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Sie ist bereit zu kämpfen – aber allein hat sie keine Chance ...
Cia Vale hat die gefährliche Auslese überlebt, während sich Chaos und Wut in der Gesellschaft ausbreiten. Ein verheerender Bürgerkrieg steht bevor, und die Rebellen schmieden einen Plan, die grausame Regierung zu stürzen. Auch Cia ist bereit, um das Ende der Auslese zu kämpfen, aber sie kann es nicht alleine tun. Sie hofft auf die Loyalität ihrer Kameraden, doch das kann tödlich für sie enden. Denn Täuschung und Wahrheit liegen nah beieinander. Und der Einsatz ist hoch, denn auf dem Spiel steht das Leben all derer, die sie liebt. Wem kann Cia vertrauen?
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Seitenzahl: 472
JOELLE CHARBONNEAU
Nichts ist, wie es scheint
Roman
Deutsch von Marianne Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Graduation Day« bei Houghton Mifflin Books, Boston.
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1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Joelle Charbonneau
Published by special arrangement with Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Penhaligon Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Redaktion: Werner Bauer
Herstellung: Sabine Müller
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 9783-641-15897-2
www.penhaligon.de
V001
Für Margaret Raymo.
Danke für deine hilfreiche Unterstützung und deine Visionen.
Ohne dich hätte ich das nicht geschafft!
Kapitel 1
Ein Klopfen an der Tür lässt mich aufspringen. Ich bin so erschöpft, verängstigt und traurig, dass meine Hände zittern, als ich die Verriegelung löse und die Tür zu meinen Räumen im Wohnheim öffne. Dann stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich Raffe Jeffries vor mir stehen sehe. Obwohl wir für denselben Studienzweig ausgewählt worden sind, haben wir ansonsten nur wenige Gemeinsamkeiten: Ich, die ich aus den Kolonien komme, die Auslese überleben musste und es nur so zum Studium nach Tosu-Stadt geschafft habe. Und er, der von hier stammt, wo die Kinder aus Familien früherer Universitäts-Absolventen zum Studienbeginn mit offenen Armen empfangen werden. Wir sind nicht befreundet. Obwohl er mir gestern Abend das Leben gerettet hat, weiß ich trotzdem nicht, ob ich ihm vertrauen kann. Aber ich habe keine Wahl.
Raffe wirkt unbekümmert, doch in seinen Augen liegt ein warnender Ausdruck, als er mein Wohnzimmer betritt und die Tür hinter sich schließt. »Cia, sie wissen Bescheid.«
Meine Knie werden weich, und ich halte mich an der Rückenlehne eines Stuhles fest, um nicht zusammenzusacken.
»Sie wissen was?«
Dass ich den Campus verlassen und erfahren habe, dass die Rebellion, welche von dem Mann angeführt wird, der mir während der Auslese geholfen hat, nicht das ist, wofür die Rebellen sie halten? Dass die Rebellen bald einen Angriff starten werden, der ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit den Tod bringen wird? Dass Damone … Diesen Gedanken verdränge ich rasch.
»Professorin Holt weiß, dass wir beide das Unigelände verlassen haben.« Raffes dunkle Augen suchen meinen Blick. »Und Griffin hat angefangen, nach Damone zu suchen.«
Natürlich hält Griffin nach seinem Freund Ausschau. Und wenn er ihn nirgends finden kann, wird er die Direktorin unseres Studiengangs informieren – Professorin Holt. Sie wird sich fragen, warum ein Student des Studiengangs Regierung aus Tosu-Stadt verschwunden ist. Werden Dr. Barnes und seine Offiziellen glauben, dass der Erfolgsdruck Damone zur Flucht veranlasst hat? Oder werden sie eine Suche organisieren und dabei entdecken, dass er tot ist? Panik steigt in mir auf. Ich sage mir, dass uns nichts anderes übrig geblieben war, als ihn umzubringen. Aber stimmt das wirklich?
Ich schüttle den Kopf. Wenn ich in Zukunft nicht riskieren will, dass ich von der Universität abgezogen werde oder Schlimmeres, dann muss ich jeden Gedanken an die Vergangenheit verdrängen.
Es gibt keine Vorschrift, die besagt, dass wir den Campus nicht verlassen dürfen. Allein dafür kann ich also nicht bestraft werden. Aber wenn die Offiziellen wissen, was ich gesehen habe …
Ich hole tief Luft, um mich ein bisschen zu beruhigen, dann frage ich: »Ist Professorin Holt darüber informiert, wann wir aufgebrochen sind oder dass wir zusammen weggefahren sind?«
Mit den Fingerspitzen fahre ich über das Blitzsymbol auf dem silbernen und goldenen Metallarmband an meinem Handgelenk und denke an den Ortungsmechanismus darin. Ich hatte geglaubt, ihn ausgeschaltet zu haben, aber da hatte ich mich wohl geirrt.
Ich hatte mich bei allem geirrt.
Und nun ist Michal tot und …
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand weiß, wie lange wir weg waren. Niemand hat uns losfahren sehen, und ich denke, wir sind auch bei unserer Rückkehr zum Campus unbeobachtet geblieben.« Raffe streicht sich mit einer Hand über sein dunkles Haar. »Aber Griffin hat mich abgepasst, als ich Tomas deine Nachricht überbringen wollte. Er hat sich bei mir erkundigt, ob ich Damone gesehen habe. Und dann wollte er wissen, wohin wir beide heute Morgen unterwegs waren. Ich weiß nicht, wie er davon erfahren hat, aber er weiß, dass wir zusammen waren.«
Ich habe Raffe nichts von dem Peilsender in seinem Armband erzählt. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass ich meine Geheimnisse nicht würde preisgeben müssen. Bevor ich mich auf den Weg nach Tosu-Stadt zur Auslese gemacht hatte, hatte mein Vater mir eingeschärft, niemandem zu vertrauen. Doch diesen Rat habe ich bereits einige Male in den Wind schreiben müssen. Und auch jetzt bleibt mir nichts anderes übrig. Weil Raffe mir geholfen hat, schwebt er nun in Gefahr.
Rasch erkläre ich ihm, was in seinem Armband verborgen ist, und berichte von dem Transmitter, den Tomas und ich entwickelt haben, um das Signal zu blockieren und unsere Bewegungen vor Dr. Barnes geheim zu halten. Allerdings ist mir ebenjener Störsender irgendwann im Laufe der letzten Nacht oder des heutigen Morgens aus der Tasche gefallen. Wo und wann ich ihn verloren habe, weiß ich nicht.
