend, mal still grollend, bis Gabriel ihn endlich ansprach, und fragte, was denn los sei. Allmählich war dieser das Spiel leid. Aber für seinen Lieblingsbruder spielte er mit.

Zudem hatte er nichts Besseres zu tun. So ein Besuch, egal wie trivial, bedeutete doch Abwechslung. Heute war sein Bruder anders. Eine Unruhe umgab ihn. Mehr als sonst. Er war aufgewühlter. Drängender. Forscher. Diese Unruhe brodelte unter seiner, nach außen zur Schau gestellten, ruhigen Oberfläche und drängte aus jeder Pore. Gabriel konnte fast die Luft um seinen Bruder herum vibrieren sehen. Das machte ihn ganz nervös. «Michael, was grummelst du schon wieder?», milde lächelnd blickte Gabriel ihn an. Noch fläzte sich Michael in den Sessel. Seine Beine hatte er über die linke Armlehne geschwungen, seinen Rücken an die Rechte gelehnt und seinen Ellenbogen gegen die Rückenlehne gestützt, um sein Kinn auf der Handfläche ablegen zu können. Er blickte angestrengt von seinem Bruder weg und prustete, betont gelangweilt, Luft durch die Lippen. «Michael!», Gabriel legte etwas Strenge in seine Stimme. Seiner Meinung nach stand ihm diese Haltung ganz ausgezeichnet. «Solch ein Verhalten schickt sich nicht für Engel! Ich frage mich, wieso es ausgerechnet mir seit abertausenden von Jahren auferlegt ist, deine Jammermiene ertragen zu müssen.»

Gabriel hatte sich eine Reaktion erhofft, eine Kleine wenigstens. Oder besser: einen klärenden Streit, eine epische Schlacht der Worte. Er mochte epische Schlachten der Worte.

Er mochte den Ausspruch ‹eine epische Schlacht der Worte› – schließlich war er der Verkünder und besonders gut in epischen Schlachten der Worte.

‹Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden›, formulierte er lautlos in seinem Kopf vor. Das war ein solider und unaufdringlicher Einstieg, befand Gabriel. Sein Bruder schwieg und starrte wütend vor sich hin. «Bruder! Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden!» – Seine Worte hatten nicht den gewünschten Effekt. Michael schien unbeeindruckt. «Lass ab von deinem Zorn, beende dein kindisches Treiben! Sei endlich deiner selbst würdig, verdammte Hacke!» Manchmal entglitt sogar ihm die Zunge. Gabriel tröstete sich damit, dass es, außer Michael, keiner gehört hatte, und diesem hatte er schon schlimmere verbale Ausfälle um die Ohren gehauen. «Seit von oberster Etage eine neue Richtung vorgegeben wurde und die guten Tage des Alten Testaments abgelöst wurden von Vergebung, Nächstenliebe und Toleranz, hast du schlechte Laune und benimmst dich wie ein Kleinkind. Das ist eines Engels unwürdig! Schäme dich und besinne dich neu.» Gabriel hatte sich in Fahrt gebracht. «Du wurdest erschaffen, um Gottes Armee anzuführen», fuhr er fort. «Du hast gegen unseren gefallenen Bruder Luzifer und seine Gefolgschaft abtrünniger Engel gekämpft. Du hast Städte voller Sünder in einem Flammenmeer versengt, die Plagen erschaffen und über die Ägypter gebracht, riesige Heere mit einem einzigen Schlag deines Feuerschwerts in die Knie gezwungen. Die Menschen haben in Ehrfurcht ihre Gesichter abgewandt und dich angebettelt, verschont zu werden. Jetzt sitzt du hier herum und lässt kleine Fluten und Unwetter auf die Erde niederprasseln. Es ist beschämend.» Oh ja, epische Worte.

Jetzt fehlte nur noch die Schlacht. Er hoffte, sein Bruder wäre bereit!

