Die Arbeit mit Selbstanteilen in der Traumatherapie - Janina Fisher - E-Book

Die Arbeit mit Selbstanteilen in der Traumatherapie E-Book

Janina Fisher

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Beschreibung

Selbst-Entfremdung überwinden – vom Trauma heilen Auf traumatische Ereignisse reagieren Menschen mit Verhaltensmustern, die es ihnen ermöglichen, das Erlebte auszuhalten. Oftmals entstehen dabei traumaassoziierte Selbstanteile. Sobald diese getriggert werden, bestimmen sie das Verhalten der Person. Ausgehend von der Systemischen Therapie mit der inneren Familie und der Sensumotorischen Psychotherapie erläutert Janina Fisher, wie traumatisierte Klienten in der Therapie lernen können, ihre Selbstanteile zu erkennen – und zu würdigen. Werden diese nämlich mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen und berücksichtigt, reduziert sich die Gefahr automatischer Verteidigungs- und Reaktionsmuster. Das Konzept der sicheren Bindung wird auf die innerpsychischen Beziehungen zwischen Selbstanteilen übertragen. So kann Heilung gelingen.

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Janina FisherDie Arbeit mit Selbstanteilen in der Traumatherapie

Über dieses Buch

Selbstentfremdung überwinden – vom Trauma heilen 

Auf traumatische Ereignisse reagieren Menschen mit Verhaltensmustern, die es ihnen ermöglichen, das Erlebte auszuhalten. Oftmals entstehen dabei traumaassoziierte Selbstanteile. Sobald diese getriggert werden, bestimmen sie das Verhalten der Person. 

Ausgehend von der Systemischen Therapie mit der inneren Familie und der Sensumotorischen Psychotherapie erläutert Janina Fisher, wie traumatisierte Klienten in der Therapie lernen können, ihre Selbstanteile zu erkennen – und zu würdigen. Werden diese nämlich mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen und berücksichtigt, reduziert sich die Gefahr automatischer Verteidigungs- und Reaktionsmuster. Das Konzept der sicheren Bindung wird auf die innerpsychischen Beziehungen zwischen Selbstanteilen übertragen. So kann Heilung gelingen.

Janina Fisher ist Ausbilderin und Lehrsupervisorin im Trauma Center, dem von Bessel van der Kolk geleiteten Therapie- und Forschungszentrum in Brookline, Massachusetts. Zudem arbeitet sie in eigener Praxis in der Nähe von Boston und als Fachberaterin der EMDRIA (internationaler Dachverband für Anwender des Eye Movement Desensitization and Reprocessing).

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Copyright der Originalausgabe: © 2017 Janina Fisher

Die Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel Healing the Fragmented Selves of Trauma Survivors: Overcoming Internal Self-Alienation bei Routledge erschienen.

All rights reserved. Authorised translation from the English language edition published by Routledge, a member of the Taylor & Francis Group LLC.

Übersetzung: Christoph Trunk

Coverfoto: © djunger – https://stock.adobe.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Wir behalten uns eine Benutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vor.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0623-1

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-793-3 (EPUB), 978-3-95571-795-7 (PDF).

Meinen begabtesten Lehrerinnen und Lehrern:

All den Traumaüberlebenden, die mir Einblick in ihre Innenwelt gaben, die meine Sachverständigen waren, die mir beibrachten, was ich am besten immer sagen und was ich am besten niemals sagen sollte, und die mich nach wie vor dazu anspornen, nach neuen Möglichkeiten zu suchen, wie wir heilen können, was in ihnen zerbrochen ist.

Ein besonderer Dank geht an Barbara Watson, die mir zeigte, wie wichtig es ist zu inspirieren statt zu behandeln, zu lachen statt zu weinen und nicht aufzugeben, wenn alle anderen die Hoffnung verloren haben.

Und ich bin Camille auf ewig dankbar dafür, dass sie „der Wind unter meinen Flügeln“ ist.

Dank

Als Kind wollte ich Schriftstellerin werden, ein Ziel, von dem ich rasch abrückte, als ich aufs College ging und mir darüber klar wurde, wie viel Blut, Schweiß und Tränen mich das in der Realität kosten würde. Als ich eingeladen wurde, das vorliegende Buch für den Verlag Routledge zu schreiben, freute sich dieser junge Anteil meiner selbst, weil ich nun schließlich doch zur Autorin wurde, doch ich muss gestehen, dass das Unterfangen sich tatsächlich als so schwierig erwies, wie andere Anteile meiner selbst mir das vor Jahrzehnten vorausgesagt hatten!

Die in diesem Buch vorgestellten Ideen gehen direkt auf meine Patientinnen und Patienten zurück, die mir „aus dem Inneren des Vulkans“ berichteten und mir alles beigebracht haben, was ich heute über die Folgewirkungen von Traumata weiß. Sie halfen mir zu verstehen, wie es für sie war, unter der beständigen Drohung der Vernichtung zu leben und, weil sie das Risiko nicht eingehen konnten, die Menschen zu hassen, die ihnen Leid zufügten, sich selbst zu hassen. Sie halfen mir zu sehen, woher ihr tiefster Schmerz rührt: Sie haben von den Menschen, denen sie in Liebe zugetan waren, nicht die nötige Liebe und Wertschätzung erfahren, um sich geborgen und umsorgt fühlen zu können. Es regte sich keine Hand, um ihren Sturz abzufangen, ihre Tränen zu trocknen, den Schmerz ihrer Einsamkeit zu lindern oder ihre Scham abzumildern. Als ich schließlich verstand, dass sie, um inneren Frieden zu erlangen, einen Weg finden mussten, das verwundete Kind in sich selbst zu lieben, wurde mir klar: Wie sicher wir uns „in uns selbst“ fühlen und wie leicht oder schwer es uns fällt, „wir selbst“ zu sein, hängt davon ab, wie es um unsere internalen Bindungsbeziehungen bestellt ist. Wenn wir unsere kindlichen Selbstanteile ignorieren, verachten oder ausblenden, ist es unausweichlich, dass ihr Schmerz erneut in uns lebendig wird, denn sie spüren, dass sie abermals nicht willkommen sind. Wenn wir aber lernen, ihnen und unserem ganzen Selbst mit „liebevoller Präsenz“ zu begegnen, kann die Heilung einsetzen, und es regt sich neue Hoffnung.

Damit aus solchen Ideen ein fertiges Manuskript entsteht, braucht es die Mitwirkung Tausender, denen ich allen zu Dank verpflichtet bin. Ich hätte das Buch nicht zuwege gebracht, wenn da nicht meine langjährigen Freundinnen gewesen wären, meine Wahlfamilie: Stephanie Ross und Deborah Spragg sprachen als Erste den Gedanken „Du solltest ein Buch schreiben!“ aus und ließen dann im Lauf der Jahre nicht mehr locker. Sie waren wie der Chor im griechischen Theater und erinnerten mich beharrlich daran, was meine „Schuldigkeit“ war. Dank sei diesem Wind, den ich im Rücken spürte!

Jede neue Autorin braucht Lotsinnen und Lotsen, die den Weg schon einmal gegangen sind. Meine liebe Freundin Lisa Ferentz, die mich nun schon seit Jahren im Prozess des Schreibens ermutigt und unterstützt, ließ mich nicht vom Haken. Sie, die bereits ihre ersten zwei Bücher veröffentlicht hatte, war nicht nur meine Cheerleaderin, die mich anfeuerte, sondern konnte mir auch hilfreiche Ratschläge geben, mir sozusagen emotional aufbauende „Hühnersuppe“ einflößen und mich mit einer Landkarte ausstatten, die mir den Weg wies.

Ich verdanke es Bessel van der Kolk, meinem Freund und Mentor, dass ich mich in meinem Berufsleben einer Aufgabe widmen kann, die sich vor 27 Jahren vor mir abzuzeichnen begann, als ich Judith Herman über das Thema Trauma sprechen hörte. In jenem Augenblick war klar, in welche Richtung ich gehen wollte. Ich bin auf ewig dankbar für meine Jahre als Supervisorin und Dozentin an Bessels Traumazentrum, für die Gelegenheit, von ihm zu lernen, während er die neurobiologische Revolution in der Psychotherapie vorantrieb, und für seine Unterstützung meiner Entwicklung als Dozentin und Autorin. Das in diesem Buch vorgestellte Konzept der Traumatherapie schließt direkt an seine Beiträge zu diesem Forschungsgebiet an und gründet in seiner Überzeugung, dass „der Körper nicht vergisst“.

Ich möchte auch Pat Ogden danken, für ihre Freundschaft, für ihre berufliche und persönliche Unterstützung und für das Geschenk der Sensumotorischen Psychotherapie. Von Pat habe ich gelernt, wie sich die Ressourcen des Körpers als Medium einer Kommunikation einsetzen lassen, die „über Worte hinausreicht“. Weil das Werkzeug, mit dem wir in der Psychotherapie arbeiten, stets unser eigenes Selbst ist, sollten wir lernen, wie wir unsere inneren Zustände, unsere Körpersprache und unseren Tonfall einsetzen können (so, wie das eine Mutter gegenüber dem Baby tut), um darauf hinzuwirken, dass Kummer und innere Not einer Klientin sich in Behagen, Neugier und Begeisterung verwandeln können. Ich möchte auch meiner „Familie“ am Sensorimotor Institute für ihre Unterstützung danken – auch wenn die Arbeit an diesem Buch dazu führte, dass ich keine Zeit für sie hatte!

Ich schätze die Großzügigkeit und hilfreiche Aufmerksamkeit von Dick Schwartz, seit wir uns als Vortragende bei Bessel van der Kolks jährlicher Traumakonferenz kennengelernt haben. Meine Dankbarkeit für sein Modell des Inneren Familiensystems (internal family systems model, IFS) reicht noch weiter zurück. Als ich vor 20 Jahren darauf stieß, wuchs mir die Arbeit mit mehreren Klientinnen mit dissoziativen Störungen, die allesamt in einer Krise steckten, gerade über den Kopf. Dicks Konzept der „Selbstführung“ versetzte mich in die Lage, einen Schritt zurückzutreten und den Klientinnen Raum dafür zu lassen, dass sie sich auf ihre angestammten Stärken besinnen und auf sie zurückgreifen konnten. Auf dem Gebiet der Psychotherapie kann es vorkommen, dass Experten und Begründer einer Methode ihr Revier verteidigen und sich nach außen abzuschotten versuchen. Dick jedoch ist offen für sämtliche Selbstanteile einer jeden Person, die ihm begegnet, und ich danke ihm für sein Vertrauen darauf, dass ich seine Arbeit würdigen werde – und hoffe, ich habe dies mit der Zuneigung und dem Respekt getan, die ihm zustehen.