Raffe schaut auf das Symbol, das in sein Armband eingraviert wurde – eine Sprungfeder in der Mitte der Waagschalen der Gerechtigkeit, die sich im Gleichgewicht befinden. »Sie überwachen also unsere Bewegungen.« Keine Spur von Überraschung. Kein Zorn. Nur ein kurzes Nicken, ehe er fortfährt: »Wir müssen uns einen besseren Weg einfallen lassen, das Signal zu blockieren, wenn wir verhindern wollen, dass man uns auf Schritt und Tritt auf den Fersen ist bei allem, was du als Nächstes geplant hast.«
Was ich als Nächstes geplant habe …
Diese Woche wird Präsidentin Collindar im Plenarsaal im Regierungsgebäude des Vereinigten Commonwealth stehen und die Abgeordneten bitten, einem neuen Gesetzesvorschlag zuzustimmen. Einen, der – falls er auf Zustimmung stößt – Dr. Barnes die alleinige Kontrolle über die Gestaltung der Auslese und die Verwaltung der Universität entziehen wird. Einem Vorschlag, der ihn zwingen wird, der Präsidentin Rede und Antwort zu stehen. Der ihr die Möglichkeit geben wird, einem Verfahren ein Ende zu setzen, das so viele junge Menschen getötet hat, die nichts lieber hatten tun wollen, als ihren Kolonien und ihrem Land zu helfen. Aber obwohl ich so gerne glauben würde, dass ihre Gesetzesvorlage akzeptiert und die Auslese abgeschafft wird, spricht alles, was ich bislang in Erfahrung gebracht habe, dafür, dass eine Niederlage auf unsere Präsidentin wartet. Und wenn dieser Fall eintritt, dann wird Dr. Barnes den Gerüchten zufolge ein Misstrauensvotum gegen sie beantragen. Ein Votum, mit dem die Präsidentin nicht nur ihre Führungsrolle los wäre, sondern das außerdem den Beginn eines Kampfes bedeuten würde, den die Rebellen und die Präsidentin auf keinen Fall gewinnen können, da Dr. Barnes um diese Pläne weiß. Tatsächlich haben er und sein Unterstützer Symon Dean die Rebellion selbst geplant. Erst vor Kurzem habe ich ihre wahren Ziele herausgefunden, die darin bestehen, jeden zu identifizieren, mit ins Boot zu holen und am Ende umzubringen, der auch nur ein Wort gegen die Methoden der Auslese verliert. Schon bald wird Dr. Barnes zulassen, dass seine bei den Rebellen eingeschleusten Leute die Verdrossenheit anheizen und offene Kriegsvorbereitungen vorantreiben, nur damit er selbst ebendiese Rebellion schließlich gewaltsam niederschlagen kann. Wenn Dr. Barnes’ Plan aufgeht, dann werden alle, die die Auslese beenden wollen, sterben. Und unter ihnen wird mein Bruder sein.
Ich kann jetzt nicht hier sitzen und das zulassen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich die Ereignisse, die bereits ins Rollen gekommen sind, noch aufhalten soll. Lange dachte ich, dass ich eine Lösung gefunden hätte. Dass mir eingefallen wäre, wie ich helfen könnte. Aber ich habe die Dinge nur noch schlimmer gemacht. Und von nun an wird Dr. Barnes jede meiner Bewegungen sogar noch aufmerksamer als zuvor beobachten. Ich wünschte, mir bliebe noch mehr Zeit, die Dinge richtig zu durchdenken. Meine Brüder haben mich früher immer damit aufgezogen, dass ich Stunden gebraucht habe, um zu einem Entschluss zu kommen, den andere in Minuten gefasst hätten. Doch mein Vater hat mir beigebracht, dass alles, was wichtig ist, gründlich überlegt sein will. Die Entscheidungen, die ich in der nahen Zukunft zu treffen habe, werden die wichtigsten in meinem Leben sein.
Habe ich Angst? Ja. Als die jüngste Studentin der Universität finde ich es schwer zu glauben, dass meine Handlungen den Verlauf der Geschichte meines Landes beeinflussen können. Dass ich klug genug wäre, Dr. Barnes und seine Offiziellen auszutricksen und Leben zu retten. Aber es gibt keinen anderen Weg. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich versage, ist groß, aber ich muss es trotzdem versuchen.
»Im Augenblick habe ich nichts anderes geplant, als meine Hausaufgaben zu machen und ein bisschen Schlaf zu bekommen.« Als Raffe zum Protest anhebt, falle ich ihm ins Wort: »Und du musst auch mal schlafen.« Ein Blick auf seine hängenden Schultern verrät mir, dass er ebenso müde ist wie ich. »Vielleicht fällt uns eher ein, wie wir helfen können, das Ruder noch herumzureißen, wenn wir uns ein wenig ausgeruht haben.«
Raffe nickt. »Nach allem, was passiert ist, ist es vermutlich sowieso das Beste, wenn wir für den Rest des Tages im Wohnheim bleiben. Ich bin mir sicher, dass Professorin Holt jemanden darauf angesetzt hat, dich zu beobachten. Du musst vorsichtig sein.«
Eine Reihe von leisen Geräuschen erregt meine Aufmerksamkeit. Dann noch mal. Ein schwaches Klicken ertönt aus dem Transit-Kommunikator, schließlich ein zweites und ein drittes Mal. Es ist das Signal, das Zeen mit mir verabredet hat. So nehmen wir Kontakt auf, wenn einer von uns beiden mit dem anderen sprechen muss. Er muss einen sicheren Platz gefunden haben, um mit mir zu sprechen. Aber für mich ist die Lage zu unsicher, solange Raffe neben mir steht. Gezwungenermaßen habe ich ihm bislang in vielerlei Hinsicht vertraut, aber das hier geht zu weit. Das Leben meines Bruders werde ich nicht in seine Hände legen.
»Dann sehen wir uns später«, sage ich.
Raffe legt den Kopf schräg. Seine Augen werden schmal, als es erneut dreimal hintereinander klickt.
Ich tue so, als würde ich nichts hören, marschiere zur Tür und öffne sie. »Ich muss noch an einer Projektaufgabe arbeiten.«
Raffe schaut sich in meinem kleinen Wohnzimmer um. Mein Herzschlag misst die Sekunden, die vergehen, während er darauf wartet, ob die Klickgeräusche wiederkehren. Als nichts passiert, schüttelt er verunsichert den Kopf und kommt ebenfalls zur Tür. »Ich bin da, falls du irgendetwas brauchst.«
Kaum habe ich die Tür hinter ihm geschlossen und verriegelt, haste ich in mein Schlafzimmer und schiebe meine Finger unter den Matratzenrand, wo sie sich um das Gerät schließen, welches ich aus der Five-Lakes-Kolonie mitgebracht habe. Es wurde dazu entwickelt, über Entfernungen von bis zu zwanzig Meilen hinweg Kontakt zu seinem Gegenstück im Büro meines Vaters aufzunehmen. Und dieses Pendant muss Zeen nun in den Händen halten, während er darauf wartet, dass ich antworte. Ich drücke dreimal den Rufknopf, um ihn wissen zu lassen, dass ich sein Signal empfangen habe.
