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Armin Scholl führt in die Grundlogik der Befragung als sozialwissenschaftliche Methode ein. Parallel zum Lehrbuch werden im Internet die methodischen Anlagen ausgewählter empirischer Studien veröffentlicht, um an konkreten Beispielen die Vielfalt der praktischen Möglichkeiten und Varianten der Befragung zeigen zu können. Das Buch will nicht nur die Regeln der Methode vermitteln, sondern auch zum kreativen Umgang mit ihr anregen. Außerdem wird großer Wert auf eine pragmatische und neutrale Darstellung qualitativer und quantitativer Befragungsformen gelegt.
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Seitenzahl: 468
[1]
UTB 2413
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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
[2][3]Armin Scholl
Die Befragung
3., überarbeitete Auflage
UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit
UVK Lucius · München
[4]Prof. Dr. Armin Scholl lehrt Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.
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1. Auflage 2003
2. Auflage 2009
3. Auflage 2015
© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015
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UTB-Nr. 2413
ebook-ISBN 978-3-8463-4080-6
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[5]Inhalt
Einleitung und Konzeption des Lehrbuchs
1 Die Befragung als sozialwissenschaftliche Methode
1.1 Kurzer historischer Abriss der Umfrageforschung
1.2 Einordnung, Definition und Ziele der Befragung
1.3 Methodologische Unterscheidungen
2 Verfahren der Befragung
2.1 Das persönliche (face-to-face) Interview
2.1.1 Beschreibung und Varianten
2.1.2 Stichprobe
2.1.3 Vorteile des persönlichen Interviews
2.1.4 Nachteile des persönlichen Interviews
2.2 Das telefonische Interview
2.2.1 Beschreibung und Varianten
2.2.2 Stichprobe
2.2.3 Vorteile des telefonischen Interviews
2.2.4 Nachteile des telefonischen Interviews
2.3 Die schriftliche Befragung
2.3.1 Beschreibung und Varianten
2.3.2 Stichprobe
2.3.3 Vorteile der schriftlichen Befragung
2.3.4 Nachteile der schriftlichen Befragung
2.3.5 Spezielle Empfehlungen für schriftliche Befragungen
2.4 Computerunterstützte Befragungsverfahren
2.4.1 Beschreibung und Varianten
2.4.2 Vorteile der computerunterstützten Befragung
2.4.3 Nachteile der computerunterstützten Befragung
[6]2.5 Die Online-Befragung
2.5.1 Beschreibung und Varianten
2.5.2 Stichprobe
2.5.3 Vorteile der Online-Befragung
2.5.4 Nachteile der Online-Befragung
2.6 Vergleich der Befragungsverfahren
3 Formen der Befragung
3.1 Das narrative Interview
3.2 Das Leitfaden- und Experteninterview
3.3 Das problemzentrierte und fokussierte Interview
3.4 Die standardisierte Befragung
3.5 Der Test
3.5.1 Definition und Varianten
3.5.2 Testtheorien und Gütekriterien
3.5.3 Konstruktion
3.6 Das Experiment
3.6.1 Geschichte, Definition und Ziel
3.6.2 Untersuchungsanlagen (Designs)
3.6.3 Unerwünschte (Stör-)Effekte
3.6.4 Laborexperiment und Feldexperiment
3.6.5 Versuchsplanung und Versuchsdurchführung
3.7 Die Mehrthemen- und Mehrfachbefragung
3.7.1 Monothematische und mehrthematische Befragung
3.7.2 Panelbefragung und Trendbefragung
3.8 Methodenkombination und Mehrmethodendesigns
4 Varianten der Befragung
4.1 Die biografische Befragung
4.2 Die Tagesablauf- und Tagebuchbefragung
4.3 Die Gruppendiskussion (Focus Groups)
4.4 Die Delphi-Befragung (Consensus Panel)
4.5 Die Struktur-Lege-Technik
4.6 Techniken zur direkten Messung von Kognitionen
4.6.1 Der Copytest
4.6.2 Die Technik des lauten Denkens (Think Aloud Technique)
4.6.3 Die kontinuierliche Messung (Continuous Response Measure)
[7]5 Fragen und Antworten im Fragebogen
5.1 Der Fragebogen als Instrument der Operationalisierung
5.2 Frageinhalte
5.3 Frageformulierungen
5.4 Fragetypen und Fragetechniken
5.5 Frageformen
5.6 Antwortvorgaben und Skalen
5.7 Fragebogenaufbau und Fragebogengestaltung
5.8 Exkurs Online-Fragebogengestaltung
6 Planung und Ablauf von Befragungen
6.1 Stationen des Forschungsprozesses
6.2 Interviewerorganisation und Interviewerregeln
6.3 Interviewstil
6.4 Interviewerregeln für qualitative Interviews
6.5 Pretest und Hauptuntersuchung
7 Probleme der Befragung
7.1 Reaktivitätsforschung
7.2 Kognitive Effekte
7.2.1 Frageformulierungen und Antwortvorgaben
7.2.2 Reihenfolgeeffekte
7.3 Soziale Effekte
7.3.1 Soziale Erwünschtheit
7.3.2 Formale Antwortstile (Response-Set)
7.3.3 Nicht-Erreichbarkeit und Nicht-Kooperation (Verweigerung) …
7.4 Befragung spezieller Populationen
7.5 Ethik und Qualität in der Befragung
7.5.1 Ethische Probleme
7.5.2 Qualitätskriterien
7.6 Bewertung und Trends der Befragung
Literatur
Register
[8][9]Einleitung und Konzeption des Lehrbuchs
»Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen will, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? […]«. (Watzlawick 1983: 37f.)
»Die Geschichte mit dem Hammer« setzt sich fort, bis der Mann schließlich zu dem Nachbarn geht und ihn anschreit, er solle seinen Hammer behalten. Wir lernen aus der Geschichte nicht nur, dass es nicht zielführend ist, sich in übertriebene Fantasien hineinzusteigern, sondern auch, dass sich solche Situationen leicht vermeiden lassen, wenn man einfach nachfragt. Nur mit Hilfe von Kommunikation haben wir die Möglichkeit, etwas über Andere zu erfahren und unser Handeln mit ihnen zu koordinieren.
Auch wenn (Sozial-)Wissenschaftler in der Regel nicht zu übertriebenen Fantasien neigen, sondern eher rationale Theorien aufstellen, ist es sicherlich sinnvoll, wenn nicht unabdingbar, die Menschen zu befragen, um ihre Gedanken und ihr Handeln kennen zu lernen. Der Eintritt in die wissenschaftliche Kommunikation umfasst dabei nicht nur den Diskurs unter Experten, also meist mit anderen Wissenschaftlern, sondern auch die Befragung der Bevölkerung, über deren Einstellungen, Wissensbestände, Gefühle oder Verhaltensweisen die Wissenschaftler ihre Theorien aufstellen. Die Befragung ist neben anderen sozialwissenschaftlichen Methoden ein Mittel, mit dem der Kontakt zwischen dem System Wissenschaft und der Umwelt hergestellt werden kann.
Das vorliegende Lehrbuch beschäftigt sich mit der sozialwissenschaftlichen Methode der Befragung. Es ist nicht das erste Lehrbuch zu dieser Methode, denn sie ist eine der wichtigsten Methoden in den Sozialwissenschaften. Aber dieses Lehrbuch verfolgt eine andere Konzeption als viele seiner Vorgänger, weil es sich mit der Methode auf eine pragmatisch-diskursive Art statt technisch-instruktiv auseinander setzt:
Das Buch soll Anregungen geben, kreativ mit der Methode umzugehen, und damit zeigen, dass die verwendete Methode nicht einfach deduktiv an die eigene [10]Forschungsfrage angepasst oder auf diese angewendet werden kann, sondern dass enormer Spielraum in der Verwendung der Methode besteht.
Regeln über die richtige Verwendung der Befragung werden dadurch mitnichten überflüssig, aber sie sind auch keine ehernen Gesetze. Sie sind nicht ausschließlich als Techniken zu verstehen, welche die einzig richtigen Vorgaben sind, sondern in vielen Fällen ist ihre Wirkung ambivalent und umstritten. Insofern führt erst der pragmatische Diskurs um die für die jeweilige Fragestellung angemessenste methodische Umsetzung zur jeweils richtigen oder doch vergleichsweise besten Lösung.
Die diskursive Herangehensweise wird unterstützt durch die Berücksichtigung aktueller und spezieller Forschungsliteratur zur Befragung.
Daraus ergibt sich für die Didaktik der Methodenlehre – insbesondere für die Lehre der Befragung –, dass die Methoden nicht einseitig oder gar dogmatisch lehrbar sind, sondern dass sie selbst zum Streitobjekt werden. Allerdings ist das ein produktiver Streit vor dem Hintergrund eines bestehenden und berechtigten Pluralismus an Verfahrensweisen und Varianten.
Die pragmatische Ausrichtung des Lehrbuchs verzichtet, so weit es geht, auf die Austragung wissenschaftstheoretisch-philosophischer oder wissenschaftssoziologischer Konflikte. Oft sind wissenschaftstheoretische Positionen idealisiert und treffen auf die Praxis nicht zu. Damit soll keiner Theoriefeindlichkeit das Wort geredet werden, denn Pragmatismus ist seinerseits eine wissenschaftstheoretische Haltung oder Perspektive, hinter der sich der Autor nicht unsichtbar machen will. Pragmatismus ist auch nicht mit Fatalismus zu verwechseln, wonach alle Methoden gleichwertig seien, sondern er streitet um die richtige Methode vor dem Hintergrund ihrer praktischen Verwendung.
Diese Ziele erfordern einen diskursiven Stil und die Abwägung der Vor- und Nachteile der vorgestellten Verfahren und Instrumente. Sie legen ferner nahe, das Lehrbuch durch eine ausführliche Darstellung anwendungsbezogener Studien aus den Kommunikationswissenschaften zu ergänzen. Diese Beispielstudien werden als digitales Zusatzangebot unter www.utb-shop.de zur Verfügung gestellt.