Ich schätze mich auch glücklich, eine über die ganze Welt verteilte Familie von Kolleginnen und Kollegen zu haben, die mir ihre Unterstützung signalisierten, mich inständig baten, das Buch (doch wenigstens ihnen zuliebe) zu Ende zu bringen, oder mir Rückmeldungen gaben, wenn ich sie brauchte. Ich möchte Licia Sky, Carol Japha, Gil Levin, Benjamin Fry und Sally LoGrasso für ihre Bereitschaft danken, Kapitel zu lesen, die noch in Arbeit waren. Ihre kenntnisreichen Vorschläge und ihre Ermutigung waren ungemein hilfreich für mich. Meinen lieben norwegischen Freundinnen Kirsten Benum und Trine Anstorp bin ich dankbar, weil sie mich stets dazu anhalten, größere Träume zu wagen, und mich dann mit gutem Essen und Wein bearbeiten und locken, unser nächstes Projekt anzugehen! In Großbritannien gab Benjamin Fry mir Gelegenheit, meine Vision von Traumatherapie auf die aktuellen Behandlungsprogramme des Khiron House zu übertragen; die ungemein fähigen Mitarbeiter dort inspirierten mich noch auf andere Weise, nämlich indem sie sich zum Sprachrohr der komplexen Bedürfnisse ihrer traumatisierten Klienten machten. In Italien haben Giovanni Tagliavini und Paola Boldrini mir ein Forum dafür geboten, meine Arbeit vorzustellen. Weil sie sich mit ebensolcher Leidenschaft wie ich dafür einsetzen, den Bedürfnissen von traumatisierten Klienten (und von deren Selbstanteilen) Raum zu geben, zähle ich sie zu meiner „Familie“. Ein besonderer Dank gilt Giovanni für sein Angebot, dieses Buch ins Italienische zu übersetzen, und Julian Baillet, der die französische Übersetzung übernommen hat. In Spanien gibt es mit Dolores Mosquera und Esther Perez zwei glühende Befürworterinnen meiner Arbeitsweise; mir ihren Zuspruch in Erinnerung zu rufen half mir jedes Mal, wenn mir Zweifel an dem kamen, was ich tat. Ich danke auch meinen wundervollen britischen Kolleginnen und Freundinnen, von denen ich hier nur Catherine Cox, Helen-Jane Ridgeway, Sally-Anne Bubbers, Linda Beton und Liz Hall nenne. In Boston machte mir meine liebe Freundin Lana Epstein das Geschenk des Lachens – des nicht endenden Lachens –, das ein perfektes Mittel gegen den Kummer ist, der eine Autorin auf ihrem Weg befällt. Ein besonderer Dank geht auch nach New York, an Ken Frank, an Sandy Shapiro und an Kens Arbeitskreis, für die Begeisterung, mit der sie sich an die Lektüre früher Kapitelfassungen gemacht haben. Ich habe festgestellt, dass eine Autorin jeden Brosamen solcher Begeisterung braucht, damit sie im Verlauf des langen, oft mühseligen Schreibprozesses nicht aufgibt.

Ich möchte auch Dan Brockett, Steve Pierce und dem engagierten Team der Young Adult Services des Bundesstaats Connecticut danken, die mit ihren stark traumatisierten Hochrisikopatienten am „Testlauf“ unseres Behandlungsmodells teilgenommen haben. Die Rückmeldungen, die wir von unseren Klientinnen und Klienten erhielten, bestätigten uns in der Auffassung, dass selbst die hochgradig suizidalen und selbstschädigenden unter ihnen davon zu profitieren vermochten, wenn sie die eigene Fragmentierung zu verstehen begannen und lernten, mit ihr zu arbeiten.

Es gibt noch viele weitere Freundinnen, Kollegen und Wegbegleiter, die ich hier nennen könnte. Ich hoffe, dass ihr euch bei dieser Danksagung miteingeschlossen fühlt, auch wenn ich euch nicht mit Namen genannt habe.

Last, not least möchte ich meinen Kindern und Enkelkindern danken, für ihre Liebe, ihre Unterstützung und ihre Geduld. Es lässt sich gar nicht hinreichend würdigen, wie viel sie für „das Buch“ geopfert haben: gemeinsame Wochenenden, Abende, Urlaube, Ausflüge, Familienessen – und das oft monatelang. Hinzu kam noch, dass sie mir ja den Rücken stärken mussten! Und das haben sie auch getan. Jadu, Jason und Kelli, Ruby und Nika, ich verdanke euch so viel! Ich weiß nicht, was ich ohne euer Lächeln und die wunderbarsten Umarmungen aller Zeiten tun würde. Ich denke an euch voller Liebe und Dankbarkeit.

Einführung

Wie dieses Buch entstanden ist

Wenn Therapeutinnen und Therapeuten1 keinen Ansatzpunkt finden, wie sie verstehen können, was es mit der fest eingewurzelten Selbstentfremdung oder dem intensiven Selbsthass ihrer traumatisierten Klientinnen und Klienten auf sich hat, sind sie oft frustriert und ratlos und fühlen sich überfordert. Warum scheinen diese Klientinnen und Klienten im Krieg mit sich selbst oder auch mit uns zu liegen? Die Aufgabe, einen Weg von der Selbstentfremdung hin zum Mitgefühl mit sich selbst zu finden, kommt ihnen möglicherweise unausführbar vor oder ist ihnen gar zuwider, obwohl sie ja zu uns kommen, weil sie von traumabedingten Symptomen und Problemen entlastet werden wollen. Weder Klient noch Therapeutin verfügen über eine Sprache, mit der sie die inneren Kämpfe erklären könnten, die in Psyche und Körper des Klienten ausgetragen werden. Weil die Vorstellung, dass Persönlichkeit und Identität eines Menschen fragmentiert und kompartmentalisiert sein können, in der Therapiewelt bislang noch zu wenig berücksichtigt wird, werden Therapeuten nur selten dazu angeleitet, solche Spaltungsphänomene wahrzunehmen – geschweige denn den Kampf auf Leben und Tod, der zwischen „Selbsten“ mit ihren widerstreitenden Zielen und Impulsen um die Kontrolle über das Geschehen tobt.

Beim Schreiben dieses Buchs ging es mir darum, ein Erklärungsmodell vorzustellen, das uns bei der Arbeit mit denjenigen Klienten helfen kann, deren Behandlung für uns am komplexesten und herausforderndsten ist und die oft mit „hoffnungslosen“ Diagnosen wie Persönlichkeitsstörung, Bipolar-II-Störung oder gar Schizophrenie zu uns kommen. Was Traumatisierung bedeutet, haben meine Mitstreiterinnen und ich im Lauf von drei Jahrzehnten „auf die harte Tour“ gelernt. Wir haben uns von unseren Klientinnen und Klienten durch ihre innere Welt führen und zeigen lassen, wie sie von Symptomen bedrängt und erdrückt werden und wie es ist, in einem Körper zu leben, der so strukturiert ist, dass er in der ständigen Erwartung von Vernichtung oder Verlassenwerden lebt. Weil wir über keine Behandlungskonzepte verfügten, die auf die Bedürfnisse traumatisierter Klienten zugeschnitten waren, mussten wir alle „improvisieren“: Wir dachten uns neue Techniken und Interventionen aus und prüften, was „funktionierte“, um es dann beizubehalten – entweder weil die Interventionen erkennbar Wirkung zeigten oder weil die Klienten einfach gut damit zurechtkamen.

In den 1990er-Jahren, als ich als Dozentin und Supervisorin am Traumazentrum von Bessel van der Kolk arbeitete, wurde ich in starkem Maße von der neurowissenschaftlichen Forschung beeinflusst, die damals unser Bild von traumatischen Prozessen zu revolutionieren begann, und von Bessels Überzeugung, dass „der Körper nicht vergisst“ (van der Kolk, 2014). Uns wurde klar, dass wir uns bei Traumafolgestörungen nicht auf die auslösenden Ereignisse, sondern auf die gestörten Abläufe in Körper, Gehirn und Nervensystem konzentrieren mussten. Die neurobiologische Perspektive führte auch zu einem weiteren Paradigmenwechsel: Wenn Gehirn und Körper ihrem Wesen nach auf Umweltanpassung ausgerichtet sind, dann sind auch die Nachwirkungen eines Traumas nicht etwa als ein pathologisches Geschehen, sondern als Anpassungsversuche aufzufassen.

Aus neurobiologischer Perspektive betrachtet scheint das, was wir in der Therapie als festgefahrene Situationen, als Widerstand, als unbehandelbare Störungsbilder oder als für eine Persönlichkeitsstörung typisches Verhalten erleben, einfach nur widerzuspiegeln, wie Psyche und Körper eines Menschen sich an eine gefährliche Umwelt angepasst haben, in der einzig und allein bei derjenigen Bezugsperson, von der die Bedrohung ausging, „Schutz“ zu finden war. Jedes Symptom ist demnach eine findige Lösung des Körpers, die für das heranwachsende Kind oder den gefährdeten Erwachsenen den Anschein von Sicherheit erzeugt. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die traumabedingten Probleme, die einen Klienten dazu bringen, Hilfe zu suchen, in Wirklichkeit Zeichen einer großen Tapferkeit sind, an denen sich wesentlich besser als an seinen bewussten Erinnerungen ablesen lässt, was seinerzeit geschehen ist.