»Cia. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Michal dir endlich gesagt hat, wo ich bin. Am liebsten hätte ich mich sofort nach meiner Ankunft in Tosu-Stadt mit dir in Verbindung gesetzt, aber Michal meinte, es wäre besser, noch abzuwarten. Ist alles in Ordnung bei dir?«
Der Klang von Zeens Stimme erfüllt mich mit Wärme. Während ich aufwuchs, konnte ich Zeen immer alles erzählen. Von all meinen Brüdern war er derjenige, zu dem ich ging, wenn ich ein Problem hatte und Hilfe brauchte. Ich war mir immer sicher gewesen, dass er auf alles eine Antwort hatte. Ich hoffe, dass das jetzt immer noch so ist.
»Mir geht es gut.« Im Augenblick jedenfalls. »Aber …«
»Gut.« Ich höre, wie Zeen einen Seufzer der Erleichterung ausstößt. »Das ist gut. Cia, es tut mir leid, dass ich so zornig war. Ich hätte dich nicht weglassen dürfen, ohne mich von dir zu verabschieden, aber ich war so neidisch, weil du bekommen hast, was ich unbedingt haben wollte. Jedenfalls glaubte ich das. Ich wusste ja nicht …«
Ich denke daran, wie weh es mir getan hatte, dass Zeen verschwunden war, kurz bevor ich zur Auslese aufbrechen musste. Von uns allen ist er der Leidenschaftlichste, derjenige, der am schnellsten aufbraust. Der als Erster reagiert, wenn seine Gefühle in Aufruhr geraten, und der es am schwersten nimmt, wenn diejenigen, die er liebt, verletzt oder von ihm getrennt werden. Deshalb hatte ich Verständnis dafür gehabt, dass er nicht dabei war, als meine Familie sich von mir verabschiedete. Und deshalb kann ich nun ehrlich sagen: »Das ist schon okay. Außerdem: Wenn du nicht wütend weggerannt wärst, hätte ich dich gefragt, ob ich diesen Kommunikator mitnehmen kann, und du hättest es mir nicht erlaubt. Ohne ihn hätte ich die letzten Monate nicht überlebt.«
»Du hättest hören sollen, wie ich gewütet habe, als ich deine Nachricht vorfand«, erwidert Zeen mit einem Lachen in der Stimme. »Mom sagte, das sei angesichts meines Benehmens ein geringer Preis, denn schließlich wäre es gut möglich, dass ich dich niemals wiedersehen würde. Sie wollte nicht, dass ich hierherkomme, aber Dad hat verstanden, warum ich gehen musste. Ich weiß nicht, was Michal dir erzählt hat, aber diese Leute wollen die Auslese beenden. Die Anführer hier haben einen Plan, der alles verändern wird. Es ist allerdings ein gefährlicher Weg.«
»Zeen …«
Doch Zeen hört mir nicht zu. Als ich noch klein war, hat er mir stundenlang von Dingen erzählt, die ich damals noch nicht begreifen konnte, aber das war mir egal. Ich liebte es, seiner Stimme zu lauschen und dabei zu wissen, dass er verstand, wovon er sprach. Jetzt jedoch hat er keine Ahnung von dem, was wirklich los ist.
»Zeen …«
»Es ist kompliziert, und ich werde eine Weile brauchen, bis ich dir alles erklärt habe. Ich kann jetzt nicht mehr viel länger mit dir sprechen, sonst kommt jemand nach mir suchen. Bei alldem, was im Moment auf dem Spiel steht, dauert es lange, bis sie hier jemandem vertrauen – sogar dann, wenn Michal selbst einen eingeführt hat. Ich denke, sie hätten mich sofort festgenommen, als ich im Lager aufgetaucht bin, wenn er nicht gewesen wäre …«
»Zeen, hör mir endlich zu!« Als am anderen Ende Stille herrscht, sage ich: »Michal ist tot.« Meine Kehle wird eng. Tränen brennen in meinen Augen. Es auszusprechen macht alles mit einem Mal so real. »Ich habe ihn sterben sehen.«
»Cia, das kann nicht stimmen.« Aber das Zögern in Zeens Stimme verrät mir, dass meine Worte ihn getroffen haben. »Ich hätte davon erfahren, wenn Michal gestorben wäre. Symon oder Ranetta hätten uns darüber informiert.« Zeens tröstender Tonfall ist derselbe, den er früher anschlug, als ich noch klein war und glaubte, dass unter meinem Bett Monster lauern würden. Nur dass er mich jetzt nicht mehr mit abwiegelnden Worten beruhigen kann. Ich weiß, dass diese Monster nur allzu echt sind.
»Symon wird es dir ganz bestimmt nicht sagen, denn er ist derjenige, der Michal getötet hat.« Ich werfe einen Blick auf die Uhr neben meinem Bett. Fünf Minuten sind vergangen. Wenn Zeen recht hat, dann werden schon bald Leute kommen und nach ihm suchen. Ich will nicht, dass sie hören, wie er in den Kommunikator spricht, denn womöglich würden sie ihn dann unweigerlich für einen Spion halten. Es gibt noch so viel zu sagen, und uns bleibt nur noch so wenig Zeit. Ich muss mich entscheiden, was jetzt wichtig ist und was bis zum nächsten Mal, wenn wir uns sprechen, warten kann.
