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Skandi-krimi für Jussi-Adler Olsen Fans! Nach einem Partyabend mit Freunden im Nachtleben von Aarhus verschwindet ein junger Mann spurlos. Bei seinen Untersuchungen stößt Inspektor Roland Benito in der Familie des Gesuchten auf grausige Geheimnisse. Benito kommt in diesen Ermittlungen zunächst nicht voran, bis eine junge Frau unter unheimlichen Umständen in einem Kloster tot aufgefunden wird. Auch privat hat Benito mit Dämonen zu kämpfen. Seine Frau wird im Sozialamt von einem Klienten bedroht, ein Fall, in den auch die Journalistin Anne Larsen verwickelt wird. "Inger Madsen schreibt einfach tolle, lesenswerte Krimis ! Ich möchte keines dieser Bücher missen und kann sie nur mit gutem Gewissen weiterempfehlen!" - Dorothea Michalek
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Seitenzahl: 500
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Kolofon
Die Beichte
Aus dem Dänischen von Kirsten Krause
Originaltitel: Under skriftesegl
© 2012 Inger Gammelgaard Madsen
Alle Rechte der Ebookausgabe: © SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711446324
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: Epub 3.0
SAGA Egmont www.saga-books.com
- a part of Egmont, www.egmont.com
Großmutter gewidmet
1
Er hatte keine Angst vor dem Sterben. Nur der Gedanke an die Art, wie er wohl sterben würde, erschreckte ihn manchmal. Es gab so viele Arten zu sterben. Einige waren mit großem Schmerz und langem Leiden verbunden, andere spürte man gar nicht. Das menschliche Leben ist zerbrechlich, dachte er, wir sind nicht mehr als ein Klumpen aus Blut, Knochen und Muskeln, verpackt in eine dünne Schicht zarter Haut, die kaum das Sonnenlicht verträgt. Andererseits, so hatte er gehört, war es wiederum gar nicht so leicht, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Sowohl das Herz als auch das Hirn, diese wichtigen Lebensfunktionen, mussten aufhören zu arbeiten. Dann würde auch die allerwichtigste aussetzen: das Atmen. Nicht alle Selbstmordkandidaten hatten Glück, wenn sie sich das Leben nehmen wollten. Sie schnitten nicht tief genug, um die Pulsader im Handgelenk oder am Hals zu treffen, sie brachen sich nur ein paar Rippen, wenn sie sich von einem Hochhaus stürzten, sie nahmen nicht genug Schlaftabletten, oder irgendein ›Retter‹ bewahrte sie im letzten Augenblick vor dem Tod. Warum war es wohl ihm gelungen? Seinem Vater? Ein Strick um den Hals und ein Sprung aus großer Höhe. Auf diese Weise hatte er direkt zur Sache kommen, das Übel an der Wurzel packen können. Ein Mann sein.
Er konzentrierte sich für einen Augenblick nur auf das Atmen. Er hatte das Empfinden, ganz sicher sterben zu müssen, würde er in der Dunkelheit in einem kleinen Raum eingeschlossen werden – allein aufgrund des Gefühls, nicht atmen zu können. Keine Luft holen zu können. Wieso kamen ihm gerade jetzt diese Gedanken? Vielleicht weil er gerade wieder jene Atemprobleme hatte, die bei ihm Panik auslösten.
Er öffnete die Augen und sah hinauf in einen sternenklaren Himmel weit über sich. Er starrte in die blinkenden Sterne vor dem tiefschwarzen Hintergrund eines dunklen Universums, das niemals endet. Und hier hatte nun er geendet. Wie war er hergekommen? Es roch nach Eisen, Erde, Diesel – und Kotze. Die Feuchtigkeit drang ihm durch die Hose, aber er spürte es nicht mehr. Er lag auf dem Rücken in seinem eigenen Erbrochenen, das ihm an Wangen und Hals klebte, aber er hatte keine Kraft, es wegzuwischen. Er fror nicht, obwohl die Nacht immer noch kalt war. Er hatte eine Jacke an. Der Geschmack von Blut füllte seinen Mund. Ab und zu hörte er schwache Geräusche von Autoreifen auf trockenem Asphalt irgendwo weit über sich, sonst war es still. Konnte er auch das Meer hören oder war das Einbildung? Weil er das Meer so sehr liebte?
Sein Atem ging langsam und mühsam, die Muskeln waren bleischwer, sodass es unmöglich war, sich zu bewegen. Der Kopf schmerzte wie bei einem Migräneanfall und die Übelkeit drückte im Hals. Er erinnerte sich nicht, warum er sich hier hingelegt hatte, wie er überhaupt hier heruntergekommen war. War er gefallen? Vielleicht. Auf dem Heimweg von der Stadt. Da war er gewesen. Jetzt wusste er es wieder. Schwache Erinnerungsblitze tauchten auf, wenn er die Augen schloss. Sie hatten sich irgendwo in einer Bar getroffen, wo er noch nie zuvor gewesen war. In die Stadt zu gehen, sich volllaufen zu lassen und sich zu amüsieren lag ihm überhaupt nicht. Das hatte ihm einfach noch nie zugesagt. Das hatten die anderen auch nur zu gut gewusst, vielleicht hatten sie ihn deswegen mitgeschleift: »Jetzt ist es fast zwei Jahre her, dass wir aus der Schule raus sind, wir müssen uns also mal wieder treffen«, waren sie sich einig gewesen. Sie hatten sich alle bei Facebook gefunden, nur ihn nicht, weil er kein Internet hatte, noch nicht einmal einen Computer. Aber mit Bertram war er trotzdem in Kontakt geblieben, da sie in der gleichen Nachbarschaft wohnten und es sich kaum vermeiden ließ, dass sie einander hin und wieder über den Weg liefen. Also hatte Bertram dafür gesorgt, dass auch er eine Einladung bekommen hatte. Warum, wusste er nicht. Auch nicht, warum er Ja gesagt hatte. Unterhaltsam war er selten und war es auch nie gewesen. Langweilig wurde er genannt. Still und langweilig. Kein Selbstvertrauen hatte die Einschätzung des Psychologen gelautet, aber der wusste auch nicht alles: Es war nicht sein eigener Wunsch gewesen, bei dem lächelnden, überpositiven bärtigen Herrn aufzukreuzen, und so hatte er nichts verraten, auch wenn der Mann sicher nur hatte helfen wollen. Nein, Trine hatte ihn dazu überredet. Sie brauchte eine Diagnose für sein sonderbares, abnormes Verhalten, damit es leichter zu handhaben war – für sie. Ihm selbst war es egal. Er war, wie er war. Das war sie ja auch. War sie seine Freundin? Er wusste nicht, ab wann der Begriff angebracht war.
Er erinnerte sich nicht deutlich an den Verlauf des Abends. Verschwommene Bilder flatterten vorbei, ohne einen festen Anhaltspunkt, mit dessen Hilfe er sich ein konkretes Bild machen, sich Klarheit hätte verschaffen können. Laute, lärmende Musik. Münder, die sich stumm zu Rufen bewegten – ein Versuch, den Krach zu übertönen und ein Gespräch zu führen. Lachende Gesichter. Höhnische Blicke. Ja, das waren seine Klassenkameraden, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie mixten ihm Drinks. Er trank sie – aus Pflichtgefühl. Vielleicht hatte er sich zu irgendeinem Zeitpunkt amüsiert. Er erinnerte sich, laut gelacht zu haben. Sich tatsächlich eine Weile glücklich gefühlt zu haben. Schwebend. Berauscht. Der Rausch war jetzt weg, abgelöst von Mutlosigkeit und einer lähmenden Trägheit. Er gab ihr nach und sank wieder in eine Dunkelheit ohne Gedanken.
Der Lärm drang durch und ließ ihn die Augen aufreißen.
Das Geräusch war direkt über ihm. Brüllende Motoren, Klopfen und Schnarren von Eisen gegen Eisen. Es war, wie mitten auf einem Schlachtfeld zwischen Panzern und Artillerie aufzuwachen. Der Dieselgeruch stach ihm brennend in die Nase. Es war jetzt hell und die Sterne waren einem leuchtend blauen Maihimmel gewichen. Sein Blick wanderte Richtung Lärmquelle, er blinzelte in dem grellen Licht und versuchte sich aufzurichten, doch die Muskeln waren immer noch schwer und gehorchten nicht. Er rief etwas, aber die Stimme war schwach und heiser und ging im Lärm unter. Und der Schatten, der nun plötzlich das Licht und den Himmel verdunkelte, lähmte ihm die Stimmbänder für einen Augenblick. Das große Maul hing über ihm wie die Kiefer eines Dinosauriers. Erdklumpen rieselten zwischen dessen Zähnen heraus wie Geifer und trafen ihn hart im Gesicht. Es wartete. Es war, als starre das Ungetüm ihn an. Als ob es ihn sehen könnte und zögerte. Er rief erneut, lauter, brüllte fast und kämpfte sich endlich in Sitzstellung. Dann entschied es sich und öffnete das Maul, die Erde fiel schwer über ihn und füllte die Grube. Staub stieg auf und ließ den Baggerführer einen hohlen Morgenhusten bellen. Schläfrig drehte er den Greifer des Baggers weg, sodass er einen neuen großen Mundvoll Erde aufnehmen konnte.
