Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen - Lucie Rico - E-Book

Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen E-Book

Lucie Rico

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Beschreibung

Schon seit ihrer Jugend ist Hannah Vegetarierin. Sie lebt in der Stadt und hat nur noch wenige Verbindungen zum dörflichen Leben ihrer Kindheit. Als jedoch ihre Mutter stirbt, kehrt sie auf deren Hühnerhof zurück – vorübergehend, denkt sie, bis alles geregelt ist. Doch das Landleben in seiner Schönheit und seinem Schrecken nimmt sie in Beschlag, und schon bald entwickelt Hannah ein ganz besonderes Verhältnis zu den Tieren: Sie schlachtet und vakuumiert sie, verabschiedet aber jedes Hähnchen mit einer eigenen Biografie, die der Verpackung beiliegt. Aus dieser Geste der Wertschätzung entsteht ein Marketingprojekt, das irrwitzige Ausmaße annimmt: »Hannahs Hähnchen« werden zum Supermarkthit mit unerwarteten Folgen für Leib und Leben von Mensch und Tier. In Lucie Ricos amüsantem wie irrwitzigem Roman gerät das Leben der Protagonistin innerhalb der unerbittlichen Hackordnung von Hühnerstall, Fleischindustrie und Menschenwelt langsam, aber sicher außer Kontrolle, und der Weg vom Bauernhofidyll zur grellen Fleischtheke erscheint kürzer als gedacht.

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Die Ballade vomvakuumverpackten Hähnchen

Lucie Rico

Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen

Aus dem Französischen von Milena Adam

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

I

Mitten auf der Wiese trampelt Théodore den Rasen nieder, malträtiert den Boden mit konzentrischen Trippelschritten. Sobald er einen perfekten Kreis gezogen hat, hält er inne und fängt gleich wieder von vorne an: Der Rücken krümmt sich, der Kopf senkt sich, und los geht es. Manchmal liegt ein Stein im Weg und bringt ihn von seiner Bahn ab. Der Regen macht ihm nichts aus, er nimmt ihn hin wie eine neutrale Größe.

Heute muss Hannah ihn schlachten. So steht es in ihrem Kalender. Das hat sie ihrer Mutter am letzten Tag versprochen. Trotz ausgetrocknetem Mund sprach die Alte in vollständigen Sätzen: »Théodore sollte geschlachtet werden. Der Einäugige. Ich möchte, dass du dich darum kümmerst.« Es war nicht der richtige Zeitpunkt für Widerworte, und Hannah hatte nur brav genickt. Damals dachte sie noch, dass sie es einfach nicht machen würde. Dass es nach dem Tod der Mutter nicht mehr darauf ankäme, dass sie zurück zu Louis in die Stadt fahren, er sie über die Trauer hinwegtrösten und ihr Großstadtleben weitergehen würde wie zuvor. Sie hatte ein beliebiges Datum ausgewählt und in den Kalender eingetragen: »Théodore schlachten«, und dahinter in Klammern: »einäugig«. Dann hatte sie nicht mehr daran gedacht. Bis zu besagtem Tag.

Hannah kann keine Hühner mehr schlachten, sie kann sie nicht einmal mehr essen. Schon seit zwanzig Jahren nimmt sie kein Fleisch mehr in den Mund. Beim letzten Mal war sie sechzehn. An ihrem Geburtstag, sie hat gerade das vom Betrieb nebenan gekaufte Steak aufgegessen und raucht draußen auf der Wiese stolz ihre erste Zigarette, inhaliert zu tief und unterdrückt das Husten. Ihr Onkel hat ihr die Schachtel hingehalten. Die Hühner hüpfen munter um sie herum, die Sonne scheint. Die Mutter kommt aus dem Bauernhaus, die Tür fällt hinter ihr ins Schloss, ihre Beine sind krumm und sie ist sichtlich wütend, vielleicht wegen der Zigarette. Hannah denkt: Gleich fang ich mir eine. Die Mutter schlägt oft grundlos zu. Doch die Alte hat es nicht auf sie abgesehen. Den Blick auf ihre Tochter geheftet, packt sie wie zufällig einen jungen Hahn an den Läufen, bückt sich kaum, um nach ihm zu greifen, und dreht ihm den Hals um. Hannah hört das unerbittliche Geräusch: »Tschuck«. Das ist doch absurd, denkt sie in dem Moment, nach einem so schönen Essen ein Huhn zu schlachten, noch vor dem Kaffee. Dann begreift sie, dass ihre Mutter Charles in der Hand hält, den toten Charles. Hannah liebt Charles. Sie spielt oft mit ihm, verrät ihm ihre Geheimnisse. Er ist ihr tierischer Doppelgänger. Die Mutter klatscht ihn auf den Baumstumpf, der als Hauklotz dient, und lässt die Klinge niedersausen. Blut spritzt. Während der gesamten Hinrichtung lässt sie Hannah nicht aus den Augen. Wie angewurzelt steht sie da und starrt Hannah an. Dann beginnt sie, den kopflosen Körper heftig zu schütteln. Das Blut fließt noch, das Gras färbt sich rot, ihr Kleid ist voller Flecken. Als Charles endlich ausgeblutet ist, lässt sie den Leichnam auf den Boden fallen und geht langsam zurück ins Haus. Hannah bleibt allein vor dem Kadaver zurück. Ihre Zigarette ist ausgegangen. Die Sonne geht unter. Bei der nächsten Mahlzeit verzichtet sie aufs Fleisch. Die Mutter verschlingt weiterhin stumm Hühnerklein und Hühnerblut mit Knoblauch. Hannah ekelt sich nicht vor Fleisch – dass es in den Mündern der anderen landet, erscheint ihr logisch, es bildet die Grundlage für ihren Geruch, ihren Atem.