»Michal hat Symon die Beweise gebracht, die die Präsidentin dringend braucht, um die Abstimmung im Parlament zu ihren Gunsten zu entscheiden, sodass die Auslese auf friedliche Art und Weise abgeschafft werden kann. Ich war während der Übergabe ganz in der Nähe versteckt.« Noch immer habe ich genau vor Augen, wie der Anführer der Rebellen Michal ansah, als er seine Waffe hob und sie abfeuerte. Zwei Schüsse. Dann sackte Michal tot zu Boden. »Ich habe Symon sagen hören, dass er und Dr. Barnes die Gruppe der Aufständischen gegründet haben, um diejenigen unter Kontrolle zu bringen, die die Auslese beenden wollen. Es gibt in Wahrheit also gar keinen Aufstand.«
»O doch, Cia. Es gibt eine Rebellion.« Auch wenn Zeen versucht, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, höre ich Zorn, Empörung und Ungläubigkeit mitschwingen. »Meinst du nicht, ich wüsste es anderenfalls? Diese Menschen hier sind bereit zu kämpfen, um eine Veränderung zu bewirken.«
»Ich weiß, dass sie entschlossen dazu sind. Das ist ja auch genau das, was Dr. Barnes und Symon von ihnen wollen.«
»Cia, das kann nicht stimmen. Ich habe mit Ranetta und Symon gesprochen. Symon …«
»… hat Michal getötet. Du darfst Symon nicht trauen.« Was Ranetta angeht, bin ich mir nicht so sicher. »Michal hat ihm geglaubt, und jetzt ist er tot.« Wieder spüre ich Panik in mir aufsteigen. Zeen muss mir glauben. »Symons Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Rebellen eine Niederlage erleiden. Wenn die Präsidentin die Abstimmung im Parlament verliert und die Rebellen dann angreifen, werden Dr. Barnes und Symon dafür sorgen, dass sich Sicherheitsteams bereithalten. Sie werden behaupten, dass der Rest der Stadt nur auf diese Weise geschützt werden kann. Wenn wir nicht irgendetwas unternehmen, dann wird die Rebellion niedergeschlagen werden. Und noch mehr Menschen werden sterben.«
»Warte. Wenn du recht hast …« Zeen holt tief Luft. Als er weiterspricht, ist seine Stimme kaum noch ein Flüstern, was aber nichts am eindringlichen Tonfall ändert: »Du musst aus Tosu-Stadt verschwinden.«
»Es gibt leider genug Gründe dafür, warum ich das nicht kann.« Das Armband an meinem Handgelenk. Meine Freunde, die ich zurücklassen müsste. Zeen, der sich mitten unter den Rebellen befindet, die Dr. Barnes töten will. Und der letzte Punkt ist der einzige, bei dem mir eine Lösung einfällt. »Zeen, du selber solltest da weg. Hier auf dem Campus gibt es eine Menge Gebäude, die nicht oft benutzt werden. In einem davon könntest du dich verstecken.«
»Niemand darf das Lager ohne einen direkten Befehl von Symon oder Ranetta verlassen.«
Ranetta. Eine Frau, die ich noch nie gesehen oder getroffen habe. Als Michal von der Spaltung innerhalb des Rebellenlagers sprach – in eine Fraktion, die eine friedliche Lösung anstrebt, und in eine andere, die die Verzögerungen leid ist und auf einen Krieg drängt –, sagte er, dass Ranetta die Anführerin der zweiten Gruppe sei. Am Anfang muss sie, so wie alle anderen Rebellen auch, Symons Anweisungen gefolgt sein. Wenn sie sich jetzt gegen Symon stellt, käme sie dann als meine Verbündete in Frage? Wenn Zeen mit ihr Kontakt aufnehmen könnte …
Nein. Zeen ist zwar klug, aber wenn er aufgewühlt ist, stürzt er sich häufig in blinden Aktionismus, noch ehe er die Dinge richtig bis zum Ende durchdacht hat. Er ist noch nicht lange genug bei den Rebellen, um die Eigendynamik zu durchschauen und richtig einzuschätzen, wem er vertrauen kann. Wer weiß schon, ob es da überhaupt jemanden gibt? Michal hatte geglaubt, dass Symon sein Vertrauen verdient. Genauso wie ich. Außerdem hat sich Zeen nicht der Auslese stellen müssen. Er weiß nicht, was sich währenddessen wirklich abspielt und wie entsetzlich sie in Wahrheit ist. Dies ist nicht sein Kampf. Er muss da weg.
»Du kannst fliehen, ohne dass dich jemand dabei beobachtet.« Das Lager, das die Rebellen benutzen, war eine alte Luftwaffenbasis, ehe sie von einem giftigen Tornado verwüstet wurde. Die Zerstörung war so gewaltig, dass die Regierung des Commonwealth jede Hoffnung darauf begrub, dieses Gebiet jemals zu revitalisieren. Aber obwohl das Land nicht gesund ist, sind dort Bäume und auch einige Büsche und andere Pflanzen gewachsen. Wenn sich irgendjemand in nicht revitalisiertem Gelände zurechtfinden und sich vor möglichen Verfolgern verstecken kann, dann ist das mein Bruder.
»Vielleicht. Und es könnte sein, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, wenn sich die Dinge wirklich so entwickeln, wie du sagst. Aber jetzt noch nicht. Jetzt bin ich erst mal hier. Vielleicht bringe ich irgendetwas Wichtiges in Erfahrung. Die Leute erwarten, dass ein Neuling Fragen stellt. Ich muss nur wissen, was für Antworten wir brauchen. Wenn es irgendeine Chance gibt …«
Ich warte darauf, dass Zeen weiterspricht, aber am anderen Ende bleibt es still. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich auf den Kommunikator in meiner Hand starre. Zeen muss jemanden kommen gehört haben. Hat er noch rechtzeitig aufgehört zu sprechen, oder ist er belauscht worden? Ich warte darauf, dass er mir ein Zeichen gibt. Irgendetwas, das mir verrät, dass er in Sicherheit ist.
Die Zeit verrinnt langsam. Eine Minute. Fünf. Zehn. Die Uhr quält mich. Meine Sorge wächst mit jedem Augenblick, der vergeht. Still umklammere ich das Gerät in meiner Hand und bete, dass mit meinem Bruder alles in Ordnung ist. Nur weil Michal von mir diese Aufnahmen bekam, musste er schließlich sterben. Ich kann nicht auch noch Zeen verlieren – das wäre ein weiterer Mensch, der aufgrund meiner Handlungen den Tod finden würde. Ein Teil von mir will loslaufen und Tomas suchen. Er war letzte Nacht bei mir, als ich Zeen zum ersten Mal unter den Rebellen entdeckte. Er würde mir garantiert helfen wollen. Aber so sehr ich mich auch danach sehne, Tomas in die Arme zu nehmen und mich auf ihn zu verlassen, so weiß ich doch auch, dass es kaum etwas gibt, was er tun könnte. Es geht ihm wie mir. Als Universitätsstudenten haben wir fast keine Kontrolle über die Welt rings um uns herum.
Aber es gibt jemanden, der in der Lage sein sollte, mir zu helfen. Michal war sich nicht sicher gewesen, ob wir ihr vertrauen können, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Jetzt nicht mehr. Zeen steckt mitten zwischen Rebellen, die bereit sind, die Waffen gegen Dr. Barnes und seine Unterstützer zu erheben. Bald schon wird die nächste Kandidatenriege für die Auslese ausgewählt werden. Mehr als hundert ehemalige Schülerinnen und Schüler werden zu Entscheidungen gezwungen werden, die jemandes Leben beenden – ihr eigenes oder das von anderen. Und wenn die Rolle, die ich bei Damones Tod gespielt habe, aufgedeckt wird, dann werde ich überhaupt nichts mehr unternehmen können. Dann werde ich nämlich tot sein. Das Schicksal, das viel zu viele vor mir ereilt hat, wird auch auf mich warten, wenn ich glaube, richten zu können, was aus dem Ruder gelaufen ist. Ich bin keine Anführerin unseres Landes. Aber die Präsidentin ist es. Es ist ihr Job. Nicht meiner.
