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Jitske Kramer beschreibt in ihrem Buch aus einer anthropologischen Sicht die Auswirkungen eines durch die Corona-Pandemie ausgelösten kollektiven Kulturschocks auf das Arbeitsleben. Gewohnte Routinen sind verschwunden und Unsicherheit sowie die Notwendigkeit, sich ständig anzupassen und zu verändern, sind an ihre Stelle getreten.
Wie kann eine Unternehmenskultur an diesen neuen Kontext anpasst werden? Wie wird ein Team remote gesteuert? Wie wird die Verbindung im Team aufrechterhalten, wenn man sich nur digital treffen kann? Wie sorgt man dafür, dass niemand vereinsamt oder unter der Arbeitslast zusammenbricht? Befinden wir uns in einer Krise oder einer Transformation?
Das Buch bietet praxisorientierte Antworten auf diese Fragen. Es ist voller wertvoller Perspektiven und eingängiger Tipps, um in dieser schwierigen Zeit nach vorn zu schauen und die Veränderung als Chance zu sehen.
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Seitenzahl: 308
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Die Autorin:
Jitske Kramer ist Kulturanthropologin, Unternehmerin und Autorin. Sie erforscht Wege zum Aufbau von Corporate Tribes und zur Stärkung gegenseitiger Beziehungen. Sie trägt ihr Wissen in Büchern und Vorträgen in die Welt der Organisation, Zusammenarbeit und Führung, um die Effektivität und die Ergebnisse von Einzelpersonen und Gruppen zu verbessern.
Im Jahr 2012 etablierte sie die Methode Deep Democracy in den Niederlanden und führt dazu gemeinsam mit ihrem Team von Human Dimensions zahlreiche Trainings durch. Sie ist Autorin von Normaal is anders!, Deep Democracy – De wijsheid van de minderheid, Wow! Wat een verschil, Jam Cultures – Over inclusie: meedoen, meepraten, meebeslissen, Voodoo – Op reis naar jezelf via eeuwenoude rituelen und Ko-Autorin von De Corporate Tribe (Managementbuch des Jahres 2016) und Building Tribes.
Der Übersetzer:
Rolf Dräther lebt und arbeitet in Hamburg freiberuflich als Berater, Coach, Buchautor und Übersetzer. Dabei ist für ihn Freude bei der Arbeit ein zentraler Erfolgsfaktor und besonderes Anliegen.
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Jitske Kramer
Wie sich unsereZusammenarbeit nach demCorona-Kulturschock ändert
Aus dem Niederländischen von Rolf Dräther
Jitske Kramerwww.jitskekramer.com
Lektorat: Christa Preisendanz
Lektoratsassistenz: Anja Weimer
Übersetzung: Rolf Dräther, [email protected]
Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg
Satz: Veronika Schnabel
Herstellung: Stefanie Weidner, Frank Heidt
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
Print 978-3-86490-863-7
PDF 978-3-96910-575-7
ePub 978-3-96910-576-4
mobi 978-3-96910-577-1
1. Auflage 2021
Translation Copyright für die deutschsprachige Ausgabe 2021
dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17, 69123 Heidelberg
Copyright © 2020 Boom uitgevers, Amsterdam, the Netherlands – Jitske Kramer
ISBN 978 90 244 3971 3
E-ISBN 978 90 244 3972 0
This translation was made possible in part thanks to the Santasado Agency
Hinweis:Dieses Buch wurde auf PEFC-zertifiziertem Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft gedruckt. Der Umwelt zuliebe verzichten wir zusätzlich auf die Einschweißfolie.
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1Ach, was kann in ein paar Monaten schon passieren?
2Corona-Kulturschock: Phasen der Unsicherheit
2.1Alles beginnt mit der Startphase
2.2Eigentlich ist das doch eine willkommene Veränderung: die Honeymoon-Phase
2.3Das Neue ist nun vorbei: die Veränderungsphase
2.4Und irgendwann wird sich die Welt wieder öffnen: die Rückkehrphase
2.5Ist das eine vorübergehende oder bleibende Veränderung?
3Hybride Arbeitskultur: Zeit und Ort flexibel einrichten
3.1Was ist eine hybride Arbeitskultur?
3.2Die Unternehmenskultur definieren
3.3Wie virtuell soll es werden?
3.4Zwischen synchronem und asynchronem Arbeiten variieren
3.5Den Ort variieren, an dem gearbeitet wird
3.6Hybrides Arbeiten ist nicht neu – es ist nomadisches Arbeiten
4Hybride Führung: klar, menschlich und improvisierend
4.1Eine Reihe wichtiger offener Türen
4.2Klar: Rahmen, Produktivität und Effizienz
4.3Menschlich: Verbindung, Stolz, Teamgefühl
4.4Improvisierend: fortwährend auf Veränderungen reagieren
4.5Stressreaktionen: bei Männern und Frauen unterschiedlich
4.6Sich selbst nicht vergessen
5Zum Festhalten: neue Online-Rituale und -Routinen
5.1Die Bedeutung von Rhythmen, Ritualen und Routinen
5.2Neue Übergangsrituale zwischen Arbeit und Privatleben
5.3Online-Flure und Kaffeegespräche
5.4Online-Events, die die Organisationskultur stärken
5.5Online-Onboarding-Rituale für neue Mitarbeitende
5.6Online-Abschiedsrituale für Mitarbeitende
5.7Das Verarbeiten dieser besonderen Zeit
6Digital kommunizieren: Online-Lagerfeuer
6.1Psychologische Sicherheit und digitale Etikette
6.2Online-Check-in und -Check-out
6.3Online-Debatte
6.4Online-Entscheidungsprozess
6.5Hybride Programme erfordern erhöhte Aufmerksamkeit
7Die Stille spricht: Zögere nicht, zu zweifeln
7.1Plädoyer und Anleitung für mehr Zweifel
7.2Wo Worte fehlen, spricht die Stille
7.3Der Rhythmus der Stille
7.4Einatmen – Ausatmen
8Die Zwischenzeit: Führung in Krise und Transformation
8.1Krise und Transformation
8.2Lebensweisheiten im Umgang mit der Krise
8.3Liminalität: die Zwischenzeit
8.4Tribale Archetypen in der Krise
8.5Zwei Arten von Führung
9Schaffen Sie Perspektive: Schöpferkraft
9.1Perspektive und Schöpferkraft
9.2Akzeptieren und experimentieren
9.3Falsche Perspektive: Sinn von Unsinn trennen
9.4Falsche Hoffnung: Achtung vor Cargo-Kulten
9.5Wir können das
Anhang
A1Quellen und weitere Informationen
A2Über die Autorin
Mit viel Bewunderung habe ich dieses neue Buch von Jitske gelesen. Eine hervorragende Kombination aus anthropologischer Deutung und praktischen Tipps. Persönlich, wertschätzend, hoffnungsvoll.