In der Ferne rauscht die Autobahn. Die Wolken taumeln vorüber, die Bergkette schneidet die Weite entzwei, ein Rest Schnee klebt daran. Der Stuhl knarzt. Hannah japst mit offenem Mund nach Luft. An der Wohnzimmerwand, über dem Regal mit der Hühnerfamilie aus Porzellan, blickt ihr, gestützt von zwei Haken, das alte Gewehr entgegen. In zehn Jahren hat sich auf dem Hof nichts getan. Die blauen Bücherschränke voller Zeitungen, die aus Faulheit nie zum Altpapier gebracht wurden, und das hühnerblutrote zerschlissene Sofa sind die einzigen Farbtupfer zwischen den steinernen Wänden und Böden. Ihr kommen fast die Tränen, nun, da sie wieder hier ist und spürt, dass auch sie zum Dekor gehört. Sie steht auf und trinkt wild durcheinander, was im Kühlschrank zu finden ist: Wein, Muskateller, Wodka, noch mehr Wein. Alkohol verdirbt nicht. Er verliert bloß den Geschmack. Die Mutter füllt eine Urne, einen metallenen Ascheimer mit drei Liter Volumen, der auf dem Küchentisch steht. Man könnte ihn für eine schlichte dekorative Vase halten. Es ist schwer zu glauben, dass sie ganz da hineinpasst. Irgendwo in der Asche müssen sich ein Ring und eine Zahnfüllung aus Gold befinden. Es könnte auch sein, dass sie den falschen Körper zurück zum Hof gebracht hat. Die Vorstellung macht Hannah nervös, dann muss sie darüber lachen: Man kann jemanden nicht an der Asche erkennen.

Sie muss nur noch diesen letzten Willen erfüllen, bevor sie fahren kann: Théodore, den Einäugigen, schlachten. Wäre es doch bloß mit einem gut platzierten Messerstich und einem letzten Röcheln getan. Doch es ist ganze Arbeit, den noch warmen Körper zu handhaben, das Rupfen der Federn, das Ausnehmen. Und dann muss man auch noch wissen, was man mit dem Kadaver anstellt. Auf einem Hof ist das Töten kein Selbstzweck. Der Tod muss einen Nutzen haben. Der Tod der Mutter bringt ein Erbe mit sich, dreihundert Masthähnchen, fünfzig Hennen und zehntausend Euro; das Erbe der Tiere, von denen die Rojas seit drei Generationen leben. Paul muss den Hahn schlachten und ihn dann verkaufen. Der Leichnam bleibt nicht hier, es gibt kein Begräbnis. Mit der Asche hat sie schon genug zu tun. Hätte die Mutter sprechen können, hätte sie wahrscheinlich von ihr verlangt, nach der Vollstreckung zum Markt zu gehen. Es ist bestimmt schwer, seinen Kindern zu sagen, was man wirklich von ihnen erwartet. Hannah reserviert einen Stand für den nächsten Tag. Sie wird Théodore günstig verkaufen, und dann ist sie frei. Sie sagt sich noch einmal: Das macht man eben mit einem toten Hähnchen.

