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Kim wacht ohne Erinnerungen in einem Krankenhaus auf. Nicht zu wissen, wer man ist, oder wie man dort gelandet ist - das ist schon ziemlich blöd. Ein Glück, wenn man dann eine beste Freundin findet, die hilft und unterstützt, für die man wie geschaffen scheint, zu der man perfekt passt. Fast zu perfekt. Wie viel von sich selbst hat Kim verloren oder vergessen und wie viel von Kim, ist nur dazu da, um der neuen besten Freundin zu gefallen? Doch bevor Kim darüber nachdenken kann, wird Anna von vier Deppen in einem zu auffällig unauffälligen Kastenwagen entführt wird. Weil sie Kim für ein Monster halten. Klingt irgendwie unlogisch? Nunja, die vier Monsterjäger fanden ihren Plan ziemlich klug. Eine ungewöhnliche Horror-Komödie, die nicht nur Freundschaften, Verbindungen und Beziehungen betrachtet, sondern auch die Frage stellt - was ist ein Monster?
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Seitenzahl: 206
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Wie es sich gehört, möchte ich an dieser Stelle, direkt zum Einstieg, einmal »Danke!« sagen. Ganz klassisch bedanke ich mich natürlich bei meinem hinreißenden Ehemann, dem Rest meiner wundervollen Familie, meinen Testlesern und allen Unterstützern. Ohne Euch wäre dieses Buch natürlich nicht da, oder wenn, dann nur halb so gut.
Wenn überhaupt.
Und zu guter Letzt: Danke, an jeden meiner Leser. Ohne euch wäre das hier sowieso alles nur halb so schön.
Also: Danke und viel Spaß!
PROLOG –WAS IST EIN MONSTER?
1 ER
2 DIE HEXE
3 KIM – VOR EINEM JAHR
TEIL 1. SAMSTAG
4 ANNA
5 KIM
6 ANNA
7 ANNA UND ROMANO – VOR GAR NICHT MAL SO LANGER ZEIT
8 KIM
9 ANNA
10 DIE MONSTERJÄGER
11 ANNA
12 SCHRÖDER
TEIL 2. SONNTAG
13 KIM
14 Schröder
15 VOR VIELEN JAHREN
16 DIE HEXE
17 HANS PETER
18 ER
19 SCHRÖDER
20 ANNA UND KIM
TEIL 3 MONTAG
21 ANNA
22 SCHRÖDER
23 ANNA
24 ER
25 SCHRÖDER
26 KIM
TEIL 4 DIENSTAG FRÜH
27 SCHRÖDER
28 KIM
29 Schröder
TEIL 5 DIENSTAG MITTAG
30 ANNA
31 MADAME DESTINY
32 ANNA
33 DIE HEXE
Vor vielen Jahren
34 ANNA
35 HANS PETER/MADAME DESTINY
36 KIM
37 ANNA
38 HANNAH
TEIL 6 MITTWOCH – SHOWDOWN
39 DIE GUTEN
40 ANNA
41 JENSEN
42 MADAME DESTINY
43 ANNA
44 ASRAEL
45 MADAME DESTINY
46 UND DANN?
47 ANNA UND KIM
Wie du, lieber Leser, schon erraten kannst, geht es in diesem Buch um Monster. Gruselig, oder? Gefährlich, furchteinflößend. Oder nicht?
Es geht um Monster und um Monsterbekämpfer. Allerdings nicht ganz klassisch. Es ist nicht ›Siegfried und der Lindwurm‹ oder ›Perseus und die Medusa‹. Nein, ganz so einfach ist es nicht.
Beschauen wir uns zunächst das Wort, den Begriff ›Monster‹, der inzwischen so vielfältige Metamorphosen durchlebt hat. Wenn ich ihn einfach so benutze, an welches Monster denkst dann du?