Michael hob seinen Kopf, blitzte seinen Bruder mit stechenden Augen an. Er konnte wirklich furchteinflößend aussehen. «Weißt du, was wirklich beschämend ist?», fuhr er auf, «Wir! – Wir sind in die Belanglosigkeit abgerutscht und alle tun so, als ob dem nicht so wäre. Wir sind Kitschfiguren in den Augen der Menschen. Putzige Glücksbringer. Sie stellen kleine, nackte, dicke Figuren mit Flügelchen auf ihre Fensterbretter. Das sollen wir sein!» Er erhob sich aus dem weißen Sessel und ging energisch auf seinen Bruder zu. «Wir sind bedeutungslos, bestenfalls ein Witz, ein Kindermärchen. Kein Mensch achtet oder fürchtet uns mehr. Warum auch? Wir hatten seit Jahrtausenden keinen Einsatz mehr auf Erden, es gibt nichts zu tun, nichts zu rächen, nichts zu verkünden. Wir sitzen herum und warten auf was-weiß-ich-was!»

Das war ein neuer Ton. Normalerweise quengelte Michael lediglich, dieser Zorn war neu. Wo kam der denn her? Gabriel ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, schüttelte kurz den Kopf und antwortete auf Michaels Tirade lediglich mit einer abwehrenden Geste. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel. Auf diesen neuen Ton musste er sich erst einstellen. Betont langsam spazierte er um seinen Bruder herum, nahm den Köcher mit den restlichen Blitzen, bevor Michael die Chance hatte, etwas damit anzustellen. Mit einer winkenden Handbewegung erschien ein Wandschrank aus hellem Holz, den Gabriel nun öffnete und die Blitze samt Köcher darin verstaute. Während er aufräumte, musste er nicht reden und konnte sich seine nächsten Worte gut überlegen. Er entschied sich fürs Beschwichtigen.

«Sei doch nicht so eine Drama Queen. Und vor allen Dingen, wirf nicht wieder von diesen Blitzen. Nicht, dass du wieder ‹ganz aus Versehen› Erdbeben und Feuersbrünste in Gang setzt. Such dir lieber eine vernünftige Beschäftigung. Dann ist dir auch nicht mehr so langweilig.» Mit einem kräftigen Schwung knallte er den Schrank zu, so dass darin ein kleines Gewitter losbrach. Michael schlurfte zu seinem Sessel zurück und ließ sich kraftlos in das Polster sinken.

«Ewig ist eine furchtbar lange Zeit, wenn man nichts tun kann, außer zuzusehen, wie diese haarlosen Affen, auf die Vater so stolz ist, sich gegenseitig abschlachten», sagte Michael leise. «Und das Schlimmste ist: Wir dürfen nicht einmal mitmachen!»

Gabriel lehnte seinen Kopf gegen die Tür des Blitzschranks. Es war ja nicht so, dass er nicht verstehen würde, warum Michael so frustriert war. Es ging ihm ja genauso. Und wenn Michael in der Nähe war, musste er sich richtig zusammenreißen, dass dieser nicht merkte, dass er an demselben Überdruss litt. Sein Bruder hatte ja Recht. Was blieb ihnen denn übrig, außer manchmal – heimlich, damit es keiner merkt, dass sie es sind – in kleinen Schutzengeljobs ein paar Idioten vor sich selbst zu retten, um nicht vor Langeweile wahnsinnig zu werden? Gabriel war sich sicher, dass sein Bruder dies auch tat. Ebenso heimlich, damit niemand merkte, dass er es war, der sich sonst so laut darüber lustig machte. Michael flüsterte: «Was bleibt uns denn übrig außer, heimlich, damit es keiner merkt, dass wir es sind, ein paar kleinere Schutzengeljobs zu übernehmen und ein paar Idioten vor sich selbst zu retten, um nicht wahnsinnig zu werden?» Gabriel stockte kurz. Hatte er eben laut gedacht? Er räusperte sich und ging wieder zurück zum Sessel, um sich seinem Bruder gegenüber zu setzen. «Die anderen Engel sind der neuen Marschrichtung mit Begeisterung gefolgt. Warum kannst du das nicht?» «Die folgen doch der Chefetage immer mit Begeisterung wie ein Haufen degenerierter Labradore.» Michael seufzte. «Aber die anderen Engel sind ja nicht das Hauptproblem! Die Menschen sind es. Sie halten sich für so einzigartig. Sie werden immer arroganter und dreister. Es ist erst wenige Jahrhunderte her, da haben sie sich ehrfürchtig, vor den Reliquien vermeintlicher Heiliger, in den Staub geworfen und ähnlich possierliche Dinge getan. Sie halten sich für schrecklich zivilisiert, weil sie verfaulte Dinosaurierreste als Energiequelle nutzen können.» Er rappelte sich hoch, sprang wieder aus dem Sessel und warf aufgebracht die Hände in die Luft. «Einige von ihnen sind paradoxerweise zudem davon überzeugt, dass es Dinosaurier nie gegeben hat. Ganze Gruppen glauben unbeirrt, während sie in riesigen, dinosaurierflüssigkeitsbetriebenen Fortbewegungsmitteln unterwegs sind, dass es Dinosaurier nie gegeben hätte und Vater die Menschheit mit einem Fingerschnipsen – Puff – aus einem humanoid geformten Lehmklumpen zum Leben erweckt hat. Das sind die Allerschlimmsten! Die sind arrogant und noch dümmer als der Rest. Erinnerst du dich daran, wie Vater die Evolution in Gang gebracht hat? Wie wunderbar das gewesen ist? Wie viel Hoffnung er für diese Menschen hatte! Nun sieh, was sie machen. Und wir dürfen nicht mal eingreifen. Und Vater? Vater ist gegangen. Von wegen ‹kleiner Urlaub›. Der dauert schon 2000 Jahre, und wir sitzen hier fest.» Gabriel erinnerte sich genau an den Moment, an dem die Erde begann. Er hatte neben seinem Vater und all den anderen Göttern gestanden, als die Evolution ihren Anfang nahm, er hatte das Wunder der Entwicklung vom ersten Einzeller miterleben dürfen. Immer wieder jagte ihm der Gedanke an diese erste, einfache Zeit voller Hoffnungen für diese junge Welt Schauer über den Rücken. Nachdem Gott die Engel geschaffen hatte, war er auf der Suche nach einer Herausforderung gewesen. Freier Wille.