2
Der süßliche, moschusartige Duft von Sandelholz verstärkte den Druck in seinem Brustkorb. Das Herz wurde ihm schwer und rutschte ihm in die Hose, oder es schien in seiner Brust zu wachsen – die Empfindung war ungefähr die gleiche. Die Gefühle strömten aus ihm heraus wie der Rauch aus den Rauchfässern der Ministranten. Die Stimme des Priesters klang monoton, und seine Worte drangen nicht richtig durch, er stand mit dem Rücken zur Gemeinde. Das Gabelkreuz hinten auf seinem Messgewand erinnerte ihn an den Schnitt, den der Rechtsmediziner Henry Leander immer in die Brust der Toten ritzte. Die Toten. Er atmete schwer und richtete den Blick auf die Kerzen, die Christus und das göttliche Leben symbolisierten. Sie flackerten fast nicht in der stillstehenden Luft. Es hatte geradezu etwas Hypnotisierendes, in die Flammen zu starren, bis sie zusammenflossen und einem Feuer glichen. Der brennende Dornbusch, in dem sich Gott offenbart hat, als er sich Moses zeigte. Das Feuer war sowohl ein Symbol für die Reinigung des Menschen durch Gott als auch für sein Verdammungsurteil über ihn.
Roland Benito fühlte sich eher verdammt als erlöst. Automatisch stand er auf und setzte sich wieder, wenn die Gemeinde es tat, die Routine aus der Kindheit war immer noch tief in ihm verwurzelt. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er den Kirchgang zunehmend vernachlässigt und sich gefragt, ob er zuvor wohl nur ihretwegen in die Kirche gegangen war. Damit sie sich einen Teil der Normalität des Lebens, vor dem sie geflüchtet war, hatte bewahren können. Es war nun einige Jahre her, dass sie gestorben und er ihrem Sarg zurück nach Neapel gefolgt war, um sie neben ihrem Mann, dem märtyrerhaften Helden Carabiniere Adriano Benito, begraben zu lassen. Im Tod konnte ihnen nun niemand mehr etwas zuleide tun. Nicht einmal die Camorra. Oder war er vielleicht auch deshalb nicht mehr in die Kirche gegangen, weil er aufgegeben hatte zu glauben, dass es einen Gott gab, der den verwundbaren Menschen vor all dem vielen Bösen auf der Welt beschützen konnte? Konnte er selbst es denn? Die Menschen beschützen? Er versuchte es jedenfalls. Mord war sein Alltag, auch wenn er ihm nie etwas Alltägliches, Normales geworden war. Aber warum hatte ihn dann gerade noch so ein sinnloser Mord nun wieder ins Haus Gottes getrieben? Der Tod traf am härtesten, wenn er die jungen Leben nahm. Und wenn er in der eigenen Familie zuschlug. Gott vergibt alles, der Priester hatte es gerade gesagt. Aber der Mensch? Und war Vergebung denn alles? Er hatte versucht, Irene mit zur Messe zu nehmen, sie aber hatte Ausflüchte gemacht, sie sei keine Katholikin, hatte sie betont. War er denn einer? Er wusste, dass auch sie unter Schuldgefühlen litt, auch wenn sie es nicht gesagt hatte. Es war schwer, ihren Blick wie früher festzuhalten und ihr in die Augen zu sehen. Das war schon so, seit sie Anfang Februar von der Beerdigung in Neapel zurückgekommen waren. Drei lange Monate, in denen er spürte, dass sie immer weiter auseinanderglitten, ohne dass er genau wusste, weshalb – weil sie nicht darüber sprachen. Überhaupt kaum miteinander sprachen.
Ich glaube an den Heiligen Geist,
die heilige katholische Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden,
Auferstehung der Toten,
und das ewige Leben. Amen.
Der Priester beendete das Glaubensbekenntnis. Der Geruch der Kirche, die Kerzen und die Musik versetzten ihn für einen kurzen Augenblick zurück nach Neapel in die Chiesa Santa Maria della Mercede in der Via Chiaia, nicht weit von der Seitenstraße, in der sich Tante Giovannas kleiner Antiquitätenladen befand. Sie hatte gewollt, dass ihr Sohn ihn eines Tages übernehmen werde, obwohl Antiquitäten nicht gerade Salvatores Leidenschaft gewesen waren. Aber er hätte in den hervorragend gelegenen und vielfältig geeigneten Räumlichkeiten auch ein anderes Geschäft eröffnen können, wenn nicht … Sie waren daran vorbeigegangen, als sie den Sarg hoch erhoben durch die schmalen Gassen getragen hatten, und der Duft von den Ständen der Straßenhändler mit Obst und Fisch und von Espresso und Croissants aus den Bars hatte sich mit dem Gestank des Abfalls aus den überfüllten Mülltonnen mit den halbgeöffnet drum herum liegenden Plastiktüten vermischt. Neapels Wahrzeichen. Wieder mit der Camorra als dem über allem herrschenden Tyrannen.
Das Gewicht von Salvatore – nur fünfzehn Jahre alt –, wie es seine Muskeln gelähmt hatte. Das kühle Holz des Sarges schwer auf den Schultern. Scharen von Alten am Weg, die leise jammerten, und Olivias dunkle Augen, wie sie ihn anklagend angeschaut hatten, wenn sie zufällig Augenkontakt bekamen, was sie beide zu vermeiden versuchten. Er war derlei Anklagen von seiner Tochter und ihrem italienischen Lebensgefährten gewohnt, der sie, Rolands zahlreicher Proteste ungeachtet, überredet hatte, nach Rom zu ziehen, obwohl sie erst neunzehn gewesen war. Sie war mehr Italienerin als Rikke, die ihrer dänischen Mutter ähnelte. Olivia war wie er. Sie sahen und hörten nicht viel voneinander, weil Giuseppe ungefähr genauso viel für Roland übrig hatte wie Roland für ihn. Glücklicherweise hatte das Liebespaar noch nicht geheiratet, also gab es noch Hoffnung, dass Olivia auf andere Gedanken kommen und heim nach Dänemark ziehen würde, obwohl diese Hoffnung mit den Jahren und der mangelnden Möglichkeit, auf Olivia Einfluss zu nehmen, schwand. Rikke hatte in der Kirche seine Hand genommen und sie während der ganzen Messe in der ihren behalten. Es half, dass wenigstens eine seiner Töchter ihn nicht als Sündenbock sah. Marianna war so lange von ihren Großeltern väterlicherseits in Dänemark gehütet worden. Ein siebenjähriges Mädchen sollte man nicht mit nach Neapel schleppen, damit es der Beerdigung eines Familienmitgliedes beiwohnt, das es kaum gekannt hat. Das hatte er seinem einzigen Enkelkind nicht zumuten wollen, und der Rest der Familie gab ihm Recht, obwohl Marianna selbst lautstark protestiert hatte. Das Requiem in der Kirche war wirklich schön gewesen, voller Hoffnung und Trost in der Trauer. Die Seele lebt weiter, und statt über den Tod des Körpers zu trauern, wurde Salvatores Leben und Auferstehung gefeiert. Der Tod ist nicht das Ende des Lebens, sondern ein Anfang – aus der Erde sollst du wiederauferstehen. Die Heiligen werden an ihrem Todestag, nicht an ihrem Geburtstag gefeiert.
Das Handy regte sich in seiner Hosentasche. Er hatte es auf lautlos und Vibrationsalarm gestellt. Als er es diskret herausnahm, um einen Blick auf das Display zu werfen, rutschte der Rosenkranz hinterher und fiel auf den Boden. Die Frau mit dem farbenprächtigen Schal neben ihm auf der Bank bückte sich, hob ihn auf und reichte ihn Roland mit einem vertraulichen Lächeln. Das Lächeln, mit dem er antwortete, wurde plötzlich steif und künstlich. Den Rosenkranz hatte er von Giovanna bekommen. Sie hatte ihn ihm zum Abschied in die Hand gedrückt. Er hatte einst seinem Vater gehört, und dass sie ihm das Erbstück ausgerechnet jetzt gegeben hatte, wirkte fast symbolisch.
Der Anruf kam vom Revier. Es war das erste Mal, dass er während der Arbeitszeit zur Messe gegangen war, aber er hatte sich nahezu unwiderstehlich dazu hingezogen gefühlt. Der neue Fall wühlte die Erinnerungen an Salvatore wieder auf, an die lange Suche, bis er gefunden worden war, die Unruhe, die Angst, die Trauer, die Wut. In Neapel, einer Stadt von etwa einer Million Einwohnern und ohne irgendeine Form von Moralkodex unter Kriminellen, war es leicht, spurlos zu verschwinden. Aber wie konnte das einem jungen Mann nach einer durchfeierten Nacht in einer vergleichsweise kleinen, friedlichen Stadt wie Aarhus passieren?
Draußen vor der Kirche stürzten das gleißende Sonnenlicht und das geschäftige Einkaufsleben in der Ryesgade auf ihn ein. Dazu wimmelte es von Leuten, die zum Bahnhof eilten, um den nächsten Zug oder an der Haltestelle am Bahnhofsvorplatz ihren Bus zu erreichen. Es war, als sei er plötzlich hinaus in eine völlig andere Welt getreten. Er setzte die Sonnenbrille auf und musste für einen kurzen Augenblick unwillkürlich an Horatio Caine aus der US-Krimiserie CSI Miami denken, aber gleich waren die Gedanken zurück bei den aktuellen Erfordernissen. Während er sich auf den Rückweg machte, wählte er die Nummer des Präsidiums.