Zu Beginn des Lehrbuchs steht eine kurze historische Beschreibung der Befragung mit dem Schwerpunkt auf der Verwendung in der Kommunikationswissenschaft. In diesem Kapitel werden auch die Methode definiert und ihre Ziele benannt. Mit der methodologischen Unterscheidung in quantitativ-standardisierte und qualitativ-offene Verfahren ist eine grundlegende Klassifikation eingeführt, die in den weiteren Kapiteln immer wieder aufgegriffen wird (→ Kapitel 1).
[11]Als weitere Unterteilung schließen sich die grundlegenden Verfahren oder Modi der persönlichen (face-to-face), telefonischen und der schriftlichen Befragung an. Hier werden nicht nur die Verfahren beschrieben, sondern auch die Vorteile und Nachteile ihres Einsatzes sowie die unterschiedlichen Möglichkeiten der Stichprobenziehung. In gesonderten Abschnitten geht es um die Entwicklung der computerunterstützten Befragung und der Online-Befragung. Den Abschluss des Kapitels bildet eine vergleichende Erörterung der Verfahren (→ Kapitel 2).
Eine zu den Verfahren quer liegende Einteilung ist die Unterscheidung nach der Form: Befragungen können eine offene oder eine standardisierte Form haben. Diese Unterscheidung ist graduell zu verstehen und reicht vom narrativen Interview, das die größtmögliche Offenheit anstrebt, bis zum Test, der das Instrument (den Fragebogen) vollständig standardisiert, oder dem Experiment, das die Erhebungssituation so weit wie möglich standardisiert. Dazwischen sind verschiedene Formen der Teilstandardisierung denkbar. Gerade bei qualitativen Methoden sind die Erhebung und die Auswertung der Daten sehr eng miteinander verbunden. Deshalb werden in einem Exkurs die Auswertungsmöglichkeiten von Leitfadeninterviews, der am häufigsten angewendeten qualitativen Befragungsart, erläutert (→ Kapitel 3).
Im Rahmen dieser grundlegenden Unterscheidungen existieren diverse Varianten der Befragung, die für unterschiedlichste Forschungszwecke geeignet sind: die biografische Befragung zur Rekonstruktion von Lebensläufen, die Tagebuchbefragung zur Rekonstruktion von Tagesabläufen, der Copytest zur detaillierten Erhebung der Rezeption einzelner Medieninhalte, die Delphi-Befragung zur Prognose zukünftiger Entwicklungen durch Experten, die Gruppendiskussion zur Ermittlung von Meinungen einer gesamten Gruppe, die in einer Gruppensituation entstehen, sowie weitere Varianten, die dazu dienen, Denk- oder Handlungsprozesse möglichst zeitnah zu erheben (→ Kapitel 4).
Nach der Beschreibung der strukturellen Dimensionen der Befragung behandelt ein weiteres Kapitel das Instrument der Befragung, den Fragebogen. Darin geht es darum, wie die Fragen und (beim standardisierten Fragebogen) die Antwortvorgaben formuliert werden müssen, um den Forschungszweck möglichst gut zu erfüllen. Die Fragen werden dabei nach mehreren Dimensionen klassifiziert, nach dem Inhalt der Frage, den Frageformulierungen, den Frageformen sowie nach den Antwortvorgaben und den verwendeten Skalen (→ Kapitel 5).
Danach folgen Planung (Organisation) und Ablauf (Prozess) der Durchführung von Befragungen. Dazu werden zunächst die wichtigsten Phasen der Befragung kurz skizziert. Die Organisation des Interviewerstabes bildet die Grundlage zur Durchführung von Befragungen im größeren Stil. Dazu gehören auch die Formulierung und das Training von Regeln des Interviewens, die für standardisierte [12]und offene Verfahren unterschiedlich sind. Davon zu unterscheiden ist in der Durchführung der praktizierte Interviewstil, der entscheidend für die kommunikative Qualität der Befragung ist. Abschließend werden die Aufgaben des Pretests erläutert, der die (Haupt-)Untersuchung vorbereitet (→ Kapitel 6).
Während in den vorangegangen Kapiteln immer wieder auch auf spezielle Schwierigkeiten bestimmter Verfahren, Varianten oder des Instruments eingegangen wurde, beschäftigt sich das letzte Kapitel mit den Problemen der Befragung. Dazu gibt es seit Beginn der Entwicklung der Befragungsmethode einen eigenen Forschungszweig, die Reaktivitätsforschung, die sich mit den Faktoren beschäftigt, welche die Güte der Ergebnisse beeinträchtigen. Man kann die Einflüsse auf die Qualität der Antworten des Befragten unterscheiden zwischen kognitiven Effekten, die sich auf das Verständnis und die Prozesse der Informationsverarbeitung vor allem des Befragten beziehen, und sozialen Effekten, die sich aus der Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Befragten ergeben. Darüber hinaus sind spezielle Befragtengruppen schwerer als andere zu befragen. Dies betrifft vor allem alte Menschen, Kinder und Ausländer. Schließlich werden zur Problembewältigung allgemeine ethische Forderungen und Qualitätskriterien für die Durchführung von Befragungen vorgestellt (→ Kapitel 7).
Abschließend werden die Methode der Befragung allgemein sowie ihre Anwendung in der Kommunikationswissenschaft bewertet und die erwartbaren Entwicklungen aufgezeigt (→ Kapitel 8).
In einem ausführlichen Literaturverzeichnis sind Veröffentlichungen zu allen dargestellten Aspekten der Befragung dokumentiert. Auf eine thematisch geordnete Literaturübersicht wurde verzichtet, weil sie die mehrfache Nennung vieler Titel, die sich übergreifend mit der Befragung befassen, erfordert hätte. Ein ausführliches Register ermöglicht die selektive Suche nach bestimmten Autor/innen oder Stichwörtern.
Ergänzend zum Lehrbuch werden auf www.utb-shop.de als digitales Zusatzangebot etwa 50 deutschsprachige Studien aus dem Feld der Kommunikationswissenschaft vorgestellt, die beispielhaft die Vielfalt der Befragungsverfahren und Befragungsvarianten aufzeigen sollen. Die Auswahl dieser Studien erfolgte systematisch nach mehreren Kriterien. Sie erhebt keinen Anspruch auf eine – wie auch immer definierte – Repräsentativität, sondern hat rein exemplarischen Charakter:
Nur deutschsprachige Studien werden dargestellt. Dafür gibt es nicht nur den pragmatischen Grund, dass überhaupt eine Beschränkung notwendig ist, sie sind für die deutschsprachigen Leser auch direkter anwendbar. Zudem berücksichtigen die Studien nicht allein den deutschen Forschungsstand, sondern [13]haben in der Regel auch die anglo-amerikanischen Studien und deren Operationalisierungen rezipiert und in die eigene Konzeption eingebaut.
Ein weiteres Kriterium besteht darin, wichtige oder prominente Studien aus wichtigen Feldern der empirischen Kommunikationsforschung zu referieren. Zu diesen zählen die Mediennutzungsforschung, die sich mit dem tatsächlichen Mediennutzungsverhalten des Medienpublikums beschäftigt, und die Medienwirkungsforschung, die sich mit den Wirkungen medialer Inhalte auf Wissen, Gefühle, Einstellungen, Meinungen und Verhaltensweisen des Medienpublikums befasst. Daneben ist die Journalismusforschung zu erwähnen, in der es um berufliche Einstellungen und Normen sowie um deren Niederschlag in der journalistischen Berichterstattung geht.
Damit die Auswahl nach relevanten Studien nicht zu einseitig und subjektiv von den Präferenzen des Autors abhängt, wurden die wichtigsten deutschen Fachzeitschriften Publizistik, Rundfunk und Fernsehen (Medien und Kommunikationswissenschaft), Media Perspektiven und Medienpsychologie systematisch gesichtet und diejenigen Studien bewusst ausgewählt, die methodisch als interessant eingestuft werden können oder die stellvertretend für verschiedene Varianten der Befragung vorgestellt und diskutiert werden können. Voraussetzung für die Berücksichtigung ist eine hinreichende Dokumentation des methodischen Vorgehens.
Dieser aus dem Lehrbuch ausgelagerte Teil beginnt mit der Vorstellung verschiedener Studien zur Mediennutzung. Dazu gehört die Nutzung bestimmter Medieninhalte (Zeitungsartikel, Fernsehsendungen, Fernsehgenres), bestimmter Medienbereiche (Printmedien, Rundfunk, Online-Medien) sowie der Gesamtheit der Medien. Darüber hinaus wird die Mediennutzung auch im Tagesverlauf, im biografischen oder im soziologischen Kontext untersucht. Einige der Studien stammen aus der angewandten Kommunikations- und Medienforschung und sind zu Dauereinrichtungen geworden: »Media Analyse«, »Allensbacher Werbeträger Analyse«, »Massenkommunikation« sowie die Online-Studien.
Unter der Rubrik Wissen, Informationen und Kognitionen werden Studien im Kontext der Wissenskluft-Hypothese (Wissensunterschiede) und der Agenda-Setting-Hypothese (Einschätzung der Themenrelevanz) vorgestellt, darüber hinaus Expertenprognosen zur Zukunft des Journalismus und der Medien, Studien über Selektions- und Informationsverarbeitungsprozesse sowie zu politischen und sozialen Kognitionen.
Die Erhebung von Bedürfnissen, Motivationen und Emotionen sind Thema des folgenden Kapitels. Darunter fallen Studien zum Nutzen- und Belohnungsansatz, die sich mit kommunikativen und medialen Bedürfnissen beschäftigen, sowie zu [14]Präferenzen für oder gegen bestimmte Medien. Ebenfalls behandelt werden Untersuchungen zur Aufmerksamkeit bei der und Motivation für die Zuwendung zu bestimmten Medien. Ein wichtiger Bereich der Medienwirkungsforschung ist die Erforschung von (meist gewalthaltigen) Medieninhalten auf die emotionale Seite der Rezeption.