Trotz des Regens geht sie ohne Mantel raus. Die zähflüssigen Tropfen kleben an ihrer Haut, perlen von ihrer Nase. Kräftige Nasen neigen dazu, den Regen einzufangen. Die Hühner laufen umher; es sind viele, eine kompakte, energiegeladene Masse. Ihre Köpfe nicken im Takt, die Augen aber blicken starr geradeaus. Die Wiese erstreckt sich bis zum angrenzenden Weinstock der Familie Fresse. Die Grundstücksgrenze ist mit einem Stacheldrahtzaun markiert. Sie haben sich nicht bei der Trauerfeier blicken lassen.

Théodore läuft zwischen den anderen umher. Er ist leicht zu erkennen: brav und mager, eine seiner Augenhöhlen ist leer. Von hier sieht es aus, als würden die anderen ihn beschützen, ihn mit ihren fleischigen Körpern umschließen. Sie kommen angelaufen in der Hoffnung, dass Hannah sie füttert. Sie hatte ganz vergessen, wie sie im Regen riechen: fürchterlich. Sie läuft Slalom, um ihnen auszuweichen. Sie lassen sich nicht stören, rennen ihr zwischen die Beine, ein bisschen aggressiv, mit erhobenem Schnabel, wie um zu sagen: Trampel nicht auf unserem Hauptgericht herum, rück lieber mal den Nachtisch raus. In ihrer Mitte wandert gemächlich Théodore umher. Hannah schiebt seine Artgenossen zur Seite.

»Na komm, schon gut, wir kriegen das hin.«

Sie packt kräftig zu und er wehrt sich nicht. Sein Gefieder ist weich, weicher als Haut, wie ein Kopfkissen, ein Plüschtier. Sie möchte ihn an sich drücken. Hannah begutachtet ihn mit von Eifersucht durchtränkter Zuneigung, wie einen braven, gehorsamen Bruder, der zu Hause geblieben ist, um ein Auge auf die gemeinsame Erzeugerin zu haben. Ihrer Mutter war es durchaus zuzutrauen, dass sie dieses Masthähnchen als Sohn angenommen hatte und es nicht ertragen konnte, dass er sie überlebte.

Mit Théodore unterm Arm kehrt Hannah ins Haus zurück. Da sie nicht mehr weiß, wie es geht, könnte es ein langsamer und qualvoller Tod werden. Das sollen die anderen nicht mit ansehen müssen. Ihre Hand zittert. Théodore hat keine Angst. Als sie ihn auf dem Wohnzimmerboden absetzt, bleibt er in ihrer Nähe, um sanft nach ihren Schuhen zu picken. Er ist nicht an Gewalt gewöhnt. Sie möchte ihn anflehen, still zu sitzen und nicht so sanftmütig zu sein. Sie malt sich Szenen aus: wie die Mutter mit ihm lacht, ihm einen Kuss gibt, vielleicht auf den Schnabel, ihm leise eine rührselige Geschichte erzählt, in ihrer Stimme liegt eine Zärtlichkeit, die Hannah nicht kennt, und dann macht er selig sein eines gesundes Auge zu und gibt sich dem Schlaf hin. Vielleicht gab es auch gemeinsame Mahlzeiten. Sie stellt sich vor, wie die Mutter mit ihm über die Wiese rennt, ihre alten arthritischen Beine folgen dem Takt seiner Läufe.

Sie muss ihn sehr geliebt haben.

Hannah sieht sich nach Beistand um. Er darf nicht einfach so sterben. Die Erfüllung eines letzten Willens erfordert eine gewisse Feierlichkeit. Sie greift nach dem Kondolenzbuch im Eingangsbereich, und kritzelt auf eine leere Seite alles, was ihr zu Théodore einfällt. Sie notiert: Munter und gutmütig, an Hingabe und Zärtlichkeit gewöhnt, ein Huhn, das Zuneigung verdient. Dann noch: »Spaßvogel«. Sie möchte, dass die Leute, die ihn aufessen, seinen Status kennen. Théodore. Seinen Vornamen, der eines der letzten Wörter war, die von der Mutter geäußert wurden, die Litanei seiner Silben.

Die Sätze reihen sich aneinander. Sie schreibt das Huhn nieder.