»Wo bist du gewesen?« Die Stimme des Beamten Mikkel Jensen klang eher besorgt als vorwurfsvoll.
»Gibt’s was Neues?«
»Ja, ich wurde von einer Journalistin von TV 2 Ostjütland angerufen, sie wollte nur mitteilen, dass die Freunde unseres Vermissten heute Abend im Lokalfernsehen zu sehen sind – mit einem Appell an die Öffentlichkeit, nach ihrem Freund zu suchen. Sie meinte, dass wir vielleicht vorher erst einmal selbst mit ihnen reden sollten.«
»Sehr freundlich von dieser Journalistin. Aber hat es nicht geheißen, dass er gar keine Freunde hat?«
»Also, die bezeichnen sich jedenfalls als seine Freunde. Sie sitzen im Cross Café an der Ecke beim Magasin. Ich bin schon unterwegs.«
Roland änderte sofort die Richtung und steuerte die Strøget an, die Fußgängerzone. »Ich auch. Wir treffen uns dort.«
3
»Ist Papa jetzt wirklich ein frommer Mann geworden?«
Rikke saß auf dem Küchentisch und behielt Marianna durchs Fenster im Blick. Die Kleine schaukelte an dem alten, rostigen und schiefen Schaukelgerüst, das Roland für seine Töchter aufgestellt hatte, als sie klein gewesen waren. Er hatte sich geweigert, es abzubauen, weil ja sicher einmal Enkel kommen würden. Gott sei Dank hatte er Recht behalten. Angolo lief bellend der Schaukel nach, vor und zurück, und ließ das Mädchen laut auflachen.
»Ach, fromm … Aber wenn er meint, dass es ihm hilft, wieder in die Kirche zu gehen, schadet das ja niemandem.« Irene warf die geschnittenen Champignons in den Salat. Rikke schnappte sich eine Pilzscheibe, stopfte sie sich in den Mund und kaute.
»Ich kann mich erinnern, dass er oft zusammen mit Oma hingegangen ist. Glaubst du, er macht das jetzt wegen Salvatore plötzlich wieder?«
»Dein Vater fühlt sich sehr schuldig wegen dem, was passiert ist.«
»Schuldig! Wie das? Er kann ja nicht daran schuld sein, dass die Mafia in Neapel …«
»Nein, aber Giovanna hatte ihm doch die Verantwortung für Salvatore übertragen. Es war eigentlich seine Pflicht, ihn aus der Kriminalität zu holen und ihn zu überreden, nicht für die Mafia zu arbeiten, auch wenn ihm das eine Menge Geld bringen würde. Es hätte ihn das Leben gekostet, wenn er weiterhin die giftigen Chemikalien zu ihren Mülldeponien gefahren hätte.« Sie geriet ins Stocken und Rikke führte ihren Gedanken zu Ende.
»Aber er ist trotzdem brutal gestorben.« Sie sprang vom Tisch herunter. Sie konnte Marianna nicht mehr draußen im Garten entdecken. Rikke öffnete das Fenster, lehnte sich heraus und sah sich um, bis sie sie wieder gefunden hatte. Auch die Kinder von Polizisten werden vom Leben ihrer Eltern geprägt, schließlich wachsen sie hautnah daran auf – hautnah an Mord, Entführungen, Unfällen.
»Eine so große Verantwortung kann man doch auch nicht einfach auf die Schultern eines anderen abwälzen. Papa hat mir nicht erzählt, wo sie Salvatore gefunden haben. Und ich will ihn nicht noch mehr quälen, indem ich ihn frage. Weißt du das, Mama?” Rikke schloss das Fenster, sie hatte Tränen in den Augen. Auch wenn sie die Familie in Italien nicht oft sahen, berührte der Mord an Salvatore sie tief. »Du willst vielleicht auch nicht darüber reden?«, hakte sie nach, als Irene nicht sofort antwortete.
»Er wurde in einem Auto bei einem Verschrottungsunternehmen etwas außerhalb von Neapel gefunden. So stark mit einer Maschinenpistole durchsiebt, dass er fast unkenntlich war.« Irene konzentrierte sich beharrlich darauf, eine Zwiebel in Scheiben zu schneiden, es brannte in den Augen, die Tränen liefen, und sie trocknete sich die Wangen mit dem Handrücken ab. »Der Plan war sicher, dass das Auto zerstört und zu einem kleinen Metallwürfel zusammengepresst werden sollte, sodass er nie gefunden worden wäre.«
»Wer hat ihn entdeckt?«
»Ein aufmerksamer Kunde hat Blut aus der Autotür laufen gesehen und die Polizei informiert …«
»Ist dieses Verschrottungsunternehmen denn auch in den Fängen der Mafia?«
»Wer in Neapel wäre das nicht?« Zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs sah Irene ihrer Tochter in die Augen, aber sie sah dort keine Zustimmung, nur einen Hauch von Vorwurf.
»Nein, Mama, so kann man das aber nicht sagen. Es gibt eine Menge ehrliche Neapolitaner, die die Mafia am liebsten ausgerottet sehen würden. Aber dieser Verschrottungsunternehmer gehört also zu ihr?«
»Das wird bestimmt untersucht, weil der Gedanke nicht so fernliegt, wenn sie ausgerechnet seinen Schrottplatz benutzten.« Sie reichte Rikke die Schüssel mit dem Salat und bat sie, den Tisch zu decken.
»Erwartet Papa denn auch immer das Schlimmste von seinen Landsleuten?«, fragte Rikke, nachdem sie beide eine Weile geschwiegen hatten. »Manchmal glaube ich, er hält alle Italiener für korrupt. Schau doch, wie das mit Giuseppe ist – seinem eigenen Schwiegersohn –, und der ist sogar Anwalt.«
»Ja, Strafverteidiger. Du weißt, was Papa von denen hält. Und Olivia und Giuseppe sind ja nicht verheiratet, also gleich ›Schwiegersohn‹, ich weiß nicht recht …«
»Trotzdem. Auch wenn Olivia das nicht zeigt, glaube ich, dass sie es leid ist, dass Papa so stur ist.«
»Du weißt, er war sehr dagegen, dass Olivia nach Rom zieht. Das war ich zwar auch, sie war noch so jung. Aber ich glaube, es geht ihm eher darum, dass ihm Giuseppe seine Tochter weggenommen hat.«
»Giuseppe hat Papa Olivia doch nicht weggenommen«, protestierte Rikke.»Wenn er seinen Starrsinn einfach unterdrücken würde und ein bisschen Vertrauen zu ihm hätte, dann würde er auch wieder ein gutes Verhältnis zu ihr bekommen. Sie war doch mal sein Ein und Alles. Ich bin manchmal wirklich eifersüchtig gewesen, aber jetzt spricht er nicht mehr über sie – als hätte er sie abgeschrieben.«
»Das hat er selbstverständlich nicht, aber er hofft, dass sie es sich anders überlegt und nach Hause zurückzieht. Das größte Problem ist wohl, dass die beiden sich einfach zu ähnlich sind. Sie sind beide gleich stur.«
»Kannst du Giuseppe auch nicht leiden?« Rikke lehnte sich gegen den Küchentisch und sah ihr direkt in die Augen.
»Wir hatten ja noch keine Möglichkeit, ihn richtig kennenzulernen«, wich Irene aus und wischte den Küchentisch trocken.
Rikke nahm sich eine Tomate. »Genau, und das ist eure eigene Schuld und … ihr müsst ihn einfach akzeptieren«, sagte sie zwischen zwei Bissen.
»Natürlich.«
»Ich mein’s ernst, Mama. Olivia hat mir nach der Beerdigung etwas erzählt.«
Irene schaute Rikke prüfend an. Olivia strafte sowohl sie als auch Rolando, indem sie ihnen kein Vertrauen schenkte und sich nur ihrer Schwester mitteilte. Das schmerzte sie, aber Rolando wollte nicht nachgeben und Giuseppe mit mehr Nachsicht betrachten, auch nicht, wenn das bedeutete, dass er auf diese Weise ihre Tochter von sich stieß. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie ihren Freund statt ihrer Familie wählen würde. Irene indes war sich da nicht so sicher. Sie selbst hatte schließlich das Gleiche getan, als sie sich in den gutaussehenden Polizisten Rolando Benito verliebte, obwohl ihre Eltern sehr gegen ihre Beziehung mit einem »Dunkelhäutigen« gewesen waren. Rolando weigerte sich, sich daran zurückzuerinnern.
»Willst du es mir weitersagen?« Sie zitterte innerlich, sodass man es ihrer Stimme anhören konnte. Sie konnte in Rikkes Augen lesen, dass es etwas Wichtiges war, und sobald sich dieser Ausdruck einmal gezeigt hatte, würde sie selbst das größte Geheimnis nicht mehr für sich behalten können.
»Olivia will nicht, dass ich es erzähle.«
»Nein, das kann ich mir denken, aber jetzt hast du schon damit angefangen, und du willst es doch selbst gerne.« Die Zwiebeln zischten und spritzen, als sie sie in das heiße Olivenöl im Topf schüttete.
»Sie bekommen ein Kind.«
»Wann?«, fragte sie überrascht und war froh, dass Roland ihren Tonfall nicht hören konnte, der die Frage eher erwartungsvoll als betroffen klingen ließ.
