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Die Bäuerin erzählt die Geschichte der oberösterreichischen Bäuerin Anna Brandstetter, die in ihrem Heimatort und der ganzen Umgebung bekannt war als die "Broierin". Das Leben der Broierin war nicht nur, wie bei den meisten Bäuerinnen jener Zeit, hart und arbeitsreich, sondern eine Kette von aufeinanderfolgenden Unglücksfällen vermischt mit den Entbehrungen und dem Leid zweier Weltkriege.
Ein Leben zwischen Liebe und Trauer, Freude und Leid, tiefem Glauben und Glaubenszweifel, sowie der Hoffnung, dass das Leben trotz allem einen tiefen Sinn hat.
Ein zutiefst berührendes Buch, in dem Rudolf Brandstetter die Geschichte seiner Großmutter hautnah und bewegend schildert.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Die alte Holzbank
Kapitel: Die Geburt Kapitel: Der TotenvogelKapitel: Das Feuer Kapitel: Der große KriegKapitel: Der Brief und die HeimkehrKapitel: Gefährlicher LeichtsinnKapitel: Die große Liebe Kapitel: Rudenkirtag, 13. Februar 1923: Verlobung!Kapitel:Die HochzeitseinladungKapitel: MatzelsdorfVor dem Broiergut im oberösterreichischen Bauerndörfchen mit dem Namen Matzelsdorf befindet sich seit Generationen eine alte Holzbank, die an diesem Platz neben der Haustüre so selbstverständlich steht, dass man gar nicht mehr bewusst auf sie achtet. Man nimmt darauf Platz, genießt den Blick durch das Dorf und auf die weiten Felder, die von den neu erbauten Häusern der letzten Jahre – Gott sei es gedankt – nicht ganz verdeckt geworden sind. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass der Broierhof etwas erhöht gelegen ist und sich von daher über die neuen Einfamilienhäuser hinaus eine gute Aussicht bietet.
Es gibt ein altes Foto von meiner Urgroßmutter Anna Spatt (geb. Derflinger), der Mutter der Broierin, wie sie als über 80-Jährige Bäuerin auf dieser Bank sitzt. Ihre Gesichtszüge zeugen von einer Güte, die mir noch heute durch Mark und Bein geht. Sie muss an jenem Tag gerade von einem festlichen Anlass gekommen sein, da sie jene Kopfbedeckung trug, wie sie die Bäuerinnen dieser Gegend im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur an besonderen Tagen anlegten. Es war ein wunderschön gebundenes schwarzes Tuch, das im Sitzen über den Rücken, bis zum Gesäß hinunterreichte. Wahrscheinlich hatte sie das Tuch mit Spangen am Haar befestigt. Es heißt aber auch, dass es Frauen gab, die ihr Tuch so perfekt binden konnten, dass es sogar ganz ohne Spange hielt.
Wie auch immer! Auf jeden Fall hätte diese Holzbank viele Geschichten zu erzählen, wenn sie sprechen könnte.
Bis zu meinem 22. Lebensjahr verging in der warmen Jahreszeit kaum eine Woche, in der ich nicht irgendwann einmal auf der Holzbank gesessen bin. Ich saß mit meinen Eltern, meiner Großmutter, Geschwistern, Verwandten, Nachbarn oder Freunden darauf. Es wurden Geschichten erzählt, es war mal lustig, mal traurig, mal lauter, mal leiser, aber irgendwas war immer los auf der Bank.
Wenn diese Bank sprechen könnte, dann würde sie Geschichten erzählen, so viele, dass dieses Buch Tausende von Seiten haben würde und kein Geschichtsbuch könnte so spannend sein, wie die Geschichten, die diese Bank zu erzählen hätte. So denke ich dabei nicht in erster Linie an mich und meine Jugenderlebnisse auf dem Broiergut, sondern ich sehe vor allem meine Großmutter Anna, die Broierin, neben ihrer Mutter, der oben erwähnten gütigen Bauersfrau auf dieser Bank sitzen. Ich sehe, wie sich die zwei Frauen von ihren Erlebnissen auf dem Hof erzählen, wie sie sich über Probleme und auch Freuden unterhalten, von denen inzwischen nur noch die Bank zu erzählen wüsste. Ich denke dabei aber auch an die Knechte und Mägde, die sich auf dieser Bank vorsichtig näher kamen. Oder an Geschichten über böse Geister, Teufelsspuk und Armen-Seelen-Erscheinungen. Es wären Geschichten, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts reichen würden. Es wären Geschichten über die große Liebe, über Tragödien auf dem Hof und im Dorf, über Geburt und Tod, über Feste und Feiern, über schwere Bauernarbeit, eben über das praktische Leben auf dem Bauernhof und in den Bauerndörfern dieser Region.
All diese Erlebnisse und Ereignisse, über die unsere Bank erzählen könnte, waren eingebettet in ein Jahrhundert von politischen Ereignissen, Krisen und Kriegen, die so geballt auftraten, wie wohl zu keinem anderen Zeitpunkt der Weltgeschichte. Und doch war das intensive Leben dieser Menschen behütet von einem Geist, der in unserer Zeit immer mehr in den Hintergrund zu treten scheint. Es ist der Geist der tiefen Verbundenheit mit Gott und dem daraus resultierenden Respekt vor seiner Schöpfung. Dieser Respekt ermöglicht erst die Achtung der Würde und der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, sowie den sorgsamen Umgang mit der Natur.
Solch ein gütiger und respektvoller Geist ist tief in die alte Hausbank eingeprägt. Sollte irgendwann einmal diese Bank, vor dem etwa 700 Jahre alten Bauernhof, entfernt werden, dann würden damit auch die Geschichten, die vielen Schicksale und mit ihnen der Geist jenes „Herrgotts“ entfernt werden, durch dessen Kraft die Bewohner und Besucher dieses Hofes ihr oft schweres Schicksal zu tragen gelernt hatten.
Manchmal, wenn ich zu Besuch beim Broier bin, setze ich mich wie in meiner frühen Jugend auf die alte Bank. Ich richte meinen Blick hinaus über die weiten Felder und Wiesen meines Geburtsdorfes und die Gedanken beginnen zu wandern. Gesichter von längst verstorbenen Menschen ziehen an mir vorbei. Die Gesichter bewegen ihre Lippen und ich höre sie wieder die alten Geschichten erzählen. Besonders die Geschichte meiner Großmutter, der Anna Brandstetter, der Broierin, nimmt konkrete Gestalt an. Der Geist der alten Holzbank, auf der ich sitze, ergreift von mir mehr und mehr Besitz und das berührende und faszinierende Leben der Broierin, der Bäuerin von Matzelsdorf, beginnt vor meinem geistigen Auge abzulaufen …