Die Beziehung zwischen Einstellungen und Verhalten ist ein häufig problematisierter Zusammenhang. Grundlegend für eine mögliche Medienwirkung von Medieninhalten auf die Bildung oder Veränderung von Meinungen und Einstellungen ist die Zuschreibung von Objektivität und Glaubwürdigkeit. Die Wirkung auf die Meinung selbst vollzieht sich entweder als Zusammenspiel von Massenkommunikation und interpersonaler Kommunikation (Zwei-Stufen-Fluss-Hypothese) oder indirekt über die Wahrnehmung öffentlicher Meinung (Theorie der Schweigespirale) oder direkt als kurzfristiger Effekt von subjektiv wichtigen Medieninhalten bzw. als Anpassung an ein über längere Zeit genutztes Medium. Die langfristige Gewöhnung an Medien bewirkt darüber hinaus auch grundlegende Einstellungsveränderungen (Kultivationshypothese). Die Journalismusforschung beschäftigt sich insbesondere mit der Relevanz von Normen und beruflichem Selbstverständnis für das (berufliche) Handeln.
Das vorliegende Lehrbuch zur Befragung ersetzt nicht die vorherige Einarbeitung in das Verständnis empirischer Forschung. Die Beschäftigung mit den der Befragung vorausgehenden und folgenden Phasen im Forschungsprozess muss ergänzend erfolgen: Nicht berücksichtigt werden wissenschaftstheoretische Fragen empirischer Forschung in den Sozialwissenschaften, die (mathematische) Stichprobentheorie oder statistische und textbasierte Auswertungsverfahren.
Dafür setzt das Buch keine Vorkenntnisse speziell zur Befragung voraus und ist somit als Einführung für Studierende aller sozialwissenschaftlichen Disziplinen geeignet. Gleichzeitig bietet es vertiefende Ausführungen an, die viele spezielle Fragen beantworten und einer scheinbar bereits bestens bekannten Methode neue Facetten abgewinnen. Die Methode der Befragung ist in den Sozialwissenschaften etabliert, aber nicht veraltet, wie ihr weiterhin vorhandenes Entwicklungspotenzial und die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten bestätigen.
In der dritten Auflage dieses Lehrbuchs sind Fehler aus der vorigen Auflage korrigiert und die benutzte Literatur aktualisiert worden. Zudem wurden an einigen Stellen kleinere Ergänzungen vorgenommen. Die Hervorhebung von Definitionen sowie einige Überblickstabellen sollen die Lektüre erleichtern. Die Auslagerung der Anwendungsbeispiele auf die Webseite von UTB-shop.de macht das Buch handlicher.
[15]1
Die Befragung als sozialwissenschaftliche Methode
1.1
Kurzer historischer Abriss der Umfrageforschung
Die wissenschaftliche Anwendung der Befragung setzt historisch erst spät ein. Noelle-Neumann / Petersen (1996: 21, 620) datieren sie auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Dies liegt zum einen daran, dass die Methode an die Auskunftsfähigkeit und Auskunftsbereitschaft der befragten Personen gebunden ist. Die Befragung erfordert – soll sie Themen übergreifend und alle Bevölkerungsteile erfassend eingesetzt werden – eine moderne Gesellschaftsform. Zum anderen haben sich die Gesellschaftswissenschaften erst im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelt1: Die Soziologie wurde von Auguste Comte (1798-1857) quasi erfunden. Der Begründer der positiven Wissenschaft, des »Positivismus«, gilt als Vorläufer für die empirisch-analytische Sozialforschung, obwohl erst der Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) methodologisch für diese Richtung prägend wurde. Aber auch zwei andere empirische Zweige der Soziologie gehen auf berühmte Vorbilder zurück, die bereits mit der Methode der Befragung arbeiteten: Karl Marx (1818-1883) steht für die kritische Sozialforschung2 und Max Weber (18641920) für die verstehende Soziologie (vgl. Kaesler 2000: 206).
Zwei wesentliche Impulse für die Befragung speziell in der Kommunikationswissenschaft haben Max Weber und das Forscherteam um Paul F. Lazarsfeld gesetzt. Weber stieß bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die empirische Journalismusforschung an und arbeitete eine »Soziologie des Zeitungswesens« aus, [16]die er auf dem ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt 1910 vorstellte. Die geplante Zeitungsenquête sollte Erkenntnisse über die Materialbeschaffung der Medien und über die Merkmale der Journalisten erbringen.3 Dass die Untersuchung nicht realisiert werden konnte, lag an einem Professorenstreit und an mangelnder Unterstützung. Außerdem wurde in der Folgezeit eine Redakteursumfrage – allerdings ohne Beteiligung Webers – geplant und durchgeführt. Ihre Auswertung kam aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr zustande. Die Fragebögen gelten heute als verschollen (vgl. Kutsch 1988: 5f., 15).
Lazarsfeld wurde neben der eher soziologischen Untersuchung über die »Arbeitslosen von Marienthal« mit der 1931 durchgeführten Befragung von Radiohörern für die »Radio und Verkehrs-AG« (RAVAG) bekannt, die als Beginn der Rezipientenbefragung gelten kann. In standardisierten Fragebögen wurden 50 Radioprogramme aufgelistet, zu denen die Hörer angeben sollten, ob sie diese Programmelemente »häufiger, weniger oder in der bisherigen Menge« zu hören wünschten. Daneben wurden die soziodemografischen Merkmale erhoben, um Korrelationsanalysen durchführen zu können. Insgesamt wurden von den überall ausgelegten Fragebögen 38.000 von insgesamt 110.000 Personen (zum Teil Familienmitglieder) ausgefüllt (vgl. Neurath 1990: 77ff.).
Beide Pionierstudien der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, die über das Planungsstadium nicht weiter verfolgte Zeitungsenquête Webers wie die in wissenschaftlicher und praktischer Hinsicht folgenreiche Radiohörerstudie Lazarsfelds, gingen mit einer großen Selbstverständlichkeit theoretisch interdisziplinär vor und verknüpften methodisch quantitative und qualitative Verfahren (vgl. Reimann 1989: 34, 37). Während Webers Forschungsvorhaben trotz der Relevanz der Fragestellungen keine Resonanz erzeugte und lange Zeit von keinem Publizistik- oder Kommunikationswissenschaftler aufgenommen wurde, konnte Lazarsfeld die Radiohörerforschung nach seiner Emigration in die USA im Rahmen des »Radio Research Project« am »Office of Radio Research« fortsetzen, mit dem er 1937 an der Princeton University begann und das er 1939 an der Columbia University in New York weiterführte. Daraus entstand 1944 das »Bureau of Applied Social Research« (vgl. Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 12f.), von dem auch die ersten Panelbefragungen zur Erforschung des Wahlverhaltens konzipiert und durchgeführt wurden. Diese Studie »The People’s Choice« und die Folgestudien stießen die Forschung um die Hypothese des »Two-Step-Flow of Communication« an und bauten sie empirisch aus.
[17]Die empirische Erforschung der öffentlichen Meinung mit Umfragen reicht wahrscheinlich bis ins 19. Jahrhundert zurück: Bereits im Vorfeld der U.S.-Präsidentschaftswahl von 1824 sollen erste »straw polls« als Probeabstimmungen der Öffentlichkeit stattgefunden haben. Die Zeitschrift »Literary Digest« verschickte 1928 rund 18 Millionen Wahlzettel an die Abonnenten und sagte den Präsidentschaftskandidaten in der Wahl von 1928 korrekt voraus. Allerdings schlug die Vorhersage von 1936 fehl. Das von George Gallup 1935 gegründete »American Institute of Public Opinion« war erfolgreicher, weil Gallup eine Zufallsstichprobe nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Regeln zog, welche die U.S.-amerikanische Gesellschaft repräsentierte, während die Stichprobe von »Literary Digest« offensichtlich politisch verzerrt war. Gallup erlebte zwar 1948 ebenfalls ein Debakel, als sein Institut den falschen Kandidaten als Sieger prognostizierte, aber er gilt in zweierlei Hinsicht als wegweisend: aufgrund seiner theoretisch fundierten Stichprobenziehung und weil er mit Meinungsumfragen nicht nur Wahlen vorhersagen wollte, sondern sie von Anfang an konsequent an die Erfassung der öffentlichen Meinung koppelte (vgl. Keller 2001: 31ff., 47ff.).
Die akademische Erforschung der öffentlichen Meinung geht auf Hadley Cantril und sein 1940 in Princeton gegründetes »Office of Public Opinion Research« zurück. 1941 wurde das »National Opinion Research Center« (NORC) an der Universität Chicago gegründet, das sich zum führenden akademischen Institut der Meinungsforschung entwickelte (vgl. Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 13f.).
In Deutschland wurde das erste »Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften« unter der Leitung von Leopold von Wiese 1919 an der Universität Köln gegründet, das sich später zur Hochburg einer empirischen Forschung nach den Regeln des »Kritischen Rationalismus« entwickeln sollte. 1924 entstand in Frankfurt/Main das »Institut für Sozialforschung«, an dem die »Kritische Theorie« von Max Horkheimer (Institutsdirektor seit 1930), Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm u.a. erarbeitet wurde (vgl. Diekmann 2011: 110). Die Befragungen in der Zeitungswissenschaft, dem Vorläuferfach der heutigen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, blieben dagegen sporadisch (vgl. Meyen 2002: 60ff.).
In der Nachkriegszeit wurde die empirische Sozialforschung vor allem in Westdeutschland durch die Kölner Soziologen René König (als Nachfolger von Leopold von Wiese) und Erwin K. Scheuch vorangetrieben. Das an der Universität Köln 1960 gegründete (und von 1963 bis 1990 von Scheuch geleitete) »Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung« (ZA) sowie das 1974 gegründete »Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen« (ZUMA) in Mannheim fördern die Entwicklung empirischer Methoden, führen aber kaum im engeren Sinn Kommunikationsforschung durch. Der vom ZUMA seit 1980 im zweijährigen Abstand [18]durchgeführte »ALLBUS« hat 1998 (einmalig) auch einige Fragen zur Mediennutzung aufgenommen.4 Das ZA dokumentiert und archiviert empirische Datensätze und stellt sie für wissenschaftliche Sekundäranalysen zur Verfügung. Daneben bibliografiert das Bonner »Informationszentrum« (IZ) die empirisch ausgerichtete sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur. ZUMA, ZA und IZ schlossen sich Ende der 80er Jahre zur »Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen« (GESIS) zusammen (vgl. Diekmann 2011: 114), die sich seit 2008 »GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften« nennt.