Arend Ardon,The Change Studio
Ich dachte immer: Große Veränderungen bedeuten Unsicherheit und Stress. Durch dieses Buch weiß ich, dass große Veränderungen auch Chancen bedeuten, einen neuen Blick, Mut und sogar Poesie.
Dolf Jansen, Kabarettist, Kolumnist,Liedermacher, Präsentator und Marathonläufer
Jitske Kramer besetzt in der Welt der Managementvordenker eine interessante Nische. Als Anthropologin hat sie mit ihren Büchern, Kolumnen und Vorträgen den Blick aus einer anthropologischen Perspektive populär gemacht. Wenn Sie »Die Arbeit hat das Gebäude verlassen« lesen, entdecken Sie ganz sicher auch einen Magier in sich!
Niels Willems auf bol.com
Jitske Kramer formuliert aus einer anthropologischen Perspektive Antworten auf die Frage, wie wir in der neuen Wirklichkeit agieren können. Immer wieder lässt sie ihre eigenen Sorgen und Erfahrungen einfließen, was das Buch nicht nur lehrreich, sondern auch sehr persönlich macht.
Rudy Kor auf Managementboek.nl
Toll, dass es gelungen ist, zu diesem aktuellen Thema so viele relevante Informationen zusammenzutragen. Viele Menschen werden sich in den diversen Beispielen und Praxistipps wiedererkennen. Jitske Kramer schreibt in flüssigem Stil und auf eingängige Weise und jeder, der sie als Sprecherin kennt, ist sicher schon gespannt darauf, wie sie ihre hoffnungsvolle Geschichte in Bild und Ton auf die Bühne bringen wird. Hoffentlich ist ihr das bald wieder vor wirklich vollen Sälen möglich.
Vincent Mirck auf Frankwatching.com
Unter Druck entstehen die tollsten Dinge. Jitske wollte ein Buch in zehn Tagen schreiben und setzte sich so selbst eine straffe Deadline. Es ist eine Perle geworden, mit einer überraschend verbindenden Seite. Sie schrieb das Buch jedoch nicht allein. Sie hat ihren LinkedIn-Tribe um Input gebeten und verarbeitete den auf eine Weise, dass man als Leser eine Art Dialog erlebt – so, als ob andere auf das antworten, was sie schreibt. Was dieses Buch für mich zur ultimativen Empfehlung macht, ist die Botschaft von Hoffnung, der Fokus darauf, wie man diese Krise als Katalysator für bleibende Veränderung sehen kann. Ich schaue jetzt auf jeden Fall ein kleines bisschen positiver in die Zukunft.
Vicky Monsieurs auf VOV lerend netwerk
Jitske Kramer erläutert aus anthropologischer Perspektive, wie die Corona-Krise unser Arbeitsleben verändert und welche Folgen das für unsere Arbeitskultur hat. Wie sorgt man dafür, dass das Arbeiten von zu Hause aus ein Erfolg wird? Und wie gestaltet man als Führungskraft eine Organisation für diese neue hybride Arbeitskultur?
Charelle Kooy auf Zakelijketrainer.nl
Leere Flächen, muss jetzt seinUmarm dich durch den BildschirmrandSchau nach außen und nach innenFühl wie alles plötzlich schwand
Was wir hatten, ist nicht mehrUnbekannt ist, was wird seinWas nun ist, das ist chaotischUnsicher, stell mich drauf ein
Will dich packen, will dich fassenWill statt ferne nah dir seinWill, dass du mich siehst dort draußenIn Besprechungen – online
Fühl die Spannkraft uns bewegenFühl dein Weinen und dein GlückFühl die Tatkraft in den PlänenTreiben uns ein täglich Stück
#wekunnenditJitske KramerOktober 2020
Unser Arbeitsalltag ist seit Monaten völlig über den Haufen geworfen. Besprechungen werden abgesagt oder auf später verschoben und online abgehalten. Manche dürfen noch immer nicht wieder ins Büro, andere müssen Wege finden, innerhalb all der Corona-Maßnahmen sicher weiterarbeiten zu können. Wann und wo wir arbeiten, war bis März 2020 völlig klar und selbstverständlich, doch das ist inzwischen anders. Es ist eine Veränderung, die Teil eines weltweiten Kulturschocks ist und großen Einfluss auf jede Unternehmenskultur hat. Ich erlebe sie als eine chaotische Zeit, die mich fortwährend fordert, andere Routinen und Fähigkeiten zu entwickeln – mit vielen kurzfristigen Änderungen und Zweifeln daran, was all das langfristig bedeutet.
Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich im Oktober 2020 mit Maske einkaufen gehe, Hotels und Restaurants für vier Wochen geschlossen sind, ich fast alle meine Vorträge online halte (oder in großen Sälen vor einer Handvoll Menschen und mit komplizierter Wegführung), dass Händeschütteln (von Begrüßungsküssen ganz zu schweigen) zu einer verpönten Geste geworden ist, unser öffentliches Gesundheitswesen wegen eines Virus unter Druck steht, Schulen geschlossen wurden und weltweit Millionen Menschen sich in einem Lockdown befinden … ich hätte ihn nur ungläubig angesehen.
Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen uns damit abfinden. Wir alle sind, unabhängig davon, was einzelne Personen über das Virus, die Maßnahmen und die Politik denken, mit Fragen wie den folgenden konfrontiert: Wie funktioniert Führung remote? Wie arbeitet man gemeinsam an einem Projekt, ohne sich treffen zu können? Wie bewahrt man den Stolz auf das Unternehmen und die Verbindung mit seinem Team, wenn man sich für längere Zeit nicht real sehen kann. Wie sorgt man dafür, dass niemand vereinsamt oder gerade jetzt unter der Arbeitslast zusammenbricht? Wie arbeitet man neue Mitarbeitende ein? Wie nimmt man Abschied? Wie klärt man unbequeme Dinge und sorgt trotz Abstand für gute Stimmung? Wie lassen sich die Chancen nutzen, um veraltete Arbeits- und Lebensweisen zu verbessern? Was kann man heute tun, um langfristig besser dazustehen? Wie kann man gerade jetzt innovativ sein? Welche neuen Rituale braucht es jetzt? Wie passt man seine Unternehmenskultur an diesen neuen Kontext an?
All das sind Fragen, die mich als Unternehmerin, als Sprecherin bei verschiedensten Organisationen, als Mensch und als kulturelle Anthropologin beschäftigen. Ich weiß genauso wenig wie Sie, wie es in einem Jahr aussehen wird. Und angesichts der Erfahrungen des vergangenen Jahres kann sich die Welt wirklich in alle Richtungen entwickeln. Eins weiß ich jedoch sicher: Durch die Art, wie wir weltweit mit COVID-19 umgehen, sind unsere Routinen zerbrochen. Manche müssen sich ungeheuer schnell bewegen, um überall mithalten zu können. Andere fühlen, wie ihr Leben zum Stillstand gekommen ist. Etliche Aktivitäten sind ausgesetzt. Und jeder Mensch hat zu all dem seine eigene Meinung und reagiert anders auf diese jähen Veränderungen.
In der Woche, in der ich das schreibe, titelt das Financieele Dagblad »Einsamkeit schnürt den im Homeoffice Arbeitenden die Kehle zu« und berichtet, dass im Frühjahr in vielen Unternehmen eine gewisse Euphorie entstand, weil es funktioniert, dass innerhalb weniger Tage Hunderte von Mitarbeitende von zu Hause arbeiten konnten. Ein halbes Jahr später hat sich die Stimmung verändert. Alle klammerten sich an die Idee, dass sie nach dem 1. September wieder ins Büro zurückkehren können, doch nun stellt sich die Frage, wie lange das alles noch dauern wird. Manche Organisationen reden von Juni 2021, aber auch Januar 2022 habe ich schon gehört. Die anfängliche Halleluja-Stimmung ist weg. Wie werden wir gemeinsam miteinander die kommenden Monate, oder Jahre, gut durchstehen? Und wie gestalten wir Dinge, die wir wirklich gut finden, nachhaltig? Laut Financieele Dagblad sind zwei Drittel der von ihnen befragten CEOs der Meinung, dass die Unternehmenskultur Schaden nimmt. Ich hoffe, dass dieses Buch helfen wird, die schwersten Schläge aufzufangen, da der Verlust an sozialen Kontakten auf breiter Linie zunimmt.
Durch Corona fühle ich mich manchmal wie eine Fremde im eigenen Land. Nur wenn man voller Hingabe in eine vollkommen unbekannte Welt eintaucht, kann man neue Einsichten gewinnen. Das ist es, was ich mache, wenn ich im Rahmen meiner Arbeit auf Reisen bin, um andere Kulturen kennenzulernen. Und genau das mache ich nun im eigenen Land, wo alte Regeln nicht mehr verlässlich gelten. Meine anthropologische Sichtweise hilft mir dabei enorm. Sie ist meine Perspektive auf die Welt und die Brille, durch die ich dieses Buch geschrieben habe.
Dinge anthropologisch zu betrachten, heißt, seine eigene Meinung zurückzustellen. Also statt zu glauben, man hätte alles verstanden, sich Zeit zu nehmen und sich auf das Unbekannte einzulassen. Auf diese Weise versuche ich zu ergründen, was die Ereignisse in der Welt in mir auslösen. Anthropologisch zu beobachten bedeutet, das Fremde zu erleben, ohne dass die eigene Meinung dabei ständig dazwischenfunkt. Das ist nicht immer einfach. Sicher nicht, wenn man vom Lauf der Dinge überrascht wird, und auf keinen Fall, wenn dies gegen die eigenen Wertvorstellungen verstößt. Dann hat man plötzlich Gedanken wie: gut oder nicht gut, schön oder hässlich, richtig oder falsch. Natürlich kann man so urteilen, doch für eine anthropologische Sichtweise sollte man in der Lage sein, dieses Urteil zurückzustellen, da man sich sonst niemals in die aktuelle Situation hineinversetzen kann.
Wenn es Ihnen gelingt, die eigenen Interpretationen von den Beobachtungen zu trennen, eröffnet sich Ihnen die Möglichkeit, außerhalb des eigenen Kontexts zu beobachten und zu fühlen. Statt »Was für ein Quatsch, dass das so sein muss« zu denken, könnten Sie sich fragen: »Woher kommt es, dass mich das berührt? Was ist daran für mich so wichtig?« Vorurteilsfrei beobachten bedeutet, der Geschichte der Kollegin, der Begriffswelt der Teenager auf dem Sofa, den Argumenten der Geschäftsführung … wirklich zuzuhören. Nicht eingefärbt durch die eigene Meinung oder Emotion, nicht aus Verblüffung über den anderen, sondern mit dem festen Wunsch, sich in den anderen hineinversetzen und ihn verstehen zu wollen – bereit und willens zu sein, sich berühren zu lassen und die eigene Meinung anzupassen. Und selbst dann bleibt es fraglich, ob Sie den anderen wirklich kennenlernen. Eine anthropologische Sichtweise öffnet eine Welt von Möglichkeiten, die wir in diesen unbeständigen Zeiten dringend brauchen. Wenn wir aus dieser Perspektive auf altes Verhalten und überkommene Gewohnheiten schauen, können wir uns neu entscheiden.