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte. Sie trocknete die Hände am Geschirrtuch ab und ging ran, ihre Hand zitterte leicht; sie hoffte, dass es Rikke nicht bemerkte. »Hallo! … Hallo! … Wer ist da?« Sie wartete angespannt und legte wieder auf.
»Das war aber ein kurzes Gespräch. Wer war das, Mama?«, wollte Rikke wissen und verteilte Messer und Gabeln neben den Tellern auf dem Tisch.
Sie räusperte sich, ihre Stimme klang trotzdem heiser. »Da hat sich wohl jemand verwählt.«
»Schon wieder? Das ist das dritte Mal! Ist es nicht ein bisschen komisch, dass …«
»Das ist nichts von Belang, Rikke. Olivias Neuigkeit hingegen schon. In welchem Monat ist sie?«
»Es kommt im November, hat sie gemeint. Giuseppe will vorher heiraten, also können wir wohl demnächst eine große italienische Familienhochzeit erwarten. Ich freu mich!«
Irene überlegte, wie sie Rolando diese Neuigkeit beibringen sollte, und sah auf die Uhr; er würde wohl bald nach Hause kommen. Sie setzte Wasser für die Nudeln auf. Mensch, dass sie wieder Großeltern werden sollten!
»Oma, Oma! Guck mal, was ich gefunden habe!« Marianna kam in die Küche gerannt, Angolo direkt auf den Fersen; sie versteckte etwas zwischen den gekrümmten Fingern und hatte in ihrem Eifer vergessen, die Schuhe auszuziehen. Rikke führte sie mit einem harten und bestimmten Griff am Arm wieder hinaus. Irene setzte so lange ein entschuldigendes Lächeln auf. Marianna fehlte ein Schneidezahn; sie hatte ihn an einem Wochenende verloren, als sie bei ihnen zu Besuch gewesen war.Irene hatte dafür gesorgt, dass die Zahnfee ihre Pflicht erfüllt hatte. Sie starrte hinaus in den Garten. Ihre Hände zitterten immer noch und sie atmete tief durch, um sich zu entspannen. Die Nummer war anonym gewesen, und sicher war es nur jemand, der sich immer wieder verwählte, aber es lag etwas Beängstigendes und Bedrohliches in dem Schweigen und dem leisen Atmen am anderen Ende.
»Guck, das ist eine Raupe, vielleicht wird sie mal zu einem hübschen Schmetterling.«
Marianna stand wieder neben ihr, auf ihren Socken mit dem Marienkäfermuster, die dunklen Augen glänzten vor Stolz darüber, das kleine schwarze Wesen mit den weißen Punkten und den kurzen Borsten gefangen zu haben, das in ihrer offenen Hand krabbelte. Die Schnauze des Schäferhunds näherte sich schnüffelnd ihrer Handfläche und veranlasste Marianna dazu, ihre Hand so hoch zu heben, wie sie konnte, aber Angolo war dabei, ein großer Hund zu werden, und Marianna hatte die kurze Statur ihres Opas geerbt. Irene scheuchte den Hund energisch weg, ging vor dem Enkelkind in die Hocke und studierte interessiert die Raupe. Sie war auf dem Land aufgewachsen und war als Kind selbst von Schmetterlingen und Nachtfaltern fasziniert gewesen.
»Ich glaube, die hier wird mal ein Tagpfauenauge. Das sind die rostroten Schmetterlinge, die Muster auf den Flügeln haben, die wie die Augen auf den Schwanzfedern von Pfauen aussehen. Du hast schon welche gesehen, im Sommer sind immer ganz viele davon im Schmetterlingsflieder.«
Marianna nickte ernst, sodass der Pferdeschwanz auf ihrem Kopf tanzte. »Darf ich die behalten?«
»Nein, ich finde, du solltest sie wieder raus in den Garten setzen, sonst kann sie ja kein Schmetterling werden, nicht wahr?«
Das Handy klingelte erneut, sie schnappte nach Luft, stand schnell auf und schaltete es aus. Sie wusste, dass er es wieder war. Aus einem unerklärlichen Grund war sie sich sicher, dass es ein Mann war. Vielleicht lag es am Atmen. Marianna lief mit der Raupe in den Garten, Angolo begrüßte sie mit verspieltem Tanz. Rikke schaute ihnen nach und lächelte, dann wurde sie ernst.
»Hat sich schon wieder jemand verwählt? Mama, willst du mir nicht erzählen, was da vor sich geht? Wer ruft die ganze Zeit an? Ich habe oft an den Mord an der Sozialarbeiterin in Holstebro Anfang des Jahres gedacht. Deine Arbeit ist fast so gefährlich wie diejenige Papas, und …«
»Quatsch!« Irene drehte ihr den Rücken zu und kümmerte sich um die Töpfe, sodass sie Rikke nicht in die Augen sehen musste.
»Hast du Papa davon erzählt? Ich kann doch sehen, dass da etwas nicht stimmt.«
Sie wandte sich ihrer Tochter zu und schaute sie mit gespielter Zuversicht an.»Du musst dir keine Sorgen machen, Rikke, und das soll Papa auch nicht, er hat genug anderes um die Ohren. Das ist nur jemand, der sich verwählt hat. Basta! Hat Olivia gesagt, für wann sie die Hochzeit geplant haben?« Der Kummer über die schweigende Abstrafung, die sie da durch ihre jüngste Tochter erfuhr, ließ die Angst ein bisschen in den Hintergrund treten; es gab größere Sorgen als anonyme Anrufe. Olivia sollte derart wichtige Ereignisse in ihrem Leben ihrer Mutter und ihrem Vater anvertrauen und sie nicht mehr oder weniger unfreiwillig über ihre Schwester vermitteln.
Sie beschloss, morgen in Italien anzurufen. Wenn nur hoffentlich nicht Giuseppe ranging und wieder auflegte, sobald er ihre Stimme hörte.
4
Schnell hatte Roland den Tisch mit Tobias Abrahamsens Freunden entdeckt. Jeder hatte ein Glas frischgezapftes Bier vor sich stehen. Die Journalistin von TV 2 Ostjütland und Mikkel Jensen gaben ihm Winkzeichen, als er über die Brücke an der Immervad ging. Die Uhr an der Fassade des Kaufhauses Magasinzeigte fünf vor sechs. Essenszeit. Irene, Rikke und Marianna warteten jetzt zu Hause in der Villa in Højbjerg. Er öffnete die Jacke, der Schlips wehte ihm nach hinten über die Schulter. Es war einer dieser ersten Tage mit Vorgeschmack auf den Frühling, die nach einem rekordlangen und harten Winter nun höchst willkommen waren. Die Cafébesitzer fingen an, Hoffnung auf eine einträgliche Freiluftsaison zu schöpfen. Doch bisher hatten sich nur wenige Gäste an die Tische draußen gesetzt. Einzelne hatten vorsichtig die Jacke ausgezogen, aber sie hing griffbereit über der Stuhllehne. Noch vor wenigen Wochen waren die Fliesen eisglatt gewesen und es hatte hohe Schneewehen gegeben. Die Mitarbeiter der Stadt hatten Schwierigkeiten damit gehabt, die alten wegzuräumen, bevor sich neue auftürmten. Noch konnte man sich kaum vorstellen, dass Sonne und Wärme nun bald wieder die Vorherrschaft übernehmen würden.
Auf dem Tisch lagen DIN-A4-Handzettel mit dem Bild des Vermissten. Roland war bereits in der Strøget auf einige davon gestoßen, aufgehängt an Laternenpfählen und an Mauern. »Wo ist Tobias?«, stand dort über einem Privatfoto eines blonden, blassen jungen Mannes mit einem Zucken um den Mund; ein scheues Lächeln, das nicht herauswollte. Tobias sah nicht wie ein Achtzehnjähriger aus, sondern älter. Seine Mutter war vor drei Jahren gestorben und sein Vater hatte vor einem Jahr Selbstmord begangen. Das hatte den Sohn sehr mitgenommen, und eine so große Trauer konnte selbst die ganz Jungen altern lassen. Nach dem Tod des Vaters war die Großmutter sein Vormund geworden. Aber er war kein ganz gewöhnlicher Jugendlicher; es gab keinen Computer mit E-Mail-Verkehr, kein Handy und damit auch keine Anrufe oder SMS, die verfolgt werden könnten. Tobias hatte kein Interesse an so etwas; er machte eine Zimmererlehre, genauso wie einst sein Vater. Ging seiner Arbeit nach und schien alles in allem ein tüchtiger, anständiger junger Mann zu sein. Roland wunderte sich, dass es solche Jugendlichen heutzutage überhaupt noch gab, wo sie doch tagtäglich von Werbung und Reality-TV beeinflusst wurden. Er warf einen schnellen Blick auf Mikkel Jensen und die Journalistin und setzte sich auf einen freien Stuhl. Ein Mädchen verrückte den ihren ein bisschen, sodass mehr Platz war.
»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie und schaute Roland mit leeren Augen an. »Ich bin Tobias’ Freundin, Trine.«
»Leider nicht, wir verfolgen selbstverständlich die Spuren, die wir haben, aber vielleicht könnt ihr uns helfen. Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?«
»Samstag Nacht vor dem Fatter Eskild, wir hatten gefeiert und er wollte zur Park Allee und den Nachtbus nach Hause nehmen.« Der Kahlrasierte, der diese Antwort gegeben hatte, nahm einen Schluck von seinem Bier. Fast könnte er ein bisschen an Mikkel Jensen erinnern, aber bei seiner Gesichtsform wirkte die mangelnde Haarpracht längst nicht so charmant wie bei Mikkel.