In der DDR war eine eigenständige Meinungsforschung weitgehend unbekannt bzw. blieb unsichtbar. Dabei gab es durchaus Befragungsstudien mit wissenschaftlichem Anspruch. So führte die Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees bereits 1951 eine Kombination aus Einzelgesprächen (in Haushalten und in Betrieben), Gruppendiskussionen (in Betrieben) mit Akten und Statistiken zur Akzeptanz der Parteipresse in den Verbreitungsgebieten der Sächsischen Zeitung und der Chemnitzer Volksstimme durch. Mitte der 50er Jahre wurden auch Hörer von Radio DDR zum Programm befragt. Die vom Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR 1956 gegründete Hörerforscherabteilung orientierte sich an den Standards in den USA und in der Bundesrepublik (vgl. Meyen 2002: 75f.). Das Zentralkomitee der SED institutionalisierte 1964 mit der Einrichtung des »Instituts für Meinungsforschung« sogar die Umfrageforschung, um die Wirksamkeit staatlicher Propaganda zu erforschen. Aber weder war nach außen sichtbar, dass es sich um ein Institut der SED handelte, noch wurden die Ergebnisse veröffentlicht. 1979 wurde es aus politischen Gründen geschlossen und das Archiv vernichtet, sodass nur wenige Forschungsberichte und Unterlagen existieren (vgl. Niemann 1993: 17ff.).
Neben der akademischen Sozialforschung betreiben kommerzielle Markt- und Meinungsforschungsinstitute angewandte Markt-, Meinungs- und Medienforschung. Wegweisend für ihre Entwicklung nach dem Krieg ist der Zusammenschluss von mittlerweile 40 deutschen Markt- und Meinungsforschungsinstituten zum »Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V.«, der 1955 – damals noch unter dem Namen »Arbeitskreis für betriebswirtschaftliche Markt- und Absatzforschung e.V.« – gegründet wurde. Er vertritt die Interessen der Mitgliedsinstitute und entwickelt für sie Qualitätskriterien und ethische Standards (vgl. ADM / AG.MA 1999: 159ff.).
Der Aufbau eines ADM-Stichproben-Systems erfolgte in den 50er und 60er Jahren aufgrund der zunehmenden praktischen und rechtlichen Schwierigkeiten, [19]auf die Daten der Einwohnermeldeämter zurückzugreifen. Außerdem sollte auf diese Weise ein für alle beteiligten Institute einheitliches und verbindliches System der Stichprobenplanung geschaffen werden. Dieses System wurde schrittweise entwickelt und dabei mehrfach verändert (vgl. Löffler 1999).
Ebenfalls von großer Bedeutung für die angewandte Medienforschung ist die 1954 gegründete »Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V.« (AG.MA), damals noch unter dem Namen »Arbeitsgemeinschaft Leser-Analyse e.V.« (AGLA). Sie ist ein Zusammenschluss von Unternehmen der deutschen Werbewirtschaft zur Erforschung der Massenkommunikation (vgl. ADM / AG.MA 1999: 164f.). Zunächst wurden vergleichbare Daten zur Größe und Struktur der Leserschaft von Publikumszeitschriften erhoben, heute zum Publikum aller Medienbereiche (→ www.utb-shop.de, Kapitel 1.2). Um die steigende Internetnutzung erforschen zu können, wurde 2002 die »Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung« (AGOF) von Online-Vermarktern und Online-Werbeträgern gegründet. Sie ist 2004 der AG.MA beigetreten (vgl. www.agof.de; Welker / Werner / Scholz 2005: 11).
Eine Sonderstellung nimmt das 1947 gegründete »Institut für Demoskopie Allensbach« ein. Die Gründerin Elisabeth Noelle-Neumann steht für die Verbindung zwischen akademischer (Grundlagen-)Forschung und angewandter kommerzieller Markt- und Meinungsforschung. Dafür ist auch kennzeichnend, dass das IfD zahlreiche methodische Experimente durchgeführt hat und in diesem Bereich weltweit führend sein dürfte (vgl. Meyen 2002: 67ff.).
Trotz der Zusammenschlüsse der Institute und der Verbindung zur universitären Forschung ist die angewandte private Meinungsforschung kommerziellen Interessen ausgesetzt. Insbesondere die harte Konkurrenz führt dazu, dass die Umfragen in der Regel nicht vergleichbar sind, weil die Fragebögen und die Zusammensetzung der Interviewerstäbe unterschiedlich sind. Die Abhängigkeit vom Auftraggeber mündet in einen Zielkonflikt, sich einerseits durch hohe Qualität von der Konkurrenz abzuheben, aber andererseits die Kosten zu senken.
Eine besondere Problematik (aber auch Chance) ergibt sich durch die vor politischen Wahlen durchgeführten Wahlumfragen zur Prognose der Wahlergebnisse. Hier konkurrieren die kommerziellen Institute direkt, und die Ergebnisse sind durch den tatsächlichen Wahlausgang überprüfbar. Immer wieder diskutiert wird auch der Zweck solcher Wahlumfragen: Machen sie die Demokratie transparenter und geben den Wählern eine rationale Informationsgrundlage für ihre Wahlentscheidung, oder werden sie von Politikern zu manipulativen Zwecken instrumentalisiert? Sie sind auf jeden Fall ein Element der öffentlichen Meinungsbildung neben den Medien, aber auch in den Medien, die immer wieder auf demoskopische Ergebnisse zurückgreifen.
[20]1.2
Einordnung, Definition und Ziele der Befragung
Die Befragung gehört zu den sozialwissenschaftlichen Methoden wie die Beobachtung (von Personen, Handlungen, Ereignissen) und die Inhalts- oder Textanalyse (von mündlichen und schriftlichen Texten, von Bildern, Fotos oder Filmen). Oft wird in Lehrbüchern zwischen empirischen und nicht-empirischen Methoden getrennt. Dabei werden empirische Methoden als Sammlung und Systematisierung von Erfahrungen über die (soziale) Realität charakterisiert, während nicht-empirische Methoden das Verstehen singulärer Sachverhalte aufgrund der eigenen Erfahrung des Forschers oder seines theoretischen Wissens zum Ziel haben. Die empirischen Methoden lassen sich wiederum in quantitative und qualitative unterscheiden (vgl. Brosius / Haas / Koschel 2012: 2ff.). Eine solche Unterscheidung beruht auf einem engen und exklusiven Empiriebegriff.5
In einem weiten Empiriebegriff wird dagegen Empirie als komplementäres Gegenstück zu Theorie verstanden (vgl. Loosen / Scholl / Woelke 2002: 38f.). Während Theorie demnach die rein gedankliche – spekulative oder logisch strenge – Beschäftigung mit einem Forschungsgegenstand ist, erfordert Empirie immer den direkten forschungspraktischen Bezug auf einen außerwissenschaftlichen Forschungsgegenstand.6 Hermeneutische Methoden wären dann insofern empirisch, als sie den Forscher systematisch an einen bestimmten Forschungsgegenstand, etwa ein Gedicht oder ein aufgezeichnetes Gespräch, »koppeln«.
Der Vorteil eines weiten Empiriebegriffes besteht darin, dass er keine Trennung zu nicht-empirischen Verfahren vollziehen muss, was trotz gegenteiliger Bekundungen in der Regel praktisch auf den Ausschluss dieser Verfahren aus dem Lehrkanon des sozialwissenschaftlichen Fachs Kommunikationswissenschaft hinausläuft. Der Nachteil besteht darin, dass die notwendigen Unterscheidungen dann auf Binnendifferenzierungen verlegt werden müssen. Diese werden im nächsten Kapitel mit der ebenfalls gängigen Gegenüberstellung standardisierter und offener Befragungsmethodologie nachgereicht.
[21]Die Befragung hat die (Alltags-)Kommunikation als Grundlage und benutzt diese für die Gewinnung von Informationen über das Forschungsobjekt. Gleichzeitig ist (öffentliche) Kommunikation der Forschungsinhalt der Kommunikationswissenschaft. Daraus ergeben sich besondere Chancen, aber auch Risiken für diese Methode. Die Chancen bestehen darin, dass sie prinzipiell an die alltägliche Kommunikation anknüpfen und in allen Teilen der Bevölkerung eingesetzt werden kann. In westlichen Kulturen ist die (wissenschaftliche) Befragung mittlerweile so weit etabliert, dass sie als Sozialtechnik mit ihren Regeln allgemein bekannt und auch weitgehend akzeptiert ist.
Allerdings ist die (sozial)wissenschaftliche Befragung nicht identisch mit informellen Gesprächsformen und bedarf insofern einer gewissen Transferleistung der alltäglichen Gesprächssituation auf die wissenschaftliche Befragungssituation durch die Forscher (Interviewer) und durch die Befragten. Diese Übertragungen sind einerseits erwünscht, um die Auskunftsbereitschaft der Befragten überhaupt zu sichern; sie sind andererseits riskant, weil bestimmte soziale Normen, wie sie in Gesprächen praktiziert werden, nicht zu gültigen Informationen über den Befragten führen. So ist es in alltäglichen Konversationen üblich, nichts über sich zu kommunizieren, was den Eindruck bei den Gesprächspartnern negativ beeinflussen könnte. Man versucht in der Regel, sich selbst gut darzustellen oder zumindest keinen Anlass zu geben, dass ein schlechter Eindruck entsteht (»impression management«). Abgesehen von offenen Provokationen und witzig-ironischen Gesprächsformen verläuft das Gesprächsverhalten im Rahmen dessen, was sozial erwünscht ist oder dafür gehalten wird.
