Mord in Jütland: Das Grab im Moor - Inger Gammelgaard Madsen - E-Book
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Mord in Jütland: Das Grab im Moor E-Book

Inger Gammelgaard Madsen

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Beschreibung

Eine Serie von Morden – und ein rätselhafter Cold Case … Ein neuer Fall für Ermittler Roland Benito von der dänischen Queen of Crime! Zwei Jungen machen im dänischen Jütland einen grausamen Fund: Eine Frauenleiche im Moor, aufgedunsen und mit leeren Augenhöhlen. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen ergeben, dass der Mord über zwanzig Jahre zurückliegt. Während Kriminalkommissar Roland Benito die Ermittlungen aufnimmt, erhält die Journalistin Anne Larsen einen anonymen Hinweis, der umgehend ihr Interesse an der Geschichte weckt: Denn der unbekannte Anrufer behauptet nicht nur, etwas über die Leiche aus dem Moor zu wissen – sondern er prophezeit auch noch weitere Morde! Während Benito und Larsen alles daran setzen, die angekündigten Morde zu verhindern, kommen sie einer Tragödie auf die Spur, die weit in die Vergangenheit zurückreicht … Der zweite Band der gefeierten Scandi-Crime-Reihe der dänischen Bestsellerautorin, bei der jeder Band unabhängig gelesen werden kann: Als Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks • Fesselnde Spannung für die Fans der Bestseller von Camilla Läckberg und Tina N. Martin • Ein Kommissar, eine Journalistin und die abgründigsten Fälle Skandinaviens

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Seitenzahl: 548

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Über dieses Buch:

Zwei Jungen machen im dänischen Jütland einen grausamen Fund: Eine Frauenleiche im Moor, aufgedunsen und mit leeren Augenhöhlen. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen ergeben, dass der Mord über zwanzig Jahre zurückliegt. Während Kriminalkommissar Roland Benito die Ermittlungen aufnimmt, erhält die Journalistin Anne Larsen einen anonymen Hinweis, der umgehend ihr Interesse an der Geschichte weckt: Denn der unbekannte Anrufer behauptet nicht nur, etwas über die Leiche aus dem Moor zu wissen – sondern er prophezeit auch noch weitere Morde! Während Benito und Larsen alles daran setzen, die angekündigten Morde zu verhindern, kommen sie einer Tragödie auf die Spur, die weit in die Vergangenheit zurückreicht …

»Mord in Jütland: Das Grab im Moor« erscheint außerdem als Hörbuch bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Inger Gammelgaard Madsen (*1960) ist eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Dänemarks. Aufgewachsen ist die beliebte Bestseller-Autorin in der Nähe der dänischen Stadt Aarhus. Im Jahr 2008 erschien ihr Debütroman »Mord in Jütland: Die toten Puppen« um Ermittler Roland Benito, der von Kritikern und Publikum begeistert gefeiert wurde. Die Inspiration zu ihren Roland-Benito-Thrillern zieht die Bestseller-Autorin aus realen Geschehnissen. Dramatisiert dargestellt verwandelt sie diese in mitreißende Thriller mit aufwühlenden Handlungen.

Bei dotbooks im eBook und bei SAGA Egmont im Hörbuch veröffentlichte die Autorin ihre Scandi-Crime Reihe »Mord in Jütland« mit den Romanen »Die toten Puppen«, »Das Grab im Moor« und »Eine dunkle Nacht«. Weitere Bände sind in Vorbereitung.

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eBook-Ausgabe September 2024

Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel » Drab efter begæring« bei DarkLights Publishing. Die deutsche Erstfassung erschien unter dem Titel »Mord auf Antrag«.

Copyright © der dänischen Originalausgabe 2009 Inger Gammelgaard Madsen

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2009 Inger Gammelgaard Madsen und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.de, unter Verwendung von Bildmotiven von © Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98952-177-3

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Inger Gammelgaard Madsen

Mord in Jütland:Das Grab im Moor

Thriller

Aus dem Dänischen von Kirsten Krause

dotbooks.

Meiner Großmutter väterlicherseits gewidmet

Kila lenye mwanzo halikosi

kuwa na mwisho.

Alles, was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben.

Altes Suaheli-Sprichwort

Kapitel 1

Von den frisch gepflügten Feldern roch es nach Herbst und Humus. Noch nicht alle Bauern waren fertig. Auf einem Feld in der Ferne fuhr ein staubiger Traktor, umgeben von einer Horde schreiender, hungriger Möwen. Der warme Sommer, der erst Mitte August begonnen hatte, setzte sich den ganzen September bis Anfang Oktober fort und machte Mäntel trotz der Jahreszeit überflüssig.

Nach einem lauten Streit über ein Nintendo Wii-Spiel, von dem Mikkel meinte, dass Lukas dafür zu klein sei, hatte ihre Mutter sie bei dem schönen Wetter zum Spielen nach draußen geschickt. Sie traten in die Pedale, brachten die Räder zum Schnurren und die Fahrräder auf Tempo. Aber für sie waren das keine Fahrräder. In ihrer Fantasie waren es Pferde, die sie in wildem Galopp vorwärtstrieben.

»Peng, du bist tot!«, rief Lukas hinter seinem Bruder her, der sich wütend im Sattel zu ihm umdrehte.

»Du sollst mich doch nicht erschießen. Du wolltest doch ein Indianer sein!«

»Na und? Dürfen Indianer keine Soldaten erschießen?«, schmollte Lukas.

»So einen wie mich nicht, ich bin ein Soldat wie die im Fernsehen.« Der neunjährige Mikkel verfolgte ein wenig die Nachrichten und fand die Soldaten mit ihren Waffen und Helmen ziemlich cool, aber für einen Sechsjährigen wie Lukas waren die Indianer aus den Cowboyfilmen sehr viel spannender.

Plötzlich bremsten die beiden so heftig, dass der Kies sie wie eine Wolke umgab. Lukas’ Fahrrad kam ins Schleudern, und er konnte einen Sturz gerade so verhindern, indem er einen Fuß fest auf die Erde stellte, bevor er umkippte. Vor ihnen waren die Bäume ums Moor zu sehen. Ihre Blätter schillerten in den goldenen, braunen und violetten Nuancen des Herbstes.

»Lass uns lieber umdrehen, Mikkel. Ohne Mama und Papa dürfen wir nicht zum Moor gehen.«

»Boa, hör auf! Das war doch nur, als wir noch Babys waren. Du bist doch kein Baby mehr, oder?«

Lukas schmollte noch mehr und sah nicht länger wie ein wilder und blutrünstiger Indianer aus, trotz des Stirnbands mit Krähenfedern und des Kriegsbeils, das in den Gürtel gesteckt war, der sonst nur dem Zweck diente, die allzu große Hose, die mal Mikkels gewesen war, um seinen dünnen Körper zu halten.

»Aber Mama sagt, das ist gefährlich! Die Moorfrau kann uns unter Wasser ziehen und ertränken!« Nervös rieb sich Lukas mit einem Finger die sommersprossige Nase, die von Sonne und Wind gerötet war. Seine blauen Augen suchten Mikkels in der Hoffnung, darin den gleichen Schrecken zu sehen, den er selbst fühlte.

Mikkel lachte unsicher. »So ein Quatsch, es gibt doch gar keine Moorfrauen. Komm!« Er warf das Fahrrad ins Gras.

Zögernd tat Lukas es ihm gleich. Er konnte das Moorwasser riechen. Der Wind ließ einige welke Blätter in einem Kriegstanz um seine Füße wirbeln. Sein aufgeregtes Schnaufen wurde vom Rascheln der Blätter übertönt, aber Mikkel hörte es trotzdem. Er lächelte erwachsen.

»Hör jetzt auf, es passiert schon nichts. Das ist doch nur ein Moor!« Er war bereits zwischen den Bäumen.