Dieses Buch handelt nicht davon, was ich von den Maßnahmen halte, welche Auswirkungen COVID-19 auf unsere Gesellschaft haben wird oder welche Risiken alle möglichen Verschwörungstheorien oder politischen Bewegungen in sich bergen. Der Fokus ist kleiner, konkreter und praktischer – es geht um die Arbeit. Ich denke, dass wir nach allen Erfahrungen, die wir jetzt sammeln, nicht wieder zu einer Normalität zurückkehren werden, in der wir die ganze Woche zwischen neun und fünf gemeinsam in einem Gebäude sitzen müssen. Ich will damit sagen: »Die Arbeit hat das Gebäude verlassen, work has left the building.« Das wiederum hat große Auswirkungen auf unsere Arbeitskulturen und unsere Art zu kommunizieren, zu führen und zusammenzuarbeiten. Viele Menschen sind gerade durcheinander. Clevere Unternehmen investieren jetzt in eine Wende zur Professionalisierung der Remote-Arbeit, um für Mitarbeitende und Kund:innen reizvoll und interessant zu sein und zu bleiben. In den kommenden Kapiteln gebe ich viele Tipps und teile Überlegungen, wie man diese Wende einleiten kann.
Zudem eröffnet uns die aktuelle Situation enorme Chancen, die Themen, mit denen wir in der alten Normalität wirklich nicht zufrieden waren, tiefgreifend und nachhaltig zu verändern. In diesem Buch finden sich weniger Lösungsstrategien, sondern vielmehr Ideen, wie wir diese besondere Zeit für verschiedenste lebenswichtige Transformationen, mit denen wir uns schon seit Jahren herumschlagen, nutzen können. Im Kleinen (z. B. bessere Work-Life-Balance, mehr Ruhe und Aufmerksamkeit für uns und einander, weniger Staus) wie im Großen (z. B. Bürokratie im Gesundheitswesen, Klimaveränderungen, Flüchtlingsströme, Staus, CO2-Emissionen, Mangel an Lehrkräften, Tierschutz).
Dieses Buch ist eine Zusammenfassung meiner Überlegungen, Erfahrungen und Ideen zu den aktuellen Themen. Das betrifft sowohl das plötzliche Remote-Arbeiten als auch den Umgang mit vielen unerwarteten einschneidenden Veränderungen. Es enthält neben neuen Texten auch überarbeitete Versionen bereits veröffentlichter Artikel. Die Idee, innerhalb von zehn Tagen ein Buch zu schreiben, ist im Rahmen der selbst auferlegten Challenge entstanden, im Oktober 2020, während des zweiten Teil-Lockdowns. Und mein Herausgeber, Lektor, Setzer und die Druckerei haben sich der Herausforderung angeschlossen, um das Buch in Rekordzeit in die Buchläden zu bringen. Normalerweise dauert es von der Idee bis zum Buch rund ein Jahr. Uns ist es in sechs Wochen gelungen. Weshalb diese Challenge? Weil ich gemerkt habe, wie viele Menschen sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen wie ich, und ich diese Suche gern kurzfristig unterstützen will. Und auch, um mir selbst ein herausforderndes Ziel zu setzen in dieser gefühlt endlosen Zeitspanne, in der ständig alles Mögliche aus meinem Kalender verschwindet, ich mich unaufhörlich in neue technische Möglichkeiten für Vorträge einarbeiten muss, verspürte ich das Bedürfnis nach Ruhe, Fokus, Inhalt, Motivation und einer ordentlichen Dosis positiven Adrenalins.
Die enorme Fülle an Reaktionen auf meine LinkedIn-Posts zu den Fragen in diesem Buch war überwältigend. Ich möchte an dieser Stelle von ganzem Herzen allen für die berührenden Zuschriften und Beiträge im Laufe des Schreibprozesses danken. Viele Beispiele habe ich in Kästen mit dem Titel »Erfahrung aus dem Feld« aufgenommen. Es ist wirklich schön, wie wir in diesen seltsamen Zeiten von- und miteinander lernen können. Gemeinsam ist es besser als allein, auch mit Abstand, und auf jeden Fall jetzt, wo wir so viel durchmachen.
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Was für eine schöne Art, ein Buch zu schreiben! Mein Herzenswunsch ist, dass wir gemeinsam wagen, uns zu verändern, und dass wir uns dabei gegenseitig unterstützen. –Erfahrung aus dem Feld
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Was vor Ihnen liegt, ist weder eine Blaupause noch ein Stufenplan. Auch keine vollständige Analyse aller Variablen, keine Interpretation von Zahlen. Es gibt sicher noch viel mehr zu durchdenken, zu analysieren und zu erzählen, als ich jetzt in diesen neun Kapiteln leisten kann. Mein Fokus liegt vor allem auf den Menschen mit einem hohen Homeoffice-Anteil und somit weniger auf Berufsgruppen wie Busfahrer:innen, Polizist:innen, Lehrende, Vollzugsbeamt:innen, Arbeitende in der Produktion und Pflegekräften. Wobei ich mir vorstellen kann, dass auch diese sich von den unterschiedlichen Kapiteln inspirieren lassen können.
Effekte von COVID-19 auf unser Leben
Wenn man sich die folgenden Aufzählungen anschaut, die die Reaktionen zusammenfassen, die ich in den vergangenen Wochen in den sozialen Medien gelesen habe (Achtung, das ist keine offizielle, groß angelegte, wissenschaftlich fundierte Studie und ganz sicher nicht vollständig), kann man sich fragen, ob wir wirklich erst eine derart disruptive Situation brauchten, um uns von Verpflichtungen zu befreien und uns mehr Ruhe zu gönnen. Ich hoffe von Herzen, dass wir mehr Vorteile aus dieser seltsamen Zeit ziehen können.