Ich muss sie überzeugen, uns zu helfen.
Ich nehme eine braune Hose aus dem Schrank, die ich nach meiner Ankunft in Tosu-Stadt gekauft habe, und eine gut geschnittene gelbe Tunika mit silbernen Knöpfen. Dann putze ich meine bequemen, aber abgetragenen Stiefel, um sie möglichst ansehnlich erscheinen zu lassen. An den meisten Tagen binde ich meine Haare im Nacken zu einem tiefsitzenden, festen Knoten zusammen. Heute mache ich mir die Mühe, sie zu bürsten, bis sie glänzen, ehe ich sie in einer Art und Weise flechte, die meinen Vater immer hat jammern lassen, ich würde wie eine erwachsene Frau und nicht mehr wie sein kleines Mädchen aussehen. Ich hoffe, dass er damit recht hatte. Wenn mein Plan Erfolg haben soll, muss ich dafür sorgen, dass die Präsidentin mehr in mir sieht als nur eine Studentin. Sie muss eine Frau in mir sehen.
Dann rolle ich die blutigen Kleidungsstücke, die ich gestern getragen habe, zu einem festen Bündel zusammen und stopfe sie in meine Tasche. Auf keinen Fall werde ich versuchen, Damones Blut herauszuwaschen. Ich habe zwar fast nie Besuch in meinem Zimmer, aber ich will nicht riskieren, dass irgendjemand diese Anziehsachen sieht. Ich muss sie loswerden.
Schließlich greife ich unter die Matratze und ziehe die kleine Pistole hervor, die ich von Raffe bekommen habe. Das Gewicht in meiner Hand ist nichts im Vergleich zu dem Gewicht, das auf meiner Brust lastet. Auch in Five Lakes benutzen wir Waffen. Ich habe schon früh gelernt, eine Pistole zu entsichern, und Daileens Vater hat uns mit seiner eigenen Waffe das Schießen beigebracht; das war ungefähr zu der Zeit, als ich in der Schule das Multiplizieren und Dividieren erlernt habe.
Der Job meines Vaters erforderte es, dass wir in der Nähe seines Arbeitsplatzes wohnten, was bedeutete, dass wir am Rand des nicht revitalisierten Gebiets lebten, wo Wölfe auf der Suche nach Fleisch und andere mutierte Kreaturen herumstreiften. Mehr als einmal habe ich ein Tier verletzt oder getötet, das mich angreifen wollte. Aber wenn die Waffe, die ich jetzt in meinen Händen halte, jemals abgefeuert wird, dann wohl kaum auf ein Tier, das gerade nach Nahrung sucht.
Ich verstaue den Transit-Kommunikator in meiner Tasche, hänge mir den Riemen über die Schulter, gehe nach draußen und versperre sorgfältig hinter mir die Tür.
Es ist still auf den Gängen des Wohnheims. Die Studenten, an denen ich vorbeikomme, tuscheln leiser als gewöhnlich miteinander. Zweifellos geht es in ihren Gesprächen um das Verschwinden Damones. Als ich mich auf der Treppe an meinen Kommilitonen vorbeischiebe, halte ich den Blick auf den Boden geheftet, damit sie die Schuldgefühle in meinen Augen nicht sehen können. Bei jedem Schritt lausche ich unwillkürlich auf das Klicken des Transit-Kommunikators, das mir verrät, dass mit Zeen alles in Ordnung ist.
Als ich im Erdgeschoss angekommen bin, zwinge ich mich, mit langsamen, entschlossenen Schritten zur Vordertür zu gehen. Niemand soll mir die Angst anmerken, die ich verspüre, weil ich nichts von Zeen höre. Mit jedem Augenblick, der vergeht, bin ich überzeugter davon, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist. Als ich die Tür aufschiebe, schaue ich hinter mich, nur für den Fall, dass Raffe mich dabei beobachtet hat, wie ich die Treppe hinuntergestiegen bin, und mir gefolgt ist. Doch niemand ist da, und so trete ich hinaus in den nachmittäglichen Sonnenschein. Meiner Uhr nach zu urteilen habe ich noch zwei Stunden Zeit bis zum Abendessen. Wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, wird meine Abwesenheit auffallen. Aber ich muss es riskieren!
Ich straffe die Schultern und laufe um das Wohnheim herum zum Fahrzeugschuppen. Dabei vermeide ich jeden Blick auf die Stelle, an der Raffe und ich Damone über die Kante in den Abgrund gestoßen haben. Langsam hole ich mein Fahrrad heraus und halte nach jedem Ausschau, der mich beobachten könnte. Erst dann, als ich niemanden entdecke, schwinge ich mein rechtes Bein über den Sattel. Meine Füße treten in die Pedale. Die Sorge um meinen Bruder treibt mich vorwärts, obwohl mein Körper so müde und ausgelaugt ist. Die Räder rollen über die Brücke, die den sieben Meter breiten Spalt in der Erde überspannt, der das Wohnheim des Studiengangs Regierung vom Rest des Campus abtrennt. Erst als ich die Straße hinunterfahre, die zur Bibliothek führt, werfe ich noch einmal einen Blick zurück. Ich bin zu weit entfernt, um mir ganz sicher zu sein, aber ich meine, Griffin reglos auf der Brücke stehen zu sehen, von der aus er in die Dunkelheit der Schlucht hinunterstarrt. Ich wünsche mir, ich könnte Tomas suchen und ihn bitten, mich auf dieser Reise zu begleiten, aber natürlich geht das nicht. Ungewollt Aufmerksamkeit auf Tomas zu lenken ist das Letzte, was ich will. Ich drehe mich auf meinem Rad wieder zurück und fahre, so schnell ich kann, in der Hoffnung, Hilfe für meinen Bruder und mich selbst zu finden.
Ich radle unter dem metallenen Bogen hindurch, der mich vom Design her an das Armband an meinem Handgelenk erinnert, und das ruft mir in Erinnerung, dass mein Aufenthaltsort überwacht wird. Es ist den Studenten der Universität nicht verboten, den Campus zu verlassen, aber wenn ich zu weit wegfahre, dann werden sich Professorin Holt und Dr. Barnes mit Sicherheit nach meinen Gründen dafür fragen. Zum Glück habe ich als Praktikantin im Büro der Präsidentin guten Grund dafür, in meiner eingeschlagenen Richtung unterwegs zu sein.
