Die Begegnung mit dem Geschichtenerzähler - Torsten Gränzer - E-Book

Die Begegnung mit dem Geschichtenerzähler E-Book

Torsten Gränzer

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Beschreibung

In diesem Buch geht es um nichts Spektakuläreres, als ganz normale Lebensgeschichte. Es geht um Erlebnisse, Wahrheiten und Erkenntnisse, verpackt in einzelne Geschichten, in denen Panikattacken, Ängste, Depressionen und Sucht ebenso ihren Platz finden, wie Sehnsucht, Mut und Lebenswillen. Das Buch gibt die Möglichkeit, einen „Geschichtenerzähler“ auf seinen Reisen zu begleiten, ihm zu begegnen und einige der Menschen kennen zu lernen, denen er selbst begegnet ist. „Ich empfehle dieses Buch all jenen, die den Mut haben, das eigene Leben kritisch zu betrachten und ehrlich zu sich selbst zu sein. Ich werde es nicht nur in meiner therapeutischen Arbeit nutzen, sondern auch all jenen ans Herz legen, die sich ihrer Emotionalität stellen wollen.“ Bertram Klitscher, Psychotherapeut „Diese Geschichten habe ich oft genutzt, um in Therapieeinheiten die Gefühle und Gedanken von Menschen zu erfahren, die von einer Krankheit, Abhängigkeit und/oder psychischen Belastungen betroffen waren. Deren Reaktionen sind mir als teilweise einschneidende Erlebnisse in Erinnerung geblieben, die mich auch meinen eigenen Gefühlen wieder näher brachten.“ Torsten Gränzer, Autor

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über den Autor

Torsten Gränzer (Jahrgang 1971) ist seit 2008 Autor mehrerer autobiographischer Bücher. Der vorliegende Kurzgeschichten-Band findet Verwendung als bibliotherapeutische Literatur in verschiedenen Kliniken und sozialen Einrichtungen. Ein weiteres Buch veröffentlichte Gränzer im Jahr 2010 ("Whiskey, Tränen und die Onkelz"), in dem er autobiographisch das ganz persönliche Erleben der Geschehnisse rund um seine ehemalige Band Fauxpas schildert. Mit "Toddes Tage" ist 2012 ein zeitgeschichtlicher Roman erschienen, der die Erlebnisse eines Jugendlichen in der DDR beschreibt, in "Sexueller Missbrauch - Die verlorenen Jahrzehnte der Saskia Malenke" stellt er die Lebensgeschichte einer sexuell missbrauchten Frau dar. Seit 1987 ist Gränzer Sänger und Texter verschiedener Bands und Projekte. Im Jahr 2014 erschien unter dem Namen GRAENZER sein erstes Soloalbum "Schattenlicht".

mehr Informationen im Internet unter:

www.torsten-graenzer.de

Inhalt

Vorwort

Die Reise

Mitternachtssonne

Der Sperling

Der hastige Mann

Der Musikladen

Ein Weihnachtsabend

Die kleine Fee

Das verschwundene Lächeln

Der Maler

Am Rande der Sahara

Die Farben von Mahmya

Ein Tag im November

Die Begegnung

Strandgänge

Vorwort

Als ich gebeten wurde, ein Vorwort für das vorliegende Buch zu schreiben, fühlte ich mich geehrt, hatte aber keine Ahnung, was ich schreiben sollte. Für mich als Psychotherapeuten war das eine völlig neue Aufgabe und so verstand ich zunächst nicht, warum gerade ich dafür angesprochen wurde. Da ich auch in der Therapie gelegentlich mit Geschichten arbeite, machte mich der Titel neugierig. Kaum hatte ich mit dem Lesen begonnen, ließ mich das Manuskript nicht mehr los und so las ich es innerhalb weniger Tage. Die spannende Mischung aus Reiseerzählung, Selbstreflexion und Gesellschaftskritik wurde in den einzelnen Geschichten gut verpackt und regte mich sehr zum Nachdenken an. Unter Einbezug historischer und ethnologischer Fakten, die den Leser nicht überfordern, werden aktuelle und auch immer wiederkehrende psychische Konflikte angesprochen. Dem Leser wird die Begrenztheit des eigenen Denken und Handelns auf eine einfühlsame Weise näher gebracht. Zu zentralen Themen wie Krieg und Frieden, Liebe und Tod, seelischen Ängsten und dem Sinn des Lebens nimmt der Autor Stellung, ohne bevormunden zu wollen. So gestattet der Autor tiefe Einblicke in seine eigene Gefühlswelt und besticht dabei durch eine gnadenlose Ehrlichkeit. Auch in meiner Arbeit höre ich Menschen selten so emotional berichten. Dabei ist der Zugang zur eigenen Emotionalität das Wichtigste für ein zufriedenes Leben. In den Geschichten wird nichts beschönigt und trotzdem Mut gemacht. Trotz der ernsthaften Problematiken, gelingt es dem Autor einen humorvollen, teilweise melancholischen, Ton zu finden, der mir das Lesen zur Lust werden ließ. Allen Geschichten ist eins gemeinsam: die Achtung vor dem Leben. Toleranz und Verständnis für alle Geschöpfe auf unserer schönen, bunten Welt ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichten und verbinden diese zu einem Ganzen. Ich wünsche diesem Buch viel Erfolg und empfehle es all jenen, die den Mut haben, das eigene Leben kritisch zu betrachten und ehrlich zu sich selbst zu sein. Ich werde es nicht nur in meiner therapeutischen Arbeit nutzen, sondern auch all jenen ans Herz legen, die sich ihrer Emotionalität stellen wollen.