Engeln war er nur teilweise vergönnt. Die Erzengel waren in der Lage, auch selbst zu denken, anders als das gemeine Fußvolk. Trotzdem mussten sie in allem folgen. Nur ein fast freier Wille. Selbst entscheiden mit Stützrädern. Echte Freiheit hatte Vater ausschließlich diesen haarlosen Affen zugestanden. Weil er sehen wollte, was sie damit machten, hatte er gesagt. Die Antwort war: hauptsächlich Schwachsinn. Michael war seinerzeit damit beauftragt, die Plagen vorzusortieren, und war in dieser Aufgabe vollkommen aufgegangen. Er hatte sich keine Gedanken über die Entwicklung auf der Erde gemacht. Zwar wunderte er sich, was sein Vater mit den Plagen wollte, aber zu diesem Zeitpunkt war das Hinterfragen von Anweisungen noch nicht bei den Erzengeln angekommen. Gabriel erinnerte sich an die Unterhaltungen, die er mit ihm geführt hatte, als seien sie gestern gewesen. Seit Jahrhunderten regte dieser sich auf und schimpfte auf die Menschen. Der Ärger seines Bruders war für Gabriel auch immer nachvollziehbar gewesen, aber heute schwang zusätzlich etwas Anderes in seinen Worten mit.

Etwas, das Gabriel einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Etwas Neues.

«Gabriel –», im Flüsterton riss Michael seinen Bruder aus den Gedanken.

«Ja?», fragte Gabriel leise.

«Mir ist langweilig!», Michaels Stimme war ein Flüstern. «Ich will nicht mehr hier festsitzen! Wie lange ist es her, dass ich eine Stadt verwüsten durfte, oder Feuer regnen lassen? Ich will einfach nicht mehr herum sitzen und nichts tun!» Gabriel nickte augenrollend und blickte aufwärts, als gäbe es einen weiteren Himmel über ihnen.

«Michael», erwiderte er gebetsmühlenartig, während er sich Mühe gab, die zuckenden Lichter, die noch immer aus dem Blitzeschrank stoben, zu ignorieren, «Wir sind Diener Gottes. Uns ist nicht langweilig, und wir sitzen nicht herum und meckern. Wir sind weise, würdevoll und tun, was unser Vater uns gesagt hat, bevor er ging! Ohne zu mäkeln und ohne zu motzen.» Er machte eine kurze Pause. «Du weißt, was passiert, wenn einer von uns anfängt, mit derlei … derlei ... Zeug!», sagte er schließlich, als ihm das richtige Wort nicht einfallen wollte. Verweise auf ihren gefallenen Bruder Luzifer halfen immer, Michael in seine Schranken zu weisen. Diese beiden waren sich so ähnlich. Allerdings war der Morgenstern noch dickköpfiger und impulsiver. Seine Trotzanfälle waren schließlich legendär.