Schreibe ich über einen Minotaurus oder über Dr. Frankensteins künstlichen Menschen aus Leichenteilen? Oder schreibe ich über Firmenvorstände, die sich bereichern, indem sie ihre Arbeiter ausbeuten? Oder über Menschen, die an der Börse mit Nahrungsmitteln spekulieren? Das sind schließlich alles ›Monster‹ im weitesten Sinne. Aber über sie schreibe ich nicht.
Ein bekanntes Online-Lexikon beschreibt ›Monster‹ (oder das Synonym ›Ungeheuer‹) seien widernatürliche, meist hässliche und angsterregende Gebilde oder Missbildungen. Das Wort ›Monster‹ selbst leitet sich vom lateinischen monstrum ›Mahnzeichen‹ sowie monstrare ›zeigen‹ und monere ›mahnen‹, ›warnen‹ ab.
Monster sind also manifestierte, hässliche Warnungen. Aber wovor?
Sie sollen zeigen, wie schrecklich und gruselig Wesen sind, die ›unnatürlich‹ oder ›missgebildet‹ sind. Ein bisschen diskriminierend, wie ich finde. Aber lösen wir den Begriff ›missgebildet‹ mal von gängigen Missbildungen ab, die Menschen inkludieren würde, die eine körperliche Behinderung haben. Die sollen hier, in diesem Kontext, natürlich nicht angesprochen sein. Weil ich das doof fände. Das große Onlinelexikon schreibt weiterhin: »Im engeren Sinn bezeichnet er1 ein, meist im Verhältnis zu einem idealtypisch gesehenen Menschen, ungestaltes Wesen.«
Ein Monster ist also das Gegenteil des idealen Menschen.
Sie sind, wenn man annimmt, der Mensch wäre an sich in seinem Ideal gut, sanftmütig und schön; hässlich, grausam und schlecht.
Wenn man annimmt, unser idealer Mensch wäre schön, gut und insgesamt ein dufter Typ. Betrachten wir jetzt in einem weiteren Schritt mal Menschen, die wir (und ich bin jetzt einfach mal so frei ›wir‹ zu sagen) als prominent und nachahmungswert ansehen, als unsere ›Ideale‹.
Geh du, lieber Leser, doch einfach mal in deinem Kopf eine Liste der ersten Prominenten, die dir so spontan einfallen, durch. Und dann frage dich, wenn diese Menschen unser Idealbild sind, wie ihr Gegenteil dann aussehen muss.
Also, lieber Leser, was ist ein Monster?
1 (der Begriff ›Monster‹, Anmerkung der Autorin)
Es ist schwer, ruhig zu blieben, dachte er. Es ist schwer, ruhig zu wirken, ruhig sein verlangte ja auch niemand, korrigierte er sich im nächsten Moment. Es war der Nervenkitzel des Jagens, die Vorfreude auf seine Beute, auf seine Belohnung.
Aber er konnte sich beherrschen, das hatte er gelernt. Seit Jahren lauerte er, wartete, beobachtete. Zugegeben, manchmal, da konnte er es sich einfach nicht verkneifen, manchmal spielte er ein bisschen mit seiner Beute. Aber ganz vorsichtig. Sie sollte ihn nicht bemerken bis zum letzten Moment. Erst, wenn es zu spät war, dann durften sie ihn erkennen.
Er spürte, es war bald soweit. Seine Zeit kam. Unauffällig wie eine Mücke in der Nacht würde er zustechen, aussaugen; wie eine Klapperschlange im Schlafsack eines unvorsichtigen Campers würde er zubeißen und Gift verspritzen.
Er würde ihre fassungslosen Gesichter sehen.
Und dann, dann würde er sie töten. Oder auch nicht. Diese Option hielt er sich offen. Er grinste vor sich hin. Manchmal fragten sie ihn, warum er vor sich hin grinste. Aber nicht oft. Warum sollten sie auch. Sie bemerkten sein wahres ich nie, weil sie nicht wollten. Menschen belügen sich gerne, um ihr Weltbild intakt zu halten.
Und genau das würde sie irgendwann umbringen.