Bertram Klitscher, Psychotherapeut

Die Reise

Ich starre auf den Bildschirm, auf dem sich ein virtuelles weißes Blatt Papier abzeichnet. Geduldig wartet das „Word“-Programm auf meine Ausführungen. „Warum schreiben Sie kein Buch? Ich würde es kaufen...“, hatte die Frau gesagt, als sie sich von mir verabschiedet hat. „Schreiben Sie diese Geschichten auf, ich würde sie lesen und Andere vielleicht auch!“ Dann war ich in den Zug auf Gleis 4 gestiegen und kurze Zeit später war die Bahnhofshalle des Zoologischen Gartens verschwunden und ich auf meiner Reise wieder allein gewesen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich diese Frau erst seit einem Tag und doch wusste sie bereits mehr über mich, als manche Menschen, mit denen ich schon seit Jahren in irgendeiner Weise zu tun hatte. Und ich weiß einiges über diese Frau. Zwölf Minuten später war dann auch ihr Zug abgefahren, irgendwohin ins Havelland. Wir haben keine Telefonnummern getauscht, keine Adressen, nichts. Sie ist mir begegnet, wie so viele Menschen und sie ist wieder gegangen, auch wie so viele. Was wird sie bei mir hinterlassen? Ich war traurig, dass sie ging, fühlte mich aber auch erleichtert und freute mich auf das, was mich in einer guten Stunde erwarten würde. Der Regionalexpress bahnte sich seinen Weg durch das hellerleuchtete, weiße Berlin. Der lichtangestrahlte Funkturm hatte im einsetzenden Schneetreiben ein weihnachtliches Aussehen bekommen. Das Fest war bereits allgegenwärtig. Vom Monitor im Abteil des Regionalexpress hatte mich ein Weihnachtsmann angesprochen. Was er mir sagen hatte wollen, habe ich nicht genau feststellen können, weil der Ton stummgeschaltet war. Ich hatte vermutete, dass er mir etwas verkaufen wollte. Natürlich sind die Händler gerade jetzt bemüht, möglichst viele ihrer angebotenen Produkte auf den Gabentischen der westlichen Hemisphäre unterzubringen. Ich soll also ein Buch schreiben. Vielleicht ist so ein Buch auch ein schönes Geschenk zu Weihnachten, für wen auch immer... Nur halte ich nicht so viel von diesen Weihnachtsgepflogenheiten und beschenke lieber jemanden dann, wenn es mir eine Herzensangelegenheit ist. Vielleicht könnte ich mit einem Buch auch mich selbst beschenken, denn das mache ich viel zu selten. Schon als Kind schrieb ich gerne meine Gedanken auf und der Wunsch, einmal ein Buch zu schreiben, hat seinen Ursprung vielleicht sogar in dieser Zeit, wobei dieser Wunsch schnell von dem verdrängt worden war, ein berühmter Sänger oder Schauspieler zu werden. Worüber sollte ich schon ein Buch schreiben? Über mein Leben als Sänger in einer Rockband? Ein Roman über meine Kindheitserinnerungen? Prosa über tiefe seelische Abstürze, über Kränkungen, Misserfolge und deren Bewältigung? Eine fiktive Geschichte vielleicht, in die ich hin und wieder sich mir eröffnete Wahr- und Weisheiten einfließen lasse? Vielleicht schreibe ich einfach meine Biographie, aber wahrscheinlich habe ich noch nicht genug erreicht, fühle mich zu unbedeutend und bin wohl nicht bekannt genug, als dass sich für meine Ergüsse irgendjemanden interessieren könnte. Neben vielen lyrischen Texten und angefangenen Werken hatten sich in den letzten Jahren auch einige Kurzgeschichten angesammelt. Ihre einzige Verwendung hatte bisher darin bestanden, sie hin und wieder ausgewählten Menschen vorgetragen und sie ansonsten in den unergründlichen Weiten von zweihundert Gigabyte auf der Festplatte archiviert zu haben. Sollte ich vielleicht die veröffentlichen, nur, um einmal zu sehen, ob ich andere Menschen damit überhaupt erreichen kann? Meine verdammten Selbstzweifel fressen mich gerade auf. Warum schießen mir bloß wieder diese negativen Gedanken in den Kopf? Vielleicht, weil ich schon die Stimmen höre: „Nun schreibt der auch noch ein Buch, um sich zu profilieren. Seine Sucht nach Anerkennung hat einen neuen Höhepunkt erreicht.“ Sind Bücher selbstdarstellerisch? Können sie hilfreich sein? Das sollen Andere entscheiden. Ich merke, wie mich diese Stimmen stören. Vielleicht sollte ich endlich lernen, mit meinen Kritikern umzugehen und ihnen nicht die Macht geben, mein Selbstvertrauen in den Boden zu stampfen. Manchmal fehlt mir eben die Kraft, mich ihnen entgegen zu stellen, oder die Gelassenheit, sie einfach zu ignorieren. Auch wenn ich mein eigenes Schaffen seit einiger Zeit bereits mit anderen Augen sehe, streiten gerade die Zweifler in mir. Warum soll ich nicht irgendwann etwas geschaffen haben, auf dessen Ergebnis ich mit Stolz meinen Namen schreiben und das ich weitergeben kann? Warum soll ich andere Menschen nicht an meinen Gedanken teilhaben lassen? Vielleicht, weil die Schriftstellerei in vielen Fällen brotlose Kunst zu sein scheint? Weil sie „nichts Solides“ ist, womit ich mein Geld verdienen kann? Wie oft musste ich mir anhören, „etwas Vernünftiges“ tun zu sollen, was ich dann, des lieben Friedens willen, auch tat, um mich von diesem später frustriert wieder abzuwenden infolge dessen Oberflächlichkeit, Stumpfsinnigkeit oder kreativer Beschränktheit. Ich hatte diese Arbeit jedesmal mit Widerwillen erledigt, wenig Anerkennung gefunden und war mit mir selbst nicht ins Gleichgewicht gekommen. Wann finde ich denn Anerkennung? Könnte ein Buch mir welche verschaffen? Erkenne ich sie dann selbst an? Braucht nicht jeder Mensch Anerkennung und warum soll es schlimm sein, wenn ich diese mit dem, was ich gerne tue, versuche zu finden? Was ist denn Anerkennung? Geld, Schulterklopfen, ein nettes Wort, von allem ein bisschen? Orientiere ich mich zu oft am Negativen, an Neidern und Schwarzmalern, an frustrierten Menschen, ohne meine eigenen Stärken zu sehen? Ist das nicht in höchstem Maße selbstzerstörerisch, wenn ich aufgebe, nur weil ich vor einer selbsternannten Jury nicht bestehe? „Warum schreiben Sie kein Buch?“, hat sie mich gefragt. Ja, warum eigentlich nicht? Ich spüre, wie diese Frau einen Motor in mir startet und den Antrieb freisetzt, den ich zu oft in meinem Leben vermisse. In diesem Moment fühle ich mich ein Stück freier und größer, atme tief durch und lasse den Abend, an dem ich dieser Frau begegnete, und den darauffolgenden Tag noch einmal Revue passieren. Ich registriere nebenbei, wie sich meine Finger über die Tastatur arbeiten…