»Du wirst unvergessen bleiben, Théo.«

Sie greift ihn bei den Flügeln, die zu schlagen beginnen, was Hannah erschreckt, mit einem Mal fühlt er sich so zerbrechlich an in ihrem Griff. Théodore will sich befreien, doch es nützt nichts, Hannah hat ihn nun fest am Hals gepackt. Unterm Gefieder schlägt sein Herz schnell und kräftig. Er wendet den Schnabel, pickt in die Luft. Seine Muskeln verkrampfen. Sie erhöht den Druck und die winzigen Knochen brechen. Der ganze Körper birst. So sehr Théodore auch schreit, es ist vergebens. Ein letzter schwacher Atemzug verfliegt.

II

Mit Stöpseln in den Ohren baut Hannah den Stand auf. Auf dem Marktplatz wurden die Platanen durch Palmen ersetzt, die gleich nach dem Pflanzen eingegangen sind. Man würde gern ein bisschen Südseeflair in die Region bringen, doch das Klima spielt nicht mit. Die völlig vertrockneten, von Parasiten zerfressenen Palmen haben dieselbe Farbe wie die Häuserfassaden. Hannah wurde in die hinterste Ecke neben die Kirche verbannt. Man muss erst an allen anderen Verkaufsständen vorbei, den zwanzig Alteingesessenen. Der Kundenansturm hat noch nicht begonnen, doch überall wird schon geschrien, um sich auf das Tagewerk einzustimmen. Die Gerüche von Fisch und Fleisch vermischen sich. Man beobachtet Hannah aus dem Augenwinkel: Was will denn die Vegetarierin hier? Sollte die nicht schon wieder abgereist sein, die hat sich seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr auf dem Markt blicken lassen. Benjamin, der aufrecht hinter seinem Stand steht, zwinkert ihr zu. Das alte Schlitzohr hat kein Haar mehr auf dem Kopf. Ihm ist die Genehmigung entzogen worden und Hannah argwöhnt, dass sein Fisch aus der Tiefkühlabteilung des nahegelegenen Einkaufszentrums kommt, wo nach den Markttagen oft Seehecht, Lachs und Krabben ausverkauft sind. Das hat zumindest ihre Mutter bei ihren sonntäglichen Telefonaten angedeutet.

Nicolas bietet seine Kühe in verschiedenen Darreichungsformen für die Pfanne, den Ofen oder den Grill an: Schwanzstück, Flanksteak, Nacken, Brust, alles von rührend schönem Rot. In der Schule waren er und Hannah unzertrennlich. Sie schrieben voneinander ab, telefonierten, sobald sie zu Hause waren, stundenlang und ritzten gemeinsam die Rinde der Platanen ein. Er ist schlagartig gealtert und hat zugenommen, doch die Akne ist geblieben. Er grüßt nicht, würdigt sie keines Blickes. Sie richtet sich trotzdem ein, trotz der offenen Feindseligkeit, und obwohl der Stand ihrer Mutter an einen Mann vergeben wurde, der jünger ist als sie, gut verkaufen kann und sich die Haare gelt. Er ist nicht von hier, dafür ist seine Haut zu hell: Vielleicht kommt er aus der Normandie? Sein Stand ist schick: Spots beleuchten die Hähnchenkarkassen, die ausgepackten Körper formen eine Pyramide, die eines Gymnastikturniers würdig wäre.

Hannah denkt: »Ich habe Théodore geschlachtet.«

Neben ein paar Marmeladengläsern, die sie noch hinten im Schrank gefunden hat, recken sich seine Schenkel, vakuumverpackt von der Maschine ihrer Mutter. Ihr Stand ist minimalistisch: Auf drei aufgebockten Holzplanken hat sie ein paar Eier und fünf weitere Hähnchen in einem Korb angerichtet. Hannah hat etwas gespürt, als sie den Einäugigen getötet hat, eine vage Kindheitserinnerung, die sie noch einmal erleben wollte; sie hat noch andere Hälse durchtrennt. Théodore hat eine Sonderbehandlung bekommen: Er hat ein Etikett, und auf dem Etikett steht groß sein Name, Théodore, und darunter, mit der Hand geschrieben, seine Biografie. Hannah hat das Wort ausgeschriebenen, damit man es nicht mit einer bloßen »Bio«-Kennzeichnung verwechselt. Auch seine Lebensdaten sind ordnungsgemäß angegeben: 14. Februar 2018 – 20. September 2018.

Hübsch, so eine Plastikgrabplatte.