Positive Effekte, die Menschen in den sozialen Medien nennen
Negative Effekte, die Menschen in den sozialen Medien nennen
Haus gemütlicher hergerichtet, Familienbande enger, mehr Kontakt zur Nachbarschaft
Kürzertreten, später zu Bett, besserer Schlafrhythmus
Kein »zwei oder drei Begrüßungsküsschen-Elend« mehr
Akzeptanz von Gebärdensprache
Weniger sozialer Druck, eine Reihe von Verpflichtungen entfallen, wirklich freie Wochenenden ohne irgendwelche Pläne
Effektivere Meetings und Wegträumen hinter dem Laptop, ohne dass es jemand mitbekommt
Geringeres Einkommen
Weniger Kontakte außerhalb der Familie
Kranke Kinder und Eltern
Schlechte schulische Leistungen
Einsamkeit, Langeweile, Ziellosigkeit
Stress durch all die Maßnahmen, die sich immer wieder ändern, Angst vor dem Virus
Trubel zu Hause durch all die Mitbewohnenden und werkelnde Nachbarschaft
Aufgeschobene Operationen
Aggression, kollektive Ermüdung und Burnout
Viel wandern, die eigene Gegend und Region entdecken, neue Hobbys wie Gitarrespielen, Zeichnen, Fotografie, Kochen, Haustiere und Zimmerpflanzen
Zeit, um das Hier und Jetzt zu fühlen und wieder wertzuschätzen, weniger Geld ausgeben
Sauberere Luft, weniger Staus, geringerer Kraftstoffverbrauch
Weniger Einbrüche
Menschen mit Handicaps und chronischen Krankheiten fühlen sich gleichwertiger, da nun mehr Menschen häufiger zu Hause sind und von zu Hause arbeiten
Kein Geldstück mehr für den Einkaufswagen (kleines Glück)
Mehr Flexibilität bei der Einteilung des eigenen Tages
…
Nicht mehr reisen, Gefühl von Eingeschlossensein
Wenig bis keine Kneipe, Festivals, Theater, Chor, religiöse Zusammenkünfte
Für Singles schwieriger, jemanden zu daten
Hohe Arbeitslast, mit geringer Personalausstattung und dennoch Ziele remote erreichen zu müssen
Viele »Corona-Kilos« schwerer
Verlorenes Vertrauen in die Politik und Zweifel an der Wissenschaft
Unsichere und aussichtslose Zukunft
Zunehmende Armut, immer mehr Menschen kommen zu den Tafeln
Schlechte Ausbildung für eine ganze Generation junger Menschen
Bei Krankheit und Tod nicht an der Seite seiner Lieben sein können
Zunahme häuslicher Gewalt und Kinder, die in der schlechten Beziehung der Eltern gefangen sind
Viele Bereiche, die auf der Kippe stehen, viel drohende Arbeitslosigkeit
Große strategische Vorhaben und kreative Projekte bleiben liegen, weil sie online nicht gelingen
Führungskräfte mit Mangel an menschlichen Qualitäten scheitern und sorgen für viel Verärgerung in Teams
Immer mehr Polarisierung, Entstehung neuer »wir/die«-Unterscheidungen, z. B. die, die im Umgang mit digitalen Medien erfahren sind und über die Mittel verfügen, online zu leben, und die, die all das nicht haben
…
Tab. 1–1Reaktionen, die ich in den vergangenen Wochen in den sozialen Medien gelesen habe – Oktober 2020 (also keine offizielle, groß angelegte, wissenschaftlich fundierte Studie).
Ich finde es schön und tröstlich zu begreifen, dass für mich als Mensch eine derartige Pandemie zwar neu ist, für uns als Menschheit jedoch nicht. Wir haben schon früher Katastrophen, Kriege und Pandemien überlebt und uns an völlig neue Situationen angepasst. Ich sehe uns auf einer Reise voller Unsicherheiten, unverhoffter Augenblicke, Frustration, Kummer und Freude. Eine Reise, die wir uns nicht gewünscht haben, mit einer Reisegesellschaft, die wir uns nicht selbst ausgesucht haben. Eine Reise, die uns – wie auch immer – verändert, die in die Geschichtsbücher eingehen wird und von der wir der nächsten Generation erzählen werden.
Die COVID-Maßnahmen sind zeitlich begrenzt, doch wie wir heute damit umgehen, wird auf uns als Individuum und auf die Gesellschaft als Ganzes bleibende Auswirkungen haben. Meine Reiseempfehlung: Begrüßen und akzeptieren Sie, dass es nun einmal so ist, wie es ist. Beobachten Sie mit anthropologischem Blick. Und finden Sie heraus, wie Sie einander gegenseitig unterstützen, inspirieren und herausfordern können – von fern und nah. Diese Zeiten verlangen von allen ein hohes Maß an Flexibilität, Kreativität, Durchhaltevermögen, Loyalität und Empathie. Wir können das.
Safe travels,Jitske KramerUtrecht, 26. Oktober 2020
Niederlande, NiederlanderAchtet etwas aufeinander
Haltet Abstand, jaAuch füreinander da
Ein wenig umschauenEin wenig ausschauen
Ein wenig nach einander umschauenEin wenig nach einander ausschauen
Haltet AbstandUnd dadurch, jaFüreinander da
Merel Morre(https://www.merelmorre.nl/)
Corona hat uns in einen kollektiven weltweiten Kulturschock versetzt. Ohne einen Schritt vor die Tür zu setzen, sind unsere menschlichen Gewohnheiten und Routinen durcheinandergeraten, und so suchen wir in Scharen nach der neuen Normalität. Wir befinden uns in einem Interim, in einer Zwischenzeit, in der weltweit alte kulturelle Regeln ihre Gültigkeit verloren haben und wir nach neuen suchen müssen. Eine einzigartige und unsichere Situation. Mit dem Wissen um das Phänomen Kulturschock können wir unsere Zukunft einigermaßen vorhersagen, denn jeder Kulturschock folgt einem ähnlichen Verlauf.