Auf der anderen Seite des Bogentors mache ich halt, hole den Transit-Kommunikator aus der Tasche und schalte das Navigations-Display ein. Zwar bin ich schon mal auf diesen Straßen unterwegs gewesen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an die beste Route erinnere. Mit einem Stoffstreifen von meiner verschmutzten Kleidung binde ich den Kommunikator an meinen Lenker. Als er sicher befestigt ist, drücke ich einmal den Rufknopf. Dann noch einmal. Ein drittes Mal. Keine Antwort. Ich schlucke meine Enttäuschung hinunter und mache mich auf den Weg ins Stadtzentrum. Während ich fahre, stelle ich mir die Gesichter von Zandri vor, von Malachi, Ryme, Obidiah und Michal. Alle sind nach Tosu-Stadt gekommen, weil sie der Welt helfen wollten. Und alle sind jetzt tot. Ich muss verhindern, dass meinen Bruder dasselbe Schicksal erwartet.
Ich hoffe nur, dass ich nicht zu spät komme.
Kapitel 2
Ich nehme meine Umgebung kaum wahr, während ich im Zickzackkurs durch die Stadt radele und immer wieder prüfende Blicke auf die Anzeige des Kommunikators werfe. Während ich in die Pedale trete, gehe ich in Gedanken durch, was ich bislang weiß. Dass die Präsidentin Dr. Barnes’ Verhalten missbilligt, ist offensichtlich. Mir ist die gegenseitige Ablehnung auf den ersten Blick aufgefallen. Aber auch wenn die Präsidentin Dr. Barnes entmachten will, weiß niemand, ob sie hinterher den universitären Auswahlprozess nur verändern oder gänzlich beenden will. Die Methoden der Auslese sind ohne Frage entsetzlich, aber die Ergebnisse sprechen für sich. Das saubere Wasser, das wir trinken, und die Anzahl der Kolonien mit revitalisiertem Land beweisen, dass die Führungspersönlichkeiten, die in der Universität ausgebildet wurden, ihr Handwerk verstehen.
Kann man wirklich darauf vertrauen, dass die Präsidentin ein System verändern wird, das solche Ergebnisse hervorbringt? Ich weiß es nicht. Aber während der Wind an meinen Haaren reißt, wird mir klar, dass ich genau das herausfinden muss, wenn ich versuchen will, die Auslese zu beenden.
Die schmalen Straßen der Wohngebiete werden breiter und die Gebäude größer, als ich weiter ins Zentrum der Stadt vordringe. Über mir entdecke ich die privaten Gleiter von Leuten, die Geschäften nachgehen, welche auch an einem Sonntag ihrer Aufmerksamkeit bedürfen. Ich biege in eine andere Straße ein und sehe die auffälligen grauen Steintürmchen und den Uhrenturm des Baus, in dem die Büroräume der Präsidentin Anneline Collindar untergebracht sind.
Nachdem ich mein Fahrrad an einem Ständer in der Nähe des Eingangs abgestellt habe, öffne ich eine der beiden hohen Holztüren. Zwei Offizielle in schwarzen Jumpsuits kommen auf mich zu. Zwei weitere halten zu beiden Seiten der großen, oben gewölbten Tür die Stellung. Die Farbe ihrer Kleidung, ihre weißen Armbinden und die silbernen Waffen an ihren Hüften machen deutlich, dass es sich bei ihnen um Offizielle des Sicherheitsdienstes handelt. Nur diese dürfen im Innern des Regierungsgebäudes bewaffnet sein. Dieses Gesetz wurde nach den Sieben Stadien des Krieges erlassen, als sich die Menschen versammelten, um darüber zu beraten, ob eine neue Zentralregierung gebildet werden sollte. Es gab erbitterte Auseinandersetzungen über die Argumente dafür und dagegen. Viele glaubten, dass der letzte Präsident der Vereinigten Staaten, Präsident Dalton, und die anderen Anführer der restlichen Welt, die während der Stadien des Krieges die Macht innegehabt hatten, dafür verantwortlich gewesen waren, dass die Erde verseucht wurde und so viele Tote und solche Zerstörungen zu beklagen waren. Andere waren der Meinung, dass eine organisierte Regierung von grundlegender Bedeutung sei, wenn sich die Hoffnung auf eine Revitalisierung des Landes erfüllen sollte. Alle Bürger durften in der Debatte das Wort ergreifen; einige waren allerdings der Auffassung, dass Kugeln eine größere Überzeugungskraft besäßen als Worte. Und ebendiese Tatsache, dass Waffen abgefeuert wurden, ließ viele ursprüngliche Gegner einer neuen Regierungsbildung umschwenken; denn sie befürchteten nun, dass ohne eine solche Führung schon bald Gesetzlosigkeit herrschen würde. Das erste Gesetz, das nach dem Beschluss der Regierungsbildung erlassen wurde, verbannte alle Feuerwaffen aus der Etage des Plenarsaals. Zehn Jahre später wurde das Verbot auf alle Regierungsgebäude ausgeweitet.
Heute bin ich im Begriff, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ich es befolgen würde, dann müsste ich die Waffe abgeben, die ich von Raffe bekommen habe. Und das werde ich auf keinen Fall tun. Ich weiß nicht, wie die Präsidentin auf das reagieren wird, was ich ihr zu sagen habe, und so muss ich auf alles vorbereitet sein. Ich rücke den Träger der Tasche auf meiner Schulter zurecht und marschiere auf den Mann vom Sicherheitsdienst mit dem breiten Kreuz zu, der hinter einem kleinen schwarzen Pult steht. Ich nenne ihm meinen Namen und zeige ihm mein Armband. Als er nickt, straffe ich die Schultern und trete durch die Bogentür, die in das Büro der Präsidentin führt.
Seit Beginn meines Praktikums vor einigen Wochen habe ich herausgefunden, dass zwar einige wenige junge eifrige Angestellte der Präsidentin am Samstag und am Sonntag arbeiten, sie selber sich an den vom Vereinigten Commonwealth festgelegten Ruhetagen jedoch nur höchst selten auf den Fluren blicken lässt. Da die Präsidentin für Montag eine Sitzung einberufen will, erwarte ich, dass heute mehr Offizielle an ihren Schreibtischen sitzen. Und ich werde nicht enttäuscht. Auf den Gängen, durch die ich komme, um zum Büro der Präsidentin im ersten Stock zu gelangen, herrscht Hochbetrieb. Eine ungewohnte Anspannung liegt in der Luft; Offizielle stehen in Grüppchen um Tische herum und tuscheln mit gedämpften Stimmen. Einige sehen in meine Richtung, als ich an ihnen vorbeigehe, aber die meisten sind viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um mich zu bemerken. Ich durchquere ein großes Konferenzzimmer, in dem auf einer Tafel die geplanten Debatten für diese Woche verzeichnet sind. Zuständigkeit für Auslese und Universität steht in roten Buchstaben unter dem Datum des übernächsten Tages.