Als ich als eine Expertin für Traumatherapie bekannt wurde, wandten sich immer mehr Klientinnen und Klienten an mich und fragten: „Warum geht es mir immer noch nicht besser? Ich verstehe mich sehr gut mit meiner Therapeutin, aber keines meiner Symptome ist zurückgegangen. Ist das für mich die falsche Art von Therapie? Oder stimmt mit mir etwas nicht?“ Wenn ich mir aber von Klientinnen und Therapeuten berichten ließ, was sie alles ausprobiert hatten, ohne dass etwas geholfen hätte, konnte ich nie einen „Fehler“ oder Hinweise darauf finden, dass die Behandlungsmethode falsch gewählt gewesen wäre. Allerdings fiel mir, wenn ich als Beraterin hinzugezogen wurde, oft etwas auf, was sowohl der Therapeutin als auch dem Klienten verborgen blieb: Beim Klienten lag eine Fragmentierung vor. Die Anpassung an seine Umgebung hatte eine derart gravierende Aufspaltung seines Selbst und seiner Identität erzwungen, dass seine Innenwelt zu einem Kriegsschauplatz geworden war. Mir fiel auch auf, wie erleichtert die Klienten wirkten, wenn ich ihnen darlegte, dass Dissoziation oder Spaltung eine normale Anpassungsreaktion auf ein Trauma ist. Ich erläuterte ihnen zunächst die Theorie der strukturellen Dissoziation (van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006), um dann die für diese Theorie zentralen Konzepte der Selbstanteile und der überlebensdienlichen instinktiven Selbstschutzreaktionen zu nutzen, um ihre innere Not einzuordnen. Oft konnte ich, während ich sprach, an ihrem Gesicht ablesen, dass ihnen an dem Gesagten etwas bekannt vorkam, so, als würde ich ihnen gar nichts Neues erzählen, sondern ihnen nur ein Vokabular anbieten, mit dem sie endlich in Worte fassen konnten, was sie bereits wussten. Sie fühlten sich durch das Erklärungsmodell der strukturellen Dissoziation nicht etwa als „verrückt“ abgestempelt, sondern sahen sich vielmehr in ihren Ahnungen bestätigt. Die Kernaussage der Theorie, der zufolge die Spaltung ihnen einfach die Möglichkeit eröffnet hatte, sich an eine Welt voller Gefahren anzupassen und besser in ihr zurechtzukommen, half selbst sehr stolzen, narzisstischen Klienten, die Fragmentierung ihres Selbst nicht als weiteren Beleg ihrer Unzulänglichkeit zu sehen, sondern als eine zu würdigende Überlebensleistung.

Als ich nach diesen Prinzipien mit verschiedenen Klientinnen und Klienten arbeitete, trat für mich immer klarer zutage, dass etwas Bemerkenswertes geschah, wenn sie ihre verwundeten, verlorenen und einsamen Selbstanteile „annehmen“ oder lieben lernten. Ihre Selbstabwertung, ihr Selbsthass und ihr Gefühl der Unverbundenheit begannen spontan, in Mitgefühl für sich selbst überzugehen. Während die Vorstellung, zu sich selbst „nett“, „fürsorglich“ oder „mitfühlend“ zu sein, Abscheu und Vermeidungsverhalten auslöste, war es durchaus möglich, ihnen dabei zu helfen, ihren Kind-Anteil zu sehen und ihm mit Güte und Anteilnahme zu begegnen. Sie bauten eine internale Bindungsbeziehung zu diesem jungen Selbst auf, und ich konnte mitverfolgen, wie Heilungsprozesse bei ihnen abliefen.

Was „Heilung“ bedeutet, ist individuell verschieden. Bei manchen Klienten bedeutet es, den Alltag wieder bewältigen und das Leben einfach wieder in die eigenen Hände nehmen zu können. Bei den Klientinnen aber, die eine liebevolle Bindung an ihre jungen Selbste zu entwickeln begannen, konnte ich Heilungsprozesse auf einer viel tieferen Ebene beobachten. Ich sah, wie es zum „Bonding“ mit dem Kind kam, das sie einst gewesen waren, und spürte, wie ihre Scham und ihr Selbsthass dahinschmolzen. Dies brachte mich zu der Überzeugung, dass die linke, „erwachsene“ Gehirnhälfte jeder Klientin in der Lage war, in Beziehung zu der rechten, „kindlichen“ Gehirnhälfte zu treten und sie dabei als unschuldig und klein zu erleben, was spontane Zuwendung und Beschützerimpulse auslöste. Das „Bonding“ mit dem verlorenen Kind in ihnen verwandelte ihren inneren Zustand und ließ ein wohltuendes, liebevolles Umfeld entstehen, in dem sie sich endlich sicher fühlten. Der positivste Aspekt an dem Ganzen war, dass dieser therapeutische Prozess nicht nur eine offenkundig transformierende Wirkung hatte, sondern dass er den Klientinnen auch leichtfiel, sobald sie sich die Grundfertigkeiten angeeignet hatten, die erforderlich waren, um internale Bindungsbeziehungen zu ihren Selbstanteilen aufzubauen.

Dieses Buch richtet sich an einen großen Kreis von Therapeutinnen und Therapeuten und an einen noch größeren Kreis von Klientinnen und Klienten. Ich habe mich beim Schreiben bemüht, vor allem auf die Herausforderungen einzugehen, denen sich chronisch traumatisierte Menschen wie die, die sich an mich gewandt haben, gegenübersehen. Gemeint sind junge wie alte Klienten, die darum ringen, über Folgewirkungen ihrer Traumata hinwegzukommen, und sich nicht erklären können, warum sich diese trotz guter und anscheinend wirksamer Behandlungsverfahren, trotz Unterstützung durch zwischenmenschliche Beziehungen und möglicherweise auch trotz eines derzeit durchaus erfüllten Lebens nicht aufgelöst haben. Ich wollte auch eine effektive und respektvolle Form des Arbeitens mit traumatisierten Klienten beschreiben, die jede Hoffnung verloren haben und im Alltag nicht mehr zurechtkommen oder die darauf angewiesen sind, dass Kliniken, Angehörige und Lebenspartner sich um sie kümmern, weil sie gegen selbstzerstörerische Impulse ankämpfen, die sich in suizidalem, selbstschädigendem oder essgestörtem Verhalten oder einer Sucht niederschlagen. Obwohl die Forschung seit Jahrzehnten immer wieder Zusammenhänge zwischen Borderline-Persönlichkeitsstörung und frühen Gewalterfahrungen aufgezeigt hat, werden Klientinnen mit dieser Diagnose nur selten traumatherapeutisch behandelt oder als Individuen begriffen, deren Borderline-Symptome auf nachvollziehbare und tragische Weise durch die unsicheren Lebensumstände ihrer ersten Jahre entstanden sind. Dank der aufgeschlossenen Behörden für seelische Gesundheit in den Bundesstaaten Massachusetts und Connecticut bot sich mir die unschätzbar wertvolle Gelegenheit, das in diesem Buch beschriebene Behandlungsmodell mit Patientinnen und Patienten der höchsten Risikostufe zu erproben, und ich konnte zeigen, dass ein solches auf traumaassoziierte Spaltungs- und Kompartmentalisierungsprozesse zentriertes Modell dazu beiträgt, dass diese Patienten an innerer Stabilität gewinnen, außerhalb von stationären Einrichtungen leben und die eigenen Angriffe auf den Körper als beherzte Versuche eines Selbstanteils begreifen können, die schmerzlichen impliziten Erinnerungen anderer Selbstanteile für kurze Zeit abzuschütteln. Das Buch ist auch für Menschen gedacht, die ihr Trauma eigentlich „hinter sich gelassen“ und sich ein respektables Berufs- und ein liebevolles Familienleben aufgebaut haben; sie leben ein erfülltes Leben und tun sich dennoch schwer, das zu genießen, was sie sich erkämpft haben. Außerdem möchte das Buch denjenigen Hoffnung machen, deren Innenleben trotz der Stabilität, die sie erreicht haben, und trotz aller Sicherheit, Unterstützung und sinnerfüllter Arbeit in ihrem äußeren Leben noch ebenso düster und voller Kummer ist wie in der traumatischen Vergangenheit.

Das in diesem Buch vorgestellte Behandlungsparadigma zielt nicht auf eine bestimmte diagnostische Kategorie. Es ist vielmehr für den Einsatz bei allen traumatisierten Menschen gedacht, ob nun eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorliegt, ob eine der häufig mit Traumata zusammenhängenden Diagnosen wie ADHS, bipolare Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder dissoziative Störung gestellt wurde oder ob die Betreffenden nie diagnostische oder therapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben. Ich glaube, dass das Buch Sie als Leserin oder Leser ansprechen wird, wenn Sie in der Vergangenheit von anderen Menschen vernachlässigt, körperlich attackiert, bedroht, im Stich gelassen, terrorisiert, misshandelt oder missbraucht wurden und die emotionalen und körperlichen Folgen jener Erfahrungen immer noch in sich tragen oder wenn sie mit Menschen arbeiten, die solche Dinge erlebt haben.