Hannah betrachtet sie nun eingehend, wie einen Fremdkörper, ein winziges Denkmal, geschmückt mit ihren Worten. Sie liest sie noch einmal, bewundernd, als wäre nicht sie diejenige, die sie geschrieben hat:

Théodore kam inmitten von weiten Wiesen zur Welt. Er war ein Freigeist und ein Schelm, litt jedoch unter einer Behinderung, einem fehlenden Auge, was er durch seine ungezwungene und doch kesse Art auszugleichen verstand. Théodore rannte gern pickend im Kreis und stets gegen den Strom seiner Artgenossen, als würde er tanzen. Er pflegte eine besondere Beziehung zu seiner Landwirtin, das enge Band ihrer Freundschaft vermochte nur der Tod zu trennen.

Sie präsentiert Théodore in der Mitte des Standes. Ein hartgekochtes Ei dient ihm als Podest. Es ist schwierig, einen Fleischstand herzurichten. Es gilt, eine Inszenierung zu erschaffen, die Lust auf Genuss ohne Scham macht. Was ist schmutzig und eklig, was appetitlich? Der nackte Rumpf, die Stücke, der ganze Körper? Das Blut? Trennt man die Bürzel ab?

Das Tête-à-Tête mit den toten Hähnchen dauert an. Mit einem schwachen Lächeln fixiert Hannah das ihr gegenüberliegende Schild mit der Aufschrift Frontière / Frontera, das die Dorfgrenze markiert. Die Kundschaft kommt nicht bis zu ihr, sie kauft das Sonntagsmahl bei dem Normannen, sogar die Einheimischen, sogar die Freunde ihrer Mutter. Sie grüßen sie nicht. Trotzdem haben sie bei der Trauerfeier ihre Hand gedrückt. War ihr in diesem Moment ein Fehler unterlaufen? Sie würde gern rufen: »Ich mache das hier nicht meinetwegen, sondern für meine Mutter, nehmt mir Théodore ab und wir müssen nie wieder miteinander reden. Ich habe nämlich einen Mann, der auf mich wartet.« Stattdessen verkündet sie: »Évelyne Rojas’ Hähnchen, mit Quellwasser aufgezogen«. Die Wörter kommen wie aus der Maschinenpistole geschossen. Sie zeigen sofortige Wirkung: Vier Personen finden sich vor dem Stand ein. Sie gehen Hand in Hand, die Körper aneinandergekoppelt. Eine Touristenfamilie. Einer der Jungs ist im Teenageralter. Er wirkt spöttischer als sein Bruder, guckt sie schief an. Seine geweiteten Pupillen deuten darauf hin, dass er gekifft hat. Die Mutter wendet sich mit höflichem Lächeln an Hannah. Ihre Zähne sind sehr weiß.

»Haben Sie den Hof übernommen? Ist Évelyne in Rente gegangen?«

Ihr spitzer Zungenschlag verleiht den Worten einen unangenehmen Klang.

»Sie ist gestorben.«

Die Ansage erzeugt den gewünschten Effekt: Die Mutter fährt zusammen, kreuzt die Arme, blickt hilfesuchend zu ihrem Mann, der anderweitig beschäftigt ist und dem Jüngsten die Schnürsenkel bindet. Ihre Zunge regt sich im Mund, stößt gegen die Zähne, die Worte ertrinken im Speichel. Sie murmelt eine Beileidsbekundung, der Akzent ist verschwunden. Hannah hätte schwören können, dass sie als Nächstes fragt: »Was ist passiert?«, oder: »Woran ist sie gestorben?«, doch nichts dergleichen. Die Frau lächelt und knetet die Hände, bevor sie ausruft:

»Heute gibt es Hühnchen.«

Ihr Blick fällt auf Théodore. Sie liest die Biografie auf der Suche nach dem Verbrauchsdatum. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, als sie die Hommage überfliegt. Nun verrenkt sich Hannah nervös die Hände. Es ist das erste Mal, dass jemand den Text liest. Sie unterbricht sie:

»Das ist ein sehr gutes Hähnchen.«

Die Frau hat sich schon umgedreht, sie wedelt vor versammelter Familie mit der Verpackung, und das Fleisch bebt. Hannah würde ihr Théodore am liebsten entreißen. Sie hat Angst, dass er runterfällt. Sie muss an die Urne denken. Sie müsste langsam mal die Asche der Mutter verstreuen, vielleicht wäre der Markt ein guter Ort dafür.