»Ja, aber, es gibt doch ’ne Moorfrau, Mikkel! Wenn sie irgendwas braut, ist doch weißer Nebel bei den Bäumen«, murmelte Lukas, ging aber trotzdem hinterher, während er wachsam Ausschau hielt, ob die Moorfrau hinter dem nächsten Baum stand. Sein Herz hämmerte im Brustkorb und seine Atemlosigkeit war nicht nur die Folge der schnellen Radtour. Er näherte sich Mikkel, der am Ufer stand und in das trübe, braune Wasser schaute, das mit grüner Entengrütze bedeckt war.

»Komm. Das ist überhaupt nicht gefährlich. Guck, da ist ein Fisch. Vielleicht ist das ein großer Hecht!«

Lukas war im August gerade in die Vorschulklasse gekommen. Die Lehrerin hatte da etwas von einem Hecht erzählt. Die können sehr groß und sehr alt werden, hatte sie gesagt. Die Neugier war stärker als die Angst. Er wagte sich neben Mikkel, aber seine Augen glänzten vor Furcht. Da war kein Fisch.

»Jetzt ist er wieder weg. Kann natürlich auch die Moorfrau gewesen sein«, zog Mikkel ihn auf und grinste.

Lukas erkannte plötzlich das Lustige daran und lachte mit. Das Moor war ja überhaupt nicht so unheimlich, wie er es sich vorgestellt hatte. Er war nur einmal hier gewesen, zusammen mit seinem Vater, aber das war viele Jahre her – da war er noch ein Baby.

Die Vögel sangen in den Baumwipfeln, und ab und zu hörten sie ein leises Plumpsen im Wasser von springenden Fischen oder Fröschen. Lukas begann sich zu entspannen und wagte es, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Am Ufer gab es viel zu sehen und es sah überhaupt nicht wie ein Ort aus, an dem eine Frau wohnen könnte. Sie würde doch in dem dunklen Wasser ertrinken. Beinahe hatte ihn seine Logik überzeugt, als er etwas am Uferrand entdeckte. Es sah irgendwie aus wie ein Fuß. War das vielleicht doch sie – die Moorfrau?

»Mikkel ...! Mikkel ...!«, rief er vorsichtig. »Ich hab die Moorfrau gefunden.«

»Ach, hör auf!«

Mikkel kam vorsichtig näher, als ob er trotz allem Zweifel hätte. Er hatte das, was einem braunen Fuß ein bisschen ähnlich sah, auch gesehen. Es ragte halb aus dem Wasser unter den Zweigen eines Busches hervor, der nur noch wenige Blätter hatte. Die meisten lagen im Wasser, und einige davon hatten die gleiche Farbe wie der Fuß – oder was auch immer das nun war. Vielleicht ein Tier? Ein toter Fisch? Er riss sich zusammen. Schließlich war er der Ältere und Klügere. »Das ist nicht die Moorfrau. Das ist – was anderes.« Er fand einen Stein und warf ihn in den Busch. Und traf. Er suchte einen zweiten und zielte erneut. Plötzlich sah es so aus, als ob sich der Fuß im Wasser bewegen würde. Erschrocken zogen sie sich zurück.

Der Stein hatte ein Loch in die braune, lederartige Oberfläche geschlagen, und etwas Gelbliches war zum Vorschein gekommen. Der Schlag hatte das Etwas im Wasser gedreht, sodass es noch weiter herausragte. Jetzt konnten die beiden sehen, was es war. Es war ein menschlicher Fuß. Mikkel schmiss den Stein weg, als ob er seine Hand verbrannt hätte, und zog seinen Bruder schnell mit sich aus dem Schatten der Bäume in die Sonne.

»Komm!« Seine Stimme zitterte.

»Was ist das, Mikkel? Ist das die Moorfrau?« Lukas hatte angefangen zu weinen.

»Du sagst Mama und Papa nichts hiervon«, drohte Mikkel, als sie wieder auf ihren Fahrrädern saßen und in hohem Tempo von den Bäumen der Moorfrau wegfuhren.

Lukas weinte noch lauter.

Kapitel 2

Die Pathologie im Rechtsmedizinischen Institut war nicht der Ort, den er in seinem Job am meisten liebte. Der Anblick des misshandelten kleinen Mädchens, das vor ein paar Jahren in einem Abfallcontainer gefunden worden war, hatte ihm noch lange Zeit danach schlaflose Nächte bereitet. Wie eine weiße Puppe lag sie auf dem sterilen Stahltisch. Einige Bilder verschwanden nie von der Netzhaut. Sie wurden immer wieder gezeigt wie ein unheimlicher Film, von dem man weder den Blick abwenden noch ihn ausschalten kann.

Das Rechtsmedizinische Institut war letzten Herbst in neuere, größere und bessere Räumlichkeiten in der Skejby Uniklinik gezogen. Dem hatte man sowohl mit Wehmut als auch mit Freude entgegengesehen. Der Rechtsmediziner Henry Leander hatte viele Jahre seines einundsechzigjährigen Lebens in den Räumen des alten Städtischen Krankenhauses, das heute Aarhus Krankenhaus hieß, verbracht, sich aber oft darüber beklagt, den Platz mit dessen Pathologen teilen zu müssen. In seine Arbeit versunken stand er über den Tisch gebeugt, als Roland Benito hereinkam. Er richtete sich auf und schenkte seinem alten Freund das übliche großzügige Lächeln, sodass sich der weiße Fahrradlenkerschnurrbart bis zu den Ohren hob.

»Hereinspaziert, Herr Kriminalkommissar«, begrüßte er ihn fröhlich und konzentrierte sich dann wieder auf seine Arbeit.

Roland kam zu spät. Er war gerade aus einem wohlverdienten Sommerurlaub in seinem Heimatland zurückgekommen und hatte die süditalienische Stimmung noch nicht ganz abgeschüttelt. Schnell grüßte er die anderen bei einer Obduktion obligatorisch Anwesenden, die in einer kleinen Gruppe in angemessenem Abstand vom Stahltisch versammelt waren. Nur ein Fotograf der Kriminaltechnischen Abteilung wagte sich mit seiner Kamera näher. Seine Augen funkelten vor Abscheu über der Nasenmaske.

Die Leiche ließ Roland sofort an einen Moorfund denken, was es natürlich auch war. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und hielt es vor die Nase, bis Leander ihm eine Nasenmaske reichte. Die Lüftung, die ein ganzes Stück besser als die im alten Institut war, konnte den süßlichen Todesgeruch nicht bekämpfen, der ihn an die Straßen Neapels voll stinkendem Abfall erinnerte. Trotz allem war der Geruch im Sezierraum nicht so schlimm, wie er hätte sein können, weil von der Leiche fast nur noch Haut und Knochen übrig waren. Die Fäulnisgase, die unerträglich stanken, waren schon längst verflogen.

»Gibt’s schon neue Erkenntnisse bezüglich Todesursache und -zeitpunkt? Haben wir hier einen neuen Grauballe-Mann?«, fragte er.

Sie waren früh am Morgen zusammen an der Fundstelle im Moor gewesen und hatten gemeinsam mit den Kriminaltechnikern und einem Bagger die braune Leiche aus dem Wasser gezogen und sie auf eine Bahre gelegt, sodass Leander die Leichenschau vornehmen und seine Beobachtungen ins Diktiergerät sprechen konnte.

Leander schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. »So lang liegt das wohl nicht zurück. Es sieht auch gar nicht wie ein Opfer für die Götter aus. Die Todesursache scheint ein harter Schlag gegen den Hinterkopf zu sein. Vielleicht mehrere.« Vorsichtig drehte er den braunen Schädel mit Überresten von Haaren, deren ursprüngliche Farbe man nur erahnen konnte, sodass der Hinterkopf Roland und den anderen Anwesenden zugewandt war. Mit der weißen, behandschuhten Hand zeigte er auf ein Loch im Schädel. »Es sieht nach einem schweren, harten Gegenstand aus, der mit einer gewaltigen Kraft durch den Hinterkopf ging. Das Gewicht beträgt ungefähr drei Kilo, schätze ich.«

Er rückte ein Stück zur Seite, damit Roland näher kommen konnte.