Fragmentierung und das innere Schlachtfeld

Vor zehn Jahren begann mir bei der Beratung von traumatisierten Klientinnen und Klienten, die sich an mich als eine „Expertin“ wandten, weil sie verstehen wollten, warum sie in ihrer Behandlung keine Fortschritte sahen, ein sehr charakteristisches Muster aufzufallen, das ihnen gemeinsam war. Ihre Persönlichkeit bildete oberflächlich betrachtet ein integriertes Ganzes, doch es gab auch markante Hinweise auf eine innere Fragmentierung. Sie waren hin- und hergerissen zwischen traumaassoziierten Wahrnehmungen und Impulsen einerseits (wie zum Beispiel „Das denkbar Schlimmste wird passieren“, „Wenn ich diese Beziehung nicht beende, bin ich diejenige, die verlassen wird“) und Einschätzungen der aktuellen Gefahrenlage andererseits: „Eigentlich weiß ich, dass ich hier in Sicherheit bin. Ich würde ja nicht zulassen, dass meine Kinder in diesem Haus wohnen, wenn sie hier nicht sicher wären.“ Diese Klienten litten unter widerstreitenden Symptomen: Einerseits hatten sie den Wunsch, sich gegenüber anderen freundlich und mitfühlend zu zeigen oder ein spirituell ausgerichtetes Leben zu führen, und andererseits verspürten sie starke Wut oder auch Gewaltimpulse in sich. Sobald diese Konflikte formuliert waren, ließen sich die Muster leichter beobachten und mit Bedeutung füllen. Jede Seite eines Konflikts spiegelte eine Strategie wider, mit der das nicht zu Ertragende doch zu überstehen und die Gegensätze, die so oft wesentlicher Bestandteil der traumatischen Erfahrung sind, miteinander zu versöhnen waren. Mit einem Erklärungsmodell, das jedes Verhalten als nachvollziehbare und notwendige Reaktion angesichts von Gefahr oder Verlassenheit einordnete und es als Überlebensstrategien eines bestimmten Selbstanteils rekontextualisierte, zu dem der Klient in Beziehung treten konnte, ließen sich stets schnellere, nachhaltigere Fortschritte in Gang bringen. Das theoretische Modell, das die von den Klienten beschriebenen Phänomene am besten erklärte, war das Modell der strukturellen Dissoziation von Onno van der Hart, Ellert Nijenhuis und Kathy Stelle (2004). Es ist neurowissenschaftlich fundiert, in Europa als Traumamodell weithin akzeptiert und kam mir entgegen, da ich eine überzeugte Anhängerin und Befürworterin einer neurobiologisch orientierten Traumatheorie und -therapie bin. Dem Modell zufolge (van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006) kann es aufgrund des vorgegebenen Aufbaus unseres Gehirns mit seinen zwei voneinander getrennten spezialisierten Hemisphären in einer Bedrohungssituation recht leicht dazu kommen, dass linke und rechte Gehirnhälfte sich entkoppeln. Die Autoren gingen, mit Blick auf die bekannte Tendenz der linken Gehirnhälfte, unter Stress positiv, aufgabenorientiert und rational zu bleiben, davon aus, dass sie auch bei einer Entkoppelung auf die Aufgaben des Alltagslebens fokussiert bleibt, während die rechte Gehirnhälfte ein implizites Selbst unterstützt, das im Überlebensmodus verharrt, sich gegen Gefahren wappnet, fluchtbereit ist, in Angststarre verfällt, zitternd auf Rettung hofft oder sich so sehr schämt, dass ihm nichts bleibt, als sich zu unterwerfen. Für mich war bei jeder Klientin zu erkennen, dass sie sich mit manchen Selbstanteilen leichter identifizieren und sie als „ihr eigen“ anerkennen konnte, während sie bei anderen eher dazu neigte, sie zu ignorieren oder als „nicht zu mir gehörig“ abzutun. Die Selbstanteile lagen miteinander im Konflikt darum, was mehr Sicherheit versprach: sich totstellen oder den Kampf aufnehmen, um Hilfe rufen oder besser stumm bleiben? Mir wurde auch klar, dass sich in den inneren Beziehungen zwischen diesen fragmentierten Selbstaspekten das traumatische Umfeld widerspiegelte, für das sie einst Lösungen geboten hatten. Das linkshemisphärisch zentrierte, gegenwartsorientierte Selbst meidet die rechtshemisphärisch zentrierten, überlebensorientierten Selbstanteile oder stuft sie als negative, zu modifizierende Aspekte des Selbst ein, während die rechtshemisphärischen impliziten Selbstanteile ihrerseits genauso auf Abstand zur linken, als „schwach“ oder abwesend wahrgenommenen Gehirnhälfte gehen. Das auf die Bewältigung des Alltags ausgerichtete Selbst müht sich weiterhin verzweifelt, „normal“ zu sein – und zahlt dafür den Preis, dass es sich von den anderen Selbstanteilen entfremdet oder von ihren intrusiven Botschaften überrannt fühlt.

Der Preis der Selbstentfremdung: ein „falsches Selbst“

Menschen, die Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung und andere traumatische Erfahrungen erdulden mussten, kommen durch ihre innere Kompartmentalisierung oft besser im Leben zurecht, leiden dann aber unter dem Gefühl, sie würden „hochstapeln“ und sich und anderen etwas vormachen. Ihnen ist nicht klar, dass unter der Perspektive der individuellen Entwicklung jeder Aspekt der Persönlichkeit gleichermaßen „real“ und notwendig ist; deshalb geschieht es leicht, dass ihnen die intensiven, sehr konkret wirkenden Gefühlserinnerungen des „nicht zu mir gehörigen“ Kind-Anteils „realer“ vorkommen als das Erleben des „Normal-weiterleben-Selbst2“ (going on with normal life self), das beharrlich „einen Fuß vor den anderen setzt“ oder angesichts übermächtiger Qualen dennoch „nicht aufgibt und immer weitermacht“. Ohne ein Erklärungsparadigma, in dem diese Widersprüche einen Sinn ergeben, muss ihnen die Einsicht verschlossen bleiben, dass ihre intensiven Gefühle und verzerrten Wahrnehmungen nicht etwa auf eine innere Unzulänglichkeit verweisen, die sich als Lebenstüchtigkeit tarnt, sondern Anzeichen einer Fragmentierung sind.

Die meisten traumatisierten Menschen zahlen dafür, dass sie die Entfremdung zwischen ihren Selbstanteilen aufrechterhalten, einen hohen Preis, der in wachsendem Selbstekel, einer immer weiter reichenden Abkoppelung von ihren Emotionen, in Sucht- oder selbstzerstörerischem Verhalten und einem andauernden Hin- und Herschwanken zwischen Verletzlichkeit und Kontrolle, Liebe und Hass, Nähe und Distanz, Scham und Stolz besteht. In ihrem großen Verlangen danach, sich geliebt, geborgen und willkommen zu fühlen, klammern sie sich ängstlich an andere, um sie dann wieder von sich wegzustoßen, hassen sich selbst oder haben nur wenig Geduld mit den Fehlern anderer und sehnen sich sowohl danach, gesehen zu werden, als auch danach, unsichtbar zu sein. In der Therapie treten Symptome wie Angst, chronische Depression, Selbstwertschwäche und das Gefühl der Stagnation in den Vordergrund. Typische Diagnosen, die bei ihnen gestellt werden, sind PTBS, bipolare Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung und auch dissoziative Störung. Wenn Therapeutin und Klient nicht über ein Bezugssystem verfügen, in das sie das Chaos und / oder die Stagnation einordnen können, wird ihnen entgehen, dass die Symptome nicht nur von traumatischen Ereignissen herrühren, sondern auch von einer Störung internaler Bindungen, in der sich die traumatischen Bindungserfahrungen der frühen Kindheit spiegeln, und bald laufen dann die therapeutischen Bemühungen ins Leere.

Traumatische Bindung als mögliche Komplikation in der Traumatherapie

In den 25 Jahren, die ich mittlerweile auf dem Feld der Traumatherapie tätig bin, waren Generationen von Modellen der „bestmöglichen Behandlung“ immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass sich scheinbar unverfängliche Reize für Klienten als Trigger erwiesen, die sie in den „Traumastrudel“ rissen, sodass sie von quälenden emotionalen und physiologischen Reaktionen überflutet wurden. Für manche von ihnen fühlt sich die Gegenwart nur wenig besser an als die Vergangenheit. Seit meiner Zeit als Postdoktorandin an Judith Hermans Klinik 1991 und seit dem Beginn meiner Tätigkeit als Supervisorin und Dozentin an Bessel van der Kolks Traumazentrum 1995 erkunden meine Kolleginnen und ich unter Leitung von Bessel van der Kolk neue Methoden und Interventionen, die helfen können, unsere Klienten von den tückischen Nachwirkungen ihrer traumatischen Vergangenheit zu befreien. Wir entwickeln unsere Ansätze ständig weiter, und es gibt immer noch etwas zu verbessern. Mit jedem Erkenntnisfortschritt und jeder Verfeinerung der Behandlungsmethoden erreichen wir einige Klientinnen, denen wir bis dahin nicht hatten helfen können, dringen aber immer noch nicht zu allen vor – oder wir können nur bestimmte Symptome lindern, während andere unverändert bestehen bleiben. Bei manchen traumatisierten Klientinnen scheint die Behandlung selbst nach langer Zeit immer noch so zu verlaufen, dass auf zwei mühsame Schritte vorwärts ein Schritt zurück folgt; es kann sogar sein, dass sie in der einen Woche wie der mythische Sisyphos einen Felsblock steil bergauf wuchten, nur um in der nächsten Sitzung feststellen zu müssen, dass er wieder am Fuß des Abhangs liegt. Bei manchen Klientinnen sind infolge der Traumatisierung sowohl die Wünsche nach Beziehung als auch die Ängste davor derart massiv ausgeprägt, dass Therapie und Therapeut in ihnen nicht das tröstliche Gefühl der Geborgenheit, sondern schmerzliche Sehnsucht, Misstrauen, übersteigerte Wachsamkeit und Wut oder Angst und Scham auslösen. Meine Hoffnung beim Schreiben des Buchs war, dass der hier vorgestellte Behandlungsansatz diesen Klientinnen und ihren Therapeuten einen Weg aufzeigt, wie sie mit diesen Schwierigkeiten umgehen und sie überwinden können.

Stagnation: traumabedingte innere Konflikte

Wenn ein Klient berichtet, dass es ihm nicht besser, sondern schlechter geht, beginnt die Therapeutin möglicherweise, an ihrer Kompetenz zu zweifeln. Beide fragen sich dann: „Mache ich etwas falsch?“ Weder dem Klienten noch der Therapeutin ist bewusst, dass bei einem stagnierenden Behandlungsverlauf die Psychotherapie zur Bühne wird, auf der traumabedingte internale Konflikte zwischen Selbstfragmenten ausgetragen werden. Wenn wir die eigene therapeutische Kompetenz in Zweifel ziehen oder das Verhalten des Klienten pauschal als „Übertragung“ oder „Widerstand“ auffassen, verbauen wir uns damit die Möglichkeit, Zeugin des Reenactment zu werden, das sich in der fragmentierten Innenwelt des Klienten abspielt. Wenn er die Fragmentierung der eigenen Persönlichkeit nicht registriert, kann dies dazu führen, dass er an widerstreitenden Zielen wie „Ich will sterben“ und „Ich will unbedingt weiterleben“ festhält. Weitere Beispiele sind „Ich will eng mit anderen verbunden sein, aber niemand soll mitbekommen, dass mir daran etwas liegt“ und „Ich verachte und verabscheue mich selbst und schaue zu anderen auf – und dann verachte und verabscheue ich sie, weil ich merke, dass sie nicht besser sind als andere Autoritätsfiguren“.

