Die Axt im Wald - Peter Natter - E-Book

Die Axt im Wald E-Book

Peter Natter

4,9

Beschreibung

Es regnet und regnet. Als es endlich aufhört und sich die Nebel auf der Pfingstgunten-Alpe im Bregenzerwald lichten, ist der Senn tot - er liegt mit gespaltenem Schädel im Sennkessel. Inspektor Isidor Ibele von der Kripo Bregenz macht sich auf den Weg. Der ländlichen Idylle traut er ebenso wenig wie der aufgetakelten Masseuse und den geschäftstüchtigen Käsehändlern. Dann schlägt der Axtmörder ein zweites Mal zu. Jetzt braucht's einen doppelten Mokka in der "Krone" und jede Menge Ibelescher Finessen. Peter Natter ist ein Meister der authentischen Darstellung von Ländle und Leuten und überzeugt mit sympathischen Figuren, trockenem Humor, großer sprachlicher Kunstfertigkeit und Krimi-Spannung pur. ***************** Kriminalfälle mit Inspektor Ibele • Die Axt im Wald • Ibeles Feuer • In Grund und Boden • Die Tote im Cellokasten • Mord unterm Hirschgeweih ***************** "ein kurzweiliger und lebhafter Ausflug nach Vorarlberg" Die Presse, Duygu Özkan

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Peter Natter

Die Axt im Wald

Eine Erzählung aus dem Bregenzerwald

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Älplerleben und Bauernsterben
Rot wie Blut
Inspektor Ibele interveniert
Ach wie gut …
Sagenhaftes und Superkluges
Kurven, Mumien und wahre Eleganz
Hormone, Hausbesuche und Debreziner
Kopfnuss und Haussulz
Alles Gute kommt von oben
C’est la vie
Slow-food, Schulfreunde und ein Geisterschiff
Alma mater culinaria
Von Waldläufern, Käsgrafen und Singvögeln
Peter Natter
Zum Autor
Impressum
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Ich widme diese Erzählung in Verehrung und Dankbarkeit  Frau Univ.-Prof. Dr. Erika Kanduth. Sie hat mich das Handwerk des Lesens und Sehens gelehrt und eine überreiche Saat an Reflexionen ausgebracht, nicht zuletzt jene Einstellung Piovenes, dass das Gute nur aus dem Bösen hervorgeht.

… ein Buch muss die Axt sein für  das gefrorene Meer in uns.

Franz Kafka, Briefe

Sämtliche Personen der Handlung sind frei erfunden und lediglich der Fantasie des Autors entsprungen. Ähnlichkeiten mit Lebenden und Toten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Älplerleben und Bauernsterben

Ich bin meinem Selbstverständnis und Anspruch  nach die Axt und nicht die Salbe.

Robert Menasse, Permanente Revolution der Begriffe

Tief hängt mit schwarzem Gewölk und voll mit grauen Nebelschwaden der Himmel über dem Land. Seit fast einer Woche haben wir schlechtes Wetter. Dauerregen Tag und Nacht. Man schreibt den 12. Juni 2009, ein Freitag. Sollte etwa die Regenzeit angebrochen sein? Aber wir sind ja nicht in irgendeinem Monsunland. Wir sind im Bregenzerwald, da müsste man sich doch wenigstens auf den Himmel verlassen können, oder? Dass es aber auch gar nicht mehr aufhören will zu regnen! Wie kalt es überdies geworden ist, mitten im Juni! Schafskälte nennt man’s zu Recht! Wer will schon solche Temperaturen um diese Jahreszeit? Kein Mensch! Die Hochzeit der Nassen Sophie, auf die ja auch niemand wirklich scharf ist, liegt schon ein paar Wochen zurück. Dieser verspätete Auftritt kann ihr kaum etwas anderes eintragen als eine schwere Rufschädigung. Was für Wetterheilige jedoch kein allzu großes Problem darstellen dürfte. Außerdem haust ein frommes Volk in diesem Tal und zwischen diesen Bergen. Man gibt den Heiligen und anderen angehimmelten Autoritäten bereitwillig, was ihnen zusteht; untereinander ist man dann dafür ein wenig heikler. Jetzt aber ist es eindeutig genug: Der Regen fällt monoton und gleichmäßig auf die Wiesen, Wälder und Bergzüge, die sich links und rechts der Bregenzerach ausbreiten. Die Flüsse und Bäche schwellen bedenklich an, das Gras klebt nass am aufgeweichten Boden. Unwillig heizen die Menschen die Öfen in ihren holzgetäfelten Stuben und Wohnküchen ein und werden grantiger und grantiger. Noch dazu tauchen aus den schlammigen, braunen Fluten unschöne Erinnerungen auf an das verheerende Hochwasser vor vier Jahren. Damals standen nicht wenige mit ihren kleinen Betrieben am Rande des Ruins, ganz zu schweigen von dem Dreck und den Schäden in den überfluteten Häusern. Zwar floss das Wasser bald wieder ab und dann einiges an öffentlichem Geld nach; zudem konnte dank großzügiger privater Hilfsbereitschaft das Ärgste verhindert werden. Der nachträgliche und nachtragende Streit um Bebauungspläne und Unterstützungen hat später dennoch tiefe und bleibende Gräben in den betroffenen Gemeinden aufgetan.