Ihr Nacken prickelte. Tausend kleine Nadeln wanderten von ihrem Haaransatz hinunter zu ihren Schultern. Sie kannte das Gefühl. Es war nicht schmerzhaft, aber eine böse Vorahnung. Sie hatte diese Ahnungen nur selten, wenn etwas wirklich Gefährliches am Horizont drohte. Entweder versuchte ihr Junge wieder zu kochen, was er dringend seinem Mann oder Aurora überlassen sollte, oder noch größeres Unheil stand bevor. Hannah sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Hoffentlich ließ er nur wieder Sojaschnitzel anbrennen. Als Hans Peter das letzte Mal versucht hatte, einen Gemüseauflauf zu machen, hatte er die Sahne durch Null-Fett-Joghurt ersetzt und so war die Sauce eine eklige krümelige und flockige Masse geworden. Ganz davon abgesehen, dass er es geschafft hatte, das Tiefkühlgemüse zu verbrennen. Dabei hatte Aurora neben Hannahs Kräutergarten sogar mehrere Gemüsebeete angelegt.
Wenigstens hatte sein Mann für einen leckeren Nachtisch gesorgt. Diese dunkle Ausgeburt der Hölle, wie sie ihn liebevoll nannte, da er ja nun genau das war, erwies sich in der Küche als ein echter Glücksfall. Sie schnupperte suchend in der Luft. Es roch nicht verbrannt. Also lag ihre düstere Vorahnung nicht an den Kochversuchen ihres kleinen Jungen.
Was konnte es also sein? Sie musste dem Gefühl auf den Grund gehen. Vorsichtig legte sie das lange Jagdmesser, das sie liebevoll poliert hatte, zur Seite und setzte sich auf den weichen, bunten Flickenteppich auf dem Boden ihres Wohnzimmers. Sie spürte die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster auf ihren Rücken schienen und schloss die Augen.
Sie konzentrierte sich, streckte ihren Rücken durch und atmete tief ein, hielt kurz die Luft an und ließ sie dann in einem Strom raus. Sie atmete sich in eine Meditation, versuchte zu erspüren, wo die Gefahr herkam. Nach einer Weile, die fünf Minuten oder fünf Stunden gedauert haben konnte, sah sie einen dunklen Raum. Sie spürte harten Boden unter ihren Füßen, um sie herum war alles schwarz und endlos.
»Hallo?«, rief sie, aber nur ihr Echo antwortete. Was sollte sie hier sehen? Was wollte man ihr hier zeigen? Sie atmete weiter tief ein und in einem festen Strom aus. Sie musste tiefer in ihre Meditation einsteigen. Flackerndes Licht leuchtete jäh um sie herum auf. Sie sah eine graue Wand und den Schatten einer Frau. Aber niemanden, der diesen Schatten warf.
Da durchschoss es sie. Ein Gefühl, eine Präsenz, die sie schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte und niemals wieder spüren wollte.
»Hallo«, hörte sie eine vertraute Stimme aus allen Ecken des Raumes erschallen. Der Schatten zitterte. Die Stimme war kalt, mit einem spöttischen Unterton. Sie erkannte diese Stimme und spürte, wie ihr dieser Klang die Luft abschnürte. Mit einem Ruck zog sie sich aus der Vision heraus.
Keuchend sah sie sich um, sie war in ihrem Wohnzimmer in Sicherheit. Aber wie lange noch? Es stand ihr etwas Furchtbares bevor, etwas das alles, was sie bisher erlebt hatte, übertreffen würde. Falls sich ihre Ahnung als wahr erwies. Sie hoffte falschzuliegen. Doch es war Zeit, ihre Machete zu schärfen.
Nur für alle Fälle.