Dieses Buch richtet sich zunächst an die Therapeutin, die nach Wegen Ausschau hält, Klienten helfen zu können, für die andere Methoden nicht wirklich geeignet oder nicht umfassend genug waren, doch es ist auch für die traumatisierten Menschen selbst geschrieben, die sich an uns wenden. Ich bin seit den frühen 1990er-Jahren bemüht, sanftere, weniger retraumatisierende Methoden zu finden, um den Auswirkungen traumatischer Erfahrungen beizukommen. Für mich hat es nie einen Sinn ergeben, dass eine Therapie schwer traumatisierten Menschen dadurch helfen soll, dass sie sie erneut in tiefe Qualen stürzt. Nach meiner Überzeugung ist es für sie schon schlimm genug, dass ihnen ihre Kindheit oder ihre Jugend genommen wurde, und deshalb darf auf keinen Fall zugelassen werden, dass die Nachwirkungen des Traumas nun auch ihr Erwachsenenleben durchkreuzen. Als ebenso inakzeptabel empfand ich die Vorstellung, dass die Bearbeitung eines Traumas womöglich so beängstigend und überwältigend wie die damaligen Erfahrungen ist und dass selbst die therapeutische Beziehung sich so bedrohlich wie die einstigen Beziehungen in der Kindheit anfühlen könnte. In der Kindheit üben unsere Bezugspersonen eine fast vollständige Kontrolle über unsere Innenwelt aus und haben die Macht, schmerzliche wie auch angenehme Emotionen in uns auszulösen sowie Erwartungshaltungen an zwischenmenschliche Beziehungen in uns festzuschreiben. Eigentlich sind wir, wenn wir es bis ins Erwachsenenalter, das uns Autonomie verspricht, geschafft haben, endlich in der Lage, schmerzliche Erfahrungen hinter uns zu lassen, selbst zu entscheiden, inwieweit wir anderen vertrauen, und Nähe und Distanz mit ihnen auszutarieren. Traumatisierten Menschen jedoch ergeht es ganz anders. Ihr Körper hat die Erfahrung nicht vergessen, selbst „keine Kontrolle“ darüber zu haben, ob ihm Schönes oder Schreckliches widerfährt. Bei der Entwicklung meines Ansatzes ging es mir darum, einen Weg der Traumabewältigung aufzuzeigen, der sich heilsam anfühlt, der nicht die Opferrolle, sondern den Aspekt des Weiterlebens betont, und der im Körper keine erschreckenden, sondern erfreuliche und angenehme Empfindungen entstehen lässt.

Dieses Buch handelt von der Arbeit mit Traumata, Bindungsstörungen und Dissoziationserfahrungen, die sich in komplexen und paradoxen Symptomen, Entfremdung vom eigenen Selbst, in inneren Konflikten und einer krisenhaften oder verfahrenen therapeutischen Beziehung manifestieren. Immer wieder führen die Auswirkungen der Selbstentfremdung auf die Therapie dazu, dass sich die Therapeutin blockiert sieht – durch Scham und strafenden Selbsthass des Klienten, durch seine Angst vor Trennung und Verlassenwerden, durch seine selbstzerstörerischen Verhaltensweisen, sein Unvermögen, sich selbst zu trösten oder gut für sich selbst zu sorgen, oder seine Ängste davor, Hoffnung zu hegen, zufrieden zu sein und Mitgefühl für sich selbst zu empfinden. Psychotherapeutische Ausbildungsprogramme vermitteln nur wenig Wissen zu traumatischen Bindungsmustern oder dazu, wie unerkannt bleibende traumabedingte Fragmentierung oder Spaltung die direkte Traumabewältigung verkomplizieren kann, oder zur Behandlung von dissoziativen Störungen als einer Erscheinungsform von traumabedingten Störungen. Eine Heilung traumabedingter Verletzungen und Fragmentierungen hängt letztlich von der Beziehung der Person zu sich selbst oder besser zu ihren „Selbsten“ ab. Selbstentfremdung kann die Aufarbeitung der Vergangenheit nur erschweren, denn sie errichtet eine innere Mauer und verhindert, dass die Person akzeptieren lernt, dass „es“ geschehen ist, und fähig wird, in sich das Kind willkommen zu heißen, das „es“ erlitten und überlebt hat.

Zum Aufbau des Buchs

Dieses Buch spiegelt – es kann nicht anders sein – meine eigene Erfahrungswelt und meine theoretische Orientierung wider. Als Therapeutin, die (ab 1996) an Bessel van der Kolks Traumazentrum tätig war und (seit 2003) an Pat Ogdens Sensorimotor Psychotherapy Institute arbeitet, stütze ich mich in meinem Verständnis von Traumaprozessen auf theoretische Modellvorstellungen, die in den Neurowissenschaften und in der Bindungsforschung wurzeln. Als Therapeutinnen sollten wir uns – das ist mir wichtig zu betonen – im Klaren darüber sein, warum wir eine Behandlungsmethode oder Intervention anderen vorziehen. Falls dann die Interventionen, die ich wähle, nicht unmittelbar zum „Erfolg“ führen, kann ich die Theorie zu Hilfe nehmen, um den Gründen dafür nachzugehen – damit ich in meine nächste Intervention einfließen lassen kann, was bei der vorherigen gefehlt hat. In den folgenden Kapiteln will ich ein theoretisches Verständnis von Trauma, Dissoziation, Neurobiologie und Bindung mit einer praxisbezogenen und ganz konkreten Perspektive auf diese Aspekte verknüpfen, die sowohl für Klientinnen wie auch für Therapeutinnen möglichst gut nachvollziehbar sein soll. Um es Klientinnen zu erleichtern, nicht auf der Ebene des „Darüber-Redens“ stehen zu bleiben, wurden in das Behandlungsmodell verschiedene therapeutische Ansätze integriert, die aus der Sensumotorischen Psychotherapie (Ogden et al., 2006), dem Modell des Inneren Familiensystems (IFS; Schwartz, 2001), achtsamkeitsbasierten Verfahren (Pollak, Pedulla & Siegel, 2014) und der klinischen Hypnose stammen.

Als ich mich daranmachte, ein auf dem Modell der strukturellen Dissoziation gründendes Therapieverfahren zu entwickeln, war es für mich als Anwenderin und Dozentin der Sensumotorischen Psychotherapie (Ogden & Fisher, 2015; Ogden et al. 2006) naheliegend, zunächst einmal meine Sichtweise des Körpers und des Nervensystems mit dem zusammenzuführen, was ich aus der Arbeit mit Klienten weiß, bei denen eine Dissoziative Identitätsstörung (DIS) vorliegt. Weil laut der Theorie der strukturellen Dissoziation jedem Selbstanteil eine elementare Selbstschutzreaktion zugrunde liegt (also Kampf, Flucht etc.), war der Zusammenhang zum Körper leicht herzustellen. Für Flucht organisiert sich der Körper ganz anders, als wenn er sich für den Kampf wappnet oder sich totstellt. Doch da die Sensumotorische Psychotherapie von der Sprache des Körpers ausgeht, benötigte ich noch ein Vokabular für die Selbstanteile. Der Ansatz des Inneren Familiensystems (IFS) von Richard Schwartz (1995), von dem ich einige Jahre zuvor bei meiner Arbeit mit DIS-Klienten ausgiebig Gebrauch gemacht hatte, setzt voraus, dass die Therapeutin sich die Sprache der Selbstanteile zu eigen macht. Sie soll diese Sprache nicht nur dem Klienten gegenüber verwenden, sondern auch lernen, der eigenen Selbstanteile gewahr zu sein. Weil sowohl das IFS-Modell als auch die Sensumotorische Psychotherapie achtsamkeitsbasierte Behandlungsverfahren sind, lassen sie sich hervorragend mit meiner Strategie der „achtsamen Wahrnehmung von Selbstanteilen“ verbinden, bei der ich den Klienten zunächst dazu anleite, aufmerksam seinen Körper und seine Gefühlszustände zu beobachten, um die Botschaften seiner Selbstfragmente zu erfassen.

Was mich ursprünglich dazu bewogen hatte, den IFS-Ansatz in die Arbeit mit DIS-Klienten einzubeziehen, war das Konzept der „Selbstführung“ (Schwartz, 2001; dt. 2008). Mit „Selbst“ sind dabei angeborene Eigenschaften gemeint, die bei jedem Menschen unversehrt vorhanden sind, ungeachtet dessen, wie viel Misshandlung, Missbrauch und Traumatisierung er erlebt hat. Zu diesen Eigenschaften gehören Neugierde, Klarheit (die Fähigkeit zu Metagewahrsein oder dem Einnehmen einer Metaperspektive), Kreativität, Gelassenheit, Mut, Zuversicht und Verbundenheit. Heilung ergibt sich im IFS-Modell daraus, dass diese Eigenschaften als Gegenmittel zu den schmerzlichen Erfahrungen dienen, denen verbannte Kind-Anteile ausgesetzt sind. Auf meine DIS-Klientinnen, so hatte ich festgestellt, wirkte es ungeheuer stabilisierend, wenn ich ihr Erwachsenen-Selbst darin unterstützte, die genannten Eigenschaften auszubilden, und das Kind-Selbst dazu anhielt, dass es lernte, sich an ein „selbstgeführtes“, weises Erwachsenen-Selbst zu wenden, das beruhigend auf seine Ängste einzuwirken und seine Einsamkeit zu lindern vermochte. Als sich für mich abzuzeichnen begann, dass Fragmentierung nicht nur bei Klientinnen mit dissoziativen Störungen vorkommt, boten mir das Modell der strukturellen Dissoziation und das IFS-Modell willkommene Unterstützung. Die Theorie der strukturellen Dissoziation ist eine Traumatheorie, die sich ebenso auf PTBS, komplexe PTBS und Borderline-Persönlichkeitsstörung anwenden lässt. Das IFS-Modell ist eine Theorie der Selbstanteile, die nicht nur traumatisierte Menschen mit dissoziativen Störungen, sondern alle Menschen beschreibt. Ich begann meinen „Mix“ aus Interventionen und Techniken der Sensumotorischen Psychotherapie und des IFS-Ansatzes bei Klienten mit komplexer PTBS einzusetzen, die sich an mich wandten und bereit waren, verschiedene Herangehensweisen auszuprobieren. Ich verwendete den Mix auch zunehmend dann, wenn eine Klientin in einem Zustand der Stagnation verharrte, in einer Krise steckte, völlig aufgewühlt war oder unter einer „unauflösbaren Ambivalenz“ litt. Ähnlich wie bei Borderline-Klienten ließ sich mithilfe des Achtsamkeitsansatzes und der (aus dem IFS-Ansatz übernommenen) Zuordnung jedes einzelnen Symptoms zu einem bestimmten Selbstanteil ein „Raum zum Atmen“ herstellen, in dem es dem Klienten möglich wurde, neugierig auf die Selbstanteile zu werden, weniger Scheu vor ihnen zu haben und sogar Empathie für sie zu entwickeln.