Dabei hat das Jahr heuer so schön angefangen. Ein langer schneereicher Winter mit Neuschnee bis in den März hinein. Es war fast schon ein richtiger Winter, so wie früher. Das ließ die Gastronomen, Hoteliers und Tourismusmanager weit über Weihnachten hinaus jubilieren und frohlocken. Sie sind unbestritten die tonangebenden Meinungsmacher der Region und ein verlässliches Stimmungsbarometer, wenn es Krisen anzuzeigen gilt. Nach Ostern folgte dann eine über Wochen andauernde warme und trockene Zeit, sodass rechtzeitig zum Frühlingsbeginn der Schnee auf den Feldern schmolz wie die frische Maiwiesenbutter in der gusseisernen Pfanne auf dem Herdfeuer. Ende April leuchteten die Wiesen bereits in saftigem Grün und die Bauern machten sich nach einem langen Dornröschenschlaf mit neuen Kräften an die Arbeit. So bald wie lange nicht mehr ist man mit dem Vieh auf die Sommerweiden, die Alpen, gezogen.

Heute ist das schon wieder so gut wie vergessen, zumindest hier heroben auf Pfingstgunten, gut 1000 Meter über dem Meer. Schwerfällig kriechen seit Tagen die regenschweren Wolken über die steilen Hänge und dicke Nebelfetzen hängen in den Wipfeln der zerfledderten Tannen. Krähen segeln rastlos mit zornigem Geschrei durch die Luft. Die Kühe stehen triefend vor Nässe in den zermatschten Feldern, sie waten im knöcheltiefen Morast und glotzen noch verständnisloser als sonst gen Himmel. Mit heiserem Brüllen muhen sie sich weiß der Teufel was aus den dicken Leibern. Menschen sind keine zu sehen. Die Wanderer in ihren rotkarierten Hemden bleiben heute im Tal.

Für den Senn auf Pfingstgunten ist es dennoch beinahe ein Tag wie jeder andere. Nur eben das viele Wasser nervt ihn mehr und mehr, es versaut ihm die Quellen und das Vieh mag bald die trübe Brühe nicht mehr saufen. Aber da ist nichts zu machen. In der für die Bewohner der Region typischen Art verrichtet Lässer sein Tagewerk. Eine Mischung aus unerschütterlicher Ruhe, Fatalismus und im fruchtbaren Boden verankerter Gläubigkeit beherrscht die Menschen seit Jahrhunderten. Fest verharren sie im Althergebrachten, Gewohnten, Übernommenen. An der Oberfläche ergibt das einen ausgeglichenen, festen Charakter; darunter aber kann es ganz schön brodeln und unruhig werden, was nicht zuletzt die lange Reihe jener belegt, die ihr Glück in der Ferne gesucht und wohl nur allzu selten gefunden haben.

Auch das Feuer unter dem kupfernen Sennkessel scheint gegen die Feuchtigkeit zu rebellieren. Oder hat Lässer wieder ein paar nasse Prügel erwischt? Es ist schon neun Uhr, langsam sollte die Milch auf ihre Temperatur kommen. Um halb zwölf möchte er den Käse in der Presse und die Sennsuppe auf dem Tisch haben. Der Sägewerksbesitzer Fetz vom Bodensee hat sich wieder einmal angesagt. Er ist ein schrulliger Kerl, ganz versessen auf dieses Molkezeug, Stammgast seit Jahren. Für ein paar Teller Suppe und ein ordentliches Stück vom alten Käse nimmt er den beschwerlichen Weg hierher auf sich, lässt auch immer ein schönes Trinkgeld liegen, da kann man sich schon ein wenig nach ihm richten.