»Schau mal, Schatz, das ist die Biografie des Hähnchens!«

Der Mann beugt sich träge über das Etikett und hebt nach den ersten beiden Zeilen den Kopf. »Macht die das etwas für jedes einzelne Viech?« Der ältere Junge schnappt sich die Verpackung. Er raunt seinem Bruder zu: »Guck mal, da ist ein Rechtschreibfehler.« Er presst den Finger auf den Fehler und drückt Théodores Körper ein. Hannah schnaubt. Die Mutter fühlt sich unter Druck gesetzt. Hannah verkauft Théodore.

Nachdem die Händler zusammengepackt haben, gehen sie im Tross in Richtung Kneipe, lassen die Skelette ihrer Stände auf dem Platz und die unverkauften Waren in ihren Transportern zurück. Hannah weiß erst nicht, ob sie sich ihnen anschließen soll, immerhin wurde sie nicht eingeladen, aber man muss Kontakte knüpfen, und das geht so nun mal am einfachsten. Nach diesen Tagen der Trauer hat sie sich einen kleinen Trost verdient. In der Kneipe ist oben an der Wand ein Fernseher angebracht, der junge Leute zeigt, die lasziv tanzen. Die Wirtin ahmt sie nach, während sie das Bier zapft, bewegt ihren vertrockneten Körper im Takt. Auch hier hat sich an der Inneneinrichtung nichts getan. Die alten Steine und die Wildschweinköpfe an der Wand wirken wie eine Hommage an die Vergangenheit, und die Dorfleute, sofern sie noch am Leben sind, kauern, wenn auch gealtert, wie vor zehn Jahren auf ihren Barhockern, und die Worte, die aus ihren Mündern kommen, sind dieselben wie damals, genauso wie die vor ihnen stehenden alkoholischen Getränke. Sie sind erstarrt wie in Pompeji, da war Hannah in der Mittelschule mal mit dem Bus. Nicolas war auch dabei. Sie haben zusammen Eisenkraut geraucht. Hannah setzt sich neben ihn an die Theke. Er dreht sich nicht um. Sie denkt: Kein guter Moment für ein Wiedersehen. Er ist ganz in die Billardpartie vertieft. Eine Frau spielt. Ihr geschlitzter Rock zieht die Blicke der Männer auf sich. Nicolas ist zum Dorfgockel geworden, er lacht am lautesten von allen. Sein Lachen klingt wie das von Louis, es verebbt mit einem Zittern. Als sie Louis gerade kennengelernt hatte, war sie bei diesem abgehackten Lachen immer zusammengezuckt. Vielleicht hatte sie ihn sogar geküsst, um es nicht mehr hören zu müssen. Hier würde Louis nicht lachen. In Dorfkneipen fühlt er sich nicht wohl.

Jeder hat seine eigene Theorie über den Spielausgang. »Ich sag’s euch, die Kleine überrascht uns noch. Sie hat noch ein Ass im Ärmel.«

»Ich glaube ja eher, dass die Typen da sie spielen lassen, solang es geht, aber sobald sie die Schnauze voll haben …«

»Sobald sie Durst kriegen, wohl eher, oder wenn Claude kommt … Dann fliegt sie ruckzuck raus!«

Hannah spürt weder, dass die Zeit vergeht, noch dass niemand mit ihr spricht. Sie denkt daran, dass es richtig war, diese Biografie zu schreiben. Vielleicht hätte es die Mutter sogar stolz gemacht.

Als Nicolas aufsteht, sieht sie, dass er schwankt, sie würde ihm gern ihre Hilfe anbieten, ihn stützen. Sie wagt es nicht. Er verabschiedet sie mit einem Kopfnicken, das Kinn vorgereckt, als würde er eine lange Unterhaltung beenden. Auf dem Friedhof hatte er ihre rechte Hand gedrückt und sich erkundigt: »Wie geht es dir?«, die übliche Frage. Sie hatte geantwortet: »Gut.« Das war vielleicht schon genug der Neuigkeiten. Er ist schon im Gehen, als Hannah beschließt, dass es doch besser wäre, noch irgendetwas zu sagen. Also ruft sie laut: »Und, wie geht es dir?«

Nicolas dreht sich zu ihr um, und mit ihm alle Männer in der Kneipe. Sie betrachten sie beunruhigt, wie eine Fremde, die gerade hereingekommen ist und von der man nicht weiß, was sie will. Der Lärm legt sich. Nicolas lehnt sich gegen die Tür und antwortet bloß: »Gut.«

Sie kommt mit leeren Taschen zurück. Ein Hähnchen ist drei Gläser Whisky wert. Es muss spät sein, draußen ist es dunkel. Nur der Mond erhellt den Hof. Hannah geht zum Hühnerstall. Sie stellt die Taschen mit den Resten vom Markt draußen ab und drückt vorsichtig die Tür auf, als würde sie ein Zimmer voller schlafender Kinder betreten. Es ist still; die Hühner dösen auf ihrer Einstreu aus sorgfältig zerkleinertem Heu, trocken, warm und reichlich. Die Körper heben und senken sich im Takt ihrer Atemzüge.

