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Hochspannung und Nonstop-Action
Nach einem gescheiterten Auftrag muss Agent Todd Belknap den Dienst quittieren. Kurz darauf wird im Libanon sein Kollege und bester Freund entführt. Als sich die Regierung weigert, mit den Entführern in Verhandlung zu treten, nimmt Belknap die Sache selbst in die Hand. Eine Entscheidung, die er bald bereuen wird.
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Seitenzahl: 865
JAFFEIRA: … Hab mich zusammengetan mit Männern von Seele, imstand, alle Übel der Menschheit zu heilen.
THOMAS OTWAY, Die entdeckte Verschwörung (1682)
Es regnete noch nicht, aber der bleigraue Himmel würde seine Schleusen bald öffnen. Sogar die Luft wirkte erwartungsvoll, wie von banger Vorahnung erfüllt. Der junge Mann querte von Unter den Linden zum Marx-Engels-Forum, auf dem die riesigen Bronzestatuen der teutonischen Väter des Sozialismus in Richtung Stadtmitte blickten, ihre blinden Augen starr und eindringlich. Hinter ihnen war auf Steinfriesen das frohe Leben des Menschen im Kommunismus dargestellt. Noch immer kein Tropfen Regen. Aber der würde bald kommen. Binnen Kurzem würde es einen Wolkenbruch geben. Das ist eine historische Unvermeidbarkeit, dachte der Mann, indem er sich trübsinnig an den sozialistischen Jargon erinnerte. Er war ein Jäger, der seiner Beute nachspürte, und er war ihr näher als je zuvor. Deshalb war es umso wichtiger, die nervöse Spannung zu verbergen, die in ihm aufstieg.
Er sah aus wie Millionen andere in diesem selbst ernannten Paradies der Werktätigen. Seine Kleidung stammte aus dem Centrum Warenhaus, dem riesigen Kaufhaus am Alexanderplatz. So sichtbar billig hergestellte Kleidungsstücke waren nicht überall erhältlich. Dass er wie ein einfacher Ostberliner Arbeiter aussah, war jedoch nicht nur auf seine Kleidung zurückzuführen. Das lag auch daran, wie er sich bewegte: an seinem gleichmütigen, pflichtbewussten, schleppenden Gang. Nichts an ihm verriet, dass er erst vor vierundzwanzig Stunden aus dem Westen herübergekommen war, und bis vor wenigen Augenblicken war er sich sicher gewesen, keine Aufmerksamkeit erregt zu haben.
Ein Adrenalinschub ließ seine Haut kribbeln. Er bildete sich ein, die Schritte hinter sich schon einmal gehört zu haben, als er die Karl-Liebknecht-Straße entlanggelatscht war. Ihr Rhythmus kam ihm bekannt vor.
Alle Schritte waren gleich; trotzdem waren alle unterschiedlich: Es gab Variationen in Körpergröße und Schrittlänge, Variationen in Bezug auf die Schuhsohlen. Schritte sind die Solfeggien, die Tonleitern der Großstadt, hatte einer von Belknaps Ausbildern ihm erklärt: so alltäglich, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen werden, aber für ein geübtes Ohr trotzdem so charakteristisch, dass sie wie einzelne Stimmen unterschieden werden konnten. Hatte Belknap diese Unterscheidung richtig getroffen?
Die Möglichkeit, er könnte beschattet werden, war etwas, das er sich nicht leisten konnte. Er musste sich getäuscht haben.
Oder er musste etwas dagegen tun.
Bereits als junger Mitarbeiter des als Consular Operations getarnten ultrageheimen Dienstes des US-Außenministeriums hatte sich Todd Belknap damit einen Namen gemacht, dass er Männer aufspürte, die untergetaucht bleiben wollten. Wie die meisten Fährtensucher arbeitete er allein am besten. Lautete der Auftrag, einen Mann zu überwachen, war ein Team – je größer, desto besser – optimal. Aber ein Mann, der verschwunden war, ließ sich nicht unter herkömmliche Überwachung stellen. In solchen Fällen wurden sämtliche Ressourcen der Organisation in den Dienst der Fahndung gestellt; das verstand sich von selbst. Aber die Chefs von Cons Ops hatten längst die Erfahrung gemacht, dass es auch zweckmäßig sein konnte, einen einzelnen hochbegabten Feldagenten auf den Gesuchten anzusetzen. Ihm zu gestatten, die Welt allein zu durchstreifen, ohne durch ein kostspieliges Gefolge behindert zu werden. Mit der Freiheit, seinen Intuitionen, seinem Spürsinn zu folgen.
Dem Spürsinn, der ihn – wenn alles klappte – vielleicht zu seiner Beute führen würde: einem übergelaufenen amerikanischen Agenten namens Richard Lugner. Nachdem Belknap schon Dutzende von falschen Fährten verfolgt hatte, war er sich jetzt sicher, die richtige Witterung aufgenommen zu haben.
Aber befand sich jemand auf seiner Fährte? Wurde jetzt dem Spürhund nachgespürt?
Sich plötzlich umzudrehen wäre verdächtig gewesen. Stattdessen blieb er stehen, täuschte ein Gähnen vor und sah sich um, als betrachte er die riesigen Statuen, während er sich in Wirklichkeit bereithielt, jeden in seiner unmittelbaren Nähe blitzschnell einzuschätzen.
Er sah jedoch niemanden. Einen sitzenden Marx aus Bronze, einen stehenden Engels: beide massiv, über mit Grünspan überzogenen Bärten düster dreinblickend. Zwei Reihen Lindenbäume. Eine schlecht gepflegte große Rasenfläche. Und jenseits des Platzes ein missgestalteter, lang gestreckter kupferfarbener Glaskasten: der sogenannte Palast der Republik. Der sargförmige Klotz schien dafür erbaut zu sein, den menschlichen Geist lebendig zu begraben. Das Forum mit den beiden Denkmälern wirkte menschenleer.
Das war kaum beruhigend – aber war er sich seiner Sache in Bezug auf die angeblich gehörten Schritte wirklich sicher? Anspannung, das wusste Belknap, konnte dem Verstand alles Mögliche vorgaukeln, bis er Kobolde in den Schatten zu sehen glaubte. Er musste seine Besorgnis unterdrücken: Ein übermäßig aufgeregter und nervöser Agent neigte zu Fehleinschätzungen und übersah womöglich reale Gefahren, während er durch eingebildete abgelenkt wurde.
Belknap ging impulsiv auf den heimtückischen Schimmer des Palasts der Republik – des Vorzeigebaus des Regimes – zu. Das Gebäude war nicht nur Sitz der DDR-Volkskammer, sondern enthielt auch Veranstaltungsräume, Restaurants und zahlreiche bürokratische Einrichtungen, die zahlreiche bürokratische Anträge bearbeiteten. Es war der letzte Ort, an dem jemand es wagen würde, ihn zu beschatten; der letzte Ort, den ein Ausländer zu betreten wagen würde – und der erste Ort, der Belknap einfiel, an dem er sich vergewissern konnte, dass er so unbeobachtet war, wie er hoffte. Das konnte ein genialer Entschluss sein … oder ein Anfängerfehler. Was es war, würde er bald wissen. Er zwang sich dazu, gelangweilt selbstgenügsam zu wirken, als er die Wachposten am Eingang passierte, die mit versteinerten Mienen ausdruckslos seinen abgenutzten Personalausweis kontrollierten. Er ging durch das sperrige Drehkreuz in den lang gestreckten äußeren Eingangsbereich, in dem es nach einem Desinfektionsmittel roch, und unter den endlosen Verzeichnissen von Dienststellen und Büros hindurch, die wie die Ankunfts- und Abfluganzeigen auf Flughäfen von der Decke herabhingen. Du darfst nicht stehen bleiben, darfst dich nicht umsehen; verhältst du dich, als wüsstest du, was du tust, vermuten andere, dass du’s weißt. Belknap konnte für einen … für wen gehalten werden? Für einen kleinen Büroangestellten, der von einem späten Mittagessen zurückkam? Für einen Ostberliner, der einen Gebrauchtwagen umschreiben lassen wollte? Er bog um eine Ecke, dann um noch eine, bis er die Ausgänge des Gebäudes erreichte, die auf den Alexanderplatz hinausführten.
Er ließ den Palast hinter sich und studierte die Bilder der Figuren, die von der verspiegelten Fassade des Gebäudes zurückgeworfen wurden: ein schlaksiger Kerl mit Arbeitsschuhen und einem uralten Rucksack. Eine vollbusige Blondine mit verquollenen Augen in einem verkaterten Gesicht. Zwei blasse Bürokraten, deren Teint zu ihren grauen Anzügen passte. Niemand, den er wiedererkannte; niemand, der Besorgnis in ihm auslöste.