Pfingstgunten ist eine der letzten Alpen, auf die kein Güterweg führt, die also nicht per Geländefahrzeug für Hinz und Kunz erreichbar sind. Die wackelige Material­seilbahn mag der Senn nicht einmal seinen kostbaren Käselaiben oder im Frühsommer den Ferkeln und noch weniger im Herbst den fett und fleischig gewordenen Alpsauen gerne zumuten.

Die Arbeitsweise auf Pfingstgunten hat sich im Lauf der Zeiten kaum geändert. Strom gibt es keinen; das hinter der Hütte installierte Dieselaggregat hat Kurt Lässer nach zwei Sommern wieder abtransportieren lassen. Krawall und Gestank braucht er auf seiner Alpe sicher nicht! Nicht einmal die so pingeligen wie hirnrissigen Vorschriften der Brüsseler EU-Behörden konnten den Alltag auf Pfingstgunten verändern. Ein paar Quadratmeter weiße Kacheln im sogenannten Milchraum, einem winzigen Verschlag neben dem Stall, hat sich Lässer von seinem alten Kumpel Paul verlegen lassen. Das ist bis heute das einzige Zugeständnis an das vereinte Europa. Mit der Forderung nach Ersatz der alten hölzernen Arbeitsgeräte und Gefäße durch Kunststoff- und Edelmetallzeug konnten sich die EU-Bürokraten hier nicht durchsetzen. Nicht von ungefähr haben sich schon andere die Zähne ausgebissen an der Sturheit der Wälder, an ihrem dickschädeligen und querköpfigen Selbstbewusstsein, das man heute zeit- und marktgemäßer lieber Qualitätsbewusstsein nennt.

Haben nicht die Krumbacher Weiber, furchterregende Furien, deren Frömmigkeit es spielend mit der moslemischer Mujaheddin aufnehmen kann, vor zweihundert Jahren Napoleons bayrische Söldner und den königlichen Abgesandten an ihrer Spitze mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagt? Hat nicht im Dreißigjährigen Krieg ein Trupp wildgewordener Eggerinnen in weißen Kutten mit Sensen und Gabeln einer Truppe marodierender Schweden den Garaus gemacht, drunten an der Roten Egg, anno 1647? Ist die Rote-Egg-Geschichte auch kaum mehr als eine unbewiesene Sage und sind die Vorderwälder Weiber, von den meisten Geschlechtsgenossinnen, von ihren Männern sowieso und von der Obrigkeit schmählich im Stich gelassen, schließlich um Begnadigung winselnd vor dem bayrischen König und seinen subalternen Statthaltern zu Kreuze gekrochen: Man hält sich hier gerne an diese Geschichte. Treu und auch ein klein wenig narzisstisch hegt und pflegt man den Mythos von der autonomen, selbstbestimmten Wälder­republik, als handle es sich um ein freies gallisches Dorf inmitten der bösen römischen Provinzen. Nur (fast) ohne Zaubertrank. Und einen wahren Kern werden die Erzählungen ja wohl haben. Dafür sprechen nicht zuletzt die bodenständigen Typen wie Lässer, oder?!

Kurt Lässer wirft einen Blick aufs Thermometer; die Temperatur passt endlich, er schneidet mit dem schartigen Taschenmesser, ein Erbstück vom Vater, das getrocknete Kälberlab in feine Scheibchen. Die lässt er behutsam in die Milch gleiten. Nach fünfzehn Alpsommern hat er die richtige Menge genau im Gefühl. Ja, fünfzehn Sommer sind es. Damals, im 1994er Jahr, als sein bis dahin so fraglos funktionierendes Leben völlig aus dem Ruder zu laufen begann, hat er seinen Dienst als Leiter des Käselagers in der Alma, der großen Käsereigenossenschaft, aufgegeben. Kurz zuvor war die Scheidung von seiner Frau über die Bühne – die Schmierenkomödienbühne! – gegangen. Die Ingeborg hatte ihn über Monate hinweg regelrecht zum Haus hinausgeekelt. Da könne sie sich ja gleich einen Bergkäse ins Bett legen, der habe mindestens so viel Sex-Appeal wie er und der Geruch wäre auch nicht viel anders, hat sie gelästert. Dafür könne man wenigstens hineinbeißen, ohne eine Blut- und Alkoholvergiftung zu riskieren! Sex-Appeal!? Lässer brauchte das Wort nicht zu verstehen, um zu wissen, dass er damit nie punkten würde oder auch nur punkten wollte.