Ein Kulturschock entsteht durch den Stress, den wir erleben, wenn gewohnte Wege der Kontaktaufnahme wegfallen. Die Unsicherheit und das aussichtslose Gefühl kosten uns viel Energie und es bleibt uns weniger Kraft, etwas aus der Situation zu machen. Eben noch ist man völlig mutlos, doch schon im nächsten Moment verspürt man unbändige Energie. Man hat das Gefühl, von launischen emotionalen Wogen überspült zu werden, doch im Grunde sind es nur vier vorhersagbare Phasen.
Menschen nicht mehr berühren zu dürfen, Kontakt nur noch über den Bildschirm, sich mit anderthalb Meter Abstand durch den Supermarkt zu schlängeln, den ganzen Tag die Kinder zu Hause … an manchen Tagen erträgt man es leichter als an anderen. Es ist beruhigend zu wissen, dass dieses Gefühl normal ist. Sobald kulturelle Bräuche durchbrochen werden, ist man gezwungen, über Dinge nachzudenken, die vorher selbstverständlich waren. Was vorigen Monat noch richtig war, ist nun auf einmal verkehrt. Wem kann man glauben? Woher kommen Orientierung und Sicherheit? Der Corona-Kulturschock versetzt uns in einen faszinierenden emotionalen Mix aus Zweifel, Angst und Einsamkeit, aber auch aus Genießen, zur Ruhe kommen, ums Leben kämpfen und aus kreativer Energie.
Abb. 2–1Die Phasen des Corona-Kulturschocks, frei nach den Arbeiten von Kalervo Oberg
In diesem Film erkläre ich in zwei Minuten die Phasen des Corona-Kulturschocks anhand dieser Grafik (grafische Umsetzung: Olivier Boeke).
Anm. d. Übers.: Leider zurzeit nur auf Holländisch verfügbar, es kann jedoch ein automatisch erzeugter deutscher Untertitel ausgewählt werden.
Anhand des Kulturschock-Modells sind unsere emotionalen Reaktionen auf das Unbekannte logisch und sogar vorhersagbar. Jeder durchläuft diese Phasen, wenn auch in seinem eigenen Tempo und mit unterschiedlicher Intensität. Das ist der Grund, weshalb wir zu Hause oder in Talkshows manchmal grandios aneinander vorbeireden oder verärgert auf die Betrachtungen anderer reagieren. In jeder dieser Phasen haben wir nämlich andere Bedürfnisse und kommunizieren auf Basis anderer Emotionen und moralischer Ansichten, ganz so, als stammten wir aus unterschiedlichen Welten.
2020 – Große Teile der Welt waren bereits unterwegs, Mitte März brachen auch wir auf zu einer Reise, ohne unser Zuhause zu verlassen. Eilig stopften wir Toilettenpapier, diverse Sorten Chips, Schokokekse und Nudeln in unsere Koffer. Unser Ziel erwies sich als ein Ort, den wir gut kennen, der aber innerhalb weniger Tage eine völlig neue Bedeutung erlangen sollte: das Zuhause. Wir hatten keine Ahnung, was auf uns zukommen würde. Die einen setzten sich lachend darüber hinweg, andere nahmen es bitterernst. Manche sahen nur Probleme, andere vor allem Chancen. Es wurde gehamstert, weil alle hamsterten. Wir wussten noch nicht, wie ernst die Lage war, und etliche gingen auf Nummer sicher.
Für die einen veränderte sich die tägliche Routine schlagartig, weil Arbeit wegfiel oder aber enorm zunahm. Für andere änderte sich im Grunde wenig, weil sie weitestgehend so weiterarbeiten konnten wie bisher. Plötzlich kam es zu einer Spaltung in der Gesellschaft: Auf der einen Seite Menschen an vorderster Front, die ungeheuer hart arbeiteten, und auf der anderen solche, für die alles stillstand. Zudem wurden die Unterschiede zwischen Menschen mit festem Gehalt und Selbstständigen und flexibel einsetzbaren Mitarbeitenden, deren Einkommen plötzlich wegfielen, spürbar.
Die Phasen des Kulturschocks sind für jeden gleich. Das Tempo und die Intensität, mit denen der Einzelne diese Phasen durchläuft, hängen jedoch davon ab, inwieweit seine täglichen Aktivitäten, seine Beziehungen und die Situation zu Hause vom Corona-Virus beeinflusst werden.
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Menschen, die plötzlich gezwungen waren, zu Hause zu arbeiten
… Wir wohnen zu zweit in einem kleinen Appartement und es war unmöglich, dass wir beide zusammen am Küchentisch in Videokonferenzen sitzen. Deshalb haben wir mit einem Brett über unsere Nachttische im Schlafzimmer einen kleinen Schreibtisch gebaut.
… Für mich persönlich war es toll. Ich sparte dadurch täglich rund drei Stunden Fahrzeit. Wunderbar, mehr Ruhe und weniger Stress.
… Einloggen klappte erst nach viel Hin und Her. Und dann probierte ich mit Tränen in den Augen herum, um den richtigen Link und die richtigen Einstellungen zu finden und ins Online-Meeting reinzukommen. Totaler Frust und eine leichte »Ich schon wieder«-Panik. Und dann war ich plötzlich auf dem Bildschirm, stand ich auf einmal weinend vor meinen Kolleginnen und Kollegen.– Erfahrung aus dem Feld
Menschen, die aus dem Haus mussten, als fast alle daheim bleiben mussten
… Zu Beginn der Krise fand ich es auf der Arbeit ziemlich unheimlich. Plötzlich kamen Menschen mit Handschuhen und Maske an meinen Schalter. Ich fühlte die Spannung bei mir und bei ihnen.