»Mord?«

»Das nehme ich an.«

Roland beugte sich herunter und betrachtete das Loch im Schädel genauer. Er richtete sich auf und studierte den Rest des eingefallenen Körpers. Die braune Lederhaut war um die Knochen, die an einigen Stellen gelblich hervorstachen, eingesunken. Es war schwer, die Farbe der spärlichen Kleidung zu erkennen, die noch übrig war. Der Rest war sicher weggespült worden oder hatte sich im Moorwasser aufgelöst. Das Gesicht bestand nur aus leeren Augenhöhlen, einem dreieckigen Loch, wo die Nase gewesen war, und einer Reihe gelblicher Zähne mit sehr langen Zahnhälsen, die im Kiefer entblößt waren. Er bekam den Eindruck, dass der Schädel lachte, und sah stattdessen die Rechtsmediziner an.

»Eine Frau?«

Leander nickte und drehte behutsam den Kopf der Leiche zurück, wobei er sie nur mit den Fingerspitzen berührte, als ob er die Tote nicht wecken wollte. Zu Toten hatte er ein spezielles Verhältnis. Wenn er allein war, sprach er mit ihnen, als ob sie noch lebendig wären, beklagte ihr Schicksal und tröstete sie damit, dass der Täter bestimmt gefunden werden würde, wenn die Leiche ihm die Auskünfte gegeben habe, die sie bis dahin verborgen hatte.

»Das Becken lässt auf eine Frau schließen. Eine, die geboren hat. Ich schätze, sie ist um die dreißig. Ich habe ein paar Zähne an den Gerichtsodontologen geschickt, um die Bestätigung zu bekommen. Die Zähne können auch bei der Identifikation helfen. Fingerabdrücke können wir getrost vergessen.«

Alle sahen auf die Finger des Opfers. Von den Fingerspitzen waren nur noch Knochen übrig.

»Sie hat nichts bei sich, was Auskunft darüber gibt, wer sie ist, und sie hat lange im Moor gelegen«, fuhr Leander unbeirrt fort.

»Wie lange?«

Leander schaute Roland über den Brillenrand hinweg an. »Auf jeden Fall zwanzig Jahre.«

Einen Augenblick lang starrte er auf die Leiche, ohne etwas zu sehen, während die Worte eindrangen. »Du sagst also, wir haben es mit einem Mord zu tun, der in den Achtzigern begangen wurde?« Er sah in Leanders stahlgraue Augen.

»So sieht’s aus. Es muss einen ungelösten Fall mit einer verschwundenen Frau geben. Wenn ich die Ergebnisse der Analysen bekomme, kriegst du eine etwas genauere Jahreszahl.«

»Warum ist die Leiche nicht vorher an die Oberfläche gekommen – und warum hat niemand sie entdeckt?« Kurt Olsen hatte endlich seine Stimme wiedergefunden. Er war im neuen Polizeibezirk zum Vizepolizeidirektor ernannt worden und hatte seitdem ein bisschen von allem gesehen.

»Die Fäulnisgase bringen eine Leiche tatsächlich dazu, im Wasser an die Oberfläche zu steigen, doch sie sinkt wieder auf den Grund zurück, sobald sich die Gase verflüchtigen. Aber das ist schon vor langer Zeit passiert. Warum sie jetzt an die Oberfläche kommt, ist schwer zu beantworten. Vielleicht liegt es an dem warmen Herbst oder völlig anderen, unbekannten Faktoren«, antwortete Leander.

»Nach so vielen Jahren müsste die Leiche doch aufgelöst sein?« Kurt kratzte sich am Hals, der, wie immer, wenn er gestresst war, von roten Flecken übersät war.

»In all den Jahren im Moor wurde sie ziemlich gut konserviert. Das liegt daran, dass Moorleichen wegen der Säure, die die Pflanzen abgeben, keinen Bakterien ausgesetzt sind. Wenn die Leiche ins Wasser geworfen wurde, bevor sich die Bakterien ausgebreitet haben, sind die Möglichkeiten zur Konservierung am besten. Zum Beispiel, wenn sie gekühlt wird.«

»Du denkst also, sie wurde vielleicht eingefroren ins Moor geworfen?« Roland fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar, das unter der starken süditalienischen Sonne ein bisschen aufgehellt worden war, und sah wieder zu Leander.

Er nickte. »Vielleicht wurde sie an einem kühlen Ort aufbewahrt, bevor sie ins Moor geworfen wurde. Die Eingeweide sind sehr gut erhalten, was darauf schließen lässt, dass sie nicht verwesen konnten, bevor die Säure im Moor ihre Wirkung entfalten konnte. Das saure, sauerstoffarme Wasser und vielleicht niedrige Temperaturen hatten auch Einfluss darauf. Das Wasser kann sehr kalt gewesen sein – vielleicht ein Wintertag, da gibt’s mehrere Möglichkeiten.«

Das wohlbekannte Rumoren im Darm und der bittere Geschmack im Rachen meldeten sich, und Roland wusste, dass er bald da raus musste. Viele Jahre im Job hatten ihn doch ein bisschen mehr abgehärtet als damals, als er als junger Polizeianwärter seine erste Leiche bei einer Obduktion gesehen hatte. Er hatte versucht sich zusammenzureißen, aber schließlich sein Frühstück dem Fußboden geopfert, über die Schuhe des Rechtsmediziners, vor allen anderen Polizeianwärtern, die ebenfalls blass um die Nase gewesen waren und angestrengte Schluckbewegungen gemacht hatten.

»Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde die Leiche im Moor von zwei Jungs gefunden«, unterbrach Kurt Olsen seine Gedanken.

»Ja, vor drei Tagen. Es war natürlich streng verboten, zum Moor zu gehen, deswegen hatten sie nichts davon gesagt. Aber der Jüngere verging fast vor Angst und träumte von der Moorfrau, die kam und ihn holte. Schließlich brach er zusammen und erzählte seiner Mutter von dem schrecklichen Fund.«

Kurt schüttelte den Kopf. »Die Armen. Aber so ist das halt. Das Verbotene ist immer das Spannendste.«

»Kann die Neugier auch unser Opfer gereizt haben? Oder was hat sie im Moor gemacht?«, seufzte Roland.

Leander war wieder beschäftigt. Er war dabei, mit einer langen Pinzette etwas aus der Bruchstelle im Schädel zu holen. Trotz neuer Technologie waren Pinzette, Schere und Messer nach wie vor die wichtigsten Werkzeuge des Rechtsmediziners.

»Ich hoffe, sie wird schnell identifiziert«, murmelte er abwesend, während er langsam den Gegenstand hervorzog und die Pinzette ins scharfe, kalte Licht hielt. Alle rückten ein bisschen näher und kniffen die Augen über den Nasenmasken zusammen, um besser sehen zu können. »Was ist das?«, fragte sein Assistent ungeduldig; auch er hatte es aufgegeben zu raten.

Roland beugte sich über Leanders Schulter und kam dichter heran. »Ist das Holz?«

»Ein spitzes, geschliffenes Stück Holz. Sehr hartes Holz. Es steckte gut verborgen im Schädel. Vielleicht ein Stück der Mordwaffe«, antwortete Leander. Steen Dahls Blitzlicht blendete sie für einen kurzen Moment. Henry Leander legte das Holzstück in ein Tütchen und reichte es Gert Schmidt, dem Leiter der Kriminaltechnischen Abteilung, der ungewöhnlich still war, sich aber nun mit seiner lauten Stimme bedankte und versprach, sich der Sache so schnell wie möglich anzunehmen.

Sobald er das Rechtsmedizinische Gebäude verlassen hatte, suchte Roland eine Zigarettenschachtel in der Tasche. Seit über einem Jahr war es wegen des Nichtraucherschutzgesetzes verboten, im Polizeipräsidium zu rauchen. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, wenn er wie jetzt eine Zigarette dringend nötig hatte. Aber seine Hand stieß nur auf ein Päckchen Nikotinkaugummi.