Bei der Befragung geht es dagegen um valide, authentische Informationen des Befragten über sich selbst, über andere oder über Organisationen, die der Befragte repräsentiert, aber nicht darum, einen möglichst guten Eindruck von sich (oder der eigenen Organisation) beim Interviewer oder bei der Forschungsinstitution zu hinterlassen. Die Befragungssituation ist deshalb vom Prinzip her weitgehend entlastet von den konformitätserzeugenden sozialen Regeln. Weder der Forscher noch der Interviewer haben irgendeine Möglichkeit, das Auskunftsverhalten des Befragten oder die Auskunftsinhalte der Antworten zu sanktionieren, die Befragung beruht auf der Freiwilligkeit der Teilnahme und der Auskunftserteilung. Die einzige Ausnahme von dieser Regel sind (die nicht-wissenschaftlichen) Volkszählungen, bei denen die Auskunft vom Gesetzgeber erzwungen werden kann. Für die (sozial)wissenschaftliche Befragung stehen dagegen nur Appelle und Überzeugungsversuche zur Verfügung, die den Befragten zur Teilnahme an der Befragung und zur ehrlichen Auskunft bewegen sollen.
[22]Das Ziel der (sozial)wissenschaftlichen Befragung besteht zusammengefasst darin, durch regulierte (einseitig regelgeleitete) Kommunikation reliable (zuverlässige, konsistente) und valide (akkurate, gültige) Informationen über den Forschungsgegenstand zu erfahren. Die Befragung ist eine Art Aufforderung zur Selbstbeschreibung des Befragten. Der Forschungsgegenstand, das Selbst dieser Beschreibung, kann, muss nicht identisch mit der Auskunftsperson, dem Befragten, sein; es kann sich auch um einen dem Befragten nahen Forschungsgegenstand handeln, etwa um eine Organisation, für die der Befragte arbeitet bzw. in der er Mitglied ist, oder um eine dem Befragten nahestehende Person; man spricht im letzt genannten Fall von einer »Proxy-Befragung«.
Je nach Stellenwert, der dem Befragten seitens des Forschers eingeräumt wird, variieren die Bezeichnungen: In der angewandten Sozialforschung wird häufig von Zielpersonen gesprochen, die auch diejenigen mit einschließen, die sich dem Interviewversuch entziehen oder die nicht erreichbar sind. In experimentellen Untersuchungen ist die Rede von Versuchspersonen, die eine vergleichsweise passive Rolle einnehmen, während in Lehrbüchern zur Befragung auch die Bezeichnung Untersuchungsteilnehmer gewählt wird, die eine aktivere Rolle des Befragten suggeriert. Die tatsächliche Aktivität des Befragten hängt vom Standardisierungsgrad der Befragung ab: Je offener die Befragung in der Form ist, desto aktiver muss sich der Befragte an der Strukturierung der Befragungssituation beteiligen.
Bei der Durchführung von (sozial)wissenschaftlichen Befragungen wird zwar versucht, an die Alltagssituation von Befragungen (Fragestellen, Information im Gespräch) anzuknüpfen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine künstliche (nicht selbst gesuchte), asymmetrische (einseitig themenbestimmte), distanzierte (nicht persönlich werdende), neutrale (emotional nicht extreme), anonyme (nicht zwischen Bekannten erfolgende) Gesprächsform.
Voraussetzungen für eine gelungene Befragung sind neben der methodischen Kompetenz des Forschers und der Relevanz des Forschungsthemas hauptsächlich das Interesse des Befragten am Befragungsthema, seine inhaltliche und sprachliche Kompetenz, die prinzipielle Akzeptanz von Befragungen und Wissenschaft oder Meinungsforschung und seine spezielle, auf einzelne Fragen bezogene, Kooperationsbereitschaft sowie seine Ehrlichkeit bei der Beantwortung der Fragen.
Die Grenzen der Befragung ergeben sich daraus, dass es sich um eine kommunikative Methode handelt, die streng genommen nur über Kommunikationen Auskunft geben kann. Das bedeutet, dass Bewusstseinselemente (Gedanken, Gefühle) und Verhaltensweisen nur indirekt erschließbar sind und von der Befolgung [23]der oben aufgeführten kommunikativen Regeln abhängt.7 Insofern sind in der Befragung ermittelte Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen stets kommunikativ vermittelt. Man kann diese kommunikative Vermittlung als (potenzielle) Verzerrung der tatsächlichen Bewusstseinsinhalte und Verhaltensweisen auffassen, die man methodisch – etwa experimentell – zu reduzieren versucht, oder als eigenen sozialen Sinnbereich, der im Alltag relevant ist. Im ersten Fall interessieren die Gedanken oder Verhaltensweisen selbst, sodass die Befragung gegebenenfalls durch andere Methoden flankiert werden muss, wohingegen im zweiten Fall deren Kommunikationen der Forschungsgegenstand sind, wofür die Befragung uneingeschränkt geeignet ist (→ Kapitel 7.3.2 zum Thema »soziale Erwünschtheit«).
1.3
Methodologische Unterscheidungen
Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden ist, gibt es einerseits verallgemeinerbare Ziele und Eigenschaften der Befragung, andererseits Differenzen, die zumeist methodologischer Herkunft sind. Man kann die sozialwissenschaftlichen Methoden generell in quantitativ-standardisierte und qualitativoffene Verfahren unterteilen. Diese Unterscheidung basiert auf verschiedenen Forschungsphilosophien; sie wird oft in Unterschiedskatalogen herausgestellt.8 Die Nützlichkeit solcher prinzipiellen Unterscheidungen ist fraglich, denn es handelt sich zwar um das jeweilige Selbstverständnis der beiden Forschungsphilosophien, aber die Forschungspraxis sieht in der Regel weniger gegensätzlich aus. Man kann sich aus dieser Perspektive auf drei Dimensionen beschränken, [24]die für die Forschungspraxis speziell der Befragung konstitutiv sind und eine eindeutige Gegenüberstellung erlauben:
Standardisierte Verfahren streben in erster Linie den Vergleich zwischen den Untersuchungsobjekten an. Um die Vergleichbarkeit herzustellen, vereinheitlichen (und »objektivieren«) sie anhand eines ausführlichen Regelwerks
das Instrument, also den Fragebogen, indem die Fragen im Wortlaut und in der Reihenfolge jedem Befragten gleich gestellt und verschiedene Antwortmöglichkeiten dem Befragten zur Auswahl vorgegeben werden;
die Forschungssituation, also die Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Befragten, indem die Interviewer zu einheitlichem Verhalten gegenüber dem Befragten trainiert werden;
die Auswahl der Forschungsgegenstände, also die Stichprobenziehung der zu befragenden Zielpersonen, indem sie unabhängig von dem Interviewer durch Zufall oder Quotenvorgaben erfolgt.
Das Auswertungsziel standardisierter Verfahren besteht darin, über Häufigkeitsverteilungen bestimmte Phänomene, wie etwa das Meinungsklima zu einer öffentlichen Kontroverse, zu beschreiben oder über Häufigkeitsvergleiche Hypothesen zu überprüfen, die als Zusammenhang von mindestens zwei Variablen formuliert werden, wie etwa der Einfluss persönlicher Motive auf das Auswahl- und Nutzungsverhalten gegenüber bestimmten Medienangeboten.
Die Gütekriterien quantitativer Forschung sind Objektivität, Reliabilität und Validität. Objektivität bezieht sich auf die Stabilität des Messinstruments unabhängig von der Erhebungssituation und von der Person, die es anwendet. Wenn unterschiedliche Interviewer beim gleichen Befragten unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage erzielten, wäre die Untersuchung wenig objektiv. Aus diesem Grund werden das Verhalten des Interviewers, die Interviewsituation und der Fragebogen möglichst standardisiert. Da der Begriff der Objektivität erkenntnistheoretisch belastet ist, wird er heute meist durch Intersubjektivität oder intersubjektive Überprüfbarkeit ersetzt. Wenn ein Instrument zu den gleichen Ergebnissen führt, egal wer es anwendet, impliziert dies nicht, dass die Messung deshalb prinzipiell unabhängig vom Anwender ist, sondern nur, dass es von allen Anwendern im gleichen Maß abhängig ist. Diese Annahme reicht aus, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu sichern.
Reliabilität meint die Reproduzierbarkeit des Instruments. Wiederholte Messungen mit dem gleichen Instrument müssen zu dem gleichen Ergebnis kommen, sofern sich in der Zwischenzeit der Forschungsgegenstand nicht verändert hat. Wenn also ein Befragter zweimal die gleiche Frage bzw. zwei sinngleiche Fragen gestellt bekommt und er jedes Mal gleich antwortet, gilt die Frageformulierung [25]als reliabel. Die Reliabilität ist insbesondere bei sehr differenzierten Messungen gefährdet, etwa wenn eine Meinung auf einer zehnstufigen Skala angegeben werden soll, oder wenn ein Befragter nur eine sehr oberflächliche Meinung zu einem Sachverhalt hat bzw. den Sachverhalt für nicht relevant hält und eine fast willkürliche Antwort gibt.9
Validität meint die inhaltliche sachlogische Gültigkeit und betrifft die Beziehung zwischen dem theoretischen Konstrukt und der empirischen Messung. Wenn man etwa das Wissen des Befragten von der bevorstehenden Kommunalwahl erfahren will, ist die Frage nach dem Datum wahrscheinlich wenig valide. Zum einen umfasst diese Frage nur einen einzigen Aspekt des Wissens, zum anderen sagt möglicherweise das Wissen dieses Datums nichts darüber aus, wie gut der Befragte sich in der Kommunalpolitik auskennt. Validität ist ebenfalls nicht gegeben, wenn der Befragte bewusste Falschaussagen macht.
Alle drei Kriterien sind methodentheoretisch diskutierbar, praktisch verbesserbar durch gute Kenntnis vom Forschungsgegenstand und durch die standardisierte Untersuchungsanlage auch messbar. Dafür können unterschiedliche statistische Verfahren eingesetzt werden (vgl. Diekmann 2011: 247-261; Brosius / Haas / Koschel 2012: 49ff.).