Belknap ging zur Karl-Marx-Allee, der bekannten großen Avenue des stalinistischen Neoklassizismus, weiter. Entlang ihrer extrabreiten Fahrbahnen standen siebenstöckige Gebäude – eine endlose Folge von cremeweißen Keramikkacheln, hohen Flügelfenstern und langen Reihen von Balustraden im römischen Stil über den Geschäften im Erdgeschoss. In regelmäßigen Abständen waren auf Zierkacheln glückliche Arbeiter wie jene dargestellt, die hier vor dreieinhalb Jahrzehnten die Gebäude entlang der Stalinallee errichtet hatten. Wenn Belknaps Gedächtnis ihn nicht trog, waren es genau diese Arbeiter gewesen, die am 17. Juni 1953 den Aufstand gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung angeführt hatten – einen Aufstand, den sowjetische Panzer brutal unterdrückt hatten. Der von Stalin bevorzugte »Zuckerbäckerstil« war in der Tat bitter für jene gewesen, die ihn hatten backen müssen. Diese Prachtstraße war eine schöne Lüge.
Richard Lugner dagegen war eine hässliche. Lugner hatte sein Land verkauft, und das nicht gerade billig. Die osteuropäischen Tyrannen, das hatte Lugner sehr gut erkannt, waren nie verzweifelter gewesen als jetzt, wo ihre Zeit ablief, und ihre Verzweiflung entsprach seiner Geldgier. Die amerikanischen Geheimnisse, die er zum Kauf anbot, darunter auch die Namen der amerikanischen Maulwürfe in ihren eigenen Sicherheitsapparaten, die nach sowjetischem Vorbild organisiert waren, konnten sie unmöglich ausschlagen. Durch seinen Verrat bot sich ihnen eine seltene Chance. Er schloss separate Vereinbarungen mit allen Ostblockstaaten ab. Sobald die »Ware« geprüft und für gut befunden worden war – vielleicht die Identität eines Informanten der Amerikaner, der sorgfältig überwacht wurde, bevor er verhaftet, gefoltert und hingerichtet wurde –, konnte Lugner seinen Preis selbst festsetzen.
Nicht jeder Händler bewahrt sich ein gutes Verhältnis zu seinen Kunden, aber Lugner hatte offenbar Vorsorge getroffen: Er musste seinen Abnehmern suggeriert haben, er habe noch ein paar Trümpfe im Ärmel und sein Vorrat an amerikanischen Geheimnissen sei längst nicht erschöpft. Solange diese Möglichkeit bestand, würde ein Mann wie er beschützt werden müssen. Dazu passte seine Wohnung zwischen Stasi-Offizieren und weiteren Angehörigen der DDR-Nomenklatura, die eine ehemalige »Arbeitersiedlung« bezogen hatten, während richtige Arbeiter heutzutage in eintönigen Plattenbausiedlungen hausten. Lugner war jedoch kein Mann, der allzu lange an einem Ort blieb. Vor sechs Wochen hatte Belknap ihn in Bukarest nur um wenige Stunden verfehlt. Das durfte hier nicht wieder passieren.
Belknap wartete, bis ein paar klapprige Trabis und Škodas vorbeigefahren waren, und überquerte den Boulevard unmittelbar vor einer Kreuzung, an der ein Haushalts- und Eisenwarengeschäft sein dürftiges Angebot präsentierte. Würde ihm jemand folgen? Hatte er sich die Beschattung überhaupt nur eingebildet? Eine billige Tür aus Plexiglas und eloxiertem Aluminium – eine Fliegengittertür ohne Fliegengitter – knallte hinter ihm zu. Eine mürrische grauhaarige Frau mit leichtem Bartanflug starrte ihn hinter dem Verkaufstisch vorwurfsvoll an, als habe er sie bei etwas gestört oder sei hier unbefugt eingedrungen. In dem beengten Raum roch es durchdringend nach Maschinenöl; die Regale lagen voller minderwertiger Geräte, mit denen – das war auf den ersten Blick klar – offenbar niemand viel anfangen konnte. Die mürrische Frau, Verkäuferin und Kassiererin in einer Person, beobachtete mit finsterer Miene, wie er ein paar Dinge zusammensuchte, die zu jemandem passten, der in Wohnblocks Reparaturen vornahm: einen Blecheimer, einen Kübel mit Fertigputz, eine Kartusche Fugenkitt und einen breiten Spachtel. In einer Stadt, in der ständig etwas repariert werden musste, würde das Werkzeug seine Anwesenheit an fast jedem Ort augenblicklich erklären. Die Grauhaarige bedachte ihn mit einem weiteren mürrischen Der-Kunde-hat-immer-unrecht-Blick, nahm aber griesgrämig sein Geld entgegen, als akzeptiere sie Schadensersatz oder Schmerzensgeld.
In den Wohnblock hineinzukommen erwies sich wider Erwarten als Kinderspiel – ein Vorzug des Lebens in einem Hochsicherheitsstaat, der wie eine Ironie des Schicksals anmutete. Belknap wartete einfach, bis mehrere stark parfümierte Hausfrauen mit Plastetüten voller Lebensmittel das Haus 435 betraten, und folgte ihnen, wobei sein Werkzeug ihn nicht nur augenblicklich legitimierte, sondern ihm auch unausgesprochene Anerkennung sicherte. Er stieg im siebten Stock aus, eine Etage über den Hausfrauen. War er richtig unterrichtet – hatte sein magerer Informant mit dem fettigen, strähnigen Haar ihm die Wahrheit gesagt –, war er nur noch wenige Meter von seiner Beute entfernt.
Sein Herz begann zu hämmern, ein Tomtom gespannter Erwartung, das er nicht unterdrücken konnte. Dies war keine gewöhnliche Beute. Richard Lugner war bisher allen nur denkbaren Schlingen ausgewichen, von denen er früher, als er noch im Dienst der Vereinigten Staaten gestanden hatte, einige selbst gelegt hatte. In den vergangenen achtzehn Monaten hatten amerikanische Geheimdienstler massenhaft Berichte von Leuten zusammengetragen, die ihn gesehen haben wollten, und glaubten nur wenige davon. Belknap hatte im letzten Vierteljahr Dutzende von trockenen Brunnenlöchern gebohrt, sodass seine Vorgesetzten jetzt nur noch an einer echten DPI, einer »direkten und positiven Identifizierung«, seiner Beute interessiert waren. Aber diesmal beobachtete er nicht nur eine Bar oder ein Café oder eine Flughafen-Lounge; diesmal hatte er eine Adresse. Stimmte sie auch? Dafür gab es keine Garantie, aber sein Instinkt – seine Nase – sagte ihm, dass das Blatt sich gewendet hatte. Er hatte ins Dunkel hineingestochert und war fündig geworden.
Die nächsten Sekunden würden entscheidend sein. Lugners Unterkunft – offenbar eine größere Wohnung, deren Fenster auf die Hauptstraße und eine schmale Seitenstraße, die Koppenstraße, hinausführten – lag am Ende des langen Korridors, der im letzten Drittel abknickte. Belknap näherte sich der Wohnungstür und stellte seinen Eimer ab; aus der Ferne musste er wie ein Arbeiter aussehen, der eine fehlende Bodenfliese ersetzte. Er überzeugte sich davon, dass der Flur menschenleer war, kniete vor der Türklinke nieder – runde Türknöpfe waren in diesem Land praktisch unbekannt – und schob ein winziges optisches Sichtgerät durch das Schlüsselloch. Wenn ihm eine DPI gelang, konnte er die Wohnung wirkungsvoll überwachen, bis das alarmierte Entführungsteam eintraf.
Ein großes Wenn – aber diesmal war die Fährte kurz genug, sodass Belknap hoffnungsvoll war. Angefangen hatte alles mit einem nächtlichen Besuch der Herrentoilette auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo er schließlich einen der sogenannten Bahnhofsjungen, einen Stricher, der sich hier herumtrieb, angesprochen hatte. Wie sich bald herausstellte, gaben sie Informationen widerstrebender preis als ihre Körper – und für weit mehr Geld. Die speziellen Vorlieben, die Lugner zum Überlaufen veranlasst hatten, würden den Verräter eines Tages verraten, davon war Belknap schon immer überzeugt gewesen. Sein Appetit auf minderjähriges Fleisch: Wäre Lugner in Washington geblieben, hätte diese Vorliebe ihm den Hals gebrochen, und sein Appetit war nicht leicht und nie lange zu stillen. Lugner war ein privilegierter Gast der Ostblockstaaten und konnte sich darauf verlassen, dass seine Vorlieben übersehen, vielleicht sogar gefördert werden würden. Andererseits waren auch die in einem Polizeistaat arbeitenden Bahnhofsjungen aus Notwendigkeit eine verschworene Gemeinschaft. War einer von ihnen von einem gut zahlenden Amerikaner mit pockennarbigem Gesicht und einer Vorliebe für Zwölf- bis Dreizehnjährige mitgenommen worden, war es Belknaps Überzeugung nach ziemlich wahrscheinlich, dass seine Genossen davon erfahren hatten.
Er hatte reichlich Überredungskunst aufwenden und alle möglichen Versicherungen abgeben müssen – von einem Packen DM-Scheine ganz zu schweigen –, bis der Stricher schließlich loszog, um sich umzuhören. Zwei Stunden später war er mit einem Zettel in der Hand und einem triumphierenden Ausdruck auf seinem leicht pickeligen Gesicht zurückgekehrt. Belknap erinnerte sich an den Sauermilch-Atem seines Informanten, an seine feuchten Hände. Aber dieser Zettel! Der hatte ihn für alles entschädigt.
Belknap drehte die Glasfaseroptik des Sichtgeräts, schob sie vorsichtig weiter. Darin waren seine Finger nicht gerade geübt. Und er durfte sich keine Fehler erlauben.