Kapitel 3

Nicolaj, der neue Praktikant, der gerade eingestellt worden war, klickte mit einem Kugelschreiber, Britt machte Blasen mit ihrem Kaugummi und ließ sie mit einem provokanten Knall zerplatzen, gleichzeitig spielte ihr Transistorradio lauter als normal. Mads Dams Stuhl war leer, er war irgendwo draußen – wo, wusste niemand. Höchstwahrscheinlich saß er in einer Kneipe ohne Rauchverbot mitten in der Stadt. Die Redaktion war spürbar davon geprägt, dass der Redakteur Ivan Thygesen sich krankgemeldet hatte und alle »Ist die Katze aus dem Haus ...« spielten.

Obwohl Anne auch das befreiende Gefühl im Körper spürte, Thygesens stechende Schweinsäuglein in dem rotwangigen Gesicht auf der anderen Seite der Glasscheibe, die die Redaktion von ihrem kleinen, stickigen Büro abtrennte, nicht sehen zu müssen, drangen alle Geräusche in ihr Nervensystem und hinderten sie am Denken. Sie hatte mehrfach ihren Kontakt im Präsidium angerufen, um etwas über die Moorleiche zu erfahren. Aber niemand wollte ihr etwas mitteilen, daher musste sie schön auf die Pressekonferenz warten. Ihr Ärger wuchs stetig. Dieses Mal hatte sie die Auskünfte über den Fund im Moor nicht vor allen anderen Journalisten bekommen. Ihr Informant, der über eine illegale Ausrüstung zum Abhören des Polizeifunks verfügte, war im Frühjahr verhaftet und wegen Haschbesitz verurteilt worden. Glücklicherweise hatte weder er noch sie ihre Zusammenarbeit erwähnt. Mit Hasch hatte sie nichts mehr zu tun. Alle Verbindungen zu ihrer Nørrebro-Clique waren gekappt. In den zwei Jahren, die sie in Aarhus wohnte, hatte sie mit keinem von ihnen gesprochen. Interessierte sich auch überhaupt nicht mehr für ihre Aktionen, die meist pöbelhafter Vandalismus waren. Aber alles hatte sie noch nicht abgelegt; der Nørrebro-Dialekt schien deutlich durch, als sie knurrend um etwas Ruhe bat und sich erhob, um Kaffee zu holen. Britt ließ noch eine Kaugummiblase platzen und sah sie verärgert an.

»Na, hier haben wir vielleicht die weibliche Ausgabe von Ivan dem Schrecklichen«, meinte sie trocken. Der Praktikant lachte. Er spielte mit ein paar Bildern in Photoshop, in dem er nach eigener Aussage Experte war. Sie bemerkte flüchtig, dass er nicht wesentlich weiter damit gekommen war, die schlechten Fotos von einem der Spiele des AGF zu retuschieren, über das Mads Dam, der Sportverantwortliche der Redaktion, gerade schrieb – wenn er nicht gerade in der Kneipe saß. Aber wenn man verträumt aus dem Fenster schauen und mit dem Kugelschreiber klicken musste, war es ja auch nicht so leicht, das Ganze zu schaffen. Säße Kamilla, die Fotografin der Redaktion, an den Bildern, wären sie schon längst fertig retuschiert. Kamilla war seit Anfang des Jahres fest angestellt, nachdem sie viele Jahre als Freelancer gearbeitet hatte. Aber heute hatte sie frei. Das hatte bestimmt etwas damit zu tun, dass ihre Mutter im Krankenhaus lag. Als ob Kamilla nicht schon genug um die Ohren hätte.

»Bist du mit deiner Moorleichen-Sache ins Stocken geraten?«, erkundigte sich Britt mit ein bisschen mehr Anteilnahme, nachdem sie sich mit einem Plastikbecher lauwarmen Kaffees wieder an den Computer gesetzt hatte. Sie drehte die Musik ein bisschen leiser, und Anne genoss es, dass es ihr geglückt war, sich in der Redaktion ein wenig Respekt zu verschaffen. Sie hatten ihr hitziges Temperament oft genug erlebt. Oder vielleicht lag es auch an ihrer Vergangenheit, die mittlerweile alle kannten. Vielleicht war es mehr Angst als Respekt.

»So ’ne Moorleiche ist schon geil. Mein Onkel ist verrückt nach Vögeln und Mitglied des Dänischen Ornithologischen Vereins, wo er Beobachter ist. Verdammt, er zählt die – die Vögel! Bestimmt hat er oft am Ufer vom Moor mit einem Fernglas auf der Lauer gelegen, ohne zu wissen, dass eine alte, verrottete Leiche direkt unter ihm lag«, sagte Nicolaj und grinste, bevor Anne antworten konnte. Sie sah ihn wütend an. Eigentlich war er ein ganz süßer Kerl mit frechen, grünen Augen, rot gelocktem Haar und Sommersprossen auf einer Haut, die genauso hell wie ihre eigene war. Trotzdem störte sie irgendetwas an ihm. Vielleicht nur, dass sie die Betreuung des Praktikanten übernehmen musste, weil Nicolaj sich am meisten für Kriminalthemen interessierte und er deshalb in dem halben Jahr, das er in der Redaktion angestellt war, ihr zugeteilt worden war. Sie sollte ihn coachen, anleiten und ihm einen Überblick über seine Stärken und Schwächen geben. Wenn er vorhatte, sich mit Verbrechen zu beschäftigen, sollte ihm das Geile an einer verrottenden Leiche möglichst schnell ausgetrieben werden.

»Ja, es ist ein bisschen schwer weiterzukommen, wenn keiner irgendetwas verraten will.« Sie trank einen Schluck Kaffee und ignorierte Nicolaj. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es um einen Mord geht, der vor vielen Jahren begangen wurde. Wenn ich wüsste, um wie viele Jahre es geht, könnte ich nach alten Vermisstenanzeigen des betreffenden Jahres suchen, aber wie weit muss ich zurückgehen?«

Britt streckte sich, sodass ihre fülligen Brüste beinahe aus der allzu tief ausgeschnittenen Bluse quollen. Nicolaj erfasste das mit einem kurzen Blick, den er schnell und errötend abwandte. Sie lächelte hinter dem Bildschirm. Es war eine Neuerung, dass Thygesen endlich Mitarbeiter des anderen Geschlechts eingestellt hatte. Als sie in der Redaktion angefangen hatte, waren alle Journalisten Frauen gewesen und die reinsten babes – wie Britt –, aber als Bertha fertig ausgebildet war, bekam sie einen Job beim Extrablatt und war nach Kopenhagen gezogen. Tove war in den Mutterschaftsurlaub gegangen und nie mehr in die unsichere Zeitungsbranche zurückgekehrt. Ein neuer Auszubildender wurde nicht eingestellt. Für Tove wurde Mads Dam eingestellt, als jemand mit Gespür für Sport fehlte. Wie Thygesen auf die Idee kam, dass es von all den Qualifizierten auf Jobsuche ausgerechnet er sein sollte, hatte sie nie verstanden; es hatte bestimmt etwas damit zu tun, dass sie alte Freunde waren. Oder vielleicht war er schlicht und ergreifend der Einzige, der das Gehalt akzeptierte. Die Branche war unter Druck. Zeitungskriege hatten getobt, ohne dass es einen Sieger gegeben hatte, weitere Kriege würden zweifelsohne folgen. Zeitungskonzerne fusionierten und verdrängten die Kleinen, um den ganzen Markt für sich selbst zu haben – inklusive der lokalen Themen. Mehrfach hatte Ivan Thygesen sie darauf vorbereitet, dass die Redaktion vielleicht schließen müsste, aber das Tageblatt hielt noch stand, kräftig unterstützt von den Werbeeinnahmen vieler treuer Anzeigenkunden. Die Werbung überschattete fast den redaktionellen Stoff und wurde sogar manchmal in Zeiten ohne große Neuigkeiten als Titelseite benutzt.