»Und du bist?«
»Ich heiße Bertram. Tobias und ich sind fast Nachbarn.«
»Hast du auch einen Nachnamen?«
»Dinesen. Bertram Dinesen.«
»Wie spät ist es gewesen, als sich Tobias von euch verabschiedet hat?«
»Öh …« Bertram schaute ratlos zu den anderen, und alle redeten durcheinander, bis sie sich einig wurden, dass es wohl ungefähr halb eins gewesen war.
»War er betrunken?«, fragte Roland weiter. Die Großmutter hatte behauptet, dass ihr Enkel nie Alkohol trank, aber auf derartige Aussagen aus der nahen Familie war oft nicht allzu viel zu geben. Ihr war offenbar auch nicht klar gewesen, dass er Freunde hatte, mit denen er Party machte. Sein Arbeitgeber hatte ihn als vermisst gemeldet, als er nicht zur Arbeit gekommen war und er nur Tobias’ verwirrten Vormund zu Hause angetroffen hatte.
»Ja, er war nicht ganz sicher auf den Beinen«, antwortete Trine und starrte verloren ins Glas. Obwohl sie in der warmen Sonne saß, zog sie ihre Daunenjacke fester um sich. Ihre Wimperntusche war verschmiert und die Nase rot. Sie schniefte.
»Wieso bist du auch nicht beim ihm geblieben?« Ein blondes Mädchen in Trines Alter warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Darüber haben wir doch geredet, Miriam, also lass es jetzt gut sein!«Bertram sah die beiden Mädchen verärgert an, als sei das ein Punkt, den sie schon reichlich durchdiskutiert hatten.
»Welche Verbindung habt ihr jeweils zu Tobias Abrahamsen?« Mikkel Jensen stand auf, die Hände in der Tasche; der beengte Platz an dem runden Tisch war ihm offensichtlich zu unbequem geworden. Die Journalistin stand mit dem Rücken zu ihnen, den Blick auf das Wasser der Aarhus Å gerichtet, als würde sie im Fluss nach einer Leiche suchen, und sog an ihrer Zigarette.
»Ja, also ich bin ja seine Freundin«, antwortete Trine als Erste. Das wurde nicht mit Stolz gesagt. Eher, als ob sie diejenige sei, die ihnen leidtun müsste, so wirkte es auf Roland. Keiner von ihnen schien besonders betroffen über das Verschwinden ihres Freundes, aber es stand ja auch keineswegs fest, dass er nicht bald wieder zurückkommen könnte. Das war bei Vermissten in diesem Alter schließlich öfters mal der Fall. Er hatte vielleicht einfach nur ein anderes Mädchen getroffen und war mit ihr nach Hause gegangen – genau den gleichen Gedanken hatte auch Roland bei Salvatore zunächst gehabt, als er nicht nach Hause gekommen war. Die Hubschraubersuche und die Hundestreife hatten nichts gefunden, was ihnen irgendeine Erklärung für Tobias’ Verschwinden hätte geben können. Brachten die Informationen der Freunde keine verwertbaren Neuigkeiten, kamen sie nicht weiter. Dann würden sie den Fall erst einmal zurückstellen und auf das Beste hoffen müssen – oder das Schlimmste befürchten. Rolands Blick wanderte ebenfalls zum Fluss. Das Wasser der Å strömte still und geheimnisvoll wie ein stummer Zeuge. Tobias könnte leicht hineingefallen und aufs offene Meer hinausgetrieben worden sein; dann könnten sie jetzt nur darauf warten, dass die Leiche irgendwann auftauchte. Falls sie es je tat. Bald mussten die Taucher raus, aber sie fanden selten etwas.
»Und ich bin, wie gesagt, fast ein Nachbar von Tobias, wohne gerade mal ein paar Häuser entfernt«, machte Bertram weiter.
»Aber wir sind alles alte Klassenkameraden. Wir haben verabredet, uns letzten Samstag zu treffen und ein bisschen zu feiern, weil es jetzt zwei Jahre her ist, dass wir mit der Volksschule fertig sind«, erläuterte ein Rothaariger mit schulterlanger Mähne näher. Wären da nicht die roten Bartstoppeln gewesen und die Tatsache, dass er sich als Aksel Møller Lund vorstellte, hätte er fast wie ein Mädchen gewirkt.
Miriam zupfte an einem Fleck auf ihrem Jackenärmel und nickte.
»Ihr habt ihn also mitten in der Nacht einfach allein und betrunken fortgehen lassen?« Mikkels Stimme war nicht ohne Empörung. Man vergisst schnell, wie es gewesen ist, als man selbst jung war.
»Ja, das wollte er so«, erwiderte Bertram.
»Und wir waren ja echt nicht weniger betrunken!«, fügte Aksel tonlos hinzu.
»Wir wollten weiter durch die Stadt ziehen, es war ja noch nicht sehr spät, aber Tobias wollte lieber heim, er ist nie auf Partys gewesen, also …« Trines Stimme war heiser, sie räusperte sich und nahm einen Schluck von ihrem Bier.
»Ich verstehe nicht, wie er einfach so verschwinden kann, er muss doch irgendwo sein«, murmelte Miriam. Sie schaute auch zum Fluss hinüber, aber mit einem leeren und gleichgültigen Ausdruck in den Augen.
»Wir haben heute alle extra die weiterführende Schule sausen lassen, damit wir suchen können. Jetzt haben wir die hier in der ganzen Innenstadt aufgehängt, damit uns die Leute helfen, ihn zu finden.« Bertram hielt einen der DIN-A4-Handzettel mit Tobias’ Foto vor Roland in die Höhe.»Außerdem hoffen wir, dass die Sendung heute Abend die Leute zum Helfen motiviert und …«
»Ja, und ich habe einen Suchaufruf bei Facebook gestartet«, unterbrach ihn Trine, »es sind schon fast zweitausend mit dabei.«
Die Journalistin trat an den Tisch und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.»Jetzt kommt das Kamerateam, wir müssen uns also fertigmachen.Wollen Sie dabei teilnehmen?«, fragte sie, den Blick auf Roland gerichtet.
Er nickte. »Wir haben ja nicht wirklich viele Informationen, aber es ist wichtig, dass wir eine präzise Suchmeldung rausgeben und all die Dinge vermitteln, die wir bisher wissen, daher … klar, selbstverständlich.«
Mikkel Jensen schaute ihn verwundert an. Die Presse war keine Instanz, mit der Roland normalerweise freiwillig zusammenarbeitete. Am liebsten hatte er das immer Vizepolizeidirektor Kurt Olsen überlassen. Aber nun hatte er erfahren, wie es ist, als Angehöriger zurückzubleiben und nicht zu wissen, was aus einem Familienmitglied geworden ist. Die nagende Furcht. Die schwindende Hoffnung. Es war so wichtig, dass die Leute sich an der Suche beteiligten, ihren Teil beitrugen, und es bestand ja vielleicht noch Hoffnung für Tobias Abrahamsen.
5
»Putzen?!«
Es hatte nicht so überrascht klingen sollen, wie es herauskam. Kamilla goss den Kaffee in die Thermoskanne. Es war lange her, dass sie Anne gesehen hatte. Eigentlich hatten sie sich nur einmal getroffen, seit Kamilla ihre Arbeit als Pressefotografin in der Redaktion des Tageblatts gekündigt hatte, um als Werbefotografin im Studio Pierre zu arbeiten – im Übrigen ein Glück für sie, da die Zeitungsredaktion einige Monate später ohnehin hatte schließen müssen, sodass alle, die dort gearbeitet hatten, plötzlich ohne Arbeit dastanden. Auch Anne hatte ihre Stelle als Journalistin und Kriminalreporterin verloren.
»Vielleicht im Polizeipräsidium?«, neckte Kamilla.
»Nein, bist du verrückt! Man braucht eine Genehmigung, um dort zu putzen. Die würde ich nie bekommen. Eine Journalistin, die in die Arbeit der Polizei hineingeschnüffelt und ihre Beamten mehr als einmal regelrecht auf die Palme gebracht hat! Dem würde Benito bestimmt einen Riegel vorschieben.«
»Ja, aber, putzen, bist das denn du, Anne?«
»Ich verstehe, dass du verwundert bist. Ich wollte eigentlich weiterstudieren, aber jetzt brauche ich einfach eine Pause – nach alldem mit meiner Mutter und so. Warum ist eine Reinigungskraft nicht genauso hoch angesehen wie ein Bankdirektor? Sie arbeiten beide. Wer von beiden mehr schuftet, kann man ja diskutieren. Wer im Verhältnis zu seinem Gehalt mehr leistet, ist jedenfalls offensichtlich. Von Adomas habe ich gelernt, dass eine Arbeit nicht unbedingt gut bezahlt oder besonders angesehen sein muss, Hauptsache, man kommt mit dem verdienten Geld aus, dann ist jede Arbeit gut genug. Er hatte eine Stelle als Zeitungsausträger und konnte damit mehr verdienen als mit einer qualifizierten Ausbildung zu Hause in Litauen.«
»Adomas? Dein litauischer Cousin – äh, Freund?« Kamilla schenkte Kaffee in Annes Tasse und traute sich nicht richtig, ihr in die Augen zu sehen. Es fiel ihr schwer, ihren Widerwillen dagegen zu verbergen, dass Anne mit ihrem Cousin liiert war. Aber es war das erste Mal gewesen, dass sie sie mit einem verliebten Schimmer in den Augen gesehen hatte.