«Trotzdem. Ich will nicht mehr eingesperrt sein, Gabriel!», wiederholte Michael ganz leise, ohne seinen Bruder dabei anzusehen. «Wir hängen fest, ich habe sogar Hausarrest, nur weil ich ein einziges blödes Memo nicht gelesen habe …»

«Ein blödes Memo? Du hast zwei komplette Städte ausgelöscht, tausende Menschen verbrannt und das Meer überkochen lassen. Obwohl in dem Memo stand, dass wir ab der Geburt des Sohnes einen neuen Kurs einschlagen. Wir haben vier Propheten verschlissen, bis wir die Verweise darauf aus allen Geschichtsbüchern getilgt hatten!»

«Ich habe das Memo auf meinem Schreibtisch nicht gesehen. Es lag unter dem Feuerschwerterkatalog!» Michael unterbrach Gabriel mit lauter Stimme. Etwas leiser fügte er hinzu: «Ich liebe Feuerschwerter.»

Als Gabriel seinen Bruder ansah, konnte er sein schmerzverzerrtes Gesicht sehen. Seine Wut verrauchte augenblicklich. Er fühlte sich schlecht, dass er seinen kleinen Bruder so angefahren hatte. Schnell stand er auf, ging zu ihm hinüber und legte Michael beruhigend die Hand auf die Schulter. «Ist schon gut.» Michael schüttelte den Kopf. «Nein. Nein, Gabriel. Gar nichts ist gut. Vater ist weg, keiner weiß, wo er ist, wir sitzen hier fest, ohne echte Aufgabe. Der Sohn spielt Poker mit seinen Kumpels oder sitzt mit diesem fetten Kerl mit den großen Ohrlöchern seit Jahren unter einem Feigenbaum und meditiert. Neulich erzählte er stundenlang, dass er fast das Nirwana erreicht hätte! Er ist schon im Himmel, wozu braucht er ein Nirwana? Gabriel, es passiert nichts, und der Sohn, den wir anbeten sollen, ist ein verfluchter Hippie! Ich dreh‘ noch durch!»

Gabriel fiel nichts ein, was er als Trost hätte sagen können. Er konnte seinen Bruder viel zu gut verstehen. «Ich wünschte auch, ich wüsste, wo er ist! Das wünschte ich wirklich. Er soll doch zurückkommen.» Mit diesen Worten lehnte Michael seinen Kopf an die Brust des Bruders, der ihm sanft über den Rücken strich. Trotz aller Streitereien, trotz ihrer Unterschiede – Michael war sein Lieblingsbruder und es brach ihm das Herz, ihn unglücklich zu sehen.

«Ja, das wünschte ich auch», sagte Gabriel leise. «Aber du weißt, dass wir ihn nicht finden können, wenn er nicht gefunden werden will.»

«Vielleicht sollten wir dafür sorgen, dass er zu uns kommt.»

«Hm, das wäre natürlich super. Aber wie?»

Michael machte eine Pause. Dann begann er zu sprechen. Zu erzählen. Zu erklären. Gabriel wäre der Atem gestockt, wenn er denn atmen würde. Der Plan war Wahnsinn und Gabriel war sich sicher, dass es nicht Michaels Plan war. Doch wer konnte seinem Bruder nur diese katastrophale Dummheit eingeredet haben?