»Vielleicht wurde die Moorleiche nicht vermisst und es wurde nie nach ihr gesucht«, schlug Britt vor, als sie sich fertig gestreckt und eine Zigarette aus der Packung geklopft hatte, obwohl sie sich in der Redaktion normalerweise an das Rauchverbot hielten. Sie gestikulierte, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, als Anne sie vorwurfsvoll ansah. »Verdammt, die Gewerbeaufsicht wird schon nicht herkommen«, verteidigte sie sich und zündete sich mit einem Einwegfeuerzeug von Opel die Zigarette an.

Anne schüttelte den Kopf über sie. »Kann schon sein, dass es eine Person ist, die nicht vermisst wurde«, meinte sie. »Ich bin mir sicher, irgendwo bei einem alten Fall liegt eine Suchmeldung, die man nur ausgraben muss.« Das Klingeln des Telefons auf Thygesens Schreibtisch unterbrach sie. Alle sahen einander an.

»Lass es einfach klingeln«, sagte Britt und nahm ihre Arbeit an der Tastatur wieder auf.

»Das können wir aber verflixt noch mal nicht einfach. Vielleicht geht es um die Pressekonferenz im Polizeipräsidium. Die wissen doch nicht, dass Thygesen krankgemeldet ist, oder?« Anne stand auf und schüttelte erneut missbilligend den Kopf.

In Thygesens Büro roch es immer noch nach Zigarren und alter Kneipe. Sie glaubte auch nicht, dass er sich die Zigarren verkniff, wenn er hier spät am Abend allein saß. Die Sonne schien durchs Fenster, das dringend mal geputzt werden müsste, und auf den verstaubten Rahmen. Das Reinigungspersonal war ebenfalls den Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen, sodass sie nun selbst dafür verantwortlich waren, die Redaktion sauber zu halten. Sie warf einen Krug mit abgekauten Bleistiften und Reklamekulis um, als sie sich über den Schreibtisch beugte und den Hörer abhob. Hätten sie die Umstellung nach dem Blitzschlag letzten Sommer gemacht, hätte sie das Gespräch mit einem einzigen Tastendruck auf ihrem eigenen Telefon annehmen können.

»Redakteur Thygesens Telefon«, meldete sie sich, während sie den Krug aufrichtete, die Bleistifte einsammelte und sie wieder hineinstellte. Durch die schmutzigen Fenster konnte man im diesigen Nebel gerade so am Horizont den Rathausturm ausmachen. Sie hörte ein leises Luftholen im Hörer.

»Hallo, mit wem spreche ich?«, fragte sie und war versucht, wieder aufzulegen.

»Mit wem spreche ich? Ich will nur mit dem Verantwortlichen vom Tageblatt reden!« Die Stimme klang so, als ob sich der Anrufer die Nase zuhielt oder Asthma hatte. Sie witterte die Stimmung von etwas Wichtigem.

»Der verantwortliche Redakteur ist leider krank, kann ich Ihnen weiterhelfen? Ich bin Journalistin. Anne Larsen.«

Langes Schweigen.

»Sie haben über den Mord an dem Mädchen geschrieben. Das sie im Container gefunden haben, stimmt’s?«

Jetzt war sie diejenige, die schwieg.

»Ja, das war ich.«

»Gut, Sie kann ich auch gut gebrauchen. Ich glaube, ich weiß etwas über die Leiche im Moor«, fuhr die Stimme fort. »Wenn meine Vermutung richtig ist, wird es noch weitere Morde geben.«

Kapitel 4

Roland hatte gerade nach einem Gespräch mit Gert Schmidt von der Kriminaltechnik aufgelegt, als der Kriminalbeamte Mikkel Jensen in sein Büro kam. »War das Gert?«, wollte er wissen, als ob er an der Tür gelauscht hätte.

Roland nickte. »Das war ein Tipp bezüglich der Mordwaffe.« Er nahm die Coca-Cola entgegen, die Mikkel ihm aus der Kantine mitgebracht hatte. Sie hatten untereinander eine Vereinbarung in der Abteilung, etwas für die anderen mitzubringen, wenn sie ›außer Haus‹ oder in die Kantine gingen. Er warf seinen Kaugummi in den Papierkorb und trank einen Schluck von der Cola, die, vermischt mit dem Geschmack von Nicotinell mit Lakritz, merkwürdig schmeckte.

Mikkel zog geräuschvoll einen Stuhl vor den Schreibtisch und setzte sich. Es war gegen drei Uhr nachmittags, und der Blutzucker war völlig im Keller. Roland sah ihn an, während er das erste rosafarbene schaumgummiähnliche Ding in den Mund steckte. Jeder hatte irgendwelche Laster. Seine waren italienischer Rotwein und Zigaretten. Mikkels’ waren diese Schaumdinger, obwohl sie überhaupt nicht zu seinem maskulinen Äußeren mit fast glatt rasiertem Schädel und einem jungen Gesicht mit kräftigen Kieferknochen passten. Extrastarkes Lakritz würde besser passen. Er überlegte, wann die Einnahme von Zucker an öffentlichen Stellen verboten werden würde, weil auch das ungesund war.

»Schwarzes Ebenholz«, sagte er.

»Wat?« Mikkel konnte seine echte Aarhuser Herkunft nicht verbergen.

»Die Mordwaffe. Gert Schmidt sagt, das sei Ebenholz. Afrikanisches Ebenholz«, erklärte er geduldig.

»Suchen wir nach einem Afrikaner?«, fragte Mikkel kauend mit einem naiven Gesichtsausdruck.

»Wer weiß? Das Ebenholz ist von sehr guter Qualität und ausgezeichnet verarbeitet. Vielleicht ein Souvenir. Aber das kann natürlich sonst woher kommen.«

»Afrikanische Souvenirs kann man auch hier kaufen. Im Netz zum Beispiel«, erklärte Mikkel.

Roland hatte an ein paar PC-Kursen teilgenommen, aber den Computer für etwas anderes als seine Arbeit zu verwenden, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Mit den jungen Leuten war das etwas anderes, die benutzten den Computer und das Internet eigentlich für alles. Selbst seine Enkelin, Marianna, die gerade sieben geworden war, konnte Tastatur und Maus besser bedienen als er.

»Ich glaube kaum, dass ein Mörder bewusst ins Netz geht und ein aus Ebenholz geschnitztes Souvenir kauft in der Absicht, es als Mordwaffe zu verwenden. Ich glaube, es ist wahrscheinlicher, dass es sich am Tatort befunden hat und am schnellsten und leichtesten greifbar war.«

»Tja, aber eigentlich bin ich wegen der Suchmeldungen gekommen«, meinte Mikkel, der nicht dasitzen und sich über unbedeutende Dinge wie Souvenirs unterhalten wollte.

»Wir haben in dem Zeitraum keine Vermissten, die nicht gefunden wurden – also in Aarhus. Aber ich habe im ganzen Land gesucht und es gab Resultate.« Mikkel sah ihn an, die hellen Augenbrauen erhoben, um ihm die Wichtigkeit des Ergebnisses zu demonstrieren.

»Ja?« Roland schüttete ein neues Stück Kaugummi aus der Schachtel. »1983 wurde eine Frau aus Silkeborg als vermisst gemeldet. Sie wurde nie gefunden. Das könnte sie sein.«

»Passt das Alter?«

»Jep. Zweiunddreißig Jahre alt und Krankenpflegerin.«

Roland nickte abwesend. Eine Frau aus Silkeborg. Aber warum sollte sie in einem Moor in Mundelstrup landen? Er rief im Rechtsmedizinischen Institut an, um zu hören, ob die Ergebnisse des Zahnmediziners vorlagen, aber das war noch nicht der Fall; genervt legte er auf.