In Kapitel 1, „Die neurobiologischen Nachwirkungen von Traumata: Wie es zur inneren Fragmentierung kommt“, beschreibe ich zunächst Dissoziation und Fragmentierung als Anpassungsreaktion auf eine abnorme Erfahrung. Um Distanz zu überfordernden Ereignissen herzustellen und sich die Vorstellung eines „guten Ichs“ zu bewahren, muss das Individuum sich von den Selbstzuständen absetzen, deren es sich schämt, die ihm Angst machen oder die es als „nicht zu mir gehörig“ erlebt, sodass es auch zum Trauma Abstand gewinnen kann (Bromberg, 2011). Dass im selben Gehirn und Körper parallel zueinander zwei Erfahrungsabfolgen enkodiert werden können, hat in den 1970er- und 1980er-Jahren die „Split-Brain-Forschung“ deutlich gemacht (Gazzaniga, 1985). Die Gehirnscan-Forschung in den späten 1990er-Jahren und im folgenden Jahrzehnt konnte dann zeigen, dass traumatische Ereignisse nicht in Form einer chronologischen Erzählung enkodiert werden, sondern als implizite emotionale und körperliche Zustände. Durch die Einführung des Modells der strukturellen Dissoziation im Jahr 2000 war es erstmals möglich, dissoziative Spaltung und Kompartmentalisierung mit neurowissenschaftlichen Begriffen zu fassen (van der Hart et al., 2000). Anders als frühere Modelle der dissoziativen Fragmentierung legt dieses den Akzent nicht auf die Kompartmentalisierung der Erinnerung. Die zentrale These ist vielmehr, dass strukturelle Dissoziation eine überlebensdienliche Anpassungsreaktion auf die spezifischen Anforderungen eines traumatischen Umfelds ist und eine Spaltung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte in die Wege leitet, die dem Individuum hilft, sich von Selbstanteilen zu distanzieren, die „nicht ich“ oder auf das Trauma bezogen sind, und den Alltag zu bewältigen, ohne dass die Traumatisierung ins Bewusstsein dringt. Die Aufspaltung begünstigt auch die Herausbildung von Selbstanteilen, die sich aus elementaren, dem Überleben dienenden Verteidigungsstrategien in einer Gefahrensituation speisen. In Kapitel 1 skizziere ich die theoretischen Grundlagen für das Verständnis sowohl einer neurobiologisch fundierten Traumaarbeit als auch der Notwendigkeit eines Behandlungsansatzes, der sich an der Vorstellung von Selbstanteilen orientiert. Der Blick auf die Selbstanteile ermöglicht eine effektivere Behandlung von komplexen Störungen und Persönlichkeitsstörungen. In diesem Modell gibt es kein „Ausagieren“, kein „manipulatives Verhalten“, keine „Widerstände“ und auch kein „Fehlen einer Therapiemotivation“. Die traumaassoziierten Selbstanteile, die von ganz normalen Reizen des Alltags aktiviert und von impliziten Traumareaktionen angetrieben werden, registrieren eine Bedrohung und setzen automatisch Instinktreaktionen in Gang: Kampf, Flucht, um Hilfe rufen, erstarren oder „sich totstellen“ (Porges, 2011).

In Kapitel 2, „Selbstanteile verstehen, Traumareaktionen verstehen“, erkunden wir, wie uns die neurowissenschaftliche Forschung zum Traumagedächtnis helfen kann, bei einer Klientin Hinweise auf fragmentierte Selbstanteile zu erkennen und zu verstehen. Anhand einer vereinfachten Darstellung der Notfallstressreaktion auf eine Bedrohungssituation wird veranschaulicht, wie die Nachwirkungen von Traumata im Körper enkodiert werden. Es ist wichtig, eine klare Vorstellung davon zu haben, wie körperbasierte Traumareaktionen elementare Verteidigungsimpulse anstoßen, die risikoreiches Verhalten auslösen, und warum das linkshemisphärisch verankerte „Normal-leben-Selbst“ dabei unter Umständen hilflos zuschaut, ohne die Umsetzung der Impulse in Handlungen unterbinden zu können. Die automatisch einsetzende Überwachsamkeit, die Reaktivität, das Misstrauen und das impulsive Agieren gründen im autonomen Nervensystem, das Aktivität und Passivität, starke Emotionen und Benommenheit reguliert. Als Folge eines Traumas passt sich das Nervensystem an eine bedrohlich erscheinende Welt an, ist darauf konditioniert, bei Gefahr „jederzeit bereit“ zu sein, und neigt deshalb leicht dazu, ein sympathisches Hyperarousal oder ein parasympathisches Hypoarousal einzuleiten, je nachdem, in welchem Umfeld die Konditionierung der Reaktionen erfolgte (Ogden et al., 2006). Kapitel 2 appelliert an Therapeutinnen, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und bei der Traumabehandlung den Fokus weniger auf traumatische Ereignisse als vielmehr auf die Rolle impliziter Erinnerungen zu richten. Damit die Therapeutin die traumaassoziierten Selbstanteile eines Klienten erkennen und ihm helfen kann, mit ihnen zu arbeiten, muss sie ihn dazu anleiten, die eigenen Reaktionen auf Triggerreize zu verstehen, damit er bei sich selbst getriggerte, implizit erinnerte Gefühle, Vorstellungen und Überlebensstrategien erkennen und richtig einordnen kann. Schließlich geht es in diesem Kapitel um die Frage: Was bedeutet „Verarbeitung von Erinnerungen“? Wenn die Erinnerungen aus impliziten Gefühlen, Körperempfindungen, Veränderungen der Aktivierung und dysreguliertem impulsivem Verhalten bestehen und in jungen Selbstanteilen gespeichert sind, was genau ist es dann, was verarbeitet wird? Moderne Konzeptionen des Gedächtnisses betonen seine Instabilität: Das Gehirn scheint so organisiert zu sein, dass es gespeicherte Erfahrungen aktualisiert und umschreibt und sie mit vorangegangenen und folgenden Ereignissen integriert. Experten raten derzeit dazu, sich nicht auf die Desensibilisierung gegen Erinnerungen an traumatische Ereignisse zu konzentrieren, sondern darauf, mittels der Kultivierung von neuen Erfahrungen eine Transformation oder „Reparatur“ (repair) traumabedingter Zustände zu erreichen. Klientinnen werden dazu angehalten, das Augenmerk nicht auf die Entwicklung eines Traumanarrativs zu richten, sondern vielmehr dazu, ihre „selbstschädigenden“ Geschichten umzuschreiben und eine heilende Geschichte auszuarbeiten, mit der sie dem Geschehenen Bedeutung verleihen können (Meichenbaum, 2012).

In Kapitel 3, „Wandel der Klienten- und der Therapeutenrolle“, diskutiere ich zunächst grundlegende Verschiebungen unserer Perspektive und unserer Vorgehensweise, die durch eine neurowissenschaftlich fundierte Sicht auf traumatisierte Klientinnen notwendig geworden sind. Am Beginn der Behandlung stehen Erläuterungen zum Wesen von Trauma und Dissoziation. Die Therapeutin bietet dem Klienten Informationen zu den Symptomen an, mit denen er zu kämpfen hat, um ihm die Gewissheit zu vermitteln, dass es sich dabei um normale, in sich stimmige Reaktionen auf ein Trauma handelt. Dieses psychoedukative Vorgehen trägt auch dazu bei, das in der Therapiesituation angelegte Machtgefälle dadurch abzuschwächen, dass das Wissen „offengelegt“ wird, auf das die Behandlung sich stützt. So kann der Klient in der Therapie sozusagen zu einem aufgeklärten Patienten werden (Herman, 1992).

Die meisten Therapeutinnen haben in ihrer Ausbildung nur Persönlichkeitsmodelle mit einem „unipolaren Bewusstsein“ kennengelernt und sind wenig damit vertraut, nach dem Paradigma eines „multiplen Bewusstseins“ zu arbeiten. Tiefenpsychologisch geschulte Therapeutinnen sind es gewohnt, eine weniger direktive und edukative Rolle einzunehmen, als sie in der Traumabehandlung erforderlich ist. Dagegen wird in der kognitiven Verhaltenstherapie oft wenig Wert auf die Fertigkeiten von wechselseitiger Einstimmung (attunement) und Resonanz gelegt; diese sind aber bei der Traumatherapie, die an Selbstanteilen ansetzt, von entscheidender Bedeutung. Im instinktiven Ausweichen vor Traumaaspekten und traumaassoziierten Selbstanteilen wird die Klientin, solange sie nicht zu einem anderen Umgang damit angeleitet wird, immer wieder das Verhalten von Beobachtern reinszenieren, die sie seinerzeit nicht beschützt haben.

Notwendig ist eine explizite Vermittlung von Fertigkeiten der Achtsamkeit sowie des Vokabulars, das eine Wahrnehmung von Selbstanteilen ermöglicht. In der Anfangsphase der Therapie muss die Therapeutin sich auf den Klienten einstimmen, um eine Kooperation mit ihm aufzubauen, die nicht nur an seinen Wünschen, sondern auch an dem orientiert ist, was er wirklich braucht. Um nach schmerzlichen und traumatischen Ereignissen eine neue Erzählung über sich selbst entwickeln zu können, muss er sich neue Gewohnheiten des Beobachtens und Entdeckens aneignen: Denn in den „tendenziösen“ Geschichten, die er sich über sich selbst zurechtgelegt hat, kommt er nicht gut weg. Er braucht Hilfe beim Erlernen der Fertigkeit, positive wie auch negative Gefühle und Sinnesempfindungen achtsam zu registrieren, ohne sie gleich zu seinen Ungunsten zu deuten oder sich ihretwegen zu verurteilen. Im nächsten Schritt lernt er dann, mithilfe des Vokabulars von Selbstanteilen oder „Selbsten“ seine oft verwirrenden oder paradoxen Handlungen und Reaktionen so zu beschreiben, wie sie Augenblick für Augenblick ablaufen, doch ohne „sich mit ihnen zu identifizieren“ oder sie als verlässliche Daten über das Hier und Jetzt zu deuten. Eine Identifizierung verstärkt die jeweilige Emotion zwangsläufig oder löst Scham aus. Wenn der Klient lernt, eine Erfahrung zu beschreiben, ohne sich über sie zu definieren, versetzt ihn das in die Lage, die „Bausteine“ zu registrieren, aus denen sie sich zusammensetzt (Ogden & Fisher, 2015): „Während ich von meinem Vater erzähle, merke ich, wie es mir in der Brust eng wird und das Herz schneller schlägt“ oder „Ich spüre, dass ein Teil von mir angespannt ist“. Die distanzierte Selbstbeobachtung ist Voraussetzung dafür, dass die nächsten Stufen erreicht werden können: Der Klient wird fähig, eine neugierige oder sogar mitfühlende Haltung gegenüber all den Gefühlen und Reaktionen einzunehmen, die er an sich beobachtet, und ist infolgedessen eher in der Lage, sich „mit ihnen zu befreunden“. In der buddhistischen Praxis sind Akzeptieren, Willkommenheißen und das Vermeiden von „Anhaftung oder Ablehnung“ (sich mit dem Gefühl identifizieren oder es bekämpfen) wesentliche Voraussetzungen dafür, zu einem Zustand von Gleichmut, Gelassenheit, Sammlung und innerem Frieden zu finden. In den psychotherapeutischen Kontext übersetzt bedeutet das, dass die Klientin lernt, auch sehr schmerzliche, demütigende oder beängstigende Emotionen und Sinnesempfindungen auszuhalten und zu akzeptieren.