Er hörte ein Geräusch hinter sich, das Scharren von Stiefeln auf den Korridorfliesen, warf sich herum und starrte in die Mündung eines SKS-Karabiners mit kurzem Lauf. Dann sah er zu dem Mann auf, der die Waffe im Anschlag hielt: Er trug eine dunkelgrau-blaue Uniform mit Stahlknöpfen und hatte ein Sprechfunkgerät mit beige Plastegehäuse vor der rechten Schulter hängen.
Stasi. Staatssicherheitsdienst. Die ostdeutsche politische Geheimpolizei.
Der Mann war zweifellos ein Wachposten mit dem Auftrag, den eminent wichtigen Herrn Lugner zu beschützen. Er musste außer Sicht in einer unbeleuchteten Nische auf dem Korridor gesessen haben.
Belknap kam mit erhobenen Händen langsam auf die Beine und spielte den Verständnislosen, während er seinen Gegenangriff plante.
Der Stasiposten blaffte etwas mit den charakteristischen harten Konsonanten eines echten Berliners in sein beige Sprechfunkgerät, wobei er den Karabiner nur lässig in einer Hand hielt. Diese Ablenkung durch das Funkgerät bedeutete, dass der Mann nur schlecht darauf vorbereitet sein würde, einen plötzlichen Angriff abzuwehren. Belknaps eigene Waffe steckte in einem Knöchelhalfter. Er würde so tun, als wollte er dem Uniformierten die mitgebrachten Gerätschaften vorweisen, während er heimlich ein weit tödlicheres Werkzeug zum Vorschein brachte.
Plötzlich hörte er, wie die Wohnungstür hinter ihm aufgerissen wurde, fühlte herausströmende warme Luft … und spürte einen gewaltigen Schlag gegen seine linke Kopfseite. Kräftige Arme rangen ihn zu Boden und schleuderten ihn aufs Parkett der Diele, auf dem er auf dem Bauch liegen blieb. Sofort setzte ihm jemand einen Stiefel in den Nacken. Unsichtbare Hände tasteten ihn ab, zogen die versteckte kleine Pistole aus dem Knöchelhalfter. Dann wurde er hochgerissen und in den nächsten Raum gestoßen, dessen Tür mit dumpfem Knall hinter ihm zufiel. Der Raum war abgedunkelt, die Jalousie vor dem großen Fenster herabgelassen; Licht fiel nur durch ein schmales Erkerfenster ein, das auf die Seitenstraße hinausführte. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an das hier herrschende Halbdunkel zu gewöhnen.
Gottverdammt! Hatten sie etwa die ganze Zeit über ihn Bescheid gewusst?
Jetzt erkannte er seine Umgebung deutlich. Er befand sich in einer Art Arbeitszimmer mit einem teuer aussehenden Orientteppich auf dem Boden, einem Spiegel mit Ebenholzrahmen an der Wand und einem großen Biedermeierschreibtisch am Fenster.
Hinter dem Schreibtisch stand Richard Lugner.
Ein Mann, dem er niemals begegnet war, aber ein Gesicht, das er überall erkannt hätte. Der schlitzartige Mund, die pockennarbigen Wangen, die leicht gekrümmte fünf Zentimeter lange Narbe, die sich wie eine zweite linke Augenbraue über seine Stirn zog: alles genau wie auf den Fahndungsbildern. Belknap begegnete dem Blick der kleinen, bösartigen anthrazitgrauen Augen des Mannes. Und er sah in Lugners Händen eine doppelläufige großkalibrige Schrotflinte, deren Mündungen ihn wie ein zweites Augenpaar anzustarren schienen.
Zwei weitere Bewaffnete – gut ausgebildete Profis, wie ihre Haltung, ihre Feuerbereitschaft, ihre wachsamen Blicke zeigten – standen auf beiden Seiten von Lugners Schreibtisch und hielten Belknap ebenfalls in Schach. Angehörige seiner privaten Leibwache, vermutete Belknap sofort: Männer, auf deren Loyalität und Kompetenz er sich verlassen konnte; Männer, die auf seiner Gehaltsliste standen; Männer, die finanziell von ihm abhängig waren. Für einen Mann in seiner Lage rentierte sich die Investition in eine Schutztruppe dieser Art unbedingt. Jetzt kamen die beiden Revolvermänner auf Belknap zu und hielten ihre Waffen in Hüfthöhe schussbereit, während sie ihn zwischen sich nahmen.
»Sie sind ein hartnäckiger kleiner Scheißer, was?«, fragte Lugner schließlich. Seine Stimme war ein nasales Krächzen. »Sie sind ’ne Zecke in Menschengestalt.«
Belknap sagte nichts. Die Verteilung der Schützen war nur zu offensichtlich und professionell arrangiert; es gab keine plötzliche Bewegung, die er machen konnte, um die Geometrie des Todes zu verändern.
»Zecken hat meine Mutter uns Jungs mit ’nem heißen Zündholzkopf weggebrannt. Hat verdammt wehgetan. Bloß dem Viech noch mehr.«
Einer seiner privaten Bodyguards ließ ein leises, kehliges Lachen hören.
»Oh, spielen Sie bloß nicht das Unschuldslamm!«, fuhr der Verräter fort. »Mein Vermittler in Bukarest hat mir von seinem Gespräch mit Ihnen berichtet. Danach musste er einen Arm in der Schlinge tragen. Er war verdammt sauer, kann ich Ihnen sagen. Sie sind unartig gewesen.« Ein ironisch missbilligendes Schmollen. »Probleme löst man nicht mit den Fäusten – haben Sie in der ersten Klasse nicht aufgepasst?« Ein groteskes Blinzeln. »Schade, dass ich Sie nicht gekannt habe, als Sie in der ersten Klasse waren. Ich hätte Ihnen ein paar Sachen beibringen können.«
»Fuck you!« Belknaps Stimme war ein heiseres Knurren.
»Hitzig, hitzig. Sie müssen Ihre Gefühle zügeln, sonst bekommen Ihre Gefühle die Oberhand. Erzählen Sie mir also, Greenhorn, wie Sie mich gefunden haben.« Lugners Blick verhärtete sich. »Werde ich den kleinen Ingo garottieren müssen?« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, der Kleine hat behauptet, er habe es gern hart. Ich habe ihm versprochen, ihn zu Orten zu führen, an denen er noch nie gewesen ist. Nächstes Mal werden wir einfach die nächste Stufe erklimmen. Die letzte Stufe. Ich glaube nicht, dass jemand sich groß darum scheren wird.«
Belknap erschauderte unwillkürlich. Lugners Handlanger feixten nur.
»Keine Sorge«, sagte der Verräter in scheinbar beruhigendem Tonfall. »Ich werde auch Sie an einen Ort führen, an dem Sie noch nie gewesen sind. Haben Sie schon mal eine taktische Schrotflinte wie eine 410er Mossberg aus Kernschussweite abgefeuert? Auf einen Mann, meine ich. Ich hab’s getan. Unvergleichlich!«
Belknaps Blick glitt von der unergründlichen Schwärze der beiden Mündungen zu der unergründlichen Schwärze von Lugners Augen hinauf.
Lugner hingegen betrachtete die Wand unmittelbar hinter seinem Gefangenen. »Die Sache bleibt unter uns, das kann ich Ihnen versprechen. Diese alten Wohnblocks haben wundervoll massive Mauern – der weiche Bleischrot wird den Verputz kaum ankratzen. Und dazu kommt die Schalldämmung, die ich habe vornehmen lassen. Mir war klar, dass ich die Nachbarn gegen mich aufgebracht hätte, wenn einer der Bahnhofsjungen sich als Stöhner erwiesen hätte.« In einer scheußlichen Karikatur eines Lächelns wich Fleisch von Jacketkronen zurück. »Aber Sie bekommen heute eine andere Ladung verpasst. Tatsächlich wird diese Mossberg den größten Teil Ihrer Körpermitte wegpusten. Sie wird, das können Sie mir glauben, ein Loch hinterlassen, durch das Sie Ihren Arm stecken können.«
Belknap versuchte eine Bewegung, aber er wurde von Händen wie Stahlklammern festgehalten.
Lugner sah mit der Miene eines Fernsehkochs, der eine kulinarische Überraschung in petto hat, zu seinen beiden Handlangern hinüber. »Ich übertreibe, glaubt ihr? Also gut, ich will’s euch zeigen. So was bekommt ihr nie wieder zu sehen.« Ein leises Snick-snick, als er die Schrotflinte entsicherte. »Niemals wieder.«
Die nun folgenden Geräusche konnte Belknap erst nachträglich einordnen. Das laute Klirren von zersplitterndem Fensterglas; Lugner, der sich, von dem Geräusch überrascht, dem Erkerfenster links von ihm zuwandte; im nächsten Augenblick das Mündungsfeuer einer Handfeuerwaffe, das wie ein Blitzstrahl in den dunklen Raum zuckte und von dem Spiegel und blanken Metallflächen zurückgeworfen wurde und …
Ein Blutstrahl, der aus Richard Lugners rechter Schläfe schoss.
Das Gesicht des Verräters wurde plötzlich schlaff, als er leblos zusammenbrach, wobei die Schrotflinte von ihm wegfiel wie der Krückstock eines Schlaganfallopfers. Jemand, der unglaublich gut schoss, hatte Lugner mit einem Kopfschuss erledigt.