Mikkel erhob sich und warf die leere Süßigkeitentüte in Rolands Papierkorb. »Wann ist die Pressekonferenz? Die Journalisten belagern uns.«

Roland runzelte die Stirn. Die Journalisten. Die Aasgeier, wie er sie nannte. Wie schwarze Schatten hingen sie über ihnen und lauerten auf Neuigkeiten, die die Verkaufszahlen ihrer bedrängten Zeitungen steigen ließen. Der Leichenfund im Moor war ganz sicher ein Ereignis, auf das sie sehnlichst gewartet hatten, und der Kampf darum, wer als Erstes die makabre Neuigkeit brachte, war eröffnet. Unwillkürlich dachte er an die Journalistin vom Tageblatt, mit der er vor ein paar Jahren während der Ermittlungen im Gitte-Mord gekämpft hatte. Widerwillig musste er einräumen, dass sie ein gutes Team gewesen waren, und dass sie ihm bei der Aufklärung ein ganzes Stück weitergeholfen hatte, gemeinsam mit der blonden Fotografin, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte. Die Journalistin hieß Anne Larsen, das wusste er noch und fragte sich kurz, ob sie wohl noch beim Tageblatt arbeitete. Falls sie das tat, würde es wohl nicht lange dauern, bis er sie an den Fersen kleben hatte.

»Wir müssen bezüglich der Identität sicher sein, bevor wir an die Presse gehen.«

»Sonst fangen die doch selbst an, sich was zusammenzureimen, und das kann, wie wir wissen, noch viel schlimmer sein.«

Roland nickte und sah zur Tür, als sie aufgestoßen wurde und den Stuhl rammte, auf dem Mikkel saß. Der Platz in seinem Büro war nicht gerade überwältigend. Kurt Olsen, der Vizepolizeidirektor, stand in der Tür. Frisch rasiert und in einem sauberen Hemd. Er sah sehr viel besser aus als sonst. Es gab Gerüchte, er habe wieder mit seiner Frau zusammengefunden, aber was den Mann am meisten verändert hatte – die Rasur oder die Frau –, war nicht leicht zu beurteilen.

»Wir halten spätestens am Nachmittag eine Pressekonferenz ab, das werden wir verdammt noch mal müssen«, informierte er sie kurz, so als ob auch er an der Tür gelauscht hätte.

»Sollten wir nicht vorher die Bestätigung bekommen, dass es sich wirklich um die verschwundene Frau aus Silkeborg handelt?«, schlug Roland vor. »Wir sollten bald den Bescheid aus der Rechtsmedizin und der Kriminaltechnik bekommen.«

Eine junge Frau entschuldigte sich und quetschte sich an Kurt Olsen vorbei. Das Büro wirkte langsam klaustrophobisch.

Isabella Munch war eines der neu eingestellten Mädchen bei der Polizei. Sie war gerade zur Kriminalpolizei gewechselt. Erst jetzt war Roland klar geworden, wie sehr Beamte des anderen Geschlechts gefehlt hatten. Weibliche Intuition war dermaßen Mangelware gewesen. Oft bediente er sich Irenes, aber es gab auch Grenzen dafür, wie weit er seine Frau mit Fällen belasten konnte. In manchen Fällen war es auch nicht besonders zweckmäßig und er brach seine Schweigepflicht, aber Irene war aufgrund ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin und als frühere Polizeisekretärin besser dafür geeignet als die meisten anderen Polizistengattinnen. Mit Isabella war die weibliche Intuition immer gleich vor Ort greifbar und er konnte sie nutzen, wann er wollte. Noch dazu kamen die anderen kleinen Vernügen, wie den maskulinen Mikkel erröten zu sehen, als die blonde Beamtin mit dem Pferdeschwanz ihn lächelnd ansah, weil sie ihm ziemlich nah kommen musste, um Roland ein Stück Papier zu reichen.

»Ich habe mir den Fall von damals mal näher angeschaut. Die Polizei von Mittel- und Westjütland ist sehr kooperationsbereit. Die Suche wurde 1984 eingestellt, nachdem man vier Monate lang keine heiße Spur gefunden hatte. Sie hat einen Sohn, Sebastian Juhl. Er wohnt in der Klosterstraße und arbeitet als Mechaniker in einer Autowerkstatt in Hasselager. Ich habe die Adresse rausgesucht, die dort angegeben war«, fuhr sie fort und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.

Er bat Kurt Olsen, noch ein bisschen mit der Pressekonferenz zu warten, nahm seinen Mantel, der über der Stuhllehne hing, und winkte Mikkel zu sich.

»Wir fahren in die Klosterstraße«, teilte er kurz angebunden mit. Mikkel folgte ihm widerwillig. »Aber der Sohn kann doch nicht beantworten, ob das seine Mutter ist, die im Moor gefunden wurde. Und er kann sie unmöglich identifizieren«, murmelte er auf dem Weg zum Aufzug.

»Das mit der Identifizierung zieht sich anscheinend hin, also müssen wir die Sache wohl selbst in die Hand nehmen. Vielleicht kann der Sohn uns was erzählen.«

Kapitel 5

Sie wurde auf dem Flur angehalten.

»Annemette Knudsen?«

»Ja.«

»Sie ist gerade im Bad, aber es dauert nicht lange. Sie können eine Tasse Kaffee haben, während Sie warten.« Die Frau nickte in Richtung einer Menge verschiedenfarbiger Thermoskannen und Becher, die auf einem Couchtisch standen.

Annemette nickte, setzte sich auf ein hellgraues Sofa mit braunen Kaffeeflecken und wartete, während sie der Frau nachsah, die schnell in Richtung Flur verschwand. Sie hatte sie zuvor noch nicht gesehen, also war sie wohl neu. Aber sie kannte sich selbst mit den Thermoskannen aus, denn sie kam so oft wie möglich hierher. Sie hätte vorher anrufen sollen, wie sonst auch.

Die Sonne schien durch ein hohes Fenster herein und warf blendendes Licht über den polierten Boden und die weißen Wände. Sie betrachtete die abstrakten Malereien. Nicht, weil sie sie nicht schon mal gesehen hätte, sondern weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Rauchen durfte man hier nicht. Die Zeitung auf dem Tisch hatte sie morgens schon gelesen und Kaffee getrunken hatte sie den ganzen Vormittag im Büro. Nora hatte sich wieder gemeldet, sodass sie mit den ganzen Lohnabrechnungen allein war. Trotzdem war sie dankbar. Dankbar dafür, dass sie den Job trotz ihres Alters bekommen hatte. Als das Geld zur Neige ging, war es schwer gewesen, sich das Ganze leisten zu können. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Aber natürlich musste das eines Tages passieren, so wie sie gelebt hatte. Sie hatte nie etwas gespart.

Die Frau ging erneut vorbei, einen Stapel Handtücher im Arm, und teilte mit, dass sie fertig sei. Annemette stand auf. Warum war sie nicht einfach reingegangen? Warum war sie nicht aus dem Bad zu ihr gekommen? Das hätte sie ohne Weiteres machen können, selbst wenn die Neue sie darum gebeten hatte zu warten. Sie dachte über ihre ungewohnte Passivität nach, während sie den langen Flur mit den geschlossenen Türen entlangging. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Je näher sie kam, desto stärker klopfte ihr Herz, sodass sie meinte, man könnte es hören, als sie die Tür erreichte und die junge Frau betrachtete, ohne hineinzugehen. Sie hatte ihren Gast noch nicht bemerkt. Ihr langes Haar war feucht und ganz schwarz. Die Augen waren ebenfalls schwarz. Sie sahen zum Fenster und fixierten ausdrucklos etwas draußen am Horizont. Das Sonnenlicht ließ die dunkle Haut blass wirken. Ihr Vater war Spanier. Ein Versehen während eines Sommerurlaubs vor zwanzig Jahren.

»Hallo Kit.« Vorsichtig trat sie ein und setzte sich auf die gegenüberliegende Seite des Tisches. »Alles Gute zum Geburtstag.«

»Hi. Ich wusste nicht, ob du kommst.«

»Natürlich komme ich an deinem Geburtstag! Den müssen wir doch feiern.«

»Ich wurde gefeiert – mit Brötchen und Kakao. Deswegen musste ich ins Bad, ich hab Kakao verschüttet.« Kit versuchte zu lächeln, aber in ihren Augen standen Tränen.