Aus dem Kükengehege dringt ein milder Geruch. Claro ist schon ein gutes Stück gewachsen. Er ist an dem Tag geschlüpft, an dem die Mutter gestorben ist. Dieser kleine gelbe Ball wird schon bald ein schöner weißer Hahn sein. Sie hat ihn beringt, so wie sie es als Kind immer gesehen hat. Dabei muss man behutsam vorgehen. Man klemmt sich das Huhn fest unter den Arm, damit es nicht mit den Flügeln schlagen kann, drückt die drei Vorderzehen zusammen und schiebt den Ring bis über den hinteren Zeh.

Während sie ihn betrachtet, muss sie sauer aufstoßen und ihren Speichel schlucken. Unwillkürlich ballen sich ihre Hände zur Faust, die Muskeln spannen sich an und ihr ist danach, ihn zu zerdrücken wie ein Ei.

III

Théodore wurde von einer Familie verzehrt. Sein Fleisch ruht in mehreren Bäuchen, mindestens vier, seine Knochen liegen verstreut in verschiedenen Müllbeuteln, doch etwas ist trotzdem noch ganz. Sein Leben auf dem Etikett. Ob sie es als Souvenir behalten haben? Sie hätte eine Abschrift anfertigen sollen, um sie auf die Urne der Mutter zu kleben.

Es ist kühl. Vor dem Schlafzimmerfenster erstrecken sich die leeren Felder. Dazwischen heben sich kleine Stücke Heideland ab, sie unterbrechen die wohlgeordneten Parzellen. Die Berge ringsum wirken wie in sich zusammengesunken. So richtig aufrecht waren sie ihr nie erschienen, mit ihren abgerundeten Gipfeln und vergilbten Flanken. Auf den Karten Frankreichs sind sie meist nicht bezeichnet.

Hannah sollte ihre Abreise vorbereiten, doch sie will nach den Hühnern sehen. Sie merkt es ganz plötzlich: Das Gackern fehlt ihr. Die letzten zehn Jahre hat sie alles darangesetzt, diesem Haus zu entkommen, den beiden Hühnerställen, die es umringen wie Wachposten, als wären die Menschen Gefangene unter Aufsicht der Tiere. Théodore wurde geschlachtet und verkauft. Sie hat ihre letzte Kindespflicht erfüllt. Trotzdem denkt sie: Das hier ist jetzt mein Zuhause. Ohne die Mutter kommt ihr die umgebende Landschaft unabdingbar vor. Ebenso das Leben der Hühner. Man muss sich vom frühen Morgen an um sie kümmern. Sie öffnet die Gehege und füllt die Futtertröge auf, vorsichtig, damit nichts auf den Boden fällt, die Schnäbel sind zu empfindlich, um auf betonierten Oberflächen zu picken. Sie füllt die Traufen mit Quellwasser der hauseigenen Marke und lässt die dreihundert Hühner ins Freie. Hannah sieht ihnen zu, reglos an die Hauswand gelehnt. Während die anderen sich in wohlgeordneten Grüppchen über das weite Feld verteilen, dicke schwarze Flecken auf grünem Grund, die fröhlich nach den Überresten des diesjährigen Grases picken, bleibt ein Hahn neben ihr stehen. Er blickt sie einen Augenblick lang mit gehobenem Kopf an, ganz still, mustert sie geradezu, und Hannah fragt sich, was er in ihr sieht, dann setzt er sich wieder in Bewegung, reckt den Hals, plustert sich auf und zerrt liebevoll an ihren Schnürsenkeln, als wollte er sie zu sich heranziehen, sie zum Spielen auffordern. Er bleibt hartnäckig, packt fest mit dem Schnabel zu. Mit bloßer Muskelkraft zieht er Hannah nach vorn. Sie könnte ihn »Senkel« nennen. Auf seinem Fußring steht »Selma«, das klingt ähnlich. Das ist bestimmt so ein Hahn, denkt sie, der die Gesellschaft seiner Artgenossen meidet und die der Halterin sucht, der die ausgelegte Spreu vom Weizen trennt. Ein erstklassiger, anhänglicher Hahn. Ein ziemlich hübsches Ding, und er scheint nicht auf den schön gezackten Kamm gefallen zu sein. Ihr scheint, als würde sie diesen Hahn verstehen, als würde sie wissen, worauf er hinauswill, und als sie sich dieser Verbindung bewusst wird, bekommt sie Lust, zu schreiben. Und ihn zu schlachten. Sie kann nicht schreiben, ohne zu schlachten. Es wäre vollkommen sinnlos, ein Buch über das Leben der Hühner zu schreiben. Ihnen eine letzte Ehre zu erweisen allerdings ist eine andere Sache, ihr Leben zu erzählen, um ihren Tod zu begleiten, ihnen posthum ein Denkmal zu setzen. Es erscheint ihr geradezu selbstverständlich, dass dies nun ihre Aufgabe ist, und nicht das Kofferpacken, die Rückkehr zu Louis. Als Kind träumte Hannah oft von lebendigen gerupften Hähnchen ohne Flügel, ohne Schweif, die aber noch laufen konnten. Sie waren weder tot noch lebendig, nahrhafte Spielgefährten.