Das Erste, was sie spürte, war ein Schmerz in ihrer Armbeuge. Ein fieses Gefühl, das sie aus dem Schlaf ins Wachen zerrte, auch wenn sich ein Teil ihres Bewusstseins vehement gegen diesen Zustand wehrte. Der Nebel in Kims Kopf lichtete sich nur ganz langsam. Sie hatte keine Erinnerungen, nur das Stechen in ihrem Arm. Sie schaute sich in dem Zimmer um, das sie nicht erkannte. An das sie sich nicht erinnerte, jemals hinein gegangen zu sein. Angst stieg in ihr auf. Was war hier los?
Kim versuchte aufzustehen und stellte fest, dass eine Kanüle in ihrem Arm steckte. Ich bin in einem Krankenhaus, dachte sie. Okay, ich weiß, was ein Krankenhaus ist. Aber ich weiß nicht, warum ich hier bin.
Neben ihr auf dem Bett lag eine Fernbedienung, mit der sie die Krankenschwester rufen konnte. Sie atmete tief durch und drückte den Knopf gleich mehrfach. Es dauerte eine Weile, bis eine junge Frau mit bunten Haaren in den Raum kam. Die rosa, orange, grün und türkisfarbenen Strähnen ihres Haares waren hochgesteckt und am Hinterkopf zu einem losen Knoten gebunden. Sie trug blaue Hosen und ein Shirt in der gleichen Farbe.
»Hallo, ich bin Anna! Was kann ich für dich tun?«, fragte sie mit fröhlicher Stimme. Bevor Kim antworten konnte, plapperte sie einfach weiter »Ist schon okay, dass ich dich duze, oder? Das passiert mir immer automatisch und du bist ja ungefähr meinem Alter, oder? Ein Glück bist du noch wach geworden. Ich hab mir ja schon Sorgen gemacht.«
Anna schüttelte Kims Kissen auf, ohne dass sie darum gebeten hatte, und plapperte munter weiter. Kim konnte nicht anders, sie musste lachen.
»Warum lachst du?«
»Du redest echt viel.«
»Oh, ja das stimmt«, sagte sie und lachte mit Kim zusammen.
Das war ein schönes Gefühl.
»Na, es scheint dich ja nicht zu stören!«
»Nein. Es stört mich nicht. Es lenkt mich ab. Aber ... kannst du mir helfen?«
»Ich werde es versuchen, was gibt es denn?«
»Warum bin ich hier? Wie bin ich hier gelandet? Was ist mir passiert und wer zur Hölle bin ich?«
Anna starrte sie an. Das waren zu viele wichtige Fragen auf einmal. In ihren Augen konnte Kim Mitleid erkennen und etwas Trauer. Anna trat langsam zu ihr ans Bett und legte ihre Hand auf die von Kim.
»Du wurdest hergebracht von jemandem, der danach abgehauen ist, ohne irgendwelche Informationen über sich dazulassen. Als jemand am Empfang nach deinem Namen fragte, wurde nur ›Kim‹ angegeben. Kein Nachname. Du hast ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und warst bewusstlos, als du hier angekommen bist. Es kann sein, dass du vorübergehende Erinnerungsprobleme hast. Meistens kommen die Erinnerungen aber nach einer Weile wieder. Der Arzt erklärt dir das nachher bestimmt besser. Mach dir keine Sorgen. Du bist hier gut aufgehoben.«
»Danke Anna, das tut gut zu hören.«
»Kein Ding. Und wenn du in zwei Wochen noch nicht weißt, wer du bist, nehme ich dich mit zu mir«, sie lachte wieder. »Meine Mitbewohnerin ist gerade ausgezogen zu ihrem Ekelpaket von Freund. Ein abartiger Saftsack, sage ich dir. Ich habe also ein Zimmer frei.« Sie grinste. Natürlich war das nur ein Scherz. Das wusste Kim. Sie konnte ja nicht einsame Patienten bei sich aufnehmen wie streunende Kätzchen. Aber es war ein netter Scherz.