Die Leibwächter ließen Belknap los, traten von ihm weg und zielten auf das zersplitterte Fenster. Das Werk eines Scharfschützen?
»Auffangen!«, rief eine Stimme – die eines Amerikaners –, dann kam eine Pistole durch die Luft auf Belknap zugeflogen. Er fing sie mit einer reinen Reflexbewegung auf, während er die momentane Unentschlossenheit der beiden Bodyguards registrierte, die sich jetzt entscheiden mussten, ob sie erst auf den Gefangenen schießen sollten … oder auf den schlaksigen Unbekannten, der sich eben durch das Flügelfenster mit den vier Scheiben hereingeschwungen hatte. Belknap ließ sich fallen, spürte dabei, wie eine Kugel fast seine Schulter streifte, schoss zweimal auf den nächsten Bewaffneten und traf ihn in die Brust. Auf die größte Körpermasse zielen: das Standardverfahren für Schüsse aus der Bewegung heraus. Aber es reichte nicht aus, um bei einer Schießerei in räumlich beengten Verhältnissen einen plötzlichen Tod zu garantieren. Nur ein Schuss, der zufällig das Zentralnervensystem lähmte, hätte die Gefahr augenblicklich beseitigt. Der tödlich verletzte Leibwächter, aus dessen Brust scharlachrotes Blut quoll, begann wild um sich ballernd sein Magazin leer zu schießen. Die massiven Wände des kleinen Raums verstärkten den Lärm großkalibriger Patronen, und im Halbdunkel war das immer wieder aufblitzende weiße Mündungsfeuer schmerzhaft hell.
Belknap schoss erneut. Diesmal traf er den Mann ins Gesicht. Seine Waffe, eine altmodische Walther, die von manchen ehemaligen Soldaten bevorzugt wurde, weil sie angeblich nie Ladehemmung hatte, krachte zu Boden. Ihr Besitzer folgte ihr im nächsten Augenblick.
Der Unbekannte – er war groß, agil, trug einen gelbbraunen Arbeiteroverall, an dem Glassplitter glitzerten – sprang zur Seite, um dem Feuer des zweiten Söldners zu entgehen, noch während er es mit einem einzigen perfekten Kopfschuss erwiderte, der den Mann sofort zusammenklappen ließ.
Die jetzt folgende Stille war unheimlich, lange Sekunden der tiefsten Stille, die Belknap jemals erlebt hatte. Der Unbekannte hatte fast gelangweilt gewirkt, als er Lugner und seine Männer erledigt hatte. Nichts wies daraufhin, dass sein Puls im Geringsten beschleunigt war.
Schließlich sprach der Unbekannte ihn mit träger Stimme an. »Ich vermute, dass in einer der Nischen auf dem Flur ein Stasi-Mann Wache gehalten hat.«
Genau das hätte auch Belknap vermuten müssen. Nicht zum ersten Mal verwünschte er im Stillen seine Dummheit. »Aber ich glaube nicht, dass er reinkommen wird«, sagte er. Sein Mund war trocken, seine Stimme kratzig. Er konnte spüren, dass in seinem rechten Bein ein Muskel zitterte, wie eine Cellosaite vibrierte. Außer bei Nahkampfübungen hatte er noch nie in die Mündungen einer doppelläufigen Schrotflinte gestarrt. »Ich denke, dass sie ihrem Ehrengast freie Hand lassen wollten, was die … Beseitigung unerwünschter Besucher angeht.«
»Na, hoffentlich hat er eine gute Haushälterin«, sagte der Mann und schnippte sich Glassplitter von seinem Overall. Sie standen mitten in einem Polizeistaat zwischen drei blutüberströmten Leichen, aber er schien es nicht im Geringsten eilig zu haben. Er streckte die Hand aus. »Übrigens, mein Name ist Jared Rinehart.« Sein Händedruck war fest und trocken. Belknap, der nicht weit von ihm entfernt stand, stellte verblüfft fest, dass Rinehart nicht schwitzte; auf seinem Kopf schien nicht ein Haar in Unordnung zu sein. Er war ein Muster an Kaltblütigkeit. Belknap dagegen, das bestätigte ein Blick in den Spiegel, sah grässlich aus.
»Sie haben sich für einen Frontalangriff entschieden. Mutig, aber ein bisschen unüberlegt. Vor allem, wenn die Wohnung über dieser leer steht.«
»Verstehe«, grunzte Belknap, und das tat er wirklich: Er begriff sofort, wie Rinehart vorgegangen war, und bewunderte die Geschicklichkeit, mit der er seine Taktik den Erfordernissen der Lage angepasst hatte. »Sie haben recht.«
Rinehart war leicht in die Länge gezogen wie ein Christus auf einem manieristischen Gemälde; er hatte lange, elegante Glieder und eigenartig seelenvolle graugrüne Augen. Er bewegte sich katzengleich geschmeidig, als er jetzt einen Schritt auf Belknap zutrat. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, weil Sie den Stasi-Mann übersehen haben. Ich habe offen gestanden einen Heidenrespekt vor dem, was Sie geleistet haben. Ich habe monatelang versucht, Mr. Lugner aufzuspüren, leider ohne den geringsten Erfolg.«
»Diesmal haben Sie ihn erwischt«, sagte Belknap. Wer zum Teufel sind Sie?, hätte er am liebsten gefragt, aber er beschloss, den rechten Augenblick dafür abzuwarten.
»Eigentlich nicht«, sagte sein Retter. »Ich habe Sie erwischt.«
»Mich.« Die Schritte auf dem Marx-Engels-Forum. Das spurlose Verschwinden eines wirklichen Profis. Das schemenhafte Spiegelbild des schlaksigen Arbeiters im bronzefarbenen Glas des Palasts der Republik.
»Hierher bin ich nur gelangt, weil ich Ihnen gefolgt bin. Sie waren sehenswert, kann ich Ihnen sagen. Ein Spürhund auf der Fährte des Fuchses. Und ich atemlos hinter Ihnen her wie ein Landedelmann in Reithosen.« Er machte eine Pause, sah sich um, als begutachte er seine Umgebung. »Du meine Güte! Man könnte glauben, hier habe ein zugekiffter Rocksänger sein Hotelzimmer demoliert. Aber ich denke, die Sache ist auf den Punkt gebracht, nicht wahr? Zumindest meine Auftraggeber werden kein bisschen unzufrieden sein. Mr. Lugner war ein so schlechtes Beispiel für ehrbare Spione: Er hat im Luxus gelebt und Morde verüben lassen. Jetzt ist er ein sehr gutes Beispiel.« Sein Blick streifte den toten Lugner, dann sah er wieder Belknap an. »Der Sünde Lohn und so weiter.«
Belknap sah sich um, sah das Blut der drei Erschossenen in dem rostbraunen Teppich versickern, wobei es durch Oxidation fast genau den gleichen Farbton annahm. Übelkeit brandete wie eine Welle über ihn hinweg. »Woher haben Sie gewusst, dass Sie mir folgen mussten?«
»Ich habe die Suks am Alexanderplatz erkundet, mich ehrlich gesagt dort herumgetrieben. Plötzlich ist mir Ihre äußere Erscheinung aus Bukarest bekannt vorgekommen. Ich glaube nicht an Zufälle, Sie etwa? Sie hätten natürlich einer von seinen Kurieren sein können. Jedenfalls standen Sie irgendwie mit ihm in Verbindung. Das Risiko erschien mir lohnend.«
Belknap starrte ihn nur an.