Dabei war der Lässer Kurt einmal eine Institution gewesen und von vielen beneidet. Seinen Job hätte so mancher gerne übernommen. Aber nicht nur beneidet wurde er. Unbestritten blieben stets seine fachlichen Qualitäten. Im Sommer war er ständig unterwegs auf den Alpen, kannte Gott und die Welt, sein Wort hatte Gewicht, er bestimmte die Qualitätsstufe und damit den Preis des Alpkäses. Natürlich fehlte es dem Kurt nie an einem kleinen Kniff, wenn es galt, auf den Alpen ein Zubrot zu verdienen: da ein paar Kilo mehr anzuschreiben, dort die Qualität ein wenig auf- oder abzuwerten. Am liebsten aber begleitete er Exportlieferungen nach Italien hinunter oder hinauf an die Nordsee; mit dem Lkw nach Mailand, Genua, Hamburg. Das war doch immer ein Spaß gewesen, unter Männern, versteht sich! Es ist lange her. Der Umzug aus dem schönen, in ungezählten Stunden erbauten Heim in den verlassenen Hof seiner längst verstorbenen Eltern war dann nur mehr eine Formsache, aber eigentlich nicht einmal das. Bei Nacht und Nebel packte er seine Siebensachen und räumte das Feld. Soll sie glücklich werden mit dem Hosensch…, den sie sich da angelacht hat im Rheintal draußen, hoffentlich riecht der wenigstens besser! Viel Gutes hat er ja inzwischen nicht gehört von den beiden! Aber wenn der Ingeborg blaue Flecken lieber sind als ein bisschen Käsemief, na bitte!

Gedankenverloren schaut Lässer in den Kessel, in dem das Lab seine wohl abgewogene Wirkung tut. Da kann er sich für ein paar Minuten verabschieden und steigt in den Keller hinunter. Auch hier hat sich wenig geändert in den vergangenen Jahrzehnten. Die Falltür im Küchenboden ist noch das Stabilste an der ganzen Geschichte. Die schiefen, abgetretenen Tritte der Holzstiege, die in den niedrigen, dumpfen Keller hinunterführen, sind wenig vertrauenerweckend. Aber auch heute schafft es Lässer wieder nach unten und steht auf dem plattgetretenen nackten Erdboden. Die Petroleumlampe hängt er an den Deckenhaken, ihr mattes Licht flackert unruhig. Der modrige, leicht stechende Geruch steigt Lässer heftig in die Nase. Er geht den schmalen Gang zwischen den Regalen mit den frischen Käselaiben bis ganz nach hinten. Dort liegt ein guter halber Laib. Davon schneidet Lässer ein ordentliches Stück ab, für seine Käsnudeln am Mittag. Der Käse ist vom vergangenen Jahr, scharf und würzig. So einen bekommst du nirgends zu kaufen, und, wie der Vater immer zu sagen pflegte, gehen kann er auch schon bald. Zwei oder drei Laibe bleiben über den Winter immer hier heroben auf Pfingstgunten; Lässer steigt dann regelmäßig herauf und pflegt sie sorgfältig. Die Mäuse vertreibt die Winterkälte oder sie enden in den Mausefallen. Bevor er die Stiege wieder hinaufklettert, angelt sich Lässer aus einer wurmstichigen Kommode eine grüne Zweiliterflasche hervor. Die Geheimreserve. Er nimmt einen langen Schluck. Der Obstbrand strömt wild brennend die Gurgel hinunter. Was will man sonst tun bei der Kälte, um die Grippeviren in Schach zu halten! Oder gilt es die Einsamkeit abzuwehren?

Droben knallt er den Käse auf den Küchentisch. Dann wirft er einen langen Blick aus dem Fenster in die graue Suppe draußen. Kein Mensch weit und breit. Nur Nebel kriecht aus dem Tal herauf. Das Vieh hat sich auf der Bergseite unter ein paar vereinzelte Bäume verzogen. An solchen Tagen könnte ihn das Leben hier heroben fast verelenden. Warum kann er nicht unten im Tal bei den andern sein? In einem warmen Büro sitzen und ein regelmäßiges Leben führen? Am Abend ein wenig fernsehen, mit seiner Lilli schmusen – einem echten Milchmädchen übrigens, da geht sogar Lässers simple Rechnung auf – und später im weichen Bett friedlich einschlafen?