Die Therapeutin sollte in der Anfangsphase nicht die „alte Welt“ von schmerzlichen, demütigenden Erfahrungen und übermächtigen Gefühlen erkunden, sondern den Schwerpunkt vielmehr darauf legen, Interesse und Neugier des Klienten auf die eigenen Gefühlszustände, Selbstanteile, Gedanken und körperlichen Reaktionen zu steigern. Ziel dieser Vorgehensweise ist nicht das Erinnern, sondern die Reparatur der aufgrund der traumatischen Ereignisse erlittenen Verletzungen, unabhängig davon, ob sich der Klient an die Ereignisse in expliziter narrativer Form oder implizit in Form von Gefühlen und Reaktionen erinnert.

In Kapitel 4, „Unsere ‚Selbste‘ wahrnehmen lernen: eine Einführung in die Arbeit mit Selbstanteilen“, geht es um die grundlegenden Fertigkeiten, die notwendig sind, um nach einem Selbstanteileparadigma arbeiten zu können. In der Anfangsphase der Behandlung wird die Klientin mit dem Modell der strukturellen Dissoziation bekannt gemacht und gefragt, welche Aspekte ihrer eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten sie darin angesprochen sieht. Inwieweit erkennt sie sich darin wieder? Das Modell der strukturellen Dissoziation bietet auch einen klientenfreundlichen Einstieg in das Erkennen der Anzeichen dafür, dass ein bestimmter Selbstanteil mobilisiert ist. Jede instinktive, dem Überleben dienliche Selbstschutzreaktion ist mit bestimmten Verhaltensweisen verknüpft, die auch oft im Gefolge eines Traumas auftreten. Diese Verhaltensmuster werden der Klientin anhand eines Diagramms erläutert, um sie dabei zu unterstützen, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und diese neuen Informationen mit größerem Interesse und stärkerer Neugier aufzunehmen. Der Therapeut kann ihr Bewusstsein der Aktivität von Selbstanteilen fördern, indem er ihr nahelegt, von der „Annahme“ auszugehen, dass alle quälenden und belastenden Gedanken, Gefühle und Körperreaktionen Botschaften von traumaassoziierten Selbstanteilen sind. (Diese Annahme steht im Einklang mit neurowissenschaftlichen Befunden der Split-Brain-Forschung zu Aktivitäten und spezifischen Fähigkeiten der beiden Gehirnhälften.) Das Erlernen von Begriffsschemata, die ein rasches Einordnen der Aktivität von Selbstanteilen ermöglichen, erleichtert es der Klientin, Zugang zu ihrer inneren Erfahrung zu finden und die eigenen Gefühle abzugrenzen, anstatt sich mit sämtlichen wahrgenommenen Emotionen zu identifizieren und sie als „meine“ anzusehen. Die Klientin wird auch dazu angeleitet, auf innere Konflikte, Ambivalenz und Verwirrung zu achten und sie als Manifestationen von Spannungen zwischen Selbstanteilen zu begreifen, die von diesen selbst sowie von traumaassoziierten Reizen getriggert werden.

Kapitel 5, „Sich mit den Selbstanteilen befreunden: den Keim zum Mitgefühl mit ihnen legen“, dreht sich um Interventionen zur Anregung eines Prozesses, der das für eine Heilung notwendige Verständnis und Mitgefühl für sich selbst fördert. Auf den Gedanken, dass sie mitfühlend mit sich selbst umgehen oder besser für sich selbst sorgen sollten, reagieren die meisten traumatisierten Klientinnen mit starker Ablehnung. Ist aber eine Emotion wie Furcht oder Scham mit dem körperlichen Bedeutungserleben (felt sense) eines Kindes verknüpft, ist es den Klientinnen oft möglich, Empathie für dieses Kind zu verspüren und beispielsweise an seiner Stelle empört zu sein. In der achtsamkeitsbasierten Therapie ist es nicht notwendig, zwischen Mitgefühl „für mich selbst“ und Mitgefühl „für das Kind“ zu differenzieren. Das erlebte emotionale und somatische Bedeutungsmuster des Mitgefühls ist jeweils dasselbe, unabhängig davon, ob es sich auf „mich selbst“ oder „das Kind“ richtet. Ebendiese Regungen von Mitgefühl helfen, Trauma- und Bindungswunden zu lindern und zu heilen. Es ist auch nicht notwendig, dass ein detailliertes Erinnerungsnarrativ der traumatischen Erfahrung existiert; die Klientin muss nur Zugang zu einem körperlichen Bedeutungserleben dessen haben, was ihr Kind-Anteil durchgemacht hat. Wenn Therapeut und Klientin eine „Ahnung“ oder eine ungefähre Vorstellung von der Traumageschichte der Klientin haben, können sie würdigen, was jüngere Selbste durchgemacht haben, ohne dass das Nervensystem oder die Affekttoleranz der Klientin überfordert wird. Durch die Würdigung der traumatischen Erfahrungen der Selbstanteile fühlt sich die Klientin ernst genommen, und es werden keine traumatischen Reaktionen getriggert. In dieser Phase der therapeutischen Arbeit liegt der Akzent darauf, für einen Selbstanteil nach dem anderen Mitgefühl zu kultivieren. Übermächtige Emotionen oder verstörende Körperreaktionen stellen das Mitgefühl auf die Probe. Ziel ist, der Klientin zu helfen, „gerade so viel“ vom Leid des jeweiligen Selbstanteils zu spüren, dass ihr Mitgefühl geweckt wird. Der Therapeut sollte nicht vergessen, dass in der Traumatherapie Empathie und Mitgefühl der Klientin, wenn sie zu starke Gefühle erlebt, genauso eingeschränkt sind, wie wenn die Gefühle zu schwach ausfallen. In dieser Phase lernt die Klientin auch zu erkennen, wann „Verschmelzung“ (blending; siehe Schwartz, 2001) oder Identifizierung mit Selbstanteilen sie anfällig dafür machen, von Impulsen eines Selbstanteils überflutet zu werden oder sie auszuagieren, und „Entschmelzung“ (unblending) und Desidentifizierung zu üben.

In Kapitel 6, „Komplikationen im Behandlungsverlauf: traumatische Bindung“, befassen wir uns mit den inneren Spannungen und Konflikten, die auf eine Vorgeschichte traumatischer Bindung zurückgehen. Da das Kernmerkmal der traumatischen Bindung in einer Rollenverkehrung besteht, bei der das Sicherheit bietende Objekt (die Elternfigur) zum angsterregenden und lebensbedrohlichen Objekt wird, gehen von jeder späteren engen Beziehung, auch der therapeutischen, Bedrohungssignale aus. Wird eine Beziehung enger, kann das ein Zeichen von Gefahr und zugleich ein Versprechen von Trost und Verbundenheit sein und zum einen emotionale Erinnerungen an die Sehnsucht nach einer Bindungsfigur wachrufen, die sich stets entzog, und zum anderen implizite Erinnerungen an das Verlassenwerden und den Verrat, die das Kind tatsächlich erlebte. Weil sich Bindung und Furcht im Erleben der Klientin miteinander verquickt haben, wird eine Therapie, die den Fokus auf das Erzählen von Erinnerungen oder auf die Übertragung legt, mit großer Wahrscheinlichkeit einen inneren Kampf zwischen Hunger nach Nähe und Angst vor Verlassenwerden, wie sie junge Selbstanteile in ihrer Sehnsucht nach Bindung verspüren, und den Selbstschutzreaktionen von Kampf, Flucht und völliger Unterwerfung entfachen. Bei Klientinnen mit einer dissoziativen Störung, deren Selbstanteile stärker voneinander separiert und autonomer sind, kommt dieser innere Kampf in persönlichen Beziehungen oder in der Therapie noch leichter in Gang, ist schwerer zu entschlüsseln und zu dekonstruieren und auf der Verhaltensebene schwerer unter Kontrolle zu bekommen.

Die Art und Weise, in der ein Therapeut dieses Phänomen antizipiert und seiner Klientin hilft, es zu akzeptieren und damit zu arbeiten, kann entweder zu einer tiefer gehenden Heilung führen oder dazu, dass in der Therapie selbst Bindungswunden wieder aufbrechen. Wird eine Tendenz zum Anklammern oder zur Abwertung als ein interpersonales Problem zwischen Klientin und Therapeut interpretiert, verschärft sie sich dadurch oft noch. Fassen wir die Tendenz dagegen als ein „intrapersonales“ Phänomen auf, das heißt als Hinweis darauf, dass in der Klientin nach wie vor eine internale Bindungsstörung wirksam ist, können wir zu Verbündeten beider Seiten des Konflikts werden und so den Weg zu einem „erworbenen sicher-autonomen Bindungsstatus“ (Siegel, 1999; dt. 2006, S. 136) bahnen helfen. Im erworbenen sicher-autonomen Bindungsstatus ist das unsichere oder desorganisierte Bindungsmuster der Kindheit und / oder des Erwachsenenalters so weit aufgearbeitet, dass die Person über ihre frühen Bindungsbeziehungen reflektieren kann, ohne in einen dysregulierten Zustand zu verfallen und ohne ihre Bindungsfiguren zu idealisieren oder zu dämonisieren, und es kann sich ein Empfinden der Akzeptanz einstellen. Laut diesem Modell wird eine erworbene sichere Bindung dadurch möglich, dass die Klientin zunehmend in der Lage ist, eine Bindung zum verwundeten Selbst des arglosen Kindes aufzubauen, dem einst die liebende Fürsorge eines mitfühlenden Erwachsenen zustand, die ihm aber nie zuteilwurde. Der therapeutische Fokus liegt nicht auf der Bindung an den Therapeuten, sondern durchgängig darauf, Empathie für die Selbstanteile aufzubauen und sich auf sie einzustimmen.