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Die Lichter von Nynäshamn kämpften sich durch das dichte Schneetreiben bis hin zur „Scandinavia“, hinter deren dicken Scheiben ich sie wahrnahm. Normalerweise genieße ich die Hafenausfahrten eines Schiffes, aber Temperaturen unter dem Gefrierpunkt hielten mich davon ab, mich an die Reling zu stellen. Es war erst kurz nach 18 Uhr, aber bereits stockfinstere Nacht in Schweden. Die See lag ruhig und schon bald war auch das letzte Anzeichen von Land und Leben verschwunden. Nur der Schnee begleitete mich durch den Abend. Südschweden versank in diesen Tagen im Chaos. Züge blieben stehen oder verkehrten unregelmäßig, Fahrgäste mussten in den Abteilen übernachten, Häuser waren ohne Strom und zwischen den Inseln Öland und Gotland war ein Schiff in der Ostsee gesunken. Der Sturm hatte nachgelassen, jedoch wurden die Norrländer der immer wieder anwachsenden Schneemassen kaum Herr. Deswegen hatte ich mich dazu entschlossen, für meine Heimreise die Fähre nach Danzig zu nehmen. Vor mir lagen noch etwa achtzehn Stunden Fahrt mit dem Schiff und dann noch einmal zehn mit der Bahn. Am Abend zuvor hatten mich meine schwedischen Freunde mit einem üppigen Smörgåsbord verabschiedet und den Vormittag hatte ich in Stockholm verbracht. In einem der vielen Cafés der Stadt hatte ich einige Zeit für meine Gedanken, um dann nochmals durch die Altstadt zu schlendern, vorbei am Palast, dem Theater und all den Orten, die mir dabei so vertraut vorkamen. Trotzdem bin ich froh gewesen, als ich in die S-Bahn zur Hafenstadt gestiegen war, um mich endlich auf den Weg nach Hause zu begeben. Achtzehn Knoten brachten mich nun sanft der polnischen Küste entgegen. Die Langeweile ließ mich durch das Innere des Schiffs schlendern. Kaum jemand war nach dem Ablegen an Bord zu sehen. Die meisten Passagiere waren ohnehin LKW-Fahrer, die jetzt ein wenig Ruhe fanden. Nach dem missglückten Versuch, im Kino etwas Unterhaltung zu finden, gönnte ich mir den Luxus eines Abendessens im „Vivaldi-Restaurant“. Ich bin es gewöhnt, Essen allein zu mir zu nehmen, aber einziger Gast des Restaurants zu sein, ließ schon eine etwas wehmütige Stimmung in mir aufkommen. Während das letzte Stück Fleisch meinen Teller in Richtung Gaumen verließ, durchbrach dann doch jemand die Einsamkeit des Ortes mit dem fast dezenten Licht und der etwas schwülstigen Musik. Kurze, rotgefärbte Haare und ein heller Teint ließen mich eine Russin vermuten. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und nahm ausgerechnet am Tisch nebenan Platz. Bei der engen Anordnung der Möbel fühlte ich mich, als säße sie direkt neben mir. Für Momente glaubte ich mich unsicher, löste die Begegnung doch in diesem Augenblick einen rasanten Wechsel zwischen Unbehagen und Wohlfühlen in mir aus. Ich finde es schlimm, ständig ausloten zu müssen, ob mir eine Situation angenehm oder bedrohlich erscheint. Sollte ich sie ansehen, oder nur einen verstohlenen Blick riskieren? Sollte ich vielleicht lächeln oder einfach die Rechnung bezahlen, um mich weiterhin einsam fühlen zu können? Letztere Möglichkeit erübrigte sich, da der Kellner sich erst einmal nicht mehr sehen ließ. Der benutzte Teller stand bereits eine gefühlte halbe Ewigkeit vor mir und auch die Frau am Nebentisch blickte immer wieder zur Tür, wahrscheinlich in der Erwartung, dort endlich jemanden herauskommen zu sehen. „I think he’s sleeping too. Maybe it’s a ghostship…”, versuchte ich, die Situation aufzulockern. „Sie sind Deutscher?“, entgegnete sie mir. War mein Englisch wieder so schlecht oder trug ich einen teutonischen Stempel auf der Stirn? „Ja, ich bin Deutscher, und Sie?“ „Mittlerweile bin ich es auch...“, deutete sie mit dem kurzen Anflug eines Lächelns an. Ich fühlte mich wieder sicherer und vor allem ruhiger. Endlich kam der Kellner und höflich bestellte sie einen Rotwein. Weniger freundlich orderte ich ein Wasser und wir schwiegen, bis beides auf den Tischen stand. „Was für ein Schneetreiben...