Offene Verfahren sind weniger stark regelgeleitet und streben in erster Linie ein tieferes Verstehen und Verständnis vom Forschungsgegenstand an. Um dieses Ziel zu erreichen, individualisieren (und »subjektivieren«) die Forscher
den Fragebogen, indem die Interviewer je nach Antwort des Befragten flexibel nachfragen und das Instrument in der Feldphase der Befragung bis zum Erreichen theoretischer Vollständigkeit (»theoretical saturation«) verändert werden kann (vgl. Rubin / Rubin 2005: 33ff.);
die Interviewsituation, indem der Interviewer offen, konversations- und alltagsnah, allerdings gewissenhafter, professioneller und tiefer als im Alltag fragt und zuhört und versucht, den Befragten nicht einseitig in die Rolle des Auskunftgebers seiner »Daten« zu drängen (vgl. Rubin / Rubin 2005: 12ff.);
die Auswahl der Befragten, indem die Zielpersonen bewusst und in Abhängigkeit von der theoretischen Fragestellung ausgesucht werden. Die Ziehung der Stichprobe kann dabei auch nach jedem Fall neu erfolgen, um weitere geeignete, für die Fragestellung auskunftsfähige Befragte auszusuchen, bis das Thema erschöpfend behandelt ist (vgl. Rubin / Rubin 2005:79-92). Ziel des qualitativen Stichprobenplans ist nicht Repräsentativität, sondern die maximale Variation und Heterogenität in Bezug auf die forschungsrelevanten Merkmale, für die hinreichend viele Befragte ausgesucht werden müssen. (vgl. Kelle / Kluge 2010: Kapitel 3).
[26]Während bei standardisierten Umfragen der Forscher viele und anonyme Daten theoriegeleitet oder ad hoc interpretiert, wird bei qualitativen Befragungen die Deutung bestimmter Sachverhalte zwischen dem Interviewer (bzw. Forscher) und dem Befragten »ausgehandelt«. Qualitative Forscher interessieren sich folglich mehr für die Alltagstheorien der Befragten als für akademische Theorien (vgl. Rubin / Rubin 2005: 12ff.; Kvale / Brinkmann 2009: 26f., 57f.).
Weiterhin korrespondieren quantitativ-standardisierte Verfahren eher mit deduktiver Vorgehensweise und qualitativ-offene Verfahren eher mit induktiver Vorgehensweise. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass standardisierte Verfahren immer theoriegeleitet sein müssen und offene Verfahren immer von den »Daten« ausgehen müssen, aber erstere erfordern schon bei der Fragebogenentwicklung eine deduktive Vorgehensweise, während letztere nur wenige Vorgaben machen und flexibel auf die Befragten reagieren.10 Die qualitative Sozialforschung bevorzugt deshalb oft eine »abduktive« Logik, welche eine eher dialektische Beziehung zwischen theoretischen Annahmen und empirischen Ergebnissen unterstellt (vgl. Kelle / Kluge 2010: 21ff.), während bei der quantitativen Sozialforschung induktive und deduktive Logik quasi nebeneinander stehen oder zeitlich einander folgen.
Die Gütekriterien qualitativer Forschung sind Transparenz, Konsistenz und Kohärenz sowie Kommunikabilität. Transparenz wird hergestellt über die möglichst vollständige Dokumentation der Transkripte vom Interviewgespräch und der Kategorisierungsschritte bei der Analyse. Konsistenz entspricht der Reliabilität in der standardisierten Forschung und bezieht sich auf die Auskünfte der Befragten. Allerdings sollen Inkonsistenzen nicht vermieden oder ausgeschlossen, sondern verstanden werden oder erklärbar sein. Konsistenz betrifft daneben auch die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Interview- und lebensweltlicher Situationen.
[27]Kohärenz bezieht sich auf die Themen der Befragung und meint den thematischen Bezug der Aussagen des Befragten, der bei der Auswertung festzustellen ist. Die Kommunikabilität in der qualitativen Forschung korrespondiert mit der Validität in der quantitativen Forschung. Die gemeinsame Aushandlung von Bedeutung wird bei der Ergebnisdokumentation sichtbar gemacht in Form von Zitaten der Befragten11 (vgl. Rubin / Rubin 2005: 264; Kvale / Brinkmann 2009: 279ff.).
Die Methoden der Auswertung unterscheiden sich ebenfalls von denen der standardisierten Forschung, aber sie unterscheiden sich auch innerhalb der qualitativen Forschung. Die Interviewer oder Befragten füllen keinen Fragebogen aus, sondern das Gespräch wird aufgezeichnet und liegt damit als Rohtext vor, der nicht wie bei der quantitativen Inhaltsanalyse in numerische Symbole überführt, sondern in abstraktere Textformen transformiert wird. Die qualitative Auswertung einer qualitativen Befragung reicht von der »quasi-nomothetischen« Vorgehensweise, die teilweise – ähnlich wie die standardisierte Auswertung – vom Kontext abstrahiert und generalisiert, bis zur »konsequent-idiografischen« Vorgehensweise, die sich auf den Einzelfall bezieht und in diesem sich ausdrückende allgemeine Strukturen aufdeckt (vgl. Flick 1995: 163f.).
Für die »quasi-nomothetische« Vorgehensweise steht die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse12, bei der induktiv (vom Einzelfall ausgehend) und iterativ (schrittweise) Kategorien13 gebildet werden (vgl. Kvale / Brinkmann 2009: 201208). Die Analyse kann in zwei Richtungen erfolgen: Durch die Abstrahierung der Aussagen der Befragten werden diese induktiv mehrdimensional typologisiert (analog dem statistischen Verfahren der Clusteranalyse). Durch die Vorgabe bestimmter soziodemografischer oder theorierelevanter Merkmale werden die Befragten in Gruppen unterteilt und in der Auswertung wird nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in Bezug auf weitere relevante Merkmale gesucht und entspricht damit in etwa der Logik des statistischen Verfahrens der Varianzanalyse (vgl. Kelle / Kluge 2010: 38f., 43ff.).
[28]Eine »konsequent-idiografische« Vorgehensweise verfolgen diverse Methoden der Textanalyse wie die Ethnografie, die Konversationsanalyse oder hermeneutische Verfahren des Textverstehens (vgl. Titscher et al. 1998: 107ff., 121ff., 142ff., 247ff.). Diese Verfahren beziehen den kulturellen Kontext und die konkrete Entstehungssituation des Textes im Interviewprozess ein und orientieren sich an der Sequenzialität des Textes.
Schließlich werden mit der Verwendung der Forschungsphilosophien auch unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft verbunden: Dienen die Ergebnisse standardisierter Forschung eher der sozialtechnologischen Veränderung von Gesellschaft, weil der Auftraggeber allein über sie verfügt, wird mit qualitativer Forschung oft eine emanzipatorische Absicht verbunden; dies kommt besonders in der »Aktionsforschung« (»Handlungsforschung«) zum Ausdruck, bei der die Befragten in die Lage versetzt werden sollen, ihre Probleme (mit Unterstützung des Forschers) selbst zu lösen (vgl. Heinze 2001: 80ff.).14
Allerdings müssen die Grenzen zwischen qualitativen und quantitativen Methoden nicht scharf gezogen werden, wenn man die Differenzen nicht grundsätzlich, also forschungsphilosophisch-methodologisch, sondern abhängig von der Forschungsfrage, also pragmatisch-technisch, behandelt.15 Neben dem allgemeinen Vergleich in diesem Exkurs werden in den weiteren Kapiteln konkrete standardisierte und offene Verfahren beschrieben (→ Kapitel 3), die Vorteile und Nachteile offener Fragen im Vergleich zu Fragen mit vorgegebenen Antworten (→ Kapitel 5.4.) und die Standardisierung der Befragungssituation (→ Kapitel 6.3 und 6.4) diskutiert sowie die unterschiedliche Eignung quantitativer und qualitativer Verfahren bei der Befragung spezieller Populationen (Kinder, Alte, Ausländer, Elite-Personen) erörtert (→ Kapitel 7.4).
1 Jacob / Eirmbter / Décieux (2013: 6ff.) setzen den Beginn der Umfrageforschung zeitgleich mit der Quantifizierung und sogar mit der Entstehung der Sozialwissenschaften selbst an, in der Neuzeit also bereits im 17. Jahrhundert. Das Aufkommen statistischer Analysen kann dabei nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung der Methode Befragung sein, denn Daten lassen sich auch aus Dokumenten erfassen. Dem Fazit der beiden Autoren kann dagegen zugestimmt werden: »Umfrageforschung hat keine demokratisch verfassten Gesellschaften zur Folge, aber Umfrageforschung setzt demokratisch verfasste Gesellschaften voraus.« (Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 20)
2 Die Zeitschrift »Planung und Analyse« dokumentierte 1983 den »Fragebogen für Arbeiter«, den Karl Marx im Jahr 1880 in 25.000 Exemplaren als Beilage einer Zeitschrift in Frankreich verbreitete. Solche Befragungen zur wirtschaftlichen Lage der Arbeiter oder der Armen wurden im 19. Jahrhundert und bereits vorher durchgeführt (vgl. Noelle-Neumann / Petersen 1996: 620ff.; Diekmann 2011: 99ff.).
3 In diesem Kontext entwarf Weber auch eine Inhaltsanalyse, sodass er für diese Methode ebenfalls als Pionier gelten kann (vgl. Weber 1911: 52).
4 Eine ausführliche, methodisch dokumentierte Darstellung der bisherigen ALLBUS-Befragungen findet sich in www.gesis.org/dienstleistungen/daten/umfragedaten/allbus.
5 Zudem wird auf diese Weise eine Trennlinie mitten durch die qualitativen Methoden gezogen, denn diese haben oft das Verstehen ihres Gegenstands zum Ziel und wären demnach nicht-empirisch. Diese Trennung ist unpraktikabel, wenn etwa die Daten mit dem empirischen Verfahren des narrativen Interviews erhoben und mit dem nicht-empirischen Verfahren der Hermeneutik ausgewertet wird.