In Kapitel 7, „Mit suizidalen, selbstschädigenden, essgestörten und süchtigen Selbstanteilen arbeiten“, werden selbstgefährdende und Hochrisiko-Verhaltensweisen rekontextualisiert und als Manifestationen von instinktiven, überlebensorientierten Reaktionen beschrieben, die bestimmten Selbstanteilen zuzuordnen sind. Suchthafte, essgestörte, suizidale und selbstschädigende Verhaltensweisen werden unter einem neurobiologischen Blickwinkel neu interpretiert. Aus neurobiologischer Sicht sind im menschlichen Körper dieselben selbstkorrigierenden und selbstheilenden Tendenzen wirksam wie im Körper anderer Säugetiere. Demzufolge muss auch einem Verhalten, das herkömmlicherweise als „selbstdestruktiv“ bezeichnet wird, ein Streben nach Selbstkorrektur zugrunde liegen. „Selbstgefährdendes“ Verhalten wäre also eher als eine verzweifelte Überlebensanstrengung zu begreifen, als eine Strategie, die es ermöglicht, Scham, Wut und Angst auszuhalten, Flashbacks und Albträume zu unterdrücken oder mithilfe endogener oder exogener Substanzen ein traumatisiertes Nervensystem zu regulieren. In einem informellen, klinisch ausgerichteten Pilotprojekt, das im Rahmen eines Programms des Dezernats für seelische Gesundheit des Bundesstaats Connecticut neue Behandlungsformen für Traumapatienten anbietet, sammeln die teilnehmenden Therapeutinnen und Therapeuten informelle Daten zu Aspekten, die vor und nach Episoden selbstgefährdenden Verhaltens zu registrieren sind. Laut ihren Beobachtungen gehen einer Episode von selbstschädigendem Verhalten oder einem Suizidversuch meistens enttäuschende Erfahrungen in einer Beziehung voraus, eine Trennung oder das Ende einer Beziehung, intensive Scham und Selbsthass oder intrusive Erinnerungen und Flashbacks. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass solche Ereignisse ein Bedrohungsgefühl auslösen und traumaassoziierte emotionale Reaktionen in Gang setzen, die als unerträglich empfunden werden, bis irgendein impulsives Verhalten ihre Intensität abmildert oder eine emotionale und körperliche Taubheit herbeiführt. Nach derartigen Episoden ist bei Patienten eine damit zusammenhängende Tendenz zu beobachten, dass sie von Erschöpfung, Verlust an Energie und einem starken Ruhebedürfnis berichten – also von denselben Indikatoren, die für parasympathische Muster nach einer Kampf- oder Fluchtreaktion charakteristisch sind. In der Vergangenheit wurde dieses posttraumatische, selbstgefährdende Verhalten als aufmerksamkeitsheischend, manipulativ oder vermeidend gedeutet. Die Anwendung eines neurobiologisch orientierten Ansatzes, der Patienten dabei unterstützt, impulsives oder selbstgefährdendes Verhalten zu Botschaften eines Selbstanteils umzudeuten, der mit Kampf als elementarer Verteidigungsstrategie reagiert, senkt die Häufigkeit selbstgefährdenden Verhaltens. Indem die Patienten die Impulse externalisieren und einem sich zur Wehr setzenden Selbstanteil zuschreiben, können sie die Aktivität des beobachtenden präfrontalen Kortex aufrechterhalten, der ihnen die Impulse einzuordnen hilft: „Das gehört nicht zu mir, sondern zum Kampf-Anteil.“ Hinzu kommt, dass bei diesen Patienten, wenn ihnen das Modell der strukturellen Dissoziation nahegebracht wird, ihre Tendenz zur negativen Selbstbeurteilung offenbar abnimmt und ihre Neugier wächst. Beides wirkt impulsivem Verhalten entgegen. Den Klienten die in Kapitel 4 und 5 umrissenen Fertigkeiten zu vermitteln und sie zum Üben derselben anzuhalten scheint für sich genommen bereits einen stabilisierenden Effekt zu haben. Außerdem wird ihnen im Rahmen eines psychoedukativen Ansatzes erläutert, welche biologischen Auswirkungen ihr selbstgefährdendes Verhalten hat und wie es in die Regulation des Nervensystems eingreift. So bekommen sie eine Vorstellung davon, welche Rolle dem Körper bei diesen Prozessen zukommt. Wenn ihre Fähigkeit zur „Entschmelzung“, das heißt zur Abgrenzung zu impulsiven Selbstanteilen, wächst und sie direkteren Zugriff auf einen nicht in seiner Funktion gebremsten präfrontalen Kortex haben, sind die Klienten zunehmend besser in der Lage, die leidvollen Emotionen und selbstgefährdenden Impulse der Selbstanteile zunächst einmal nur zu registrieren und sie zu regulieren, anstatt direkt auf sie zu reagieren.

In Kapitel 8, „Therapeutische Herausforderungen: dissoziative Systeme und dissoziative Störungen“, befassen wir uns mit den besonderen Schwierigkeiten, vor die uns Klientinnen mit einer Diagnose aus der Gruppe der dissoziativen Störungen stellen (Dissoziative Identitätsstörung [DIS], Nicht Näher Bezeichnete Dissoziative Störung [DDNOS] und Depersonalisationsstörung). Die Diagnose einer dissoziativen Störung besagt, dass ein extremerer Grad an Kompartmentalisierung vorliegt, der die Fähigkeit beeinträchtigt, ein kontinuierliches Bewusstsein aufrechtzuerhalten, von Moment zu Moment zu wissen, „wer ich bin“, kohärente Entscheidungen zu treffen und an ihnen festzuhalten, bis sie umgesetzt sind, Impulse zu steuern, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge oder Raum und Zeit zutreffend wahrzunehmen und zu einer Integration von traumatischer Vergangenheit und normaler, sicherer Gegenwart zu finden. Dissoziative Störungen bleiben oft unerkannt oder werden falsch eingeordnet, selbst wenn bei den betreffenden Klientinnen die Häufigkeit der dissoziativen Symptomatik statistisch signifikant ist (Korzekwa et al., 2009a). Die häufigsten Diagnosen bei ihnen sind Borderline-Persönlichkeitsstörung, Bipolar-II-Störung und ADS oder ADHS. In Kapitel 8 gehe ich auf die diagnostischen Indizien einer Dissoziativen Identitätsstörung und mögliche Strategien bei ihrer Beurteilung ein und schlage Kriterien für die Stellung einer formalen Diagnose vor. Der in Kapitel 3 bis 5 dargelegte Behandlungsansatz ist auch bei DIS- und DDNOS-Klienten sehr wirksam, wobei das therapeutische Vorgehen anzupassen ist, um Beeinträchtigungen des Gedächtnisses und des Kontinuitätserlebens berücksichtigen zu können.

Weil der in diesem Buch vorgestellte Behandlungsansatz achtsamkeitsbasiert ist, wirkt er in der Regel stabilisierend und erleichtert es Klienten, Probleme ihres Alltags sowie traumaassoziierte Aspekte zu entwirren. Da Klient und Therapeutin das Vokabular der Selbstanteile verwenden, bleibt die zentrale Aufgabe in der Arbeit mit dissoziativen Störungen stets im Blick: den Klienten als einzelne Person mit seinem einen Körper und seinem einen Gehirn zu sehen und sich zugleich bewusst zu machen, dass dieser eine Körper und dieses eine Gehirn fragmentiert sind und viele Selbstanteile verschiedener Altersstufen und Entwicklungsphasen und mit verschiedenen Bindungsstilen und Abwehrstrategien in sich tragen. Empathie für die Nöte jedes Selbstanteils zu empfinden und dabei nicht aus dem Blick zu verlieren, dass der Klient ein Erwachsener mit entsprechenden Potenzialen ist, ist eine Fertigkeit, die oft geübt werden muss, ehe sie zur zweiten Natur werden kann. Bei einer dissoziativen Störung hat die Therapeutin einen Klienten vor sich, der als Person kein integriertes Ganzes ist. Ihn als ein solches zu betrachten ist oft nicht hilfreich, sondern stiftet vielmehr Verwirrung, ebenso wie wenn wir im Klienten nur das innere Kind sehen, ohne seine Ressourcen eines Erwachsenen zu berücksichtigen.

In der Behandlung einer Dissoziativen Identitätsstörung steht immer die Dualität von Teil und Ganzem oder ein Ganzes mit seinen Teilen im Vordergrund. Wenn der Therapeut die Klientin auffordert, die für ein Problemverhalten verantwortlichen Selbstanteile zu bestimmen, und dann Neugier für deren Emotionen, Vorstellungen, Motive und Abwehrstrategien bekundet, gewinnt er damit den in der linken Gehirnhälfte wurzelnden Teil der Persönlichkeit dafür, bei der Bewältigung der Probleme und Herausforderungen zu „helfen“, die von den in der rechten Gehirnhälfte verankerten traumaassoziierten Selbstanteilen ausgehen. Bei der Behandlung von Klientinnen mit dissoziativen Störungen ist diese Verfahrensweise von noch zentralerer Bedeutung als bei Personen, bei denen eine Fragmentierung, aber keine DIS vorliegt. Denn wenn rechtshemisphärisch dominante Selbstanteile unabhängig und außerhalb des Bewusstseins zu agieren vermögen, ist es besonders wichtig, dass ein für Ausgleich und Stabilität sorgendes linkshemisphärisches Selbst vorhanden ist.

Kapitel 9, „Reparatur der Vergangenheit: die Selbstanteile annehmen“, geht von der Prämisse aus, dass die Bewältigung einer traumatischen Erfahrung davon abhängt, inwieweit die einst überlebenssichernde Selbstentfremdung überwunden werden kann. Wenn eine wachsende wechselseitige Einstimmung zwischen Kind-Selbsten und dem erwachsenen Normal-leben-Selbst kultiviert wird, fühlt sich jeder Aspekt des Selbst angesichts der anderen zunehmend wohler, sicherer und enger mit ihnen verbunden. Um aber die Bindungsbeziehung eines traumatisierten Klienten zu seinen jungen Selbsten zu fördern, muss die Therapeutin ihn zunächst darin unterstützen, den Erwachsenen in sich, der ein normales Leben zu führen imstande ist, anzuerkennen und sich mit ihm verbunden zu fühlen und zu identifizieren – mit dem Selbst also, das zu Fürsorge imstande ist und Zuwendung zu äußern vermag, das instinktiv stets nach Geborgenheit, Normalität und Stabilität strebt und das in der Lage ist, für ein kleines Kind, das auf eine sichere Bindung angewiesen ist, „hier und jetzt da zu sein“.