… Wir verschafften uns einen Überblick, welche Dinge wirklich von entscheidender Bedeutung sind, was manchmal gar nicht einfach war. Was ist wichtiger: Den Müll abzuholen oder dass die Kanalisation ordentlich funktioniert?
… Viele Klientinnen und Klienten verstanden die Maßnahmen nicht, waren verwirrt und bekümmert. Auch der Kontakt zu den Verwandten war schwierig, vor allem, wenn sie mich beschimpften, weil sie nicht einverstanden waren.
… Ich habe große Angst, mich selbst anzustecken. Und davor, »etwas« mit nach Hause zu nehmen und so andere anzustecken. Das will man nicht auf dem Gewissen haben.
… Es waren Wochen voller Panik und eine Art Hyperfokus. Zudem hatte ich noch zwei Kinder zu Hause.– Erfahrung aus dem Feld
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In dieser ersten Phase kommen oft Zweifel auf, ob man vielleicht zu übertrieben oder eher zu lax auf die Veränderung reagiert. Neues Verhalten wird eingefordert, doch wie reagieren andere, wenn ich mich wirklich daran halte? Wie anders ist die Situation eigentlich und – mache ich mich zum Trottel, wenn ich mitmache? Sich nicht mehr die Hand zu geben, sorgte anfangs für viel Heiterkeit und witzige Filmchen. Wenn man fürs Social Distancing einen Schritt zurücktrat, fühlte sich das äußerst unhöflich an. Das ist verrückt. Und es entsteht Peer Pressure, ein Gruppenzwang, sich an die Maßnahmen zu halten, oder eben auch nicht. Das hängt von der Meinung im Freundeskreis ab. Menschen sind soziale und Geschichten erzählende Wesen. Woran wir glauben, hat große Auswirkungen auf unser kollektives Verhalten. Bleibt man beispielsweise zu Hause, um andere nicht zu infizieren, oder aber, um selbst nicht infiziert zu werden? Mit der Veröffentlichung der Grafiken zu »Flatten the Curve« Mitte März 2020 wurden die Problematik und die Auswirkungen von Corona deutlicher. Die Herausforderung in diesem Corona-Kulturschock besteht in der Notwendigkeit, eine unsichtbare Gefahr sichtbar und greifbar zu machen. In Gegenden, in denen der Begriff »Virus« der Bevölkerung nicht so gut bekannt ist, wird auf andere Geschichten zurückgegriffen. In Indien liefen Polizisten mit grotesken Virusmützen herum. Und in Indonesien warnte man vor Corona, indem man es in Gestalt von Geistern durch die Straßen streifen ließ.
Abb. 2–2»Flatten the Curve« (Quelle: Centres for Disease Control and Prevention)
Am 14. März 2020 veröffentlichte die Niederländische Rundfunkstiftung einen Filmüber »die alles bestimmende Kurve in der Corona-Krise«.www.youtube.com/watch?v=6rqpRq7nkO8
Eine bekannte Folgephase eines Kulturschocks ist die Honeymoon-Phase, in der man die neue Situation durch eine leicht verklärte Brille betrachtet: Eigentlich ist es doch recht angenehm, nicht mehr jeden Tag im Stau zu stehen, nicht mehr den sozialen Druck zur Teilnahme an allen möglichen Aktivitäten zu spüren, Zeit zu haben, ein Buch zu lesen, voller Kreativität neue Wege für alte Routinen zu finden, die Kraft des eigenen Teams zu erfahren, wenn aktuell in dieser Krise plötzlich alles auf einmal getan werden muss. Man organisiert gemütliche Online-Essen, genießt die Ruhe in der Stadt, Introvertierte blühen auf. Man fühlt sich etwas unbehaglich in seinem Glück, wo doch der Anlass für die Veränderungen die Sicherung der Gesundheit und Lebensfähigkeit von Menschen ist. Vielleicht fühlt man sich auch ein wenig schuldig: Darf ich eigentlich glücklich sein und im Garten sitzen, während andere ums Überleben kämpfen?
In dieser Phase des Kulturschocks kann man in der neuen Situation tiefes Glück erleben. Nicht alle werden das Glück der Honeymoon-Phase erfahren. Manche werden diese Phase nicht durchlaufen, weil sie härter von den Folgen von COVID-19 betroffen sind. Sie können verärgert auf die vielen freudigen Nachrichten über Ruhe und Freiräume reagieren, vielleicht sogar eifersüchtig sein. Wer in der Honeymoon-Phase steckt, will gern so lange wie möglich darin bleiben, weil es so schön ist, die Augen noch eine Weile vor der unromantischen und weitaus realistischeren neuen Wirklichkeit zu verschließen. Die Euphorie, mit der in den ersten Wochen der Krise über die Vorteile von Homeoffice und Online-Optionen gesprochen wurde, passt exakt in diese Honeymoon-Phase.
Und dann begreift man, dass das nicht Tage oder Wochen, sondern wahrscheinlich Monate dauern wird. Immer häufiger erlebt man Gefühle wie Unbehagen, Kummer und Unverständnis. Der Reiz des Neuen ist vergangen. Man vermisst das Stimmengewirr der Menschen. Man sieht und erlebt das Elend in den Krankenhäusern. Mit dem Laptop am Küchentisch zu arbeiten, ist durchaus mal etwas anderes, fängt jedoch langsam an zu nerven. Der gute Anzug hängt schon ziemlich lange im Schrank, man vermisst Make-up und die Stöckelschuhe. Alle Routinen und der gewohnte Rhythmus sind durcheinandergeraten. Man will, dass es aufhört, doch es gibt kein Entkommen. Man muss da durch. Aber wie? Man ist frustriert von den Dingen, die nicht mehr auf altgewohnte Weise funktionieren. Wäre das ein Urlaub, man würde jetzt abreisen. Aber das geht nicht. Wie lassen sich Arbeit und Privatleben in einem Haus organisieren, wie regelt man den Einkauf, die Besuche bei den Eltern? Trifft man Freunde – oder besser nicht? Wie all die Arbeiten zufriedenstellend fortführen … Es ist so viel zu tun, dass der Wille zum Weitermachen ab und an fehlt. Man ist müde, fühlt eine sonderbare Form von Heimweh, hat ein gesteigertes Verlangen nach Chips, Schokolade und Alkohol. Einfach, um die Härte der Veränderung nicht zu spüren. Das ist der erste Kulturschock.