Annemette strich ihr über die Wange. »Ach komm. Es war doch nur Kakao.«

»Ich hab mich verbrannt!«

Sie zog schnell die Hand zurück und steckte sie stattdessen in eine Tragetasche von Salling. »Ich hab ein Geschenk für dich.« Sie legte es auf den Tisch und wartete gespannt, während Kit es mit einem kleinen, schüchternen Lächeln auspackte.

»Was hast du dir jetzt ausgedacht? Das war doch nicht nötig. Gibst du mir einen Tipp?«

Das Auspacken dauerte ziemlich lange. Annemette wartete ruhig, aber ihr Fuß unterm Tisch wippte ungeduldig. Verdammt, wie gern sie jetzt eine rauchen würde. Bevor es ganz ausgepackt war, hielt sie den Pulli vor Kit. Das Lächeln erstarb langsam, auch in ihren braunen Augen.

»Magst du ihn? Kannst du erkennen, was die Pailletten darstellen?«

»Ja. Schmetterlinge. Er ist toll. Wirklich. Aber wann soll ich den anziehen? Wann brauche ich denn mal etwa so Schickes?«

»So ein Quatsch. Das brauchst du doch oft und so schick ist er nun auch wieder nicht, dass du ihn nicht im Alltag tragen könntest.«

Kit berührte vorsichtig die Pailletten. Es war ein Ausdruck in ihre Augen getreten, den Annemette noch nie leiden konnte. Es war einer dieser Tage. Einer dieser Tage, mit denen sie so schwer umgehen konnte.

»Warum hast du mich damals nicht einfach sterben lassen?«

»Nein, hör jetzt auf!«

»Ich weiß, dass du die Wahl hattest. Warum hast du nicht einfach gesagt, sie sollten ausschalten?«

Annemette sammelte geräuschvoll das Geschenkpapier ein und stopfte es in die leere Plastiktüte. »Wer erzählt denn so einen Unsinn? Woher hast du nur solche Gedanken?«

»Oma hat es mir erzählt. Sie sagte, du solltest die Entscheidung treffen. Das war damals, als sie mal Lust hatte, mich zu besuchen.«

»Oma ist krank. Es geht ihr sehr schlecht, und nur deswegen kommt sie nicht. Das weißt du genau.«

»Warum holst du sie dann nicht ab und bringst sie mit?«

Annemette ließ die Frage im Raum stehen.

»Ich hab mich doch damals richtig entschieden, oder? Sonst würdest du heute nicht Geburtstag feiern.«

»Und das wäre besser gewesen. Alles wäre besser gewesen als das hier!« »So was darfst du nicht sagen, Schätzchen.«

Der Puls stieg und das Zwerchfell krampfte sich zusammen. Hätte sie das Frühstück besser nicht ausfallen lassen sollen?

»Gibt es zur Feier des Tages nicht ein bisschen Kaffee und Kuchen?«

Sie versuchte die Gereiztheit in ihrer Stimme zu verbergen.

»Sie geben heute Abend eine Feier für mich. Kommst du?« Kit sah sie bittend an.

»Du weißt genau, ich kann nicht.« Sie nahm ihre Hände, die schlaff auf dem Tisch lagen. »Ich muss doch arbeiten.«

Kit riss ihre Hand an sich und sah sie wütend an, bis sie plötzlich die andere Hand losließ. »Du hättest mich sterben lassen sollen, dann hättest du nicht so viel arbeiten müssen. Dann hätte der Bürojob ausgereicht. Dann hättest du kommen können.«

»Ja, aber dann wärst du nicht hier gewesen und es hätte keine Feier gegeben.« Sie lächelte und versuchte neckend zu klingen. Manchmal reichte das. »Aber dann kannst du heute Abend deinen schicken Pullover anziehen. Das wird bestimmt schön mit all deinen Freunden.« »Freunde! Nennst du das Freunde? Wo sind meine Freunde jetzt? Verrat mir das mal!«

»Schätzchen, du verstehst doch bestimmt, dass sie ...« Sie stockte, als ihr aufging, dass der Satz katastrophal missverstanden werden würde. Sie stand auf und begann, den Mantel anzuziehen. Kits Blick folgte jeder ihrer Bewegungen. Es tat im Innersten weh und sie freute sich beschämt darauf, wieder draußen im Sonnenschein zu stehen und die reine Luft einzuatmen. Draußen in einer anderen Welt. Ihrer eigenen.

»Rufst du morgen an und fragst, wie die Feier war?« Es kam eine Bewegung über Kits Lippen, die zur Feier des Tages einen Hauch schimmernden Lipgloss verpasst bekommen hatten.

Annemette deutete das als ein Lächeln und atmete erleichtert auf. »Natürlich. Hab einen schönen Abend und freu dich darüber, zwanzig zu werden. Das ist das beste Alter im Leben.« Vielleicht war das unangebracht – geradezu böse, aber jetzt war es gesagt.

»Ja, das Alter, in dem man sich amüsiert und sein Leben lebt.« Dieses Mal lächelte sie, aber es war ein ironisches und bitteres Lächeln. »Darf ich dir winken?«

»Natürlich darfst du das. Ich muss dann mal.«

Sie ging um Kit herum und schob den Rollstuhl ans Fenster.

Als sie vom Parkplatz aus zum Fenster schaute und zurückwinkte, dachte sie, dass Kit der größte Fehler war, den sie je begangen hatte.

Kapitel 6

In der Klosterstraße öffnete niemand, daher gingen sie davon aus, dass Sebastian Juhl noch bei der Arbeit war.

Die Autowerkstatt lag versteckt in einem Hinterhof. Wäre das Schild Ole Hanssons Autowerkstatt an der Tür nicht so markant, hätten sie sie nie gefunden. Und markant war das Schild mit kräftigen roten, gelben und blauen Farben – nicht weiter schön, was Mikkel Jensen zu einer Grimasse veranlasste, als er es sah. »Es ist bestimmt hier«, kommentierte er trocken, fuhr über den Bürgersteig hinein und parkte.

Die Werkstatt war ein niedriges Gebäude, das mehr an einen Hühnerstall als an eine Werkstatt erinnerte. Wenn man von den verrotteten Autos absah, die dahinter geparkt waren, hätte es ohne Weiteres Hühner beherbergen können. Aber der Mann, der sofort heraus ins Sonnenlicht kam, war ohne Zweifel Mechaniker und kein Geflügelzüchter. Er war saudreckig und trocknete die Ölfinger an einem Stück farbiger Putzwolle ab, während er sie mit schmalen Augen in einem fetten, unrasierten Gesicht abschätzig musterte. Seine Haare waren nach vorne gekämmt, um eine beginnende Glatze zu verstecken.

»Kriminalpolizei«, erklärte Roland und zeigte ihm seine Dienstmarke. »Wir würden gerne mit Sebastian Juhl sprechen.«

»Ole Hansson«, stellte sich der Mechaniker vor, wodurch ihnen schnell klar wurde, dass sie mit dem Eigentümer persönlich sprachen.

»Sebastian hat heute frei«, ergänzte er ohne ein besonderes Interesse, worüber die Polizei mit einem seiner Angestellten sprechen wollte.

»Weiß jemand, wo er ist? Bei ihm zu Hause war keiner«, fragte Roland ihn aus.

»Woher soll ich das wissen? Was meine Leute in ihrer Freizeit machen, geht mich nichts an.« Ole Hansson fuhr fort, seine Finger an der Putzwolle zu trocknen und Kaugummi zu kauen. Sie hielten sich wohl auch an das Rauchverbot, war Rolands erster Gedanke, bis er die Glut einer Zigarette in der dunklen Werkstatt erblickte. Rauchen war im Präsidium verboten, aber anscheinend nicht hier im Benzin- und Öldunst.

»Dürfen wir uns ein wenig umsehen?«, fragte er, und war höflicher als Mikkel Jensen, der schon auf dem Weg in die Werkstatt war.

»Worum geht’s?«, wollte Hansson schließlich wissen.