Schließlich gelange ich zu der großen weißen Tür des Büros der Präsidentin. Der Schreibtisch links an der Tür ist unbesetzt. Ich lege meine Hand auf den Türknauf und drehe ihn.
Verschlossen. Mein Klopfen an der Tür bleibt, wie erwartet, unbeantwortet. Das Büro ist leer.
Also mache ich mich wieder auf den Weg zurück zum Hauptflur und steige die eiserne Treppe zum zweiten Stock empor. Es ist Wochen her, seit ich zum ersten Mal hier hinaufgestiegen bin; seinerzeit folgte ich Michal. Für mich war es ein Schock gewesen, ihn hier anzutreffen. Er hatte so getan, als würde er mich nicht kennen, während er mich in dem Gebäude herumführte, das zu den ältesten in Tosu-Stadt gehört. Ich nehme die letzte Stufe und laufe dann langsam den Gang hinunter auf eine Flügeltür zu, die von zwei Offiziellen in Purpurrot flankiert wird. Von Michal erfuhr ich, dass diese Türen in die Privaträume der Präsidentin führen.
Ich wünschte, Michal wäre an meiner Seite, als ich mich an die Offiziellen wende und sage: »Ich habe eine Nachricht für die Präsidentin.«
Der Offizielle mit den dunklen Haaren rechts von mir runzelt die Stirn. »Die Präsidentin ist nicht im Haus. Sie können die Nachricht auf den Schreibtisch unten vor ihrem Büro legen. Dann wird morgen einer ihrer ranghohen Angestellten das Schreiben vorfinden.«
Ich verstehe die Worte genau so, wie sie gemeint sind: als Aufforderung zu verschwinden. Auch wenn die Tatsache, dass ich überhaupt ins Gebäude gelassen wurde, belegt, dass ich das Recht dazu habe, durch diese Flure zu laufen, kann kein noch so großes Selbstbewusstsein über mein junges Gesicht und meine geringe Körpergröße hinwegtäuschen. Das eine wie das andere verrät, dass ich eine Studentin bin, die keinerlei Veranlassung haben dürfte, der Anführerin des Vereinigten Commonwealth eine Botschaft zukommen zu lassen.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, der Präsidentin eine Nachricht zu übermitteln.« Ich schlage den festen, entschlossenen Tonfall an, dessen mein Vater sich immer bedient, wenn er mit Mr. Taubs darüber spricht, dass dessen Ziege mal wieder die neuen Schösslinge aufgefressen hat, die er in der Nähe seines Hofes gepflanzt hat.
»Die gibt es«, räumt der Mann zu meiner Linken ein.
Ehe er mich zum Gehen auffordern kann, sage ich: »Mein Name ist Malencia Vale. Ich bin die Praktikantin der Präsidentin. Präsidentin Collindar bat mich vor einigen Wochen, mit ihr über ein bestimmtes Thema zu sprechen. Jemand möge ihr bitte mitteilen, dass ich hier bin und die Angelegenheit jetzt gerne diskutieren würde.«
»Die Präsidentin wird wohl kaum …«
Der grauhaarige Offizielle hebt eine Hand und blockt die unwirschen Worte seines Partners ab. Ruhig sagt er: »Ich werde veranlassen, dass Ihre Nachricht übermittelt wird, und hoffe für Sie, dass sie so wichtig ist, wie Sie glauben. Wenn nicht, werden Sie feststellen, dass Ihre Fehleinschätzung Konsequenzen haben wird. Sind Sie bereit, dieses Risiko einzugehen?«
Konsequenzen. Ich weiß, was der Preis ist, den Dr. Barnes für eine schlechte Entscheidung fordert. Ob die Präsidentin ebenfalls auf einem solchen »Preis« besteht? Ich arbeite noch nicht lange genug in diesem Büro, um seine Geheimnisse zu kennen, aber ich weiß, dass Michal Präsidentin Collindar nicht uneingeschränkt vertraut hatte. Das tue ich genauso wenig, aber ich brauche nur an Tomas und all die anderen zu denken, deren Leben in Gefahr sein könnte, um zu wissen, dass ich jeden Preis bezahlen werde, wie hoch auch immer er ausfallen mag.
Mein Nicken reicht dem grauhaarigen Offiziellen, der daraufhin durch eine kleine Tür links von ihm verschwindet. Als er zurückkommt, sagt er: »Ich habe Ihre Nachricht überbracht. Sie sollen hier warten.«
Worauf, verrät er mir nicht. Auf die Präsidentin? Auf Offizielle, die entschieden haben, dass mein Verlangen unangemessen war? Das Einzige, was ich mit Gewissheit sagen kann, ist, dass meine Bitte um ein Gespräch mit der Präsidentin nicht unbemerkt geblieben ist. Jüngere Offizielle, die ich in den vollgestopften Büroräumen in den oberen Etagen habe arbeiten sehen, flüstern miteinander, während sie zu zweit und zu dritt die Treppe herunterkommen. Sie tun so, als ob sie irgendetwas zu erledigen hätten, doch die Blicke, die sie in meine Richtung werfen, verraten den wahren Grund, warum sie hier sind. Ich höre einen von ihnen wispern, er hoffe für mich, dass ich weiß, was ich tue.
Ich hoffe das ebenfalls. Je mehr Leute vorbeilaufen, desto sicherer bin ich mir, dass es sich auch außerhalb dieses Gebäudes herumsprechen wird, dass ich um eine Unterredung mit der Präsidentin gebeten habe. Michal hatte seinen Job in diesem Büro durch Symons Verbindungen zur Regierung bekommen. Er war von Symon hier untergebracht worden, um die Präsidentin im Auge zu behalten und über ihre Pläne informiert zu sein. Allerdings bezweifle ich, dass Michal der einzige Informant war, der mit dieser Aufgabe betraut war.
Ich kämpfe gegen den Drang an, hin und her zu laufen, halte den Blick starr nach vorne gerichtet und hoffe, dass man mir nicht am Gesicht ablesen kann, wie aufgeregt und nervös ich bin.