Oben befindet sich das ausgebaute Dachgeschoss, das Reich ihrer Mutter, Schlafzimmer und Arbeitszimmer, zwei verbotene Türen, deren Schwelle die kleine Hannah nicht zu übertreten wagte, das wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Sie drückt die erste Tür auf und betritt das Arbeitszimmer, setzt sich in den Bürosessel, zum allerersten Mal, und ist überrascht, wie weich die Rückenlehne ist. Vor ihr steht ein großer, altmodischer Computer. Er ist nicht passwortgeschützt. Hannah scrollt sich durch die Suchhistorie: Streamingseiten, ein Landwirtschaftsforum, in dem Tipps zur Tierhaltung ausgetauscht werden. Ein Link führt sie zu einem fettgeschriebenen Pseudonym, JungesHuhn66. Angewidert schließt sie den Tab.

Der Suchbegriff »Trauerrede« liefert vierhundertneunzigtausend Ergebnisse. Ganz oben ist HelloHeaven, die Hotline ins Jenseits: »Was die Toten über sich hören möchten«, »Vorsorge in jedem Alter«, »Weißes Paradies: Online-Gedenkseite erstellen«. Es werden auch vorgefertigte Gedenkworte angeboten. Es empfiehlt sich, die Qualitäten der verstorbenen Person hervorzuheben, beginnend mit der Großzügigkeit. Schwächen haben in einem Nachruf nichts zu suchen, Metaphern wie »Der Tod hat Dich auf Deine letzte Reise mitgenommen« hingegen kommen gut an. Am beliebtesten scheinen Phrasen voller Zuneigungsbekundungen zu sein: »Meine über alles geliebte Mutter, für immer und ewig in meinem Herzen.« Hannah ist gerührt von all den Dingen, die man über den Tod sagen kann. Der eigentliche Tod entlockt ihr keine vergleichbaren Empfindungen. Man bekommt gesagt: Sie ist tot, und hat deutlich den leblosen Körper vor sich.

Im Fall ihrer Mutter konnte sie nicht einmal eine Rede halten. Was soll man auf einem Friedhof schon groß sagen? »Erzählen Sie auf der Trauerfeier eine persönliche Anekdote!«, verordnet HelloHeaven. Alle Erinnerungen an die Mutter haben mit Gewalt und Tod zu tun – es wäre wohl kaum angebracht gewesen, davon zu berichten, wie Hühner nach der Schlachtung ohne Kopf durch die Gegend liefen, wie sie in der Mitte durchgeschnitten wurden, oder vom Tod der Großeltern zu erzählen, die vor langer Zeit besonnen und würdevoll im Abstand weniger Tage das Zeitliche gesegnet haben, als wollten sie ihren Kindern ersparen, zweimal trauern zu müssen. Solche Anekdoten schicken sich nicht. Eine nette Geschichte gibt es aber doch, Hannah war bloß nicht danach, sie vor der versammelten Dorfgemeinschaft zum Besten zu geben. Wenn die Hühner versorgt waren und das Abendessen vorbei war, rief ihre Mutter ihr zu: Willst du einen Film gucken? Hannah kuschelte sich in