»Also gut«, fuhr Jared Rinehart lebhaft fort, »damit wären wir bei der entscheidenden Frage: Sind Sie Freund oder Feind?«
»Wie bitte?«
»Das ist unhöflich, ich weiß.« Er zeigte ein gespieltes Zusammenzucken wegen seiner Taktlosigkeit. »Wie wenn man bei einem Dinner fachsimpelt oder Leute auf Cocktailpartys fragt, womit sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber ich habe ein praktisches Interesse an dieser Frage. Ich würde gerne wissen, ob Sie im Sold der … oh, sagen wir, der Albaner stehen. Die sollen geglaubt haben, Mr. Lugner habe das wirklich gute Material für ihre Rivalen im Ostblock zurückgehalten, und Sie wissen ja, wie die Albaner sind, wenn sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen. Und was die Bulgaren angeht … nun, von denen will ich gar nicht erst anfangen.« Während er sprach, zog er ein Taschentuch heraus und tupfte damit Belknaps Kinn ab. »Dieser Kombination aus Tödlichkeit und Beschränktheit begegnet man nicht jeden Tag. Also muss ich Sie jetzt fragen: Sind Sie eine gute Fee oder eine böse Hexe?« Er überreichte Belknap das Taschentuch mit einer schwungvollen Bewegung. »Sie hatten etwas Blut am Kinn«, erklärte er ihm. »Behalten Sie’s.«
»Das kapiere ich nicht«, sagte Belknap mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Ehrfurcht in der Stimme. »Sie haben gerade Ihr Leben riskiert, um meines zu retten … ohne wirklich zu wissen, ob ich Feind oder Verbündeter bin?«
Rinehart zuckte mit den Schultern. »Sagen wir einfach, ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Und Sie mussten das eine oder das andere sein. Ein bisschen riskant, das gebe ich zu, aber wer nicht würfelt, ist nicht mit im Spiel. Oh, und bevor Sie meine Frage beantworten, sollten Sie wissen, dass ich als inoffizieller Vertreter des US-Außenministeriums hier bin.«
»Jesus!« Belknap bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. »Consular Operations? Das Pentheus-Team?«
Rinehart lächelte nur. »Sie sind auch von Cons Ops? Wir bräuchten einen geheimen Händedruck, finden Sie nicht auch? Oder eine Clubkrawatte, deren Design allerdings ich aussuchen müsste.«
»Diese Dreckskerle«, sagte Belknap, der sich wie vor den Kopf geschlagen fühlte. »Warum hat mir das kein Mensch gesagt?«
»Jeder soll im Ungewissen bleiben – das ist die Philosophie dahinter. Fragen Sie die Jungs in der 2201 C Street, wird Ihnen erklärt, dass dieses Verfahren manchmal angewandt wird, vor allem wenn Agenten allein im Einsatz sind. Selbstständige, nicht miteinander verbundene geheime Einheiten. Dabei wird auch hochtrabend von operativer Partition geredet. Ein potenzieller Nachteil besteht darin, dass man übereinanderstolpern kann. Der Vorteil ist, dass man Gruppendenken und Gleichschritt vermeidet und mehr als eine Annäherungsweise nutzt. Das erzählen sie einem. Aber in Wirklichkeit hat bloß irgendwer Mist gebaut, möchte ich wetten. Kommt alle Tage vor.« Während er sprach, interessierte er sich für den Inhalt des Barschranks aus Mahagoni und Messing in einer Ecke des Arbeitszimmers. Er hielt eine Flasche hoch und strahlte. »Ein zwanzig Jahre alter Slibowitz aus Suwoborska. Gar nicht übel. Ich glaube, wir könnten beide einen kleinen Schluck vertragen. Den haben wir uns verdient.« Er goss zwei Schnapsgläser halb voll, drückte eines davon Belknap in die Hand. »Hoch die Tassen!«, rief er laut.
Belknap zögerte, dann kippte er den Inhalt des Schnapsglases hinunter, während seine Gedanken weiter durcheinanderwirbelten. Jeder andere Agent in Rineharts Position hätte sich zunächst auf eine Beobachterrolle beschränkt. Wäre eine direkte Intervention notwendig gewesen, wäre sie in dem Augenblick erfolgt, in dem Lugner und seine Schergen ihre Waffen weggesteckt hätten. Irgendwann nachdem sie benützt worden waren. Belknap hätte postum einen Orden bekommen, der auf seinem Sarg gelegen hätte; Lugner wäre erschossen oder festgenommen worden. Der zweite Agent wäre belobigt und befördert worden. Organisationen bewerteten Besonnenheit höher als Tapferkeit. Von keinem Menschen konnte man erwarten, dass er sich allein in ein Zimmer wagte, in dem drei Männer mit schussbereiten Waffen standen. Das zu tun verstieß gegen alle Logik – von den bewährten Standardverfahren ganz zu schweigen.
Wer war dieser Mann?
Rinehart durchwühlte die Jackentaschen eines der toten Leibwächter, holte eine kompakte amerikanische Colt-Pistole mit kurzem Lauf heraus, zog das Magazin aus dem Griff und begutachtete die Patronen. »Ist das Ihre?«
Belknap nickte zustimmend, und Rinehart warf ihm die Waffe zu. »Sie sind ein Mann mit Geschmack. Kaliber neun Millimeter, beschichtete Hohlladungen, geriffeltes Kupfer auf Blei. Ein ausgezeichneter Kompromiss zwischen Stoppwirkung und Durchschlagkraft – und jedenfalls nicht dienstlich geliefert. Die Briten sagen, man könne jeden Mann nach seinen Schuhen beurteilen. Ich behaupte, dass die von ihm gewählte Munition einem alles sagt, was man wissen muss.«
»Ich will Ihnen sagen, was ich wissen möchte.« Belknap versuchte noch immer, seine bruchstückhaften Erinnerungen an die letzten paar Minuten zu ordnen. »Was wäre gewesen, wenn ich kein Freund wäre?«
»Dann läge hier jetzt eine vierte Leiche für die Putzkolonne.« Rinehart legte Belknap eine Hand auf die Schulter, drückte sie beruhigend. »Aber Sie werden noch merken, dass ich größten Wert darauf lege, meinen guten Freunden ein guter Freund zu sein.«
»Und Ihren gefährlichen Feinden ein gefährlicher Feind?«
»Wir verstehen uns«, stellte sein redseliger neuer Freund fest. »Also: Was halten Sie davon, wenn wir diese Party im Arbeiterpalast verlassen? Wir haben den Gastgeber kennengelernt, ihm unsere Aufwartung gemacht, einen Drink genommen – jetzt können wir gehen, glaube ich, ohne jemanden zu kränken. Man soll ohnehin nie als Letzter gehen.« Sein Blick glitt über die schlaffen Gesichter der drei Toten hinweg. »Treten Sie ans Fenster, sehen Sie ein Fahrgerüst, eine Art Außenaufzug, von dem aus man wunderbar Fenster putzen könnte, obwohl wir diesen Teil auslassen werden, denke ich.« Er begleitete Belknap durch das eingeschlagene Fenster auf eine kleine Plattform hinaus, die an Seilen vom Balkon der Wohnung über ihnen hing. Wegen der häufigen Instandsetzungsarbeiten an diesen Gebäuden würde niemand auf der Seitenstraße sieben Stockwerke unter ihnen auf sie achten.
Rinehart schnippte einen letzten Glassplitter von seinem Overall. »Die Sache liegt folgendermaßen, Mr. …«
»Belknap«, sagte er, während er auf der Plattform sicheren Halt suchte.
»Die Sache liegt folgendermaßen, Belknap. Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig?«
»Sechsundzwanzig, und nennen Sie mich Todd.«
Rinehart fummelte an der Steuerung herum. Mit einem Ruck begann die Plattform, langsam und ruckelnd in die Tiefe zu sinken, als werde sie stufenweise abgelassen. »Dann sind Sie erst ein paar Jahre in unserem Laden, nehme ich an. Ich werde nächstes Jahr dreißig. Hab ein paar Jahre mehr Erfahrung. Deshalb will ich Ihnen sagen, was Sie feststellen werden. Sie werden merken, dass die meisten Ihrer Kollegen mittelmäßig sind. Das liegt einfach in der Natur jeder Organisation. Stößt man also auf jemanden, der wirklich Talent hat, ist man um das Wohl dieser Person besorgt. Auch in der Geheimdienstwelt werden Fortschritte nur von einer Handvoll Leute erzielt. Die sind die Edelsteine. Man lässt nicht zu, dass sie verloren gehen, verkratzt werden oder sonst wie Schaden leiden – nicht, wenn einem an unserem verdammten Unternehmen etwas liegt. Sich ums Geschäft zu kümmern heißt auch, sich um seine Freunde zu kümmern.« Seine graugrünen Augen starrten Belknap eindringlich an, als er fortfuhr: »Es gibt ein berühmtes Zitat des englischen Autors E. M. Foster, das Sie vielleicht kennen. Er hat gesagt, müsse er jemals zwischen Verrat an seinem Land oder seinen Freunden wählen, werde er hoffentlich den Mumm haben, sein Land zu verraten.«
»Klingt irgendwie bekannt.« Belknap hatte nur Augen für die Straße, die zum Glück leer blieb. »Ist das Ihre Philosophie?« Er spürte einen Regentropfen, allein, aber schwer, und dann noch einen.
Rinehart schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil! Daraus lernen wir nur, dass man sich bei der Wahl seiner Freunde vorsehen muss.« Wieder ein durchdringender Blick. »Weil man nie in die Lage kommen sollte, diese Wahl treffen zu müssen.«
Jetzt traten die beiden auf die schmale Straße, ließen die Plattform hinter sich zurück.
»Nehmen Sie den Eimer mit«, verlangte Rinehart. Belknap gehorchte, weil er sofort einsah, wie zweckmäßig das war. In einer Stadt, in der Arbeiter das Straßenbild prägten, waren Rineharts Overall und die Schiebermütze aus seinem Rucksack eine ausgezeichnete Tarnung; mit einem Eimer mit Fliesenlegerwerkzeug würde Belknap wie sein Kollege aussehen.
Ein weiterer schwerer Regentropfen klatschte auf Belknaps Stirn. »Jetzt bricht es gleich aus allen Wolken«, meinte er, als er ihn wegwischte.
»Bald bricht alles zusammen«, behauptete der schlaksige Agent geheimnisvoll. »Und hier weiß das in seinem Herzen jeder.«
Rinehart kannte sich in der Stadt gut aus – er wusste, welche Geschäfte zwei Straßen miteinander verbanden, welche Gassen in andere mündeten, die ihrerseits zu anderen Straßen führten.
Das pockennarbige Gesicht des Verräters mit seinem bösartig leidenschaftslosen Ausdruck stand Belknap wie ein gespenstisches Nachbild vor Augen. »Böse«, sagte er zur eigenen Überraschung schroff. Das war ein Wort, das er selten gebrauchte. Aber hier passte kein anderes. Die beiden Mündungen der Schrotflinte waren in sein Gedächtnis eingebrannt, als seien sie Lugners bösartige Augen.