Anna kam sie in den nächsten Tagen einige Male besuchen, wenn es ihr Arbeitspensum zuließ. Meistens nur kurz, aber Kim war dankbar für jede Aufmunterung. Vor allem nachdem ihre Erinnerungen auch nach ein paar Tagen nicht wiederkamen, und ihr Arzt versuchte, ihr schonend beizubringen, dass sie sich darauf einstellen musste, dass es dabei wohl bleiben würde. Auch die Suche nach Kims Identität, die vor allem die Buchhaltung des Krankenhauses vorantrieb, blieb erfolglos. Eine gemeinnützige Organisation bezahlte ihre Rechnung.
Als Anna Kim bei einem vorsichtigen Spaziergang im Krankenhausgarten begleitete, stellten sie zum ersten Mal fest, dass Kim eine ganz besondere Eigenschaft hatte. Eine Eigenschaft, die die Suche nach ihrer Identität erschwerte und Annas Weltbild nachhaltig erschütterte. Kim hatte zwar kein wirkliches Weltbild, aber auch sie war ziemlich mitgenommen.
Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, kickte ihre Turnschuhe auf den Haufen mit anderen Schuhen unter der Garderobe, die unter der Menge an Jacken fast von der Wand fiel und warf ihre Tasche daneben auf den Boden.
»Ich bin zuhause!«, rief sie in den leeren Flur. Der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee stieg ihr als einladende Antwort in die Nase.
»In der Küche!«, schallte es zurück. Anna seufzte zufrieden, so wurde sie gerne begrüßt. Gespannt ging sie den schmalen Flur entlang, wen würde sie heute vorfinden? Die Stimme war leider uneindeutig, vielleicht ein junger Mann, der seinen Stimmbruch noch nicht allzu lang hinter sich hatte? Oder eine Sie? Sie ließ sich gerne überraschen. Vorsichtig schob Anna ihren Kopf in die Küche. Die Frau, die an dem Gasherd ihrer gemeinsamen Wohnküche stand und heißes Wasser in einen Keramikfilter goss, war ihr nicht ganz, aber fast vollkommen fremd. Anna fühlte sich oft, als müsste sie täglich eine neue Person kennenlernen. Details ihres Gesichts lösten unbestimmte Erinnerungen in Anna aus, aber sie hatte nicht die Energie sich weiter damit zu beschäftigen. Sie besah sich lieber, was vor dieser fast, aber nicht vollkommen fremden Frau stand und den betörenden Duft nach Kaffee ausströmte. Der Filter saß außerdem auf ihrer Lieblingstasse mit Star Wars Motiv. An den Seiten leuchteten die Lichtschwerter der Jedi auf, wenn man eine heiße Flüssigkeit hinein füllte. Anna trat hinter die fremde Frau und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie beobachtete, wie die Schwerter mit dem Pegel des Kaffes, der aus dem Filter in die Tasse tropfte, langsam länger wurden, und machte leise Lichtschwertgeräusche.
»Psum, psssuuuum, psuuuuuum.«
»Wie war die Nachtschicht?«
»Grausam. Zuerst waren es nur betrunkene Erstis, die sich auf ihrer ersten Uniparty furchtbar abgeschossen haben, ich wurde drei Mal vollgekotzt. Dann noch zwei Autounfälle und mehrere Prügeleien. Die Zentrale Notaufnahme ist am Wochenende ein Irrenhaus, sag ich dir! Ich werde so viel Kaffee brauchen, um heute zu irgendwas in der Lage zu sein. «
»Na dann fang hiermit schon mal an«, die Frau nahm den Filter von der Tasse und goss aufgeschäumte Milch hinein, dann reichte sie Anna die Tasse, die sich mit einem zufriedenen Aufatmen auf einem Küchenstuhl niederließ.
»Warum mache ich den Job nochmal?«, fragte Anna in Richtung der Zimmerdecke.