6 In einem Fall muss der Forschungsgegenstand nicht außerwissenschaftlich sein, nämlich wenn die Wissenschaft selbst zum Forschungsgegenstand wird, also in der Wissenschaftssoziologie. Die untersuchte Wissenschaftspraxis wird dann theoretisch und methodisch genauso wie ein außerwissenschaftlicher Forschungsgegenstand behandelt.
7 Dieses Inferenzproblem ist aber nicht typisch für die Befragung, sondern betrifft ebenso die Inhaltsanalyse, bei der vom analysierten Text auf Kontexte geschlossen wird (vgl. Merten 1995), und die Beobachtung, bei der vom beobachteten Verhalten auf sinnhafte Handlungen geschlossen wird (vgl. Gehrau 2002).
8 Solche Unterschiedskataloge werden vor allem von Vertretern qualitativer Methoden aufgestellt (vgl. Kleining 1982; Corbin / Strauss 1990; Honer 1989; Lamnek 2010: 124-127). Dies geschieht oft zur Rechtfertigung qualitativer Methoden gegenüber dem quantitativen »Mainstream«. In den Lehrbüchern, die von Methodologen mit vorwiegend quantitativer Präferenz verfasst werden, gelten dagegen die Regeln quantitativer Methoden als Standard für empirische Sozialforschung schlechthin. Die qualitativen Methoden werden dementsprechend an diesem Standard gemessen, was meistens in einer äußerst kurzen und oft ungerechten Abhandlung der qualitativen Methoden resultiert (vgl. etwa Diekmann 2011: 543ff.; Fowler 1988; Converse / Presser 1986).
9 Im Extremfall gibt der Befragte sogar eine Antwort auf eine Einstellungsfrage, obwohl er keine Meinung dazu hat (»pseudo-opinions«). Dieses Phänomen betrifft bereits die Validität der Antwort, denn sie kann als ungültig eingestuft werden, wohingegen die Antwort auf der Basis einer nur schwachen Meinungstiefe durchaus gültig sein kann, aber sehr stimmungsoder situationsabhängig ist.
10 Die induktive Forschungslogik, wie sie vor allem von der »Grounded Theory« (vgl. Corbin / Strauss 1990) bevorzugt wird, versucht zwar, die Behinderungen für die empirische Untersuchung, die von vorgefertigten Theorien und Hypothesen ausgehen (können), zu vermeiden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Forscher völlig ohne (theoretische) Vorannahmen ins Feld geht, sondern allenfalls, dass er in der Befragungssituation theoretische Sensibilität und Offenheit beibehält (vgl. Kelle / Kluge 2010: 19ff., 28f.).
11 Diese Kriterien gelten zwar nicht speziell für die qualitative Sozialforschung, sondern sind grundlegend für empirische Forschung schlechthin; sie werden allerdings von qualitativen Forschern anders interpretiert.
12 Prinzipiell kann eine offene Befragungsform auch standardisiert ausgewertet werden. Man verlässt dann allerdings die qualitative Methodologie.
13 Diese abstrakten Kategorien reduzieren zwar auch den lebensweltlichen Hintergrund des Befragten; diese Reduktion ist aber nicht als (so stark) isoliert vom Entstehungskontext zu verstehen wie bei der quantitativ-standardisierten Erhebung von Variablen (vgl. Kvale / Brinkmann 2009: 201-208).
14 Diekmann (2011: 533) bestreitet die heutige Relevanz dieses Anspruchs und vermerkt süffisant, dass der zunehmende Einsatz qualitativer Verfahren in der Markt- und Meinungsforschung ein Indiz für die Entkoppelung von gesellschaftskritischen Vorstellungen von Sozialforschung und der Anwendung bestimmter Methoden ist.
15 Ausführlich mit dem Verhältnis quantitativer und qualitativer Forschung beschäftigten sich Garz / Kraimer (1991): Puristische Positionen gehen entweder von der Inkommensurabilität (Unvereinbarkeit) oder von der Substitution (Ersetzbarkeit) beider Forschungsstrategien aus. Pragmatische Positionen halten das Verhältnis eher für komplementär (ergänzend) oder symbiotisch (kreuzvalidierend) (vgl. auch Hoffmann-Riem 1980; Kleining 1982; Brosius / Haas / Koschel 2012: 4f.).
[29]2
Verfahren der Befragung
Die Verfahren der Befragung lassen sich nach ihrem Kommunikationsmodus in drei Gruppen unterteilen: persönliche (face to face), telefonische und schriftliche Befragungen. Das jüngste Verfahren der Online-Befragung stellt zwar eigentlich nur eine Variante der schriftlichen Befragung dar, aber sie bekommt zunehmend ein eigenes Profil und wird deshalb hier als eigenständiges Verfahren behandelt. Neben der Charakterisierung der Verfahren selbst wird auch die jeweilige Stichprobenpraxis beschrieben, weil diese wesentlich zu den Vorteilen und Nachteilen des Verfahrens beiträgt. Die Unterstützung der Befragung durch den Computer, die unter dem Oberbegriff »Computer Assisted Interviewing« (CAI) firmiert, erschließt neue Einsatzmöglichkeiten der verschiedenen Befragungsverfahren, die aber auch mit neuen Anforderungen und Problemen verbunden sind.
2.1
Das persönliche (face-to-face) Interview
2.1.1
Beschreibung und Varianten
Das persönliche Interview ist eine Befragungsform, das auf der Anwesenheit von einem (selten zwei) Interviewer(n) und einem (selten mehreren) Befragten basiert. Es wird deshalb auch als »face-to-face«-Interview bezeichnet.
Grundsätzlich lassen sich drei Varianten unterscheiden: das Hausinterview, das Passanteninterview und die »Klassenzimmer«-Befragung.
Beim Hausinterview sucht der Interviewer den Befragten auf, entweder in dessen Privatwohnung, an seinem Arbeitsplatz oder an einem verabredeten anderen Ort. Es ist die häufigste Variante der mündlichen Befragung, die auch die größten Möglichkeiten bietet, während die anderen Varianten verschiedenen Beschränkungen unterliegen.
Beim Passanteninterview führt der Interviewer die Befragung im öffentlichen Raum durch, zum Beispiel in der Fußgängerpassage einer Innenstadt. Für den Einsatz dieser Variante müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein bzw. Beschränkungen berücksichtigt werden (vgl. Nötzel 1989; Friedrichs / Wolf 1990):
Die Grundgesamtheit muss in Beziehung stehen mit dem Ort der Befragung. Dies ist der Fall, wenn Käufer in der Innenstadt oder Passanten, die an einer Plakatwand oder an einem Flugblattverteiler vorbeigehen, interviewt werden.
[30]Die Interviews müssen kurz gehalten werden, da die Situation flüchtig ist und die Passanten andere Ziele verfolgen und wenig Zeit haben.
Externe Faktoren wie Wetter und Tageszeit beeinflussen den Ablauf von Passanteninterviews wesentlich, sodass die Bedingungen vorher genau ermittelt werden müssen.
Bei der Klassenzimmer-Befragung werden die Fragebögen durch einen Verteiler persönlich an die Befragten übergeben, aber von diesen selbst ausgefüllt (selfadministered questionnaires). Der Verteiler der Fragebögen motiviert zur Teilnahme an der Befragung, steht für Rückfragen der Befragten zur Verfügung und erläutert gegebenenfalls den Zweck der Untersuchung, greift aber sonst nicht ein. Damit ist die Klassenzimmer-Befragung eine Hybridform aus mündlicher und schriftlicher Befragung (vgl. Hafermalz 1976: 12). Voraussetzung für diese Befragungsart ist allerdings, dass die Befragten räumlich nicht verstreut sind, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten, relativ geschlossenen Ort versammelt sein müssen, an dem die Fragebögen verteilt und in der Regel auch wieder eingesammelt werden müssen. Damit reduziert sich die Einsatzmöglichkeit dieser Variante der persönlichen Befragung auf Fragestellungen, bei denen in der Regel homogene Gruppen untersucht werden sollen (Schulklassen, Universitätsseminare, Ressorts in journalistischen Redaktionen, Abteilungen in Unternehmen und Behörden usw.).
Da das Passanteninterview und die Klassenzimmer-Befragung nur sehr eingeschränkt eingesetzt werden können, beziehen sich die folgenden Ausführungen in erster Linie auf das wesentlich häufiger verwendete Hausinterview.
2.1.2
Stichprobe
Da die Stichprobenziehung zuerst für die mündliche Befragung entwickelt wurde und diese Verfahren grundlegend für die Befragung im Allgemeinen sind, können anhand derer generelle Anforderungen an die Stichprobenziehung erläutert werden. Deshalb sollen sie im Kontext der mündlichen Befragung ausführlicher behandelt und in den Abschnitten über die telefonische und schriftliche Befragung nur noch die dafür spezifischen Varianten beschrieben werden.
Um die Repräsentativität einer Stichprobe zu erreichen, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wird mit einem Zufallsverfahren gewährleistet, dass prinzipiell jedes Element der Grundgesamtheit (etwa der gesamten erwachsenen Bevölkerung eines Landes) die gleiche Chance hat, in die Stichprobe zu gelangen. Hier gewährleistet (bereits) die korrekt durchgeführte Prozedur die Repräsentativität der Stichprobe hinsichtlich aller Merkmale. Das elaborierteste Verfahren ist das ADM-Stichproben-System, das vom »Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute [31]e.V.« entwickelt wurde (→ Kapitel 1.1; www.utb-shop.de, Kapitel 1.2.1). Alternativ dazu kann Repräsentativität dadurch hergestellt werden, dass die Verteilung der wichtigsten Merkmale der Stichprobe – das sind meist die soziodemografischen Kennzeichen – mit der Verteilung dieser Merkmale in der Grundgesamtheit zur Übereinstimmung gebracht werden (→ www.utb-shop.de, Kapitel 1.2.2).