“, sagte sie mit einem gedankenversunkenen Blick aus dem Fenster. „Fahren Sie nach Hause?“ „Ja, nach Hause,“ antwortete ich, „in die Berliner Gegend. Genaugenommen nach Brandenburg, falls sie das kennen...“ „Natürlich kenne ich Brandenburg! Das liegt doch fast vor meiner Haustür. Ich komme aus dem Havelland.“ Manchmal scheint die Welt wirklich klein zu sein. „Und Sie wollen auch nach Hause?“, fragte ich sie. Vielleicht hatte auch sie diese ungewöhnliche und zudem zeitaufwändigere Route wegen des Schneechaos gewählt. „Wie man es nimmt. Ich fahre nach Ungarn.“ Etwas hatte sich in ihrer Stimme verändert. Nach einer kaum merklichen Kopfbewegung, die ich als „Nein“ deutete, lenkte sie den Gesprächsinhalt wieder auf mich: „Was haben Sie in Skandinavien gemacht? Sind sie oft hier?“ Ich erwähnte kurz, dass ich mir bei guten Freunden in Stockholm eine Auszeit genommen hatte. Und: „Ja, ich war einige Male in Skandinavien gewesen.“ Manchmal waren es Pflichtbesuche, andere Male habe ich die Weiten der Länder mit dem Motorrad erkundet. Mein Herz hängt schon sehr am Zauber des Nordens, was aber nicht heißt, dass ich mich nicht auch anderswo sehr wohl fühlen kann. Oder aber eben sehr schlecht, wie manchmal auch in Skandinavien. „Ein paar Mal war ich mit dem Motorrad hier. Einmal habe ich es sogar bis zum Nordkap geschafft…“ In diesem Moment bereute ich, dass ich so bereitwillig Auskunft gab, wollte ich doch nicht, dass sie mich für jemanden hielt, der in Fernfahrer-Mentalität mit seinen Extrem-Touren prahlt. „Tatsache bis zum Nordkap?“ Ich glaubte, einen Anflug von Bewunderung aus dem Gesagten zu vernehmen. „Aber sie waren nicht im Winter dort, oder etwa doch?“ Nein, ich gehöre nicht zu denen, die sich über verschneite und vereiste Pisten, nur erkenntlich an Stangen, die weit aus der Schneedecke ragen, bis zum Polarkreis quälen. So sehr muss ich mich ganz bestimmt nicht mehr beweisen. Die Sommertouren zum Nordkap sind vielleicht nicht mehr so abenteuerlich wie noch vor einigen Jahrzehnten, trotzdem lassen sich auch über sie noch interessante Geschichten erzählen, vom ganz individuellen Erleben einer Fahrt über Tausende von Kilometern. „Motorradfahren war immer einer meiner Träume. Leider habe ich ihn nie wahr gemacht. Ich habe es bisher nur geschafft, Reiseberichte zu lesen und mir die Touren auf Karten anzusehen. Wie war es denn am Nordkap?“ Mich hätte in diesem Moment interessiert, was sie daran gehindert hatte, ihren Traum zu verwirklichen, so wie mich viele Dinge neugierig machten, die diese Frau betrafen. Waren es diese schönen, traurigen Augen, die in mir einen Beschützerinstinkt, oder auch einen Komplex, wach riefen? War es meine Einsamkeit, die mich Sehnsucht spüren ließ? Und warum tastete ich schon wieder in den Tiefen meiner Seele umher? „Wollen Sie wirklich die Erlebnisse dieser Reise hören? Das könnte etwas länger dauern…“, versuchte ich zu umgehen, tief in meiner Erinnerung wühlen zu müssen. „Laut Fahrplan legt das Schiff morgen Mittag um 12 Uhr an, bis dahin habe ich Zeit…“ Ihre blassblauen Augen sahen mich erwartungsvoll an. Sie erinnerten mich an die eines Kindes, das wegen einer Gute-Nacht-Geschichte bittet. „Ja, also okay...“, stammelte ich ein wenig, hatte aber nichts mehr dagegen, von mir und dieser Reise zu erzählen. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte sie und hatte das fast leere Glas Rotwein bereits in der Hand. Und wie sie durfte! Das Interesse an ihr war in mir geweckt, verbunden mit einer tiefen Sympathie, die ich für sie empfand. Möglich, dass mich ihr Äußeres, ihre Bewegungen und die Art, wie sie sprach, an liebgewonnene Menschen aus vergangenen Tagen erinnerten. „Gut, dann werde ich Ihnen die Geschichte erzählen, von einem, der auszog, die Mitternachtssonne am Ende der Welt zu sehen.“ Nachdem sie ein weiteres Glas Wein bestellt hatte, begann ich zu sprechen:

„Ich war in Skandinavien, aber ich erlebte es nicht. Die endlose Spule der Straße lief wie ein Film vor mir ab, in dem ich mich nicht einmal wie ein Statist bewegte. Lediglich die Tankstellenpächter bekamen etwas von meiner Anwesenheit mit und notierten meinen Besuch in ihre Steuerbücher. Es waren einseitige Begegnungen, denn weder erfuhr ich viel von der Mentalität der Einwohner, noch hatte ich ein Blick für die Schönheit der nordischen Natur, und trotzdem hatte beides nachhaltige Einwirkungen auf mich. Wo lag der Sinn dieser Fahrt, und was hat sie mir letztendlich gebracht? Ich war fort von zuhause, aber nicht woanders. Diese Reise führte mich in meine eigene Fremde...“

Ich nahm die Frau am Tisch kaum noch wahr, fühlte mich um Jahre zurückversetzt und mir war so, als wäre ich genau in diesem Moment wieder unterwegs gewesen, auf einem anderen Schiff, das in die entgegengesetzte Richtung fährt...

Mitternachtssonne

Die Fähre gewinnt langsam an Fahrt. Immer schneller entfernt sich der Leuchtturm, der an diesem frühen Morgen nur von einigen Möwen bewacht wird. Bald wird er hinterm Horizont verschwunden sein und ringsum werde ich nur noch das Meer sehen, das sich heute sehr ruhig vor meinen Blicken ausbreitet. Wie ein grüner Spiegel liegt es unter mir. Gerade so habe ich das Schiff erreicht, die 1100er BMW GS im Ladedeck verzurrt und auch noch die Zeit gefunden, ein kurzes Gespräch mit einem sächsischen Pärchen zu führen, das mit seinen Motorrädern unterwegs zu den Lofoten ist. Drei Wochen wollen sie auf der Inselgruppe im Nordmeer verbringen. Die Glücklichen, denn sie verfügen über die nötige Zeit, ihren Urlaub gelassen anzugehen. Ich habe heute noch etliche schwedische Landstraßenkilometer vor mir. Bis zum späten Abend will ich Herräng erreicht haben, einen kleinen Ort nordöstlich von Stockholm. Vor einem halben Jahr erst hat sich Falco dort niedergelassen. Wir sind in derselben Firma tätig. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit hatte er mich in die Herrenwyker Prüfdienste geholt. So habe ich, zwölf Jahre nach der politischen Wende, einen für ostdeutsche Verhältnisse halbwegs gutbezahlten Job bei einer norddeutschen Firma, die es sich auf ihre Fahnen geschrieben hat, Standsicherheitsprüfungen an stehend verankerten Mastsystemen durchzuführen. Das bedeutet lediglich, dass wir Lampenmasten daraufhin überprüfen, ob sie denn nun den nächsten Sturm überstehen würden. Mit dem Patent auf eine intelligente Verfahrensweise sind nur wir befugt, Masten derartig zu prüfen, und einige Laternenbetreiber schreien förmlich nach uns. Vor allem im süddeutschen Raum und in Frankreich tun sie das. Das Resultat sind ewige Anfahrten, Woche für Woche. Wie Steckfahnen werden wir von unseren Vorgesetzten auf der europäischen Landkarte versetzt und wir folgen ihren Anweisungen mit einem Mitsubishi „Pajero“, der einen Anhänger nach sich zieht, auf dem ein, in der Fachsprache „Prüfgerät“ genannter, umfunktionierter Minibagger in königlicher Pose thront. Wie Vagabunden zieht es uns durch die deutschen Bundesländer und ganz Europa. Was sich anfänglich interessant anhörte und nach leicht verdientem Geld aussah, entpuppte sich für mich als langweiliger Job, fernab der Heimat und mit zermürbenden Autobahnkilometern. Hotelzimmer sind mein Zuhause, oft in den schönsten Gegenden, für die ich aber nichts mehr empfinden kann. Das Leben muss doch mehr hergeben, als diesen Fließbandjob. Aber wir kommen nicht davon weg. Zu verlockend ist das Gehalt am Monatsanfang, auch wenn dabei das zu kurz kommt, was für mich Leben bedeuten könnte. Ich habe keinen friedlichen Ort, an dem ich entspannen kann. Mein Heim besteht aus einer Matratze und ein paar Kisten in einer Einzimmerwohnung in Zentrumslage am Katharinenkirchplatz. Weder besitze ich einen Fernseher, noch einen Rundfunkempfänger oder gar Möbel. Ich nenne mein Domizil ein Loch, von dem aus ich einen wunderbaren Blick auf ein anderes Loch habe. Jenem, das seit einigen Jahren als Baugrube mit archäologisch wohl wertvollen Funden mitten in unserer Innenstadt existiert. Wozu brauche ich auch eine gemütliche Wohnung, wenn ich sie höchstens für eine Nacht in der Woche nutzen kann? An den Wochenenden bin ich ganz mit meiner Musik beschäftigt. Seit über fünf Jahren gehen meine Bandkollegen und ich gemeinsame Wege. Nur kommen wir derzeit nicht voran. Die wenigen Tage, die wir gemeinsam haben, vergehen mit mühseligen Proben und ein paar Auftritten, für die wir teilweise wieder mehrere hundert Kilometer auf der Autobahn verbringen. Mittlerweile kenne ich fast jeden Tankwart, jeden Kilometerstein, jede Unebenheit der Fahrbahn und manövriere mich ohne eine Karte über bundesdeutsche Straßen. Mein Gott, ich prüfe Lampenmasten! Auf Standsicherheit prüfe ich sie, in ganz Europa. Wer braucht das? Und wer dankt es mir? Wo sind denn meine Fähigkeiten, mein Talent? Ich spüre, wie etwas in mir verkümmert. Im Moment habe ich keine Zeit für diese Gedanken. Die Firma bewilligte uns gerade einmal eine Woche Urlaub, die ausreichen muss, um wenigstens das Nordkap zu erreichen und pünktlich wieder in Herräng zu sein. Im Anschluss an diesen Urlaub sollen wir einige Aufträge in Skandinavien abarbeiten. Extra deswegen hatte sich Falco in Schweden niedergelassen. Wir werden einige Wochen dafür brauchen und dementsprechend voll beladen ist das Motorrad, das sich jetzt eine sechsstündige Pause gönnen darf. Die Vorstellung dieser Reise war eigentlich eine andere gewesen. In aller Ruhe wollten wir uns einmal von unseren alltäglichen Zwängen lösen und mit dem leben, was die Natur zu bieten hat. Wir wollten zu Fuß durch nordische Wälder streifen, fischen, dem Braunbären begegnen und dabei einen Traum wahr werden lassen. Es sollte der Anfang eines Abenteuers werden, eine Reise voller Ruhe und Ausgeglichenheit. Wir wollten unsere Sehnsüchte neu erkunden und feststellen, ob wir überhaupt noch fähig waren, menschlich zu fühlen, um uns später in noch größere Abenteuer zu stürzen. In unseren Träumen ging es irgendwann einmal nach Kanada, nach Argentinien und Chile und in die Weite Sibiriens, all das natürlich auf den unvermeidlichen Motorrädern. Reisen als Pauschaltouristen in gemütlichen Hotelanlagen können wir uns nicht vorstellen. Alles muss eben mit Aufwand verbunden sein, mit Schwierigkeiten. Je verrückter, umso besser. Geht es uns dabei überhaupt noch gut? Meine Knochen sprechen seit langem eine andere Sprache und würden sich wahrscheinlich über eine Pause und etwas Ruhe freuen.