»Wegen dem vielen Geld und dem gesellschaftlichen Ansehen?«
Verträumt starrte Anna an die Zimmerdecke ihrer Küche und hielt ihren ausgestreckten Mittelfinger in die Luft, was mit einem leisen Lachen quittiert wurde. Sie lehnte sich vorsichtig an das wackelige Holzregal, das ihnen als Küchenschrankersatz diente. Es war vollgestopft mit Tassen, Müslipackungen, Weinflaschen und allerhand Zeugs, das nun mal in einer Küche täglich gebraucht wurde, wenn auch ohne einen Hauch von geordnetem System. Der kleine Tisch mit drei Stühlen, an dem Anna gerade saß und ihren Kaffee schlürfte, stand direkt davor. Der Stuhl gegenüber knarzte leicht, als sich die fremde Frau darauf setzte.
Anna schaute sie sich genauer an und grinste. »Die blauen Haare stehen dir gut!«
»Ich wollte es mal testen, aber ich glaube, für heute Abend wähle ich etwas anderes.«
»Aber das Gesicht erkenne ich nicht. Ist das jemand Bestimmtes?«
»Nein, ich habe das Gesicht einer Schauspielerin aus der Zeitung genommen und dann ein paar Kleinigkeiten verändert, ich wollte mich heute Morgen mal auf Details konzentrieren. Wie findest du meine Augenbrauen?«
Anna beugte sich vor und starrte ihrer Mitbewohnerin konzentriert auf die Brauen.
»Also, die Form ist schön, die Farbe irritiert mich etwas.«
»Mhm.«
»Äh warte mal, was ist denn heute Abend?«
»Du wolltest mit mir ausgehen. Ich brauche dringend etwas Abwechslung. Ich habe die ganze Nacht Vermisstenanzeigen durchstöbert. Zuerst Kassel, dann Nordhessen, am Schluss sogar aus Bayern und Österreich«, sie verstummte.
»Nichts dabei?«
»Nein.«
Anna bemühte sich, ein mitfühlendes Gesicht zu machen, während sie sich aber fragte, warum ihre Freundin immer wieder die gleichen Dinge tat und andere Ergebnisse erwartete. Seit einem Jahr wohnten sie zusammen. Seit einem Jahr versuchten sie gemeinsam mehr über Kims Vergangenheit herauszufinden. Seit einem Jahr führte jeder Versuch in eine Sackgasse. Sie würde es nie laut sagen, aber manchmal fragte Anna sich, ob Kim es nicht einfach gut sein lassen konnte. Was sie hier hatten war doch super, warum weiter nach etwas suchen, das man vielleicht nie finden würde?
Anna lächelte ihre Freundin aufmunternd an. »Ich werde schon dafür sorgen, dass du dich heute Abend amüsierst!«
»Danke Liebes. Das klingt gut. Was treiben wir bis dahin?«
»Komm, wir kuscheln uns auf die Couch und gucken irgendeinen schlechten Film. Oder was Lustiges.«
»Titanic?«
»Ja, der ist witzig!«
Mit einer Schüssel Chips und einer Tafel Schokolade bewaffnet machten sie es sich nebenan in ihrem Wohnzimmer bequem. Der Raum wirkte wie das Warenlager eines sehr alten Möbelhauses. Nichts passte zusammen, der Teppich war durchgelaufen und statt Gardinen hingen große bunte Saris vor den Fenstern. Zu behaupten Anna mache sich nicht viel aus Innenraumgestaltung, war ungefähr so, wie zu sagen, ein Genozid habe eine negative Auswirkung auf den Tourismus eines Landes. Sie sah schlicht nicht ein, ihr Geld für Möbel oder Deko auszugeben. Die Dinge in ihrer Wohnung waren entweder Geschenke, auf Flohmärkten zusammengesammelt oder vom Sperrmüll geklaut. Die Couch war alt und durchgesessen und wunderbar gemütlich.
Sie kuschelten sich unter eine weiche Fleecedecke, Anna schmiegte sich in Kims Arm und schob sich ein Kissen zwischen die Knie. Sie freute sich auf den Abend.
»Hast du noch ein Kissen? Mein Nacken tut weh«, fragte sie Kim.