Rinehart schien seine Gedanken zu erraten. »Was für ein Begriff«, sagte der größere Mann mit einem Nicken. »Heutzutage ganz unmodern, aber trotzdem unersetzlich. Irgendwie halten wir uns für zu weltklug, um über das Böse zu sprechen. Alles soll sich als Folge gesellschaftlicher oder psychologischer oder geschichtlicher Faktoren erklären lassen. Und sobald man das tut … nun, dann verschwindet das Böse von der Bildfläche, nicht wahr?« Rinehart hielt auf eine Fußgängerunterführung zu, die zwei Hälften eines Platzes verband, der von einer verkehrsreichen Straße durchschnitten wurde. »Wir geben gern vor, nicht mehr von dem Bösen zu sprechen, weil wir über diesen Begriff hinausgewachsen sind. Aber sind wir das? Ich vermute, dass unsere Motivation geradezu steinzeitlich ist. Wie Angehörige eines primitiven Volksstamms bilden wir uns ein, das Ding zum Verschwinden zu bringen, indem wir seinen Namen nicht aussprechen.«
»Es liegt an diesem Gesicht«, murmelte Belknap.
»Ein Gesicht, das nur Helen Keller hätte lieben können«, sagte Rinehart und tat so, als lese er mit den Fingern Blindenschrift.
»Wie er einen ansieht, meine ich.«
»Oder angesehen hat«, antwortete Rinehart, indem er die Vergangenheitsform betonte. »Ich bin mehrmals mit diesem Mann aneinandergeraten. Er war ein sehr gefährlicher Gegner. Und wie Sie sagen … böse. Trotzdem hat nicht alles Böse ein Gesicht. Das hiesige Ministerium für Staatssicherheit ist auf Männer wie Lugner angewiesen. Es ist ebenfalls eine Form des Bösen. Monumental und gesichtslos.« Rinehart sprach weiterhin ruhig, aber er versuchte nicht, die Leidenschaft in seiner Stimme zu verbergen. Der Mann war cool – vielleicht der coolste Typ, der Belknap je begegnet war –, aber er war kein Zyniker. Nach einiger Zeit erkannte Belknap noch etwas anderes: Der Gesprächsfluss des anderen diente ihm nicht nur dazu, sich selbst auszudrücken, sondern war ein Versuch, einen jungen Agenten, der soeben einen Schock erlitten hatte, abzulenken und zu beruhigen. Sein Schwatzen war reine Menschenfreundlichkeit.
Zwanzig Minuten später näherten sich die beiden Männer – allem Anschein nach zwei Arbeiter – dem Gebäude der US-Botschaft, einem Marmorbau im Schinkel-Stil, jetzt durch Umweltverschmutzung geschwärzt. Vereinzelt fielen große, schwere Regentropfen. Von den Gehsteigen stieg ein vertrauter lehmiger Geruch auf. Belknap beneidete Rinehart um seine Mütze. Drei Vopos behielten die Botschaft von ihrem Posten auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus im Auge, zogen ihre Nylonjacken zurecht und bemühten sich, ihre Zigaretten nicht nass werden zu lassen.
Die beiden Amerikaner näherten sich der Botschaft, und Rinehart zog die Klappe der linken Brusttasche seines Overalls hoch, die mit Klettband gesichert war. Er zeigte dem Wache haltenden US-Marineinfanteristen ein blaues codiertes Namensschild. Ein rasches Nicken, dann fanden die beiden sich hinter dem Konsulatszaun wieder. Belknap spürte einige weitere Regentropfen, während andere um ihn herum auf den Asphalt klatschten, der sich allmählich dunkel färbte. Das schwere Stahltor fiel krachend zu. Noch vor Kurzem war ihm der Tod gewiss erschienen. Jetzt waren sie in Sicherheit. »Gerade fällt mir ein, dass ich Ihre erste Frage nie beantwortet habe«, sagte er zu seinem Begleiter.
»Ob Sie Freund oder Feind sind?«
Belknap nickte. »Also gut, einigen wir uns darauf, dass wir Freunde sind«, sagte er in einer plötzlichen Anwandlung von Dankbarkeit und Wärme. »Weil ich mehr Freunde wie Sie brauchen könnte.«
Der hochgewachsene Agent bedachte ihn mit einem Blick, der freundlich und abschätzend zugleich war. »Vielleicht genügt einer«, sagte er lächelnd.
Später – Jahre später – sollte Belknap Grund haben, darüber nachzudenken, wie eine kurze Begegnung den weiteren Lebensweg eines Mannes bestimmen konnte. Ein schicksalhafter Augenblick, der das Leben in ein Davor und ein Danach teilte. Trotzdem war es unmöglich, außer mit einigem Abstand, die Bedeutung dieses Augenblicks zu erkennen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurde Belknap ganz von dem überwältigenden, aber trotzdem banalen Gedanken beherrscht: Heute hat mir jemand das Leben gerettet, als sei durch diese Tat lediglich die Normalität wiederhergestellt, als sei jetzt eine Rückkehr zum alten Stand der Dinge möglich. Er wusste nicht – konnte es nicht wissen –, dass sein Leben sich unwiderruflich verändert hatte. Auf unmerkliche und trotzdem zugleich dramatische Weise hatte seine Bahn eine andere Richtung genommen.
Als die beiden Männer unter die olivgrüne Markise an der Längsseite des Konsulatsgebäudes traten, trommelte Regen auf das mit Kunststoffbeschichtete Gewebe, von dem das Wasser in Strömen ablief. Der Wolkenbruch hatte eingesetzt.
Nach alter Überlieferung wurde Rom auf sieben Hügeln erbaut. Der Janiculus, höher als alle anderen, ist der achte. Im Altertum war er dem Kult des Janus geweiht – des Gottes des Ein- und Ausgangs; des Gottes mit den zwei Gesichtern. Todd Belknap würde sie beide brauchen. Im zweiten Stock der Villa an der Via Angelo Masina, einem hoch aufragenden klassizistischen Bau mit ockergelber Stuckfassade und flachen weißen Wandpfeilern, sah der Agent zum fünften Mal in zehn Minuten auf seine Armbanduhr.
Das ist eben dein Job, versicherte er sich im Stillen.
Aber dies entsprach nicht seinem ursprünglichen Plan. Dies entsprach niemands Plan. Er bewegte sich lautlos durch die Eingangshalle, die zum Glück mit solide verfugten Fliesen ausgelegt war; hier gab es kein knarrendes Parkett. Bei der Renovierung war der verrottende Holzboden einer früheren Instandsetzung herausgerissen worden … und wie viele solcher Renovierungen hatte es seit der Fertigstellung im 18. Jahrhundert gegeben? Die auf einem Aquädukt des Trajan erbaute Villa hatte eine illustre Vorgeschichte. Im Jahr 1848, auf dem Höhepunkt der italienischen Einigungsbewegung, hatte sie Garibaldi als Hauptquartier gedient; damals war angeblich ihr Keller zum provisorischen Waffenlager vergrößert worden. Heutzutage diente die Villa wieder militärischen Zwecken, auch wenn diese ruchloser waren: Sie gehörte Chalil Ansari, einem jemenitischen Waffenhändler. Cons-Ops-Analysten hatten nachgewiesen, dass er nicht nur in Südostasien, sondern auch in Afrika zu den größten Lieferanten zählte. Was ihn von anderen in dieser Branche unterschied, war seine Scheu vor der Öffentlichkeit: wie sorgfältig er seine Geschäfte, seinen Aufenthaltsort, seine Identität getarnt hatte. Jedenfalls bisher.
Belknaps Timing hätte nicht besser – oder schlechter – sein können. In den gut zwei Jahrzehnten seines Agentenlebens im Außendienst hatte er gelernt, den glücklichen Zufall zu fürchten, der sich fast zu spät einstellt. Einen hatte er ziemlich zu Beginn seiner Laufbahn in Ostberlin erlebt. Einen weiteren hatte es vor sieben Jahren in Bogotá gegeben. Und hier in Rom war es wieder einmal so weit. Aller guten Dinge sind drei, wie sein guter Freund Jared Rinehart ironisch festgestellt hätte.
Ansari, das wussten sie, stand vor einem riesigen Waffengeschäft, das einen gleichzeitigen Ringtausch zwischen mehreren Beteiligten erforderte. Allen Anzeichen nach war dieses Geschäft unglaublich kompliziert und außerordentlich umfangreich – ein Deal, wie ihn vielleicht nur Chalil Ansari einfädeln konnte. Nach Informationen aus zuverlässiger Quelle sollten die abschließenden Vereinbarungen heute Abend bei einer interkontinentalen Telefonkonferenz getroffen werden. Doch die Verwendung scheinbar harmloser Codebezeichnungen und modernster Verschlüsselung schlossen die gewöhnlichen technischen Entschlüsselungsverfahren aus. Das alles hatte sich durch Belknaps Entdeckung geändert. Gelang es ihm, eine Wanze an der richtigen Stelle anzubringen, würde Consular Operations wertvolle Aufschlüsse darüber erhalten, wie Ansaris Netzwerk funktionierte. Mit etwas Glück würde eine verbrecherische Organisation zerschlagen werden – und ein Händler des Todes, der Milliardenumsätze machte, würde seine gerechte Strafe erhalten.
Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass Belknap Ansari erst vor wenigen Stunden identifiziert hatte. Keine Zeit für ein koordiniertes Unternehmen. Keine Zeit für die Heranführung von Reserven, für die Ausarbeitung eines von der Zentrale genehmigten Einsatzplans. Ihm blieb nichts anderes übrig, als allein einzugreifen. Diese Gelegenheit durfte nicht ungenützt verstreichen.
Ein auf den Namen Sam Norton ausgestellter und mit einem Clip an seinem Polohemd befestigter Lichtbildausweis identifizierte ihn als einen der Architekten, die mit den abschließenden Renovierungsarbeiten zu tun hatten: als einen Mitarbeiter des englischen Architekturbüros, das die Projektleitung hatte. Damit war er ins Haus gelangt; aber der Ausweis konnte nicht erklären, was er im zweiten Stock zu suchen hatte. Vor allem konnte er sein Eindringen in Ansaris privates Arbeitszimmer nicht rechtfertigen. Wurde er hier ertappt, war alles aus. Das galt auch für den Fall, dass jemand den Wachposten entdeckte, den er mit einem winzigen Carfentanil-Wurfpfeil außer Gefecht gesetzt und in einer Besenkammer auf dem Flur verstaut hatte. Damit wäre das Unternehmen zu Ende gewesen. Das wäre sein Ende gewesen.
Diese Tatsachen akzeptierte Belknap ohne Angst, sondern eher fatalistisch wie Straßenverkehrsvorschriften. Während er sich im Arbeitszimmer des Waffenhändlers umsah, empfand er eine Art operativer Taubheit; er sah sich selbst aus der Perspektive eines körperlosen Beobachters, der weit über ihm schwebte. Das Keramikelement des Kontaktmikrofons ließ sich … wo verstecken? In der Orchideenvase auf dem Schreibtisch. Die Vase würde als natürlicher Verstärker dienen. Selbstverständlich würde der Spürtrupp des Jemeniten sie routinemäßig nach Wanzen absuchen, aber das würde erst morgen früh passieren. Ein Tastaturlogger – er hatte das neueste Modell – würde alles aufzeichnen, was auf der Tastatur von Ansaris PC geschrieben wurde. In Belknaps Ohrhörer erklang ein leises Piepsen: eine Reaktion auf einen Funkimpuls des winzigen Bewegungsmelders, den Belknap draußen auf dem Korridor versteckt angebracht hatte.
Würde gleich jemand hereinkommen? Das war nicht gut. Gar nicht gut. Eine schlimme Ironie des Schicksals. Er hatte über ein halbes Jahr gebraucht, um Chalil Ansari zu finden. Jetzt bestand die Gefahr, dass Ansari ihn fand.
Verdammt! Ansari hätte nicht so schnell zurückkommen sollen. Belknap sah sich hilflos in dem marokkanisch gefliesten Raum um. Außer einem Schrank mit Lamellentür, der in der Ecke neben dem Schreibtisch stand, gab es hier eigentlich kein Versteck. Keineswegs ideal. Belknap trat rückwärts hinein, ging in die Hocke und zog die Tür wieder zu. In dem Schrank, vor dessen Rückwand ein Regal mit summenden Routern stand, war es unangenehm warm. Er zählte die Sekunden. Der Bewegungsmelder im Miniaturformat, den er auf dem Flur installiert hatte, konnte auf eine Kakerlake oder eine Maus angesprochen haben. Bestimmt war dies ein Fehlalarm.
War es nicht. Jemand betrat das Zimmer. Belknap spähte durch die Lamellen, bis er die Gestalt erkennen konnte. Chalil Ansari: ein Mann, der überall zum Rundlichen neigte. Ein aus Ovalen bestehender Körper, wie im Zeichenunterricht zu Übungszwecken skizziert. Sogar sein kurz geschnittener Vollbart war an den Rändern abgerundet. Seine Lippen, seine Ohren, sein Kinn, seine Wagen waren voll, weich, rund, ausgepolstert. Er trug einen Kaftan aus weißer Seide, das sah Belknap jetzt, der seinen massiven Körper locker umgab. Der Mann trat mit geistesabwesender Miene auf seinen Schreibtisch zu. Nur der Blick des Jemeniten war scharf, suchte den Raum ab wie das wirbelnde Schwert eines Samurais. War Belknap gesehen worden? Er hatte darauf gezählt, in der Dunkelheit des Schranks unentdeckt zu bleiben. Er hatte auf viele weitere Dinge gezählt. Noch eine Fehlkalkulation, dann würde er ausgezählt werden.
Der Jemenit parkte sein Lebendgewicht in dem Ledersessel am Schreibtisch, ließ seine Fingerknöchel knacken und tippte etwas nicht sehr Langes – ohne Zweifel ein Passwort. Belknap hockte weiter unbequem in dem Schrank, der nur eine Wandnische ausfüllte. Seine Knie begannen zu protestieren. Er war jetzt Mitte vierzig, hatte die Geschmeidigkeit seiner Jugend verloren. Aber er durfte sich keine Bewegung erlauben; das Knacken seiner Kniegelenke hätte ihn sofort verraten. Wäre er nur ein paar Minuten früher – oder Ansari ein paar Minuten später – gekommen! Dann wäre der Tastaturlogger installiert gewesen und hätte elektronisch die von den angeschlagenen Tasten erzeugten Impulse aufgezeichnet. Vorerst hatte er nichts Wichtigeres zu tun, als einfach nur zu überleben, das Debakel zu ertragen. Für Einsatzanalysen und -berichte war später noch genügend Zeit.
Der Waffenhändler beugte sich in seinem Sessel nach vorn und tippte angestrengt mehrere Sätze ein. Anscheinend verschickte er E-Mails. Ansari trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, dann drückte er auf einen Knopf auf einem Kästchen mit Furnier aus Rosenholz. Vielleicht organisierte er eine Telefonkonferenz über VoIP. Vielleicht würde die ganze Konferenz wie in einem Chat-Room abgewickelt werden – nur eben mit verschlüsselten Texten. Es gab so vieles, was er hätte herausbekommen können, wäre er nur … Alles Bedauern kam zu spät, aber Belknap ärgerte sich trotzdem über die verpasste Chance.
Er erinnerte sich an seine Hochstimmung vor nicht allzu langer Zeit. Er hatte seine Beute endlich in ihrem Bau aufgespürt. Es war Jared Rinehart gewesen, der ihm als Erster den Spitznamen »Spürhund« gegeben hatte, und dieser wohlverdiente Ehrentitel war ihm geblieben. Obwohl Belknap ein besonderes Talent dafür besaß, untergetauchte Leute, die verschwunden bleiben wollten, aufzuspüren, war ein großer Teil seiner Erfolge – das wollten seine Kollegen nie glauben, aber er wusste, dass es stimmte – auf reine Beharrlichkeit zurückzuführen.
Jedenfalls hatte er so endlich Chalil Ansari aufgespürt, nachdem ganze Sonderkommissionen mit leeren Händen zurückgekommen waren. Die Bürokraten gruben eifrig, stießen mit ihren Schaufeln auf gewachsenen Fels und gaben die Sache als aussichtslos auf. Das war nicht Belknaps Art. Jede Suche war anders; jede erforderte eine Kombination aus Logik und Launenhaftigkeit, weil jeder Mensch eine Mischung aus Logik und Launenhaftigkeit war. Keines von beiden genügte jemals allein. Die Computer in der Zentrale konnten riesige Datenbanken durchsuchen und mit Meldungen von Grenzkontrollstellen, Interpol und ähnlichen Einrichtungen abgleichen, aber man musste ihnen sagen, wonach sie suchen sollten. Rechner ließen sich so programmieren, dass sie bestimmte Verhaltensmuster erkannten – aber sie mussten erst Anweisung haben, welche Muster sie erkennen sollten. Und sie konnten sich nie in die Gedanken einer Zielperson hineinversetzen. Ein Spürhund konnte einen Fuchs auch deshalb aufstöbern, weil er wie einer denken konnte.
Dann wurde angeklopft, und eine junge Frau – schwarzes Haar, dunkler Teint, aber nach Belknaps Einschätzung eher italienisch als levantinisch – trat ein. Der strenge Schnitt ihrer schwarz-weißen Dienstmädchenkleidung konnte die Schönheit der jungen Frau nicht verbergen: die knospende Sexualität eines Mädchens, das erst vor Kurzem zu voller körperlicher Reife gelangt ist. Sie trug ein Silbertablett mit einer Porzellankanne und einer kleinen Tasse. Minztee, das roch Belknap sofort. Der Händler des Todes hatte ihn sich bringen lassen. Jemeniten machten selten Geschäfte ohne eine Kanne Minztee oder tschai, wie sie ihn nannten, und Chalil, der im Begriff war, eine ganze Reihe von Geschäften abzuschließen, machte keine Ausnahme. Belknap hätte fast gelächelt.