Nun liege ich auf einer Bank auf dem Sonnendeck. Von wegen! Die Sonne steht zwar schon hoch am morgendlichen Junihimmel, jedoch wärmt sie mich keineswegs. Warum habe ich bloß nicht den verdammten Schlafsack mit hochgenommen? Er liegt gut verstaut in der Gepäckrolle und während der Überfahrt ist es nicht möglich, die Fahrzeuge aufzusuchen. Rechts tauchen die Umrisse des Darß auf. Oft war ich als Kind an der Ostsee gewesen und habe sehnsüchtig den Fähren hinterher gesehen, die langsam in Richtung Norden verschwanden. Schon damals sagte mir mein Gefühl, dass ich irgendwann einmal die Welt bereisen werde. Ich weigerte mich, an dem Gedanken festzuhalten, der mir suggerieren sollte, ein Leben lang in dem ostdeutschen Gefängnis zu vegetieren, das sich Deutsche Demokratische Republik nannte, ohne jemals die Freiheit besitzen zu dürfen, meinen Geist fliegen lassen und meine Erfüllung finden zu können. Skandinavien. Welch eigenartiger Zauber erwachte damals in mir, nur wenn ich dieses Wort hörte? Ich dachte an weite Wälder, Rentiere und Ruhe, an endlose Winter und natürlich auch an den Weihnachtsmann, an die Märchen von Hans Christian Andersen, in denen ich wieder Kind werden konnte und in deren Bitterkeit und Kälte trotzdem ein Hauch von Wärme und Zärtlichkeit, von Gemütlichkeit und Familienleben, auftrat. All diese Dinge, deren Wirkung ich nicht mehr zulassen kann, die mir scheinbar nichts mehr bedeuten. Ich liebe den Wald, aber ich kann ihn nicht genießen. Mit den Adlern wollte ich immer fliegen, doch irgendwer hatte meine Flügel beschnitten. Und nun gleitet diese Fähre mit mir in den Norden. In ein Abenteuer? Für die Welt mag es nichts Besonderes sein, für mich ist diese Reise die Erfüllung eines Traums. Wie lange schon träumte ich von der Einsamkeit des Nordens, die zu meinem Gefühlszustand passte, von der Mitternachtssonne, von Ruhe und Einklang mit der Natur? Wird es regnen? Im Norden ist der Regen ein ständiger Begleiter. Mich stört er nicht. Ich mag ihn, würde ihn oft der Sonne vorziehen. Sonnenschein verbreitet Frohsinn, und freundliche Menschen machen mir Angst. Ich mag ihr Lächeln, aber das Lächeln mag mich nicht. Ich kann es einfach nicht mehr, obwohl ich tief in mir vielleicht etwas Freundlichkeit besitze. Wenn ich lache, ist es eher boshaft. Ein lächelndes Gesicht wird bei mir zur Fratze. Lachende Menschen sind etwas Schönes, aber sie passen nicht in meine Welt. Der Regen steht mir gut. Leider ist keiner zu sehen.

Ich schlingere etwas, während ich mit der vollbepackten Dicken über diese verdammt glatten Rampen fahre. Der schwedische Zoll winkt mich durch. Ich weiß, was mich jetzt erwartet. Fast achthundert stinklangweilige Kilometer, erst über die E 6 nach Helsingborg, dann über die wenig spektakuläre E 4 bis Stockholm. Schon jetzt muss ich krampfhaft die Augen aufhalten. Gestern hatte ich noch ein Konzert auf der Berliner Trabrennbahn in Karlshorst besucht. Nach vier Stunden Schlaf war die Nacht für mich zu Ende gewesen. Ich achte schon lange nicht mehr auf die Signale meines Körpers. Müdigkeit ignoriere ich permanent. In der Firma habe ich es mir angewöhnt, die Arbeit in kürzester Zeit zu erledigen, um schnellstmöglich nach Hause zu kommen. Nach einem achtstündigen Arbeitstag hänge ich gerne noch einmal sechs Stunden Fahrt dran. Nur nach Hause, weg von diesen Städten, fort von diesem Job... Ich fahre an Örkeljunga vorbei und muss an unseren Wintertrip denken, der uns vor anderthalb Jahren schon einmal hierher brachte. Zwei Wochen vor Heiligabend, von den Vorweihnachtswehen und ihren Auswüchsen genervt, waren Falco und ich kurzentschlossen auf den Dicken in Richtung Norden gejagt. Eigentlich sollte das Ziel Rügen heißen, aber in Rostock konnten wir der einladenden Schwedenfähre nicht widerstehen. Die Besatzung schaute etwas ungläubig, wie später auch der Zoll, der uns gleich eine Schneesturmwarnung mit auf den Weg gab. Wir wollten davon allerdings nichts wissen und fuhren geradewegs in die dichten Wälder um Örkeljunga. Es wurde immer kälter und der Wind peitschte uns erbarmungslos. Hals über Kopf, wie wir aufgebrochen sind, waren wir nicht gerade auf eine Winterexpedition eingerichtet. Die Nacht wurde zur Zerreißprobe. Frierend krochen wir gemeinsam in ein Zelt, legten uns dicht aneinander, um wenigstens etwas Wärme speichern zu können und zählten schließlich die Stunden. Ein eigenartiger Sturm tobte um uns und es krachte aus allen Richtungen. Dann war Totenstille, um gleich darauf noch stärker zu wüten. Was passierte? Erreichte uns damals die Botschaft einer Verwandten der Hexe von Blair? Man erzählte sich ja viel von Trollen und Hexen. Schon Räubertochter Ronja hatte mit ihnen zu kämpfen. Am nächsten Morgen haben wir dann das Elend gesehen. Wenn hier Trolle am Werk gewesen sind, dann um uns zu beschützen. Dicke Bäume, die der Sturm umgeknickt und teilweise entwurzelt hatte, lagen um unsere Schlafstelle verteilt. Wir wollten uns gar nicht ausmalen, was hätte geschehen können, wenn so ein Baum aufs Zelt geschlagen wäre. Aber es war noch nicht vorbei. Der Sturm wütete immer noch und brachte jetzt den prophezeiten Schnee mit. Das Ausmaß der Zerstörungen sahen wir auf der schnell angetretenen Rückfahrt an den Schilderbrücken über den Straßen, die einfach weggeweht waren und an einem Haus, von dem lediglich die Giebelwände noch standen. Nur mit Mühe erreichten wir den Hafen. Warum taten wir uns das an? Um zu spüren, dass wir noch leben? Oder waren wir einfach nur verrückt?

Es reißt mich aus meinen Gedanken, denn ich bin mittlerweile in Jönköping angelangt und von nun an begleitet mich zu meiner Linken für ein paar Kilometer der Vätternsee. Wie immer, wenn mein Weg mich hier vorbeiführt, bin ich von diesem großartigen Anblick fasziniert und wieder fliegen meine Gedanken einige Jahre zurück. Oft, wenn ich auf einem Motorrad saß, war ich von meinen Gefühlen überwältigt. Damals fuhr ich eine Honda VT 600 C, chopperte durch die Lande, bevor ich sie gegen die Dicke eintauschte, die, bequemer, stärker, zuverlässiger und für größere Aufgaben gewappnet sein sollte. Ganze Lieder bevölkerten meinen Kopf und alles Beschwerliche fiel fast jedes Mal wie eine Last von mir herab. Natürlich war es dann doch noch in mir, aber auf dem Motorrad fühlte ich mich wie auf einer Droge, leicht und frei. Dabei erwachte jedesmal erneut der Wunsch, fremde Länder kennen zu lernen und mich überfiel dann ein großartiges Gefühl von einem Stück Freiheit, das ich nur würde entdecken müssen. Mir wurde klar, dass es mehr gibt auf dieser Welt, als das Siechtum des täglichen Alltags. Ich fuhr durch gemalt anmutende Landschaften, die mich vor Ehrfurcht wortlos werden ließen und ich hatte Gefühle, die mir die Tränen in die Augen trieben, wenn ich sah, was dieser wunderbare Planet in seiner ganzen Schönheit zu bieten hat. Ich kenne Gegenden, die teilweise so unwirtlich sind, dass es nur wenige Menschen dorthin verschlägt. Aber gerade diese Einsamkeit ist für mich das Angenehme, wenn ich mit ein oder zwei guten Freunden, die das Herz an der gleichen Stelle haben wie ich selbst, die eigenwilligen Farbenspiele der Natur entdecke und mich, auch wenn nur für eine kurze Zeit, von allen gesellschaftlichen Krankheiten loslösen kann und all jene bedaure, die es nie erfahren werden, was die Welt zu bieten hat und welches Glück wir haben, leben zu dürfen, um das alles sehen zu können. Vor einer Woche bekam ich von Falco eine Nachricht auf das Handy. Er saß an irgendeinem norwegischen Fjord und hörte den Schweinswalen zu: „Mann, wenn du das hören könntest, hier erst merkst du, was im Leben wirklich zählt!“ Seine Worte berührten mich. Ich wusste zu gut, was er meinte. Hier kamen Gefühle ins Spiel. Warum erleben wir solche Augenblicke nur in unserer Einsamkeit? Ich bin überzeugt davon, dass es Menschen gibt, die unsere Sehnsüchte teilen. Es sind vielleicht nicht immer die, von denen wir es erwarten, sondern meistens die, denen wir noch nicht einmal begegnet sind. Leider sind die Mauern, die wir um unsere Höllen aufgebaut haben, zu dick, als dass jemals irgendwer hindurchdringen könnte. Keine Freunde, keine Frau, einfach niemand. Ich schütze mich. Zu weh würde es tun, wenn mich wieder ein Mensch verlässt, den ich liebgewonnen habe. Zu weh tun Enttäuschungen. Endlich taucht rechts die Silhouette von Stockholm auf, jedoch habe ich heute keine Zeit und auch nicht das Bedürfnis, dieser schönen alten Stadt, die auf unzähligen Inseln ruht, einen Besuch abzustatten. Nur noch einhundert Kilometer. Mir reicht es. Ich fliege über die kleinen Straßen und freue mich, bald endlich wieder in Gesellschaft sein zu können. Im Sveavägen angekommen sehe ich zuerst Carsten. Er ist schon seit einigen Tagen hier und will uns auf der Tour mit dem Auto begleiten. Jetzt steht er vor dem kleinen roten Holzhaus und hält seine Nase über den Grill, auf dem sich appetitliche Steaks sonnen. In diesem Augenblick ist mir Carsten sehr sympathisch, denn er hält mir das größte Stück entgegen. Dankbar, hungrig und müde nehme ich es an, nachdem die Dicke einen sicheren Stand gefunden hat und ich einen Großteil meines Gepäcks abgeladen habe. Nach dem Essen mache ich es mir in der Küche bequem. Es ist kurz vor Mitternacht und das erste Mal spüre ich heute etwas Ruhe. Schon hier wird es nicht mehr richtig dunkel und ein paar Vögel singen mir ein Schlaflied. Das Leben kann so schön sein...

Singen die Vögel schon wieder oder immer noch? Ich schleiche am frühen Morgen an den wenigen Häuschen der Siedlung vorbei. Es ist noch etwas neblig. Hinter einem kleinen Wald entdecke ich einen See. Hätte ich eben nur nicht Falcos Bagger von den Herrenwyker Prüfdiensten erspäht! Aber in der friedlichen Ruhe des morgendlichen Waldsees will ich keine schlechten Gedanken zulassen. Ich will für einen Moment diesen Augenblick genießen. Die Sonne versucht den Frühnebel zu verdrängen. Sie spielt mit den Farben und bietet mir ein einzigartiges Schauspiel. Der Nebel färbt sich goldgelb, an einer anderen Stelle dominiert ein kräftiges Grün. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so satte Farben und überhaupt etwas so Schönes gesehen zu haben. Mir ist zum Heulen zumute. Nur für einen Augenblick zeigte sich dieser Anblick, denn jetzt dringt die Sonne durch den Nebel und gibt der Umgebung ihre Farben zurück. So intensiv, als wolle mir die skandinavische Natur sagen: „Ich bin immer für dich da, du musst nur hinschauen!“, und: „Komm wieder!“ Warum bleibe ich nicht einfach hier? „Hej!“ Ich erschrecke, denn ich habe nicht bemerkt, dass sich ein alter Mann neben mich gestellt hat. Nach ein paar Sätzen finde ich heraus, dass er ursprünglich aus Deutschland kommt und mittlerweile schon seit fünfzig Jahren hier lebt. Ich erzähle ihm von meinem Gedanken, Deutschland zu verlassen, um hier sesshaft zu werden. Er sieht mich für einige Augenblicke an. Sein Blick scheint sich tief in mein Innerstes zu bohren, als wolle er mich abschätzen. Mir fällt seine hagere Gestalt auf, die von kurzen, angegrauten Haaren gekrönt ist. Die Augen verraten Zufriedenheit und seine Worte sprechen mir aus dem Herzen: „ Junge, tu es. Du wirst es nie bereuen. Ich war im vorherigen Monat in Hamburg. Zu einer Behandlung, denn ich habe Krebs, weißt du... Das erste Mal seit vierzig Jahren war ich wieder in Deutschland. Es hat mich erschreckt, was ich sah. Das sind doch alles keine Menschen mehr! Nur noch mit den Ellenbogen voran, jeder will der Erste sein. Fünfspurige Autobahnen, Stress, ein Wahnsinn. Junge, tu es, warte nicht zu lange...“ Diese Worte haben eine tiefe Wirkung auf mich und ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, während ich zum Haus zurücktrotte. Nach einem kleinen Frühstück nehmen wir Abschied von Falcos Märchenland. Ich muss zugeben, dass ich ihn in diesem Moment beneide. Herräng ist ein Ferienort und vor allem bei den Dänen sehr beliebt. Hier, in der Abgeschiedenheit, herrscht Stille. Es gibt lediglich ein kleines Restaurant am Meer. Zum Einkaufen müssen die Bewohner in den nächsten Ort, nach Hallstavik, fahren. Dorthin müssen wir auch noch, um ein Paket mit Prüfunterlagen für die Firma aufzugeben. Jetzt kann hoffentlich der Urlaub beginnen. Bis Gävle schlängeln wir uns über eine kleine Straße durch den Wald, in dem uns Falco einen Runenstein zeigt, den er kürzlich hier entdeckt hat. Ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, vor der Christianisierung Skandinaviens. Von nun an werde ich in den nächsten Stunden nur die E 4, meine Tankanzeige, den Tacho und den Drehzahlmesser sehen. Ein Blick auf die Karte erübrigt sich, denn es gibt nur eine Richtung...

Vor unseren Augen taucht ein hässlicher Anblick auf. Zu hässlich, für den an sich schönen Ort in einer malerischen Bucht. Es ist die Aluminiumfabrik von Sundsvall. Vor ein paar Monaten waren Falco und ich schon einmal hier gewesen, natürlich mit den Herrenwyker Prüfdiensten. Damals lebte Falco noch in Deutschland und wir arbeiteten die ersten Aufträge in Schweden ab. Wir waren sofort von diesem Land fasziniert gewesen. Nachdem wir die hektischen deutschen Städte hinter uns gelassen hatten, war es so gewesen, als wären wir durch eine paradiesische Pforte gefahren. Wälder, Seen und Schären waren unser Garten Eden geworden. Wir hatten das Gefühl, in ein Land zu kommen, in dem Werte und menschliche Bedürfnisse noch etwas zählen. Natürlich sahen wir auch hier die Anflüge westlicher Dekadenz, aber wir ignorierten sie einfach. Sollte unsere Suche vielleicht ein Ende finden? Während uns innere Zerrissenheit und Unruhe plagte, sehnten wir uns nach einem Stück Frieden in nordischer Ruhe und Gelassenheit. Alles war so weit entfernt gewesen. Der Schmerz einer verlorenen Liebe, der Stress und selbst die Arbeit. Wir konnten uns nicht vorstellen, hier wieder wegzugehen, obwohl wir den Minibagger hinter uns herzogen, der, wie ein Damoklesschwert, bereit war, uns jederzeit zu erschlagen und damit in die Wirklichkeit zurückzuholen. Nur fühlte er sich hier viel leichter an... Fernab der Kontrolle unserer Chefs waren wir auf uns selbst gestellt. Es hatte schon einiges an Vorteilen, sein eigener Herr zu sein, das wurde hier mehr als deutlich. Leider reichte es immer noch nicht zum kompletten Ausstieg. Es war wohl auch die Angst, die uns festhielt. Angst vor dem, was kommen könnte, wenn wir diesen Schritt wagen würden. Wir besaßen einfach nicht den Mut, aus einem, zumindest eingebildeten, relativen Absicherung den Absprung zu schaffen. Zudem blieben etliche finanzielle Bindungen, die uns noch für einige Zeit abhängig sein ließen. Bitternis befiel uns bei diesem Gedanken.

Diese Reise liegt nun fast ein Jahr zurück. Jetzt bin ich schon wieder hier und in meinem Leben hat sich nichts verändert. Vielleicht bin ich noch verbitterter geworden. Aber es ist nicht die Bitternis, die mir gerade im Magen liegt, sondern der Hunger. Wir fühlen uns etwas zerschlagen. Die erste Nacht im Freien steht bevor und wir können froh sein, dass hier das alte Allemansrätten, das Jedermannsrecht, immer noch gilt. Es besagt, dass sich jeder frei in der Natur bewegen und auch dort übernachten kann. Voraussetzung ist natürlich, dass sie respektiert und nicht verschandelt wird. Schmerzlich muss ich für einen Moment an meine Landsleute denken, von denen einige ihren Müll einfach im Wald entsorgen... Es hat eine Weile gedauert, ehe wir diesen schönen Schlafplatz gefunden haben. Wir sind heute nur zehn Stunden gefahren. Eigentlich haben wir Luleå erreichen wollen, aber wir hatten uns im Vorfeld verschätzt. Skandinavische Landstraßen sind eben nicht mit deutschen Autobahnen vergleichbar. Nun befinde ich mich schon seit zwei Tagen auf ein und derselben Straße, ohne, dass etwas Nennenswertes passiert ist oder irgendwelche Abwechslung hineinkam. Das Bild der Gegend änderte sich nicht. Wälder, Flüsse, Seen, sehr selten Städte. Es ist eine wundervolle Landschaft, aber sie wirkt störend, weil wir sie nur durchfliegen, um ein Ziel zu erreichen, das noch über eintausend Kilometer entfernt ist. Wir fühlen uns müde, unsere Augen und unser Gehirn sind auf Notbetrieb geschaltet. Hier müssen wir wohl lernen, in anderen Dimensionen zu denken. Irgendwann hatten wir genug von der Hatz und sind einfach rechts von der E 4 abgebogen, wissend, dass die Ostsee nicht weit sein konnte. Über eine Stunde mussten wir uns jedoch