»Wie lange arbeitet Sebastian hier schon?«

»Es müssten jetzt ungefähr sechs Jahre sein, glaube ich. Er hat hier seine Lehre gemacht. Sobald er fertig ausgebildet war, hat er eine Stelle in der Werkstatt bekommen. Sebastian ist ein tüchtiger Mechaniker.« Ole Hansson sah ihn skeptisch an, während er ihm in die Werkstatt folgte, die nur von den Arbeitslampen erhellt wurde. Es gab keine Fenster und es roch nach Benzin. Alles wirkte schmutzig. In der Ecke waren Autoreifen aufgestapelt und überall lagen gebrauchte Motoren herum. An einer Wand hing ein ölfleckiges Bild eines Pin-up-Girls. In der Werkstatt waren zwei Mechaniker in ihre Arbeit vertieft. Der eine hantierte in der Schmiergrube unter einem verhältnismäßig neuen Fiat, der andere kümmerte sich um den Unterboden eines verrosteten weißen Lieferwagens, der auf einer Hebebühne aufgebockt war. Er war derjenige, der eine angezündete Zigarette zwischen den fülligen Lippen unter einem schwarzen Schnurrbart hängen hatte. Er schmiss sie schnell auf den Boden und trat die Glut aus, als er die beiden Fremden in schicker Kleidung erspähte. Sie könnten ja von der Gewerbeaufsicht sein. Er nahm seine Arbeit wieder auf und schaute sie nicht mehr an.

»Weiß einer von euch, ob Sebastian heute was vorhat?«, rief Ole Hansson. Aus dem Autograben wurde etwas Verneinendes gemurmelt und der an der Hebebühne zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Können wir uns kurz unterhalten?« Roland machte eine Kopfbewegung in Richtung eines abgeschlossenen Raums mit dreckigen Glasscheiben zur Werkstatt hin, in dem er das Büro vermutete. Undeutlich konnte er darin eine Kaffeemaschine und einen neueren Flachbildschirm ausmachen.

Ole Hansson nickte und öffnete die Tür zum Büro. Auch hier roch es nach Benzin. Roland spürte einen beginnenden Kopfschmerz. Mikkel blieb in der Werkstatt und beobachtete die Arbeit am Unterboden. Er bastelte in seiner Freizeit selbst an alten Autos, deswegen würden sie wohl hauptsächlich darüber reden.

»Wissen Sie etwas über Sebastians Familie?«, fragte Roland und lehnte dankend den ihm angebotenen Kaffee ab. Er konnte riechen, dass er lange in der Kaffeemaschine gestanden hatte. Ole Hansson schenkte sich etwas davon in einen großen, ölverschmierten Becher ein und trank einen Schluck.

»Nicht viel. Er redet nicht darüber. Aber was sollen die ganzen Fragen? Hat Sebastian was ausgefressen?«

»Nicht soweit wir wissen. Es geht um seine Mutter.«

Ole Hansson schüttelte mit einem besserwisserischen Lächeln den Kopf. »Soviel ich weiß, ist seine Mutter verschwunden, als er noch ziemlich klein war. Armer Junge. Sicher, dass ihr nach dem Richtigen sucht?«

Roland nickte langsam. Er war sich nun noch sicherer als vorher. »Was hat er sonst noch über seine Eltern erzählt? Wissen Sie beispielsweise, was seine Mutter gemacht hat?«

»Nee, es hat ihn keiner nach seiner Mutter gefragt. Das ist wie gesagt nichts, worüber er redet, und was soll das auch helfen. Sie ist nun mal verschwunden – oder nicht?« Nun stand dem Mann die Neugier in sein fettes Gesicht geschrieben. Roland wollte gerade etwas erwidern, als das Handy in seiner Tasche vibrierte.

Gert Schmidt sprach wie gewöhnlich so laut, dass er aus Sorge darüber, dass Ole Hansson das Gespräch mithören könnte, in eine Ecke des Büros ging. »Die Tote ist identifiziert. Es ist die Krankenpflegerin aus Silkeborg, die 1983 verschwunden ist. Der Zahnarzt hat es bestätigt.«

Er bedankte sich und legte schnell auf. »Ich glaube, wir müssen sehen, dass wir weiterkommen. Danke fürs Gespräch.« Er verließ das Büro und rief Mikkel zu sich. Die Sonne blendete, als sie hinaus auf den Hof gingen.

»Die Frau ist identifiziert. Sie ist es, also sollten wir jetzt den Sohn finden. Einerseits, um ihm die grauenhafte Nachricht zu überbringen, andererseits müssen wir Gewissheit haben, wie viel er über das Verschwinden seiner Mutter weiß.«

Mikkel nickte und folgte ihm widerwillig zum Auto. Die Arbeit in der Garage interessierte ihn anscheinend mehr.

Als sie erneut bei der Wohnung in der Klosterstraße klingelten, war immer noch keiner da, der aufmachte.

»Verflixt! Kurt besteht darauf, dass heute Nachmittag die Pressekonferenz stattfinden soll. Wir müssen vorher mit dem Sohn reden.« Er klopfte fest gegen die Tür. Es könnte ja sein, dass die Klingel in den alten Wohnungen nicht funktionierte. Ein junges Mädchen, das auf dem Weg die Treppe hoch war, schaute zu ihnen herunter und erkundigte sich, ob sie Sebastian besuchen wollten. Sie erzählte, er sei auf dem Weg, sie habe ihn nämlich gerade auf dem Bürgersteig gegrüßt, wo er einer alten Bewohnerin des Hauses aus einem Taxi geholfen habe. Roland murmelte einen unverständlichen Dank und sah ungeduldig auf die Uhr. Sie warteten im Treppenhaus, das nach altem Linoleum und Schmierseife roch. Dann hörten sie Stimmen aus dem Erdgeschoss und schwere, schleifende Schritte. Kurz darauf tauchte eine alte Dame zusammen mit einem jungen Mann auf, der sie fest untergehakt hatte und sie bei ihrem unsicheren Gang nach oben stützte. Er half der Alten die Treppenstufen zur nächsten Etage hoch und ließ ihren Arm erst los, als die krummen Finger festen Halt am Geländer gefunden hatten. Sie dankte ihrem Nachbarn und setzte den schleifenden Gang ins nächste Stockwerk fort, wo das junge Mädchen darauf wartete, sie in Empfang zu nehmen. Roland und Mikkel sahen sich vielsagend an. Von Jugendlichen kannten sie häufig mangelnden Respekt, Überfälle bei den Älteren zu Hause, Fälle von Gewalt gegen Senioren bis hin zu bestialischem Raubmord.

»Wollten Sie mit mir sprechen?«, fragte Sebastian mit einem unbekümmerten Lächeln und steckte den Schlüssel ins Schloss zu seiner Wohnung. Rolands Darm krampfte sich bei dem Gedanken zusammen, dass er dem jungen Mann den Tag ruinieren würde. Sie folgten ihm in eine gemütliche Wohnung, die dem Türschild zufolge eine Junggesellenbude, aber trotzdem schön und freundlich war. Das Bett im Schlafzimmer war gemacht und farbige Kissen zierten die Bettdecke. Der Tisch in der kleinen, engen Küche war sauber und abgewischt. Es stand kein Geschirr von mehreren Tagen herum, nur eine einzelne benutzte Kaffeetasse. Auch das Wohnzimmer war aufgeräumt, ohne dass es unbewohnt aussah. Eine Schale mit frischem Obst stand in der Mitte des runden Esstisches und signalisierte gesunde Ernährung.

»Geht es um das Auto, das ich zu verkaufen habe? Ich dachte, Sie kämen erst morgen«, sagte Sebastian fröhlich und hängte die Schlüssel in einen kleinen Schlüsselschrank aus gebürstetem Stahl.

»Leider nicht.« Roland zeigte seine Erkennungsmarke und sah, dass in Sebastians einem Augenlid fast unmerklich ein Nerv zu zittern begann. Er setzte sich und lud sie mit einer Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen. Er war Mitte dreißig. Die sonnengebräunte Haut ließ das blonde Haar