»Warte, ich habe eine bessere Idee.« Unter Annas Kopf hob sich der Brustkorb ihrer Freundin, »Sag Bescheid, wenns reicht.«
»Stop, so ist perfekt. Danke Püppi.«
Seit dem Tag, an dem sie die junge, verängstigte Frau aus dem Krankenhaus, in dem sie als Krankenschwester arbeitete, mit nachhause gebracht hatte, hatte sich ihr Leben verändert. Anna war sich sicher, zum Guten. Aber sie hatte keine Ahnung.
Kims kleines Zimmer in der Altbauwohnung, die sie sich mit Anna teilte, lag im Erdgeschoss direkt an der Frankfurter Straße, einer Hauptverkehrsstraße in der Kasseler Südstadt. Hier kamen am Tag so viele Menschen und Autos vorbei, dass niemand, der bisher in diesem Zimmer gewohnt hatte, die Fenster oft öffnete. Daher roch es auch immer ein bisschen muffig. Der Dunst der vorherigen Bewohner hing in der Luft. Altes Männerdeo hing süßlich in den Tapeten, darunter versteckte sich der Dunst nach Zigaretten und Gras. Menschen riechen so unheimlich unterschiedlich, dachte sich Kim, jeder hat einen ganz bestimmten Geruch, so einzigartig wie ihr Charakter. Ob ich auch einen eigenen Geruch habe?, fragte sich Kim. Man riecht sich ja selbst meistens nicht. Ich muss mal Anna fragen. Sie streckte ihren Kopf aus der Tür.
»Anna?«
»Ich bin in meinem Zimmer!«
»Habe ich einen Geruch?«
»Manchmal!« Anna trat aus ihrer Zimmertür, legte den Kopf schief, als müsste sie schwer nachdenken, »Also neulich, als du als Mann feiern warst, hast du morgens schon hart gestunken. Nach Bier und Knoblauch.«
»Ja, aber habe ich einen eigenen Geruch.«
»Jedenfalls keinen der mir unangenehm aufgefallen wäre. Aber ich habe dir, nachdem mich der morgendliche Gestank auf dem Flur fast umgehauen hätte, verboten jemals wieder als besoffener Mann einzuschlafen.«
»War es wirklich so schlimm?«
»Unter deiner Zimmertür waberte ein Geruch heraus, der in einem Cartoon giftgrün dargestellt wäre. Mit darin herumschwirrenden Fliegen - und kleinen Totenköpfen.«
»Jetzt übertreib mal nicht ...«
»Ich habe auf das Wimmern von Klageweibern oder das Knurren eines Sumpfmonsters gewartet. SO SEHR hat es gestunken.«
Anna setzte sich vor ihrer Zimmertür vor den Boden und sah sie an, Kim machte es ihr nach.
»Warum denkst du gerade darüber nach, wie du riechst? Das ist irgendwie seltsam.«
»Na ja, ich dachte so darüber nach, dass jeder Mensch ja einen eigenen Geruch hat, und habe mich gefragt, ob ich sowas auch habe. Das würde wenigstens beweisen, dass ich ein Individuum bin. Wenn auch mit flexiblem Aussehen.«
»Na ja, vielleicht hast du ihn, aber er ist mir nicht aufgefallen bisher. Gerüche fallen ja meistens auf, wenn sie übel sind. Und wenn du ein Mann bist, was ja nicht dein Normalzustand ist, dann riechst du vielleicht mehr. Weil du dich ja anstrengen musst, einen männlichen Körper zu behalten, weißte?«
Kim war tatsächlich meistens eine Frau, außer sie entschloss sich bewusst dagegen. Ein Männerkörper war Arbeit, nahm sie aber keinen Einfluss auf ihr Äußeres war sie eine Frau, oder androgyn.