Es kommt mir vor, als seien Stunden vergangen, bis endlich am oberen Ende der Treppe eine dunkelhaarige Frau erscheint, in zeremonielles Rot gekleidet. Sie wirft mir einen nachdenklichen Blick zu, ehe sie dem Offiziellen mit dem grauen Haar eine Notiz übergibt. Dieser liest sie, nickt und kommt zu mir herüber. »Hier entlang.«
Er begleitet mich bis zu den Flügeltüren, die in die Privatquartiere der Präsidentin führen, öffnet sie, tritt einen Schritt zurück und sagt: »Sie sollen in diesem Raum warten. Man wird Sie holen kommen, wenn sie so weit sind.«
Noch ehe ich fragen kann, wer »sie« sind, schiebt mich der Offizielle in ein kleines Vorzimmer hinein. Hinter mir schließen sich die Türen. Das gedämpfte Licht und die grauen Wände verleihen dem Raum eine düstere Atmosphäre. Unmittelbar vor mir befindet sich eine weiße Tür. Der silberne Türknauf ist auf Hochglanz poliert.
Das weckt eine vage Erinnerung in mir. Sechs weiße Türen mit weißen Knäufen. Auf fünf von ihnen sind schwarze Nummern zu lesen. Die sechste ist der Ausgang. Die Tür hier in diesem Vorzimmer ähnelt jenen, vor denen ich während des dritten Teils der Auslese gestanden hatte. Der damalige Test diente nicht nur dazu, unsere jeweiligen intellektuellen Fähigkeiten zu beurteilen, sondern sollte auch unsere Fähigkeit abprüfen, die Stärken und Schwächen unserer Teamkameraden richtig einzuschätzen.
»Malencia Vale.« Eine weibliche Stimme ertönt aus einem kleinen Lautsprecher in der Wand. »Sie dürfen jetzt eintreten.«
Ich lege meine Hand auf den Knauf und hole tief Luft. Während der Auslese hatte ich ebenfalls eine Entscheidung treffen müssen, nämlich die, ob ich durch eine der Türen treten und mich der dahinter auf mich wartenden Prüfung stellen oder lieber darauf verzichten und einfach durch den Ausgang verschwinden sollte. Ob ich daran glauben wollte, dass meine Teammitglieder mit mir am gleichen Strang ziehen, oder ob ich es vorzog, davon auszugehen, dass einer uns betrog und keineswegs auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitete. Während der Auslese hatte ich den Ausgang genommen. Heute drehe ich den Knauf und trete ein.
Niemand ist da.
Der große Raum ist in einem sonnigen Gelb gestrichen. Auf einer Seite steht ein langer schwarzer Tisch, auf der anderen Seite befindet sich eine Sitzgruppe mit blaugepolsterten Sesseln vor einem knisternden Feuer. Rechts davon entdecke ich eine geschlossene Tür.
Ich öffne meine Tasche, schalte den Transit-Kommunikator aus und lasse mich in einen der Sessel sinken, als sich die Tür öffnet und Präsidentin Collindar würdevoll hereinmarschiert. Sie wirkt größer als sonst, und ihr strenger schwarzer Haarschnitt fordert ebenso Aufmerksamkeit ein wie ihr taillierter roter Blazer. Sie nickt, um mir zu bedeuten, dass sie mich gesehen hat, dann dreht sie sich um und spricht mit jemandem, der hinter ihr in der Tür steht. »Ich habe Ihnen alle Informationen gegeben, die ich habe. Ich hoffe, Sie werden rechtzeitig fertig sein.«
»Sie können mir vertrauen«, erwidert eine männliche Stimme.
Mir stockt der Atem, als ein grauhaariger Mann eintritt und mir ein breites Lächeln zuwirft. Das gleiche Lächeln habe ich an jenem Morgen auf dem Gesicht eines Mannes gesehen, nur einen Augenblick, bevor er den Abzug betätigte und Michals Leben beendete. Ein Lächeln, das zu dem Rebellenführer gehört – Symon Dean.
Metall blitzt auf, als sich sein Mantel bewegt. Er trägt eine Waffe, vermutlich dieselbe, mit der er Michal ermordet hat. Sein Blick sucht den meinen, und ich spüre ihn in mich dringen, ebenso wie bei unseren früheren Treffen. Wir sind uns nur zweimal begegnet, während der vierten Phase der Prüfung, in der er mir etwas zu essen und Wasser gab. Diese Hilfe ließ er mir damals zukommen, um den Rebellen ein Siegesgefühl zu vermitteln und sie von der Idee abzubringen, dass sie die Auslese viel besser auf eigene Faust beenden könnten. Doch eigentlich sollte ich diese Erinnerungen nicht haben. Jedes Zeichen des Wiedererkennens würde als Hinweis darauf gedeutet werden, dass meine Erinnerungen an die Auslese zurückgekehrt sind.
Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Dann schlucke ich meinen Zorn und die Furcht hinunter und zwinge mich zu einem Gesichtsausdruck von liebenswürdigem Interesse. Es vergehen nur Sekunden, aber es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis Symon seine Aufmerksamkeit von mir ab- und wieder der Präsidentin zuwendet. »Alles wird bereit sein, aber ich bin noch immer der Meinung, dass Sie die Debatte verschieben sollten.« Ich versuche, mir meine Überraschung angesichts seiner Worte nicht anmerken zu lassen, während er und die Präsidentin weiter in den Raum hereinkommen. »Sicherlich werden viele eine Verschiebung als ein Zeichen von Schwäche auffassen, aber die zusätzlichen Tage, die wir dadurch gewinnen, werden uns die Möglichkeit verschaffen, mehr Stimmen zu sammeln. So, wie es im Moment aussieht …«
Die Präsidentin hebt eine Hand und schüttelt den Kopf. »Es gibt schon jetzt Unterstützer, die ins Schwanken gekommen sind. Ein Aufschub könnte sie dazu bringen, ihre Meinung endgültig zu ändern. Es sei denn, Sie können mir die Garantie dafür geben, das zu finden, was ich benötige …«
»Aber Sie wissen doch ganz genau, dass eine Garantie unmöglich ist.«
»Was bedeutet, dass die Debatte wie geplant vonstattengeht. So oder so: Am Ende der Woche werde ich den Sieg bekannt geben.«
»Dann haben wir noch viel zu besprechen.« Symon stößt einen schweren Seufzer aus, aber ich glaube kaum, dass ich mir das triumphierende Glitzern, das ich in seinen Augen sehe, nur einbilde. Indem er suggerierte, die Präsidentin könnte an politischem Einfluss verlieren, wenn sie die Debatte im Parlament verschieben sollte, hat er dafür gesorgt, dass sie jeden Gedanken daran weit von sich weist. Er ist klug. Aber ich hoffe, sie ist noch klüger.