Man passt sein Verhalten an, lernt die neue Sprache der Videotelefonie und diverser Online-Apps. Man bringt wieder Struktur in seinen Tagesrhythmus, entdeckt die beste Zeit, um entspannt einkaufen zu gehen. Man vermisst zwar die sozialen Kontakte, findet aber einen Weg, den Kontakt mit Freunden und Familie aufrechtzuerhalten. Man hat wieder einen Rhythmus, eigentlich läuft’s schon wieder. Die Basisanpassungen sind vorgenommen, das Leben kann sich wieder etwas normalisieren. Jetzt muss man nur noch dafür sorgen, dass alle gesund bleiben.
17. März 2020, Tag 2, 09:55 Uhr
Natürlich habe ich einen Zeitplan, wie fast alle habe ich eine Menge toller Vorbilder in den sozialen Medien gesehen, wirklich Spitze! Nun die Realität: Vier Kinder und die Eltern im Homeoffice sitzen alle zusammen im Wohnzimmer am Tisch. Man verschickt Sprachnachrichten als neue Art sich abzustimmen. Total nervig. Ältester Sohn meckert rum; hat keine Lust anzufangen und will sich nicht einloggen. Zweiter Sohn liest zoomend laut vor, Gruppe 3a, ist halt so. Dritter Sohn guckt Koekeloereb auf SchoolTV. Wissen Sie noch, mit ’nem Maulwurf und ’nem Regenwurm. Tochter spielt mit Bügelperlen. Ich? Ich brauche 20 Minuten, um mich »einfach nur« einzuloggen. Ich fange an, eine E-Mail zu schreiben. Tochter steckt sich Bügelperle in die Nase, streitet es ab. Koekeloere zu Ende. Dritter Sohn weiß nicht, was er machen soll. Tochter heult. Bügelperle sitzt fest, Panik kommt auf. Ältester Sohn doch bei der Arbeit, aber: »Maaaaaaammaaaaa, einloggen geht nicht.« Mama hat die Pinzette gefunden. […] Dritter Sohn singt/rennt durch das Haus: »Ich bin Corona Corona« auf die Melodie von »Gangnam Style« … Bleibt mir im Ohr. Sohn zwei liest stur laut vor. Ältester quengelt weiter, dass das Einloggen nicht geht. Mama schreit: »Hör auf!« […] Chef ruft Papa an: »Wie sieht es aus?« Kollegin ruft Mama an. Sohn zwei ruft: »Mama, auf dem Plan steht, dass jetzt Pause ist.« – Blog von Ferial Melssen. Mit Zustimmung übernommen aus Van huis uit, eine Publikation der Stadt Arnhem über die ersten Corona-Monate.
a.Anm. d. Übers.: Gruppe 3 der Grundschule entspricht der ersten Klasse in Deutschland, in der die Kinder anfangen, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Siehe auch hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Bildungssystem_in_-den_Niederlanden.
b.Anm. d. Übers.: Hier kann man sich die erste Folge von Koekeloere anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=Ykwj50HD-dQ.
Tipps, um diesen ersten Kulturschock zu überstehen:
Etablieren Sie einen Rhythmus, passen Sie die Arbeits-, Schul- und Lebensplanung an die neue Situation an, versuchen Sie nicht, wie in der alten Normalität weiterzumachen. Finden Sie Halt in wiederkehrenden Aktivitäten. Bleiben Sie realistisch und strukturieren Sie Ihren Tag entlang kleiner erreichbarer Ziele. So haben Sie häufiger das tolle Gefühl, etwas geschafft zu haben. So ein Schuss Dopamin tut jetzt richtig gut. Halten Sie sich bei ungesundem Essen und Alkohol zurück, sorgen Sie für ausreichend Schlaf und finden Sie für sich eine Form von Sport oder Bewegung. Bringen Sie Ihr Haus auf Vordermann und lernen Sie die neue Online-Sprache, die Sie ab jetzt brauchen werden, um funktionieren und Menschen treffen zu können. Hören Sie Musik, lesen Sie Geschichten, suchen Sie Trost in der Kunst und vergessen Sie nicht, ab und zu über sich selbst zu lachen.
Alles läuft gut, doch nach einer Weile, nach ein paar Tagen, Wochen oder Monaten, das variiert von Mensch zu Mensch, beginnen die Emotionen erneut zu schwanken. Man fühlt die Opfer, die man bringt, und man hat Lust, sich heimlich mit jemandem zu verabreden. Vielleicht tut man es sogar, f*ck it! Das Durchhaltevermögen wird auf eine harte Probe gestellt und immer häufiger fragt man sich, was einem im Leben eigentlich wichtig ist.
Freundschaften zerbrechen, weil einige Menschen so gänzlich anders mit den Corona-Maßnahmen umgehen. Das macht traurig. Gelegentlich fühlt man sich ohne all die Menschen um sich herum einsam. Man hört oder erlebt, dass man sich von den Menschen, die an Corona sterben, nicht verabschieden kann. Abends wird man vielleicht von Ohnmacht überwältigt, wenn man sich das weltweite Ausmaß dieser Krise bewusst macht. Es wird spürbar, was Ronald Giphart kürzlich als »Zukunftsgram« beschrieb, den Gram über eine Zukunft, die es nicht geben wird. Verrückterweise findet man jedoch in der Akzeptanz der neuen Situation und der Erkenntnis, dass man nicht viel daran ändern kann, auch eine Art von Trost und Beruhigung. All diese Signale kündigen den zweiten Kulturschock an. Dieser trifft die Seele. Man wird mit seinen tieferen Werten und Überzeugungen im Leben konfrontiert, denen von heute, von morgen und generell.