»Mhm, ja das könnte schon sein.«
»So, aber jetzt machste dir da mal keine Gedanken, Trulla. Du, meine wunderschöne Freundin, suchst dir mal Klamotten für heute Abend zusammen, damit wir ordentlich auf den Putz hauen können.« Anna sprang auf, kam zu Kim herüber und reichte ihr die Hand, um sie hochzuziehen. Kim war meistens mindestens einen Kopf größer als Anna, aber das hielt den kleinen Wirbelwind nicht davon ab, sie mit viel Energie hoch- und mitzuziehen.
»Püppi, ich will dir noch was zeigen, ich habe vorhin in meinen Fotos gestöbert! Es gibt doch das tolle Bild von uns beiden, das wir aufgenommen haben am ersten Tag, nach dem Krankenhaus?«
»Ja?«
»Ich habe ein Foto von meinem ersten Freund gefunden, den muss ich dir zeigen. Aber lach mich ja nicht aus.«
Sie zog Kim in ihr Zimmer und hielt hier das Bild von sich im Teeniealter, die Haare damals noch aschblond, was Kim zum Lachen brachte, neben ihr grinste verschmitzt ein junger Mann mit dunklen Locken und braunen Augen in die Kamera.
»Der ist ja süß.«
»Hach ja, Romano war auch süß. Am Anfang. Später nicht mehr.«
»Das Schicksal vieler Beziehungen, habe ich mal gehört.«
»Na klar, am Anfang gibt man sich Mühe, die geilste Sache seit der Erfindung von kühlem Bier zu sein und dann irgendwann hält man es nicht mehr aus und wird lauwarmer Billigwodka.«
»Eine schöne Umschreibung.«
»Und so wahr!«
Sie betrachtete das Foto, Kim schaute ihr über die Schulter und lehnte ihr Kinn schließlich darauf.
»Erzähl mal, wie war das mit euch?« Kim war immer wieder neugierig, von Annas normalem Leben zu hören. Jede Information saugte sie auf, wie ein Schwamm.
»Ich war damals noch ziemlich still und zurückhaltend, kannste dir das vorstellen? Romano nannte mich damals ›Mäuschen‹. Das hat mir nie gefallen, aber ich hab mich nie getraut, was zu sagen, wahrscheinlich hatte er also doch recht damit. Ich war einfach so unheimlich verknallt in ihn und seine schwarzen Locken. Aber auch er war letztendlich nur ein Idiot. Aber ich habe etwas ganz Wichtiges gelernt von ihm, damals mit 15: Die große Liebe ist eine platte Lüge der Filmindustrie. Kein Mann ändert sich für eine Frau, und Beziehungen sind Fallen, in denen jede Frau ihre Eigenständigkeit und ihr Selbstbewusstsein verliert. Alles kacke, aber ich bin nicht zynisch.«
»Nein, natürlich nicht.« Kim grinste und Anna schlug sie liebevoll vor die Brust. Mit gespieltem Schmerz sank Kim auf ihrem Bett zusammen und kuschelte sich dann sofort in Annas Kissen.
»So, also erzähl mir alles.«
Anna seufzte.
»Also, damals dachte ich, es wäre Liebe auf den ersten Blick. Wobei es unserer Leidenschaft sicherlich half, dass wir glaubten, diese Liebe wäre verboten. Wir haben uns auf einer Mottoparty meines Vaters kennengelernt, bei der er sich mit seinem Cousin Benno eingeschlichen hatte. Alle waren verkleidet, denn mein Vater kommt gebürtig aus Köln und er liebte Verkleidungspartys. Die nordhessische Kühle, war ihm nie ganz geheuer und er versuchte ihr mit Kölscher Jovialität entgegenzuwirken. Das kam aber nicht bei allen Nordhessen gut an.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen!«
Anna war sehr behütet aufgewachsen und damals gerade 15. Ihre Mutter hatte wahrscheinlich immer Angst, dass ihre Töchter zu sehr nach ihrem Vater kamen, der ein echter Schwerenöter war. Darum erzog sie Anna besonders streng. Schon damals war aber Annas Bedürfnis auszubrechen ziemlich stark ausgeprägt.