4 ALEX

Die Kasseler Innenstadt, halb Erinnerungen alter Grandeur, halb (nach)kriegsverschandelte 0815 deutsche Mittelstadt, lag bedeckt unter dicken Wolken und kalter, grauer Luft. Ein feuchter Sonntagnachmittag im Januar in einer kalten, grauen, feuchten Stadt. Die Königsstraße, die Obere und Untere, verbunden durch den Königsplatz. Der schon am Vormittag gefallene Schnee war von aufmerksamen Schneeschiebermaschinenfahrern am Rand zu kleinen Schneematschbergen aufgetürmt worden. Die Abgase der vorbeifahrenden Autos hatten sie schon schmutzig eingefärbt. Jetzt befand sich ein Teil des Schnees in Alexandras Schuh. Sie überlegte kurz, ob sie sich ärgern sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es hätte nichts geändert, wozu also Energie verschwenden. Der neue Schnee knarzte unter ihren Schuhen, den alten Schnee in ihrem Schuh versuchte sie zu ignorieren. Sie lächelte, als ihr eine Schneeflocke auf der Nase landete, so schlenderte sie weiter. Friedrichsplatz – Königsgalerie – Opernplatz. Achtung, Straßenbahn! Dann nach rechts in die Wilhelmsstraße. Eine nicht oft geteilte Meinung: Sie liebte Kassel. Wahrscheinlich, weil sich die Schönheit dieser Stadt nicht sofort jedermann erschloss. Daniel hatte einmal gesagt, es sei kein Wunder, dass sie sich in Kassel so wohl fühle. «Ihr seid beide langweilig und habt eure besten Zeiten hinter euch», hatte er ihr eines Morgens gesagt, als sie versuchte, ihn zu einem Spaziergang durch ihre Lieblingsgegend zu motivieren. Ihre Entrüstung hatte er als Humorlosigkeit abgetan. «War doch nur ein Witz!», hatte er gesagt und dass sie sich nicht so anstellen solle. Schade, dass ihr da noch nicht auffiel, dass Daniel ein Idiot war. Jetzt wusste sie es.

Kassel war eine egale Stadt. Auf den ersten Blick. Man musste schon die Augen offen halten, nach dem Besonderen schauen. Dann belohnte diese Stadt den Suchenden mit Schönheiten. Bergpark, Herkules, Kirchweg. Daniel hatte sogar Recht, Alex und ihre Stadt waren sich ähnlich. Dass sie noch immer in Kassel lebte, war eine bewusste Entscheidung. Wie ihre Stadt erschloss sie sich nicht jedem auf den ersten Blick, fand sie. Man musste sich Zeit lassen und etwas genauer hinschauen, um das Besondere und Schöne zu finden. Scharfer Wind zischte die Wilhelmsstraße hinunter, durch den Mantel auf die Haut. Ein Zittern, ein Seufzen, die Erwartung baldiger Wärme. Sie zog ihre Winterjacke enger um sich und griff in ihre Tasche, um ihr Handy samt In-Ear Kopfhörern hervorzukramen. Wie immer waren die Kabel furchtbar verknotet und sie nahm sich vor, diese in Zukunft nicht einfach in die Tasche zu stopfen, sondern ordentlich zusammen zu rollen. Das nahm sie sich jedes Mal vor. Vergeblich bisher. Sie könnte sich auch kabellose Kopfhörer besorgen, doch sie war sicher, dass sie diese schnell verlieren würde. Mit einem zufriedenen Seufzen schob sie sich endlich die Kopfhörer in die Ohren und startete leise Musik, während sie versuchte, nicht in andere Passanten zu laufen. An der Ecke endlich ein Kaffeeladen, gegenüber das Stadtmuseum mit großen Ankündigungen. Ausstellungen verlorener Zeiten.