Bis vor zwei Jahren blieb er über die Wintermonate als Milchwagenfahrer und Hausmeister zeitweise im Dienst der Alma. Als die Alma schließlich vor zwei Jahren das Handtuch warf und sich von der übermächtigen Privatkäserei Rapp aufkaufen ließ, hat er sich verabschiedet. Das berühmte Beschte Eck vom Käs fiel bei der Übernahme zwar nicht für alle gleich fett aus. Auch Kurt Lässer musste zu einem nicht ganz sauberen Deal greifen, um doch noch kräftig mitzunaschen. Dazu hat er den Bechter, diesen komischen Deppen aus dem Vorderwald, so richtig übers Ohr gehauen. Der Bechter ist eine auf den ersten Blick schräge, an sich aber völlig harmlose Gestalt, ein Maurer, Hilfsarbeiter in einer Bregenzer Baufirma. Beim Militärdienst haben sie sich kennengelernt. Eine windige Clique, eine Zufallsseilschaft ist es schließlich gewesen, die den Bechter mächtig zahlen hat lassen. Der war, was sich in den klatschsüchtigen und hellhörigen Dörfern des Bregenzerwaldes schnell herumgesprochen hatte, durch eine Erbschaft zu einem kleinen Vermögen gekommen. Wozu braucht einer aber auch dermaßen viel Geld, wenn er so saublöd ist! Zum Versaufen sicher nicht! Lässers Anteil ruht seitdem auf einem wohl gehüteten Raiffeisen-Sparbüchlein zuunterst im Stubenkasten. Daran wird sich weder seine Alte, also die Ex-Alte, noch der Herr Sohn vergreifen, dafür ist per Losungswort gesorgt! Kaspanaze, so lautet es, denn der Typ hatte es ihm damals angetan: ist mit Stricksocken, Stallkleidung und einem Stück Bergkäse in den Landtag eingezogen! Das waren noch Zeiten! Wo sind sie geblieben? Lässers Sohn, das Nebenprodukt einer feuchtfröhlichen und allzu freizügig interpretierten Betriebsbesichtigung bei der schönen Annabell auf ihrer Ziegenalpe, sein Sohn bekommt das Sparbuch sicher nicht. Er hat ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Der feine Pinkel, der Herr Uhrmacher in Paris, schämt sich wohl für seinen Vater!

Nur, im Moment und gegen diesen Regen bringen ihm alle Sparbücher der Welt nichts. Denn jetzt heißt es rühren. Tief über den kupfernen Kessel gebeugt rührt Lässer mit der Harfe die dickgelegte Milch. Der Regen trommelt gleichmäßig auf das dünne Blechdach, ein loser Fensterladen klappert im böigen Wind, das Feuer prasselt endlich munter unter dem Kessel, ein wenig wohlige Wärme streicht um Lässers Beine. Aus dem kleinen Transistorradio auf dem hölzernen Bord über dem Tisch mit der mächtigen Eichenplatte plärren alte Schlager. Sentimentalität macht sich breit: »Griechischer Wein«, »Mamma mia«, »Er hat ein knallgelbes Gummiboot«. Das bringt Lässer wieder zurück in die Gegenwart. Das werde ich auch bald brauchen, wenn es noch lange so weiterregnet, denkt er sich. Geistesabwesend stiert er in die weißlich-gelbe feinkörnige Flüssigkeit vor sich, den Bruch. Ein paar Grad fehlen immer noch bis zur richtigen Temperatur. Also noch ein paar Prügel nachwerfen und weiterrühren. Es fühlt sich an für Lässer, als rühre er sein Leben um und um und um …

Rot wie Blut

Zur gleichen Zeit tritt ein kleines Männlein aus dem dichten Tannenwald unterhalb der Hütte heraus, späht über die letzte Geländekante, wittert nach links und rechts. Da ist niemand. Wer sollte auch? Und wenn schon! Jetzt ist es zu spät. Zurück geht er sicher nicht mehr!