»Hast du mal wieder was von ihm gehört?«, fragte sie stattdessen.
Anne rührte sich abwesend Zucker in den Kaffee. »Nein. Ich hab wirklich Angst, dass ihm etwas Schreckliches passiert ist. Es war einfach merkwürdig, wie er verschwunden ist.«
»Was ist denn passiert?«
Anne lehnte sich auf dem Sofa zurück und sah durch die Terrassentür hinaus in den Garten. Der Garten war nicht so schön wie sonst im Mai. Der harte Frost im Winter hatte das meiste erfrieren lassen. Der Rasen hatte gelbe Flecken und in einige der kleinen Büsche würde wohl nie wieder Leben kommen.
»Es war Ende Januar. Adomas’ Handy hat an dem Abend mehrfach geklingelt und er hat Litauisch gesprochen. Ich dachte, es wäre seine … unsere Familie. Aber mit jedem Gespräch wurde er unruhiger, und plötzlich hat er seine Tasche gepackt und gesagt, er müsse verreisen. Ich habe ihm oben vom Fenster aus hinterhergeschaut und beobachtet, wie er sich in ein Auto gesetzt hat, das schnell wegfuhr. Als ich gerade vom Fenster weggehen wollte, habe ich ein anderes Auto vom Bürgersteig herunterfahren und ihm folgen sehen. Im Licht der Straßenlaterne konnte ich erkennen, dass es ein litauisches Nummernschild hatte. Ich hab versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber es hieß immer, dass es keine Verbindung gäbe. Entweder hatte er es ausgeschaltet, oder er hatte kein Netz, oder …«
»Hast du das der Polizei gemeldet?«
»Nein, die haben doch keine Zeit, sich um so was zu kümmern. Vielleicht ist es ja auch gar nicht so, wie ich befürchte.«
»War da nicht auch was von wegen, dass er in die Sache mit dem brutalen Raubüberfall in Trige letzten Winter verwickelt war?«
»Nein, damit hatte er nichts zu tun!« Anne funkelte sie wütend an. »Er kannte bloß ein paar von denen, die das Ding gedreht haben«, fuhr sie etwas weniger heftig fort. »Der Prozess beginnt jetzt sicher bald. Er hat sogar der Polizei dabei geholfen, einige osteuropäische Zigarettenschmuggler hochgehen zu lassen, sodass sie später auch die Hintermänner erwischt haben.«
»Ich habe den Artikel in der Zeitung gelesen. Er hat ihnen also die Informationen gegeben. Das war ja nicht ganz ungefährlich.«
»In der Tat, das hab ich ihm auch gesagt. Aber es hat nichts gebracht; als hätte er nicht geglaubt, dass ihm tatsächlich etwas passieren könne.”
»Und du hast wirklich nicht die Polizei um Hilfe gebeten?«
»Bist du wahnsinnig?! Wenn die wüssten, dass ich was mit Adomas zu tun habe, was glaubst du, wie Benito wohl reagieren würde? Er wurde doch damals verhört und die halten ihn ohne Zweifel für kriminell.«
»Dann haben sie ihn also wohl nicht gehen lassen?«
»Er hat ihnen doch geholfen. Ein Tauschhandel. Die kleinen Fische kommen davon, damit sie sich an großen ranmachen können. Solche Absprachen treffen sie bei der Polizei tatsächlich, genauso wie in der Politik.«
»Das hat bestimmt nichts zu bedeuten, Anne. Sicher gibt es eine harmlose Erklärung für Adomas’ Verhalten. Wenn ihm etwas passiert wäre, hättest du garantiert was von der Familie in Litauen gehört.« Sie holte Milch aus dem Kühlschrank; der Kaffee war sehr stark, genau wie Anne ihn mochte.
»Wenn ich Litauisch könnte, hätte ich sie auch längst kontaktiert. Die sprechen leider keine andere Sprache.«
»Wie wär’s damit, einen Dolmetscher zu organisieren und einen Familienbesuch zu machen?«
»Einen Dolmetscher beauftragen und mit nach Litauen nehmen? Ich bin arbeitslos, Kamilla!«
»Stimmt. Aber jetzt hast du doch eine Arbeit. Wann fängst du an?«
»Morgen.«
»Schon! Das wird etwas ganz anderes, als du es gewohnt bist. Mehr die harte körperliche Arbeit – aber vielleicht brauchst du das ja jetzt gerade.«
Anne nickte.
Tarzan huschte plötzlich durch die Katzenklappe in der Waschküche herein und warf geräuschvoll Annes Stiefel um. Vor Schreck hätte sie beinahe die Tasse fallen lassen. Der übergewichtige Kater huschte weiter in die Küche, zur Futterschüssel, als sei nichts passiert. Er hatte ein Talent dafür, den Unschuldigen zu spielen, wenn er etwas angestellt hatte.
»Gott, wie Tarzan gewachsen ist«, rief Anne und fing an zu lachen.
»Ja, ich glaube, er hat verschiedene Adressen, wo er frisst. Manchmal ist er mehrere Tage lang weg, kommt zurück und riecht nach fremdem Parfüm.«
»Typisch Mann, die sind echt immer untreu.« Anne klang bitter und ihr Lächeln verschwand.
»Glaubst du, Adomas hat eine andere?«
»Wer weiß? Ich weiß ja nichts über ihn. Vielleicht war er in Litauen verheiratet …«
»Weiß deine Mutter das nicht? Sie war doch diejenige, die euch miteinander bekanntgemacht hat?«
»Ich habe meiner Mutter nicht erzählt, dass ich Adomas so kenne, daher traue ich mich nicht, zu viel zu fragen. Sie glaubt auch, dass er einfach zurück nach Litauen gefahren ist.«
Tarzan hüpfte aufs Sofa, Anne streichelte ihm über das schwarze Fell, und er stimmte ein gemütliches Schnurren an. Die Katze legte sich in ihrer Lieblingsecke auf einem Kissen zurecht und begann zu dösen.
»Zu Hause ist es doch am schönsten.« Anne lächelte. »Wenn die Männer nur auch so denken würden.«
»Wie läuft es mit deiner Mutter?«
Anne hörte auf, die Katze zu streicheln, und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ihrer Jeans ab, um die Katzenhaare loszuwerden.»Das war für mich schon ein Schock – sowohl, dass sie nach dreizehn Jahren, in denen ich nicht ein Wort von ihr gehört habe, plötzlich bei mir aufgetaucht ist, als auch herauszufinden, dass sie eine obdachlose Alkoholikerin ist. Hätte ich das gewusst, hätte ich sie natürlich nicht auf die Straße gesetzt. Aber ihr geht es den Umständen entsprechend gut. Sie wohnt bei mir, während sie auf eine Wohnung wartet.«
Kamilla fragte nicht weiter, sie wusste, dass Anne genauso wenig über ihre Mutter sprechen wollte wie sie selbst über die ihre. Auch wenn Kamillas Mutter jetzt tot war, spukte sie weiterhin durch ihre Gedanken und ihr Leben, eigentlich noch mehr als zu Lebzeiten.
»Vermisst du deine Mutter?« Anne schien ihre Gedanken zu lesen.
»Nicht besonders. Wir hatten ja auch keinen Kontakt, daher …«
»Trotzdem, es muss doch komisch sein, keinen von seinen Eltern mehr zu haben. Nach der Beerdigung bist du so still geworden, deswegen habe ich gedacht …«
Kamilla stellte die Tasse ab. Plötzlich hatte sie Lust, Anne alles zu erzählen. So vertraut mit ihr zu sein, wie sie es früher einmal gewesen waren.
»Das lag nicht daran, dass ich meine Mutter betrauert habe. Natürlich tut es mir leid, dass sie gestorben ist, versteh mich nicht falsch. Aber was mich völlig aus der Bahn geworfen hat, war ein Gespräch mit ihrer Schwester, meiner unbekannten Tante, die zur Beerdigung von Agger an der Nordsee herübergefahren war.«
»Die Schwester deiner Mutter. Und die hast du wirklich nicht gekannt?«
»Nein, meine Mutter hat nie etwas über die Familie an der Westküste erzählt. Sie ist ja als junge Frau von zu Hause abgehauen, weil sie nicht mit dieser strengen, von der Inneren Mission geprägten Erziehung leben konnte – das habe ich zumindest gedacht.«
»Und es war gar nicht so?«
Kamilla zog die Beine an und nahm ein Sofakissen in den Arm.Sie zerknautschte es. Plötzlich hatte sie keine Lust mehr, darüber zu reden, aber jetzt hatte sie schon einmal damit angefangen und Annes neugierige Journalistenaugen fixierten sie auffordernd.
»Tante Astrid hat mir erzählt, dass es sich ganz anders verhalten hat. Meine Oma und mein Opa haben sie vielmehr aus dem Haus rausgeworfen. Meine Mutter war ein wenig rebellisch, wie meine Tante es ausgedrückt hat.«
»Ja, das geht ja echt nicht!«
In Annes Augen lag ein spöttischer Schimmer, und in Kamilla regten sich erneut Zweifel, ob sie weiterreden sollte.