Caféhousemusik und warme Luft schlugen Alex entgegen, als sie die Tür öffnete. Sie nickte der emsigen Barista zu, einen Cappuccino mit Haselnusssirup To Go, bitte. Sie pustete warme Luft auf ihre kalten Hände und wartete an einem der freien Stehtische, bis ihre Bestellung fertig war. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase. Flyer und Heftchen lagen vor ihr auf der breiten Fensterbank. Kinderyoga! Das junge Stadtmagazin! Eine langweilige Broschüre der örtlichen Golfschule – jetzt anmelden und einen Einstiegskurs ermäßigt bekommen! Zwischen den Seiten des Heftes steckte etwas. Diese Golfschläger! Alex zog an einer kleinen, pinken Papierecke, bis sich das Gesamtwerk zeigte. Was trägt die Frau von Welt diesen Sommer auf dem Golfplatz? Es war eine außergewöhnlich geschmacklose Visitenkarte, die sie plötzlich zwischen den Fingern hielt. Madame Destiny – Professionelles Zukunftsauswahlconsulting in großen, grünen Buchstaben. Was zur Hölle sollte denn das sein? Geistesabwesend steckte sie dieses Meisterwerk der Hässlichkeit in ihre Hosentasche. Als die Barista ihre fertige Bestellung aufrief, hätte sie diese fast nicht gehört, denn ihr Smartphone hatte sie über ein neues Lego Star Wars Set benachrichtigt. Alex liebte Star Wars. Auch das hatte Daniel nie verstanden. Sie nahm sich ihren Thermobecher mit dem heißen Kaffee vom Tresen. «Findest du dich nicht etwas zu alt, um auf Science-Fiction zu stehen? Dass dir das nicht peinlich ist!», hatte er zu ihr gesagt, als sie das letzte Mal in seinem Beisein laut darüber nachdachte, ein Lego Star Wars Set zu kaufen. Das war nicht lange her. Egal, sie hatte sich vorgenommen, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden. Vom Ständeplatz nach Westen, auf die Friedrich-Ebert-Straße. Die hatte jede Stadt, oder? Sie nahm sich vor, zuhause nachzulesen, wer Friedrich Ebert war. Bevor Kassel im Zweiten Weltkrieg, und zusätzlich von den Stadtplanern während des Wiederaufbaus, zerstört wurde, war der Ständeplatz der Eckpunkt einer alten Prachtstraße. Heute gab es dort keine Pracht mehr. Nur eine große Kreuzung und daneben einen Parkplatz. Die Friedrich-Ebert-Straße führte weg von der Einkaufsmeile, die aussah wie alle anderen Einkaufsmeilen, weg von so wie alle anderen, hin zu einzigartig. Parallel zur Wilhelmshöher Allee, geradewegs nach Westen, hoch zum Schloss und zum Bergpark, über dem die Herkulesstatue auf seinem Oktogon thronte. Zehn Minuten von der Innenstadt entfernt zeigte Kassel sein anderes, eigenes Gesicht. Hochgewachsene Bäume säumten die Straße. Im Winter waren sie kahl und kurzgestutzt, so dass man jedes Detail an den Häusern erkannte. So konnte man etwas von der ursprünglichen Schönheit Kassels erkennen, die man sonst aus Bildbänden kannte, die sie früher in der Schulbücherei gewälzt hatte. Diese Stadt war einst so schön. Gewesen. Hier im vorderen Westen fand sich ein kleiner Rest davon. Insbesondere die Gesichter und Figuren an den Mauern hatten es ihr angetan. Kleine Geschäfte in den Ladenfronten. Handgemachte Pralinen. Antiquitäten. Sushi. Heute geschlossen. Am Schaufenster der kleinen Boutique mit den Rüschenkleidern blieb sie stehen. Nie würde sie so etwas tragen. Jeans und T-Shirt oder Pullover waren ihre bevorzugten Kleidungsstücke. Wie sie in diesen Kleidern wohl aussehen würde? Seltsam. Deplatziert – wahrscheinlich. Ihre Schultern waren etwas zu breit, ihre Arme etwas zu muskulös, als dass man sie schlank finden würde. Nicht der Typ für diese Kleidchen. «Du könntest dich ruhig mal weiblicher kleiden! Du siehst aus wie ein Kerl», hatte Daniel einmal zu ihr gesagt. Schnell ging sie ein paar Schritte weiter. Direkt neben dem Mädchen-Modeladen war ein Tattoo Studio. Glitzernde Totenköpfe, Piercingschmuck und Poster für eine anstehende Messe. Daneben Fotos mit verschiedenen Tattoomotiven in bunten Bilderrahmen. Sie seufzte. Sie würde sich nie trauen, sich ein Tattoo stechen zu lassen. Wahrscheinlich sähe es an ihr auch albern aus. Das nächste Schaufenster. Art Deco Schmuck der 20er Jahre, so schön, aber auch nichts für sie. Zu opulent, zu auffällig, zu unpraktisch. Sie hatte es mit künstlichen Fingernägeln versucht, um femininer zu wirken, aber durch den Sport und ihren Job waren sie so schnell abgebrochen, dass sie es nach zwei Wochen wieder aufgab und alles runterfeilen ließ.