Gestern spätabends ist er in Hittisau als einziger Fahrgast aus dem letzten von Bregenz kommenden Postbus gestiegen. Das ist nicht weiter auffällig. Er wohnt zwar weiter draußen im Tal, fährt aber immer wieder auf dieser Strecke. Viel weiß niemand von dem Kauz. Ein Einzelgänger, abweisend und wortkarg, doch nicht einmal die Kinder fürchten sich vor ihm. Auf seinem mächtigen kantigen Kopf sitzt der scheinbar unverrückbare, einst grüne, jetzt völlig verwitterte Sepplhut, ein kohlschwarzer, wilder, unbezähmbarer Bart verschattet das Gesicht, buschige Brauen wuchern über den vermoosten Augen, verfilzte Haarsträhnen stechen in die knochengelbe niedrige Stirn, ein breiter verkniffener Mund und blutleere Lippen erzählen mehr, als sie je mit Worten zu sagen vermöchten. Wie immer hängt die abgewetzte Tasche mit dem verblichenen Namen einer bekannten Baufirma um seine Schultern. Die dünnen Beine stecken in schweren ledernen Bergschuhen. Ein viel zu weiter grauer Lodenumhang verleiht ihm zusätzlich ein gnomenhaftes Aussehen. Schwerfällig und grußlos stolpert er ungeschickt aus dem Bus und verschwindet im Handumdrehen hinter dem Postamt in der stockdunklen Nacht. Auf dem Weg, den er dann einschlägt, um den Hittisberg herum, in weitem Bogen an Sibratsgfäll vorbei und dann der wild tosenden ­Subersach entlang, begegnet ihm in dieser Nacht und bei dem Wetter garantiert kein Mensch. Weit nach Mitternacht legt sich das Männlein in das halb verschimmelte alte Heu in einer der primitiven Holzhütten zwischen Fluss und Wald. Aus seiner Tasche holt er ein großes Stück dunkles Brot, zerpflückt es in kleine Bissen und kaut lange darauf herum. Danach nimmt er eine Flasche Bier aus der Tasche, öffnet sie mit den Zähnen, trinkt sie ohne abzusetzen halb leer. Vorsichtig tastend überprüft er den Inhalt der Tasche, nickt zufrieden, legt sie sich als Kissen unter den Kopf und schläft bald ein.

Als die grautrübe Morgendämmerung unmerklich in den Tag übergeht, erhebt sich das Männchen von seinem Lager. Er trinkt die angebrochene Flasche leer, wieder in einem langen Zug, stopft sich ungeduldig das restliche Brot in den Mund, hängt sich die Tasche um. Er tut das nicht, ohne noch einmal mit den Fingerspitzen ihren Inhalt geprüft zu haben. Das geschieht mit einer Behutsamkeit, fast Zärtlichkeit, die seltsam von seinem rohen, verwilderten Äußeren absticht. Dann macht er sich auf den Weg nach Pfingstgunten. Allzu weit ist es nicht mehr. Es regnet und regnet.

Das letzte Stück, kaum hundert Meter über zertrampelte Wiesen, steigt er nun bedächtig Schritt für Schritt setzend auf die kleine, windschiefe und altersschwache, in den steilen Hang hinein gebaute Hütte zu. Aus dem schmalen Kamin quillt dunkler Rauch, den die grauen Nebelschwaden vor sich hertreiben und bald aufgesaugt haben. Die Gestalt mit dem Sepplhut erreicht unbemerkt den seitlich gelegenen Eingang, schlüpft vorsichtig aus den schweren Schuhen, steht mit bloßen, löchrigen Wollsocken auf den rohen Brettern des kleinen Schopfs. Linkerhand ist die Tür in den niedrigen Stall weit offen, ein paar Schweine grunzen im Traum, der schwere Ackergaul stampft in seiner engen Box. Die Tür in die verrußte Küche ist angelehnt, der Senn steht im Halbdunkel mit dem Rücken zu ihr. Aus dem Radio trällern noch immer die alten abgedroschenen Schlager. Von einer Träne, die auf Reisen geht, singt eine schmalzig-ölige, hohe Männerstimme. »So ein Blödsinn!«, murmelt Lässer empört in seinen stoppligen Älplerbart hinein. Und das ist dann auch schon sein letzter Gedanke und der letzte Kommentar, den er in diesem Leben abgibt, bevor ihn mit wahnsinniger Wucht ein grauenhafter Schlag trifft. Mit gespaltenem Schädel scheidet er aus dem Dasein. Nichts als ein satter Plumpser ist zu hören, als er kopfüber in den halbvollen Kessel kippt.