In der Praxis werden die prozedurale und die ergebnisorientierte Variante miteinander kombiniert, allerdings werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: Bei der Zufallsstichprobe wird in erster Linie Wert darauf gelegt, ein elaboriertes Verfahren zu entwickeln, mit dem die Zufälligkeit der Auswahl geregelt wird. Das Ergebnis der Stichprobenziehung wird mit den wichtigsten Merkmalen der Grundgesamtheit verglichen und – bei Abweichungen – durch Gewichtung korrigiert. Beim Quotenverfahren erfolgt der Abgleich der Stichprobenmerkmale mit den Grundgesamtheitsmerkmalen, während die Studie noch im Feld ist, sodass mögliche Abweichungen durch spezielle Quotenvorgaben der unterrepräsentierten Segmente noch in der Feldzeit korrigiert werden können.
Festzuhalten bleibt, dass die Repräsentativität einer Stichprobe nicht in der Verteilung aller (denkbaren) Merkmale proportional mit der Grundgesamtheit übereinstimmen kann. Die Stichprobe ist nicht in dem Sinn ein Abbild der Grundgesamtheit wie das Foto von seiner abgebildeten Umgebung, sondern die Stichprobe ist selbst Teil der Grundgesamtheit. Insofern gilt Repräsentativität nur für spezielle Merkmale und streng genommen auch nur für den Zeitpunkt der Erhebung (vgl. Erichson 1992: 19f.).
Im Folgenden werden einige relevante Stichprobenmodelle vorgestellt. Im Befragungsalltag gibt es natürlich zahlreiche weitere Möglichkeiten der Stichprobenziehung, auch solche, die keinen Anspruch auf bevölkerungsweite Repräsentativität erheben.
Zufallsstichprobe mit dem ADM-Stichprobensystem
Das ADM-Verfahren ist eine dreistufige Gebiets- bzw. Flächenstichprobe auf der Basis von geografischen Einheiten, den Wahlbezirken: Auf der ersten Stufe werden so genannte Sampling Points, die zumeist den Wahlbezirken entsprechen, ausgewählt. Darauf folgt eine Ziehung der Privathaushalte mit Hilfe einer Zufallsbegehung, woraus im letzten Schritt die zu befragenden Zielpersonen ermittelt werden (vgl. Behrens / Löffler 1999: 69). Die Grundgesamtheit bilden somit Privathaushalte unter Ausschluss von »Anstaltshaushalten«, gewerblichen Betrieben und Mehrfach-Wohnsitzen. Das vereinigte Deutschland besteht aus über 80.000 Wahlbezirken, die allerdings unterschiedlich viele wahlberechtigte [32]Personen umfassen. Deshalb werden einige Wahlbezirke zu synthetischen »Sample Points« zusammengefasst mit mindestens 400 Wahlberechtigten.
1. Stufe: Die Stichprobe der Sample Points wird als systematische Zufallsauswahl gezogen. Systematisch ist die Auswahl deshalb, weil sie nach verschiedenen geographischen Einheiten getrennt erfolgt: nach Bundesländern, pro Bundesland nach Regierungsbezirken, pro Regierungsbezirken nach Kreisen, pro Kreis nach Gemeindegrößeklassen, pro Gemeindegrößeklasse nach Gemeinden, eventuell Stadtteilen und Wahlbezirken. Auf diese Weise werden je nach Bedarf der ADM-Institute gesamtdeutsch 128 Netze aus jeweils 258 Sample Points gebildet (vgl. Behrens / Löffler 1999: 74ff.).
2. Stufe: Zur Ermittlung der Privathaushalte wird die im ersten Schritt ausgewählte Fläche »begangen«. Dazu wird ein Startpunkt bestimmt, von dem aus zwischen 20 und 50 Adressen von den Türschildern abgeschrieben oder erfragt werden. Das können entweder alle hintereinander oder nur jede x-te Adresse bis zur geforderten Anzahl sein. Für diese Zufallsbegehung gibt es genaue Anweisungen. Sie kann entweder als Adress-Random realisiert werden, wobei die Begehung bzw. Adressermittlung und die eigentliche Befragung voneinander getrennt werden, oder mittels Random-Route bzw. Random-Walk direkt mit der Befragung verknüpft werden. Die Trennung zwischen Stichprobenauswahl und Befragung beim Adress-Random entlastet den Interviewer, während bei Random-Route möglicherweise unbequeme Adressen übersprungen werden. Allerdings ist Random-Route ökonomisch und zeitlich günstiger und immer dann geeignet, wenn aufgrund der Beschränkung der Grundgesamtheit (etwa auf bestimmte Altersgruppen) mit hohen Fehlkontakten zu rechnen ist (vgl. Behrens / Löffler 1999: 78ff.; Noelle-Neumann / Petersen 1996: 246ff.).
3. Stufe: Schließlich muss die zu befragende Zielperson im Haushalt bestimmt werden. Dazu werden die Haushaltsmitglieder aufgelistet und per Zufallsverfahren (»Schwedenschlüssel«) die Zielperson ausgewählt. Alternativ kann auch die Person befragt werden, die als letztes Geburtstag hatte oder als nächste Geburtstag hat. Da die Haushalte aus unterschiedlich vielen Personen bestehen, haben Personen in kleinen Haushalten eine höhere Auswahlwahrscheinlichkeit, was gegen die wahrscheinlichkeitstheoretischen Regeln der Zufallsauswahl verstößt, wonach jedes Mitglied der Grundgesamtheit die gleiche Chance haben muss, ausgewählt zu werden. Deshalb werden in großen Haushalten oft zwei Personen befragt. Außerdem können bei bekannter Haushaltsgröße die individuelle Auswahlwahrscheinlichkeit jeder Person errechnet und diesbezügliche Disproportionalitäten durch Gewichtung in der Stichprobe ausgeglichen werden (vgl. Behrens / Löffler 1999: 81ff.).
[33]Die Ausschöpfung einer geplanten Stichprobe ist nie vollständig, weil aus verschiedenen Gründen das Interview mit der Zielperson nicht immer zustande kommt. Man unterscheidet unsystematische oder qualitätsneutrale und systematische oder (qualitäts)relevante Ausfälle. Zu den qualitätsneutralen Ausfällen, die keinen Einfluss auf die Güte der Stichprobe haben, zählen:
Dateifehler (Haushalt existiert trotz Adressauflistung nicht);
Straße oder Hausnummer nicht auffindbar;
Haushalt gehört nicht zur Stichprobe (Anstaltshaushalt, Gewerbebetrieb);
Wohnung oder Untermietwohnung zurzeit nicht bewohnt;
keine Person passt zur definierten Grundgesamtheit;
Haushalt oder Zielperson ist der deutschen Sprache nicht mächtig;
Totalausfälle von Sample Points;
Adresse nicht bearbeitet.16
Um relevante Ausfälle handelt es sich, wenn keine Interviews durchgeführt werden können, obwohl die Zielpersonen zur Stichprobe gehören. Hierzu zählen:
Haushalt oder Zielperson trotz mehrmaliger Versuche nicht erreichbar;
Haushalt oder Zielperson verweigert jede Auskunft ohne Angabe von Gründen, aus Zeitmangel, aus Interesselosigkeit oder aus prinzipiellen Erwägungen gegen Meinungsforschung;
Zielperson bricht das Interview frühzeitig ab;
Zielperson ist krank oder kann dem Interview geistig nicht folgen;
Interview ist fehlerhaft und kann nicht ausgewertet werden17 (vgl. Behrens / Löffler 1999: 88f.; Porst 1991: 61).
Die Ausschöpfungsquote ist ein wichtiger Indikator für die Qualität der Stichprobenrealisierung; sie wird wie folgt berechnet18: Ausgangspunkt ist die Bruttostichprobe, die alle ausgewählten und eingesetzten Adressen umfasst. Davon werden die qualitätsneutralen Ausfälle abgezogen; der Rest ist die Nettostichprobe [34]oder »bereinigte« Stichprobe. Von dieser werden die relevanten Ausfälle abgezogen, sodass der Anteil der tatsächlich durchgeführten und auswertbaren Interviews an der Nettostichprobe die Ausschöpfungsquote ergibt. Man kann zwar nicht eindeutig mathematisch bestimmen, unterhalb welcher Grenze eine Stichprobe nicht mehr repräsentativ ist, aber die Marktforschung sieht als Konvention eine Mindestausschöpfung von 70 Prozent an, deren Unterschreitung zumindest begründet werden muss (vgl. Behrens / Löffler 1999: 88ff.). Kritiker bezweifeln allerdings, dass bei einem Ausfall von bis zu 30 Prozent die wahrscheinlichkeitstheoretischen Annahmen der Zufallsauswahl noch gültig sind. Zudem ist die geforderte Ausschöpfungsquote von 70 Prozent in der Praxis selten in einem vertretbaren Aufwand zu realisieren (vgl. Sommer 1987: 300f.).
Quotenstichprobe
Wie aus diesen Ausführungen ersichtlich wird, ist das Vorgehen auf ADM-Basis in der Praxis sehr aufwändig. Aus diesem Grund bevorzugen einige Meinungsforschungsinstitute das Quotenverfahren, das bereits in 40er Jahren in den USA entwickelt wurde.
Ausgangspunkt ist nicht die Grundgesamtheit selbst und ihre Elemente, sondern die statistischen Proportionen bzw. Merkmalsverteilungen der Grundgesamtheit. Aufgrund amtlicher Daten des Mikrozensus oder den Ergebnissen der »MediaAnalyse« (→ www.utb-shop.de, Kapitel 1.2.1) sind folgende Merkmale und ihre Verteilungen in der Grundgesamtheit bekannt:
regionale Verteilung nach Bundesländern, Regierungsbezirken und Gemeindegrößen (vier Wohnortgrößegruppen);
Geschlecht;
Alter bzw. (vier) Altersgruppen;
Anteil Berufstätiger und (sechs) Berufsgruppen;
bekannte Konsummerkmale (Besitz bestimmter Konsumartikel).