Es waren unweigerlich solche Details, die Belknap halfen, seine schwer zu fassenden Zielpersonen aufzuspüren. Ein Beispiel aus jüngster Zeit war Garson Williams, der verräterische Wissenschaftler aus Los Alamos, der Atomgeheimnisse an die Nordkoreaner verkauft hatte und dann untergetaucht war. Das FBI fahndete vier Jahre lang vergeblich nach ihm. Schließlich erhielt Belknap den Auftrag, ihn zu finden. Zwei Monate später spürte er ihn auf. Williams – das wusste er aus einer Inventur seines Haushalts – hatte eine ausgesprochene Schwäche für Marmite, einen salzigen Brotaufstrich auf Hefebasis, der bei Engländern bestimmten Alters und ehemaligen britischen Untertanen beliebt war. Williams hatte ihn während seines Graduiertenstudiums in Oxford kennen- und liebengelernt. Beim Studium einer Inventarliste aus dem Haushalt des Physikers war Belknap aufgefallen, dass er drei Gläser davon in seiner Speisekammer stehen gehabt hatte. Das FBI hatte seine Gründlichkeit dadurch bewiesen, dass es sämtliche Gegenstände in Williams’ Haus durchleuchtet hatte, damit sichergestellt war, dass nirgends Mikrofilme versteckt waren. Aber die FBI-Agenten dachten nicht wie Belknap.
Der Physiker würde sich in ein weniger entwickeltes Land abgesetzt haben, in dem Ausweiskontrollen nachlässig gehandhabt wurden: Das war nur logisch, weil die Nordkoreaner ihm bestimmt keine Papiere in der Qualität hatten liefern können, die im Informationszeitalter den Kontrollen in westlichen Staaten hätten standhalten können. Also befasste Belknap sich mit den Orten, an denen der Mann Urlaub gemacht hatte, und suchte ein Verhaltensmuster, eine unterschwellige Vorliebe. Die von ihm ausgespannten Stolperdrähte waren eigenartig: Sie würden Alarm auslösen, wenn bestimmte Örtlichkeiten mit bestimmten typischen Essgewohnheiten zusammentrafen. Ein abgelegenes Hotel erhielt eine Sendung einer englischen Spezialität; ein Anruf – scheinbar von einem geschwätzigen Firmenvertreter, der eine Kundenbefragung durchführte – ergab, dass die Lieferung nicht für einen Gast, sondern einen in der Nähe lebenden Amerikaner bestimmt gewesen war.
Das Beweismaterial, wenn man es so nennen wollte, war absurd schwach; Belknaps Intuition war es nicht. Er spürte Williams schließlich in einem Fischerdorf an der Arugam Bay im Osten Sri Lankas auf, weil er allein kam. Er folgte einer Eingebung – er konnte es nicht rechtfertigen, ein Team zu entsenden, nur weil ein Amerikaner über ein kleines Hotel in seiner Nähe eine Marmite-Bestellung aufgegeben hatte. Für eine offizielle Reaktion war das viel zu dürftig. Aber für Belknap lag ein schlüssiger Beweis vor. Er trat Williams gegenüber, und der Physiker schien fast erleichtert zu sein, aufgespürt worden zu sein. Sein teuer erkauftes tropisches Paradies hatte sich als das erwiesen, was solche Zufluchtsorte im Allgemeinen waren: auf die Dauer ein Ort lähmender, quälender Langeweile.
Die Tastatur des Jemeniten klickte wieder. Ansari griff nach einem Handy – zweifellos ein Modell mit einem Chip, der eine automatische Verschlüsselung ermöglichte – und sprach auf Arabisch. Seine Stimme klang ruhig und zugleich unverkennbar drängend. Eine längere Pause, dann wechselte Ansari ins Deutsche über.
Jetzt sah er kurz auf, als das Dienstmädchen ihm die Teetasse hinstellte. Sie lächelte, wobei sie völlig ebenmäßige weiße Zähne sehen ließ. Ansari wandte sich wieder seiner Arbeit zu, und ihr Lächeln verschwand wie ein in einen Brunnen geworfener Kiesel. Sie verließ lautlos den Raum: die perfekte unaufdringliche Dienerin.
Wie lange noch?
Ansari hob die kleine Tasse an die Lippen und kostete einen Schluck von dem Tee. Dann sprach er wieder in sein Handy, diesmal auf Französisch. Ja, ja, alles läuft nach Plan. Beruhigende Worte, die jedoch keine spezifische Aussage enthielten. Sie wussten alle, wovon die Rede war; sie brauchten nicht deutlicher zu werden. Der Schwarzhändler trennte die Verbindung und tippte eine weitere Nachricht. Er nahm einen weiteren Schluck Tee, stellte die Tasse ab und – das geschah ganz plötzlich, als habe er einen kleinen Anfall – erzitterte kurz. Im nächsten Augenblick sackte er nach vorn, sodass sein Kopf auf die Tastatur fiel, wie gelähmt, anscheinend bewusstlos. Tot?
Das kann nicht sein.
Doch so war es.
Plötzlich wurde die Tür des Arbeitszimmers wieder geöffnet, und das Dienstmädchen erschien. Würde sie in Panik geraten, würde sie Alarm schlagen, wenn sie diese schreckliche Entdeckung machte?
Tatsächlich ließ sie sich keinerlei Überraschung anmerken. Sie bewegte sich rasch, verstohlen, trat auf den Mann zu, legte ihm zwei Finger an den Hals, fühlte nach seinem Puls und fand offenbar keinen. Dann streifte sie rasch weiße Baumwollhandschuhe über und rückte Ansari so in seinem Sessel zurecht, dass er nach rückwärts gelehnt zu ruhen schien. Als Nächstes beugte sie sich über die Tastatur und tippte ihrerseits hastig eine Nachricht. Zuletzt stellte sie Teekanne und Tasse wieder auf ihr Tablett und verließ damit das Arbeitszimmer. Womit sie das Tatwerkzeug abservierte.
Chalil Ansari, einer der mächtigsten Waffenhändler der Welt, war soeben ermordet worden – vor Belknaps Augen. Tatsächlich war er vergiftet worden. Von … einem jungen italienischen Dienstmädchen.
Belknap richtete sich jetzt unter ziemlichen Beschwerden aus der Hocke auf. Sein Verstand summte wie ein auf die Mitte zwischen zwei Sendern eingestelltes Radio. So hatte er sich den Ablauf nicht vorgestellt.
Dann hörte er ein dezentes elektronisches Piepsen. Es kam aus der Gegensprechanlage auf Ansaris Schreibtisch.
Und wenn Ansari sich nicht meldete?
Scheiße! Bald würde wirklich Alarm geschlagen werden. Sobald das passierte, würde es keinen Fluchtweg mehr geben.
»Das Paris des Nahen Ostens«, so war die Stadt einst genannt worden, wie Saigon einst als das Paris Indochinas und das von Konflikten erschütterte Abidjan als das Paris Afrikas gegolten hatte: ein Beiname, der sich mehr als ein Fluch, weniger als eine Ehre erwiesen hatte. Diejenigen, die in der Stadt zurückblieben, erwiesen sich als Überlebenskünstler verschiedenster Couleur.
Die gepanzerte Daimler-Limousine rollte lautlos durch den Abendverkehr auf der Rue Maarad in dem bekannten Zentrum der unruhigen Stadt. Straßenlampen warfen ihr grelles Licht auf staubige Straßen, als sollten sie glasiert werden. Der Daimler ließ den Place de l’Étoile hinter sich – einst hoffnungsvoll nach Pariser Vorbild angelegt, jetzt nur noch ein meist verstopfter Verkehrskreisel – und glitt durch Straßen, an denen restaurierte Gebäude aus Ottomanen- und französischer Mandatszeit zwischen modernen Bürogebäuden standen. Das Gebäude, vor dem die Limousine zuletzt hielt, war absolut unauffällig: ein graubrauner sechsstöckiger Bau wie ein halbes Dutzend anderer in der näheren Umgebung. Ein Fachmann hätte an den breiteren Fensterrahmen der Limousine erkannt, dass sie gepanzert war, aber auch das war nicht weiter auffällig. Schließlich war dies Beirut. Ebenfalls nicht ungewöhnlich war der Anblick von zwei bulligen Leibwächtern – beide in braungrauen Popelineanzügen mit dem weiten Schnitt, den Leute bevorzugen, zu deren Dienstkleidung neben einer Krawatte auch ein Pistolenhalfter gehört –, die aus dem Wagen sprangen, sobald er zum Stillstand gekommen war. Auch dies gehörte zu Beirut.
Und welche Art Fahrgast beschützten sie? Ein zufälliger Augenzeuge hätte sofort gewusst, dass der Mann im Fond – groß, wohlgenährt, in einem teuren, aber nicht sehr eleganten grauen Anzug – kein Libanese war. Seine Herkunft war unverkennbar; er hätte sich ebenso gut in die Stars and Stripes hüllen können.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Bancroft Strategybei St. Martin’s Press, New York
Copyright © 2006 by Myn Pyn LLC Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
First published in the United States as The Bancroft Strategy by Robert Ludlum © Myn Pyn LLC, 2006.
Published by arrangement with MYN PYN LCC c/o BAROR INTERNATIONAL, INC. Redaktion: Ulrich Mihr Gesetzt aus der 11,7/14,3 Punkt Adobe Garamond Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
eISBN 978-3-641-09381-5
www.heyne.de
www.randomhouse.de
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