»Eines Abends ist meine Mutter zusammen mit einem Mann auf dem Boot meines Opas rausgesegelt. Der kleine Bruder meiner Mutter war mit dabei, er war sieben.« Sie merkte, dass sie zu schnell redete, und atmete tief ein. »Meine Mutter war unaufmerksam und passte nicht auf ihren Bruder auf. Der Mann war ihr Geliebter, und während die beiden … zusammen waren, ist der Junge über die Reling gefallen und ertrunken.«
»Er ist ertrunken, während sie gebum…«
»Die Nordsee hat ihn verschlungen, er wurde nie gefunden.«
»Verdammt, Kamilla. Deshalb haben sie sie also rausgeworfen!«
»Nee, eigentlich nicht. Unfälle durch Ertrinken sind in einem Fischerdorf an der Nordsee normal. Darauf ist man vorbereitet. Aber meine Mutter wurde schwanger, sie war sehr jung, und er war ein ganzes Stück älter …« Ihr fehlten die Worte und sie schaute Anne an. Hoffte, dass sie den Zusammenhang selbst erriet. Und das tat sie auch – fast.
»Aber sie haben doch geheiratet. Ist dein Vater deiner Mutter gefolgt, als sie abgereist ist?«
»Ja, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Der, von dem ich immer geglaubt habe, dass er mein Vater ist, war es gar nicht.«
»Also hast du einen biologischen Vater, den du nun finden willst.«
Kamilla kannte Annes Gesichtsausdruck, wenn sie eine gute Story witterte. »Ich habe ihn gefunden.«
»Kamilla, das ist doch fantastisch!« Anne sah sie an und merkte, dass Kamilla nicht zurücklächelte. Der begeisterte Ausdruck verschwand. »Oder nicht? Wer ist es?«
»Er heißt Mogens Arnskov Aagaard und ist Fischer in Bønnerup Strand. Er ist verheiratet und hat einen Sohn, Mathias, der ungefähr in Rasmus’ Alter ist. Sie sind sich so ähnlich.« Das Lächeln kam spontan, verschwand aber schnell wieder.
»Du hast ihn – und deinen Halbbruder – also getroffen. Meine Güte! Ich bin also nicht die Einzige, die eine neue Familie gefunden hat. Aber was ist schiefgegangen?«
»Am Anfang lief es gut, bis mein Vater herausgefunden hat, wer ich bin. Er will mich nicht sehen und es soll nicht herauskommen, dass ich seine Tochter bin. Seine Frau darf das nicht wissen.«
»Warum nicht? Steht es um ihre Ehe so schlecht, dass eine alte Affäre sie zerstören würde?«
»Keine Ahnung.«
Anne kraulte die Katze hinter den Ohren. Auf ihrer Stirn erschien eine Falte – wie immer, wenn sie über ein Problem nachdachte und nach Lösungen suchte.
»Irgendwas muss damals passiert sein. Etwas, von dem er nicht will, dass es herauskommt«, sagte sie schließlich.
»Was meinst du damit, Anne?«
»Was sollte es sonst sein? Irgendetwas ist passiert, was er um jeden Preis verbergen will. Du musst rausfinden, was es ist!«
Kamilla warf das Kissen zur Seite und ging in die Küche, um neuen Kaffee zu kochen. Sie kannte niemanden, der das schwarze Gebräu so in sich hineinschüttete wie Anne. Von hier aus konnte sie das Foto von Rasmus sehen, das im Wohnzimmer im Regal stand. Die Sonne traf das Glas und ließ seine Augen im Licht glänzen, wie sie es bei einem glücklichen zehnjährigen Jungen tun. Es war ein Unfall gewesen. Einfach nur ein tragischer Unfall. Verkehrsunfälle passieren jeden Tag. Danny war schuldlos. So war das. Alle sagten, dass es so war.
»Ich mein’s ernst, Kamilla.« Anne kam resolut in die Küche getreten und stellte sich hinter sie. Kamilla löffelte Kaffeepulver in den Filter.
»Es muss etwas wirklich Ernstes sein, wenn er seine eigene Tochter verleugnen will, nur um es zu verbergen. Bist du nicht auch neugierig, was da passiert ist?«
Kamilla warf den Kaffeelöffel zurück in die Dose, schaltete die Kaffeemaschine an und drehte sich dann zu Anne um.
»Willst du mir helfen, es herauszufinden?«, fragte sie.
6
Roland sah dem Auto von der Treppe aus nach. Marianna saß wie eine kleine Prinzessin auf dem Rücksitz und winkte wie Königin Margrethe.Lächelnd winkte er zurück. Er hatte es immerhin noch rechtzeitig nach Hause geschafft, damit sie alle zusammen hatten essen können – das aber nur, weil sie auf ihn gewartet hatten. Das Auto verschwand aus dem Villenweg. Er blieb noch einen Augenblick stehen und sog die Luft ein. Genoss den Duft des Frühlings in der Nase und den Anblick von Irenes Blumenbeeten, die sich nach der harten Prüfung des Winters nun zurück ins Leben kämpften. Irene hatte sich darangemacht, in der Küche aufzuräumen. Er konnte sie durchs Küchenfenster sehen. Trotz ihrer vierundfünfzig Jahre – sie war etwas jünger als er – waren es nicht die Falten, die in ihrem herzförmigen Gesicht dominierten. Obwohl sie immer mit ihrem Gewicht kämpfte, fand er eigentlich nicht, dass sie auch nur ein Gramm abnehmen müsste. Frauen sollten runde Formen haben. In ihren Haaren fand sich keine graue Strähne, dafür sorgte der Friseur. Heute hatte sie sich das Haar locker auf dem Kopf festgesteckt, sodass Hals und Nacken zu sehen waren.
Er stand auf der Treppe, während ihn die frische Luft ein wenig frösteln ließ, und genoss den Anblick. Freute sich darüber, dass diese Frau die seine war, und das schon so lange, dass sie die Jahre nicht länger zählten. Hübsch war sie, wie immer, trotz des etwas unnahbaren Ausdrucks, der in letzter Zeit über ihrem Gesicht lag. Während des Essens hatte sie nicht viel geredet. Marianna hatte wie gewöhnlich lustig geplaudert, und er hatte mit Rikke ein bisschen über Alltagsdinge und Politik diskutiert. Sie waren sich selten einig, da sie beide unterschiedlichen Flügeln angehörten, aber sie bekamen sich auch nie wirklich in die Haare; so viel bedeutete die Politik ihnen beiden auch wieder nicht. Irenes Schweigen bedrückte ihn. Er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. Hätten sie Salvatore bloß hierbleiben lassen und ihn nicht nach Hause auf die Straßen Neapels und in die Gewalt der Camorra geschickt. Verdammt! Ergrimmt fuhr er sich durch das dichte dunkle Haar. Sein Friseur hielt sich immer mit dem Kürzen zurück; er meinte, die grauen Haare an den Schläfen würden ihn nur maskuliner machen. Irene sagte das Gleiche. Er ging zu ihr hinein und stellte Teller und Gläser in die Spülmaschine.
»Warum hast du dein Handy ausgeschaltet? Ich habe versucht dich anzurufen, weil ich spät dran war.«
Irene zuckte zusammen. »Gott, ich hab vergessen, es wieder anzumachen. Ich hab es ausgemacht, damit ich nicht gestört werde, wenn Rikke und Marianne schon mal hier sind. Schließlich kommen sie nicht alle Tage, und da …« Sie drehte ihm den Rücken zu und stellte etwas in den Kühlschrank.
»Als ob dein Handy sonst ständig bimmeln würde«, murmelte er.
»Entschuldigung, Rolando.«
»Ach, egal, so wichtig war es jetzt auch wieder nicht …«
Die Spülmaschine war voll. Ihr leises Brummen und Plätschern waren die einzigen Geräusche, die man in der Stille hörte. Der orangefarbene Knopf leuchtete im Halbdunkel der Küche. Roland schielte zu Irene hinüber, sie versuchte, sich aufs Lesen zu konzentrieren, aber er sah deutlich, dass es nicht klappte. Erneut ertappte er sich dabei, wie er sie beobachtete. Einer kritischen Prüfung unterzog. Als sei sie ein Verbrecher, der in wichtigen Ermittlungen eine entscheidende Information verheimlicht. Angolo war nach dem Besuch des fordernden Enkelkindes müde und lag ausgestreckt auf seiner Decke, zufrieden, dass das normale, ruhige Dasein zurückgekehrt war. Sein Brustkorb hob und senkte sich ruhig im Schlaf.
»Du zeigst dich doch sonst nicht so bereitwillig im Fernsehen. Was sagt Kurt Olsen dazu?«, meinte Irene, nachdem sie seinen Auftritt in den Spätnachrichten gesehen hatten. Sie griff wieder nach ihrem Buch, das auf dem Tisch lag, ein Lesezeichen ungefähr in der Mitte.
»Die Frage ist eher, was sagt er dazu, dass ich mich in diesen Fall einmische, wo er doch all diese Erinnerungen in mir weckt. Du weißt schon, an die Sache mit …«
»Salvatore«, beendete Irene den Satz, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
Es hätte ein ganz gewöhnlicher, gemütlicher Abend werden können, aber wieder lag die Last des Ungesagten über allem. Vielleicht war ja er derjenige, der das Wort ergreifen sollte, wohin auch immer das führen mochte. Er räusperte sich. »Ich habe heute mit Giovanna gesprochen.«
Irene schaute von ihrem Buch auf. Abwartend.
»Sie wirft uns nichts vor, Irene. Sie versteht sehr gut, dass wir Salvatore nicht mehr bei uns wohnen lassen konnten. Er war mehrere Monate hier. Wäre sein Leben verschont geblieben, wenn er noch den Rest des Jahres hier gewesen wäre? Die Mafia vergisst nie.«
»Das weiß ich, Rolando. Aber trotzdem kommt einem dieser Gedanke: Wenn er nun doch – schließlich bin ja ich es gewesen, die nicht …«
»So etwas darfst du nicht denken. Es war nicht unsere Schuld.« Vielleicht versuchte er eher sich selbst als Irene zu überzeugen. Ihr Blick war wieder auf das Buch gerichtet. Sie ließ ihn links liegen, und das tat weh, aber er wusste auch, dass er versuchen musste, sich zu beherrschen, wenn er zu ihr durchdringen wollte. »Was liest du da?«
Sie drehte das Buch um und warf einen Blick auf die Titelseite, als wisse sie es selbst nicht genau. »Das ist ein Buch über Sozialpolitik«, antwortete sie.
»Also Arbeit«, stellte er mit einem Lächeln fest.
Sie nickte.
»Irene, hör mal. Ich mache dir auch keine Vorwürfe, wir beide …«
»Wer sagt denn, dass ich glaube, du würdest mir Vorwürfe machen? Oder dass Giovanna das tun würde?« Ihre Stimme war hart. So hatte er sie nicht mehr gehört, seit er versucht hatte, die Villa, ihr Elternhaus, hinter ihrem Rücken zu verkaufen. Angolo hob den Kopf.
»Wir müssen über das hier reden. Seit der Beerdigung bist du so schweigsam. Was ist los?«
Irene schloss das Buch. Ihr eingelegter Daumen verhinderte, dass es zuklappte und sie die Seite neu würde suchen müssen. Das Lesezeichen lag auf dem Tisch. »Das ist für uns alle ein schreckliches Erlebnis gewesen. Salvatore war viel zu jung, um zu sterben. Und dann noch auf diese Weise! So überflüssig. Natürlich hat uns das verändert.«
»Soll das heißen, dass wir nun den Rest unserer Tage so verbringen sollen?«
»Wie meinst du das?«
»Du sagst nichts. Du weichst meinem Blick aus. Ich merke doch, dass irgendetwas nicht stimmt.«
»Ach, der Polizist wieder.« Es war ein höhnischer Ton, der ihn traf.
»Ja, natürlich bemerke ich so etwas. Das ist ein Teil meiner Arbeit: Verhaltensweisen zu analysieren – und es sollte auch ein Bestandteil deiner Tätigkeit sein.«
»Was weißt du schon über meine Arbeit?«
War es das, was nicht stimmte? Interessierte er sich nicht genug für das, was sie machte? Vielleicht war das richtig, oft ging es nur um seine Fälle, aber doch auch nur, weil sie fragte und interessiert wirkte.
»Ja, dann erzähl mir davon, Irene. Du erzählst ja nie etwas über deine Arbeit.«
»Ich finde, wir sollten lieber über unsere Familie reden.«
»Ach Mensch, es geht wieder um Olivia. Natürlich, warum habe ich nicht gleich daran gedacht. Aber es ist sie, die nichts von ihrem Vater wissen will, nicht umgekehrt, also rede lieber mit ihr darüber.«
»Das werde ich auch. Ich rufe sie morgen an.«
»Du kannst ihr ausrichten, wenn sie diesem Schuft einen Korb gibt und heimkommt, vergeb ich ihr, dass sie abgehauen ist.«
»Sie ist doch nicht abgehauen, Rolando. Und Giuseppe ist kein Schuft, er ist ein respektabler und gut ausgebildeter junger Mann.«
»Du nennst einen Strafverteidiger respektabel und gut ausgebildet?! Die lassen Verbrecher frei, nachdem die Polizei eine Riesenarbeit damit gehabt hat, sie einzusperren. Du erinnerst dich doch, dass die diesen ›Geschäftsmann‹ in Rom freigesprochen haben, nicht? Er war ein Mafioso, daran bestand kein Zweifel. Es würde mich nicht wundern, wenn Giuseppe sich bestechen lässt; wie kann er sich die teure Wohnung und das Auto sonst auch leisten!«
»Rolando, reg dich ab. Angolo wird schon ganz unruhig. Jeder hat das Recht, Anschuldigungen zu bestreiten. So soll das in einer demokratischen Gesellschaft auch sein. Du hast doch keinerlei Beweise für deine Behauptungen. Kein Wunder, dass Olivia unglücklich ist, wenn du so etwas über ihren Lebensgefährten sagst.«
»Lebensgefährten!« Er schnaubte. Er bräuchte jetzt eine Zigarette. Das Päckchen mit den Nikotinkaugummis steckte in der Jackentasche draußen im Flur. »Wir hätten sie damals nicht den Kurs machen lassen sollen, dann hätte sie ihn nie kennengelernt.«
»Das hat ihr aber eine ausgezeichnete Stelle bei der dänischen Botschaft verschafft. Ihr geht es doch gut in Rom. Du solltest stolz auf deine Tochter sein.«
»Ich bin stolz, an dem Tag, an dem sie diesen Schwindler durchschaut und ihn verlässt.«
»Das wird ganz sicher nicht passieren, Rolando.« Sie legte das Buch weg, seufzte laut und schaute ihn an, als würde er ihr leidtun. »Hast du Lust auf einen Schluck Kaffee und einen Cognac?«
»Ja, das wäre schön.« So kannte er sie. Er holte zwei Tassen und stellte sie auf den Couchtisch, während sie Kaffee kochte. Er nahm auch die Flasche und die Cognacgläser aus dem Barschrank und schlüpfte hinaus zu den Nicotinell-Kaugummis in seiner Jackentasche. Als wüsste er, dass er bald etwas für seine Nerven brauchen würde.
Irene schenkte ein. Der Duft des Kaffees und des Cognacs wirkte beruhigend. Ach ja, wenn es nur das war, was Irene umtrieb. Natürlich war sie bei der Beerdigung an sein angespanntes Verhältnis zu Olivia erinnert worden, aber in diesem Punkt würde er nun mal nie nachgeben. Er wusste, er hatte Recht, was Giuseppe anging. Er konnte jederzeit einen Wolf im Schafspelz erkennen.
»Was meinst du mit Das wird nicht passieren? Kannst du Olivia nicht zur Vernunft bringen, wenn du sie morgen anrufst? Und richte Grüße aus – also, nur an sie.«
Irene schwenkte ihren Cognac nachdenklich im Glas. »Wenn ich morgen anrufe, Rolando, dann um zu gratulieren. Rikke hat mir heute Nachmittag eine gute Neuigkeit erzählt …«
Roland versteifte sich und stellte das Glas zurück auf den Tisch. Er befürchtete, sonst den teuren Cognac zu verschütten, wenn sie fortfuhr.Es sei denn, die gute Nachricht wäre, dass Giuseppe aus dem Leben seiner Tochter verschwunden war – aber irgendetwas in Irenes Blick sagte ihm, dass es etwas anderes war. Sie sah ihn an mit Augen, die vor etwas glänzten, das aussah wie – Stolz.
»Rolando. Wir werden wieder Großeltern.«
Er wurde heiser. »Rikke und Tim, stimmt’s?«
»Nein, Olivia und Giuseppe.«
7
Die Enten schnatterten frühjahrsübermütig im See. Im Winter war er komplett zugefroren gewesen, sodass sie sich im Entenhaus zusammengedrängt hatten, um sich gegenseitig warm zu halten. Es sah aus wie ein kleiner Holzpavillon, mit Pastellfarbe bemalt, die durch den Frost Risse bekommen hatte. Sie hatten das Häuschen für die Enten aus Holz gebaut, das sie vom ortsansässigen Schreiner geschenkt bekommen hatten.
Der Klostergarten hatte sich in den letzten Monaten gewaltig verändert, war kahl und tot gewesen. Nun hatten sich endlich wieder kleine, zarte Blätter entfaltet, und zusammen mit der Sonne verliehen sie der Umgebung einen weichen, hellgrünen Schimmer. Zuvor, in einem Winter, der ewig zu dauern schien, hatte das Ganze so hoffnungslos ausgesehen. Auch die Vögel wurden vom erwachenden neuen Leben beeinflusst und sangen laut oben in den Baumkronen.
Sie hatte die Gewohnheit, sich nach den Laudes einen ruhigen Ort zu suchen, an dem sie den Bibeltext des jeweiligen Tages durchgehen und sich dabei in eine meditationsähnliche Stimmung versetzen konnte. Sie hatte gerade noch genug Zeit, bevor sie sich im Refektorium zum Frühstück einstellen musste. Jetzt, da der Frühling Einzug hielt, war hierfür der Garten ihre bevorzugte Stelle. Hier, vor dem großen geschnitzten Holzkreuz. Der Gärtner hatte bereits wieder damit zu kämpfen, es von Schlingpflanzen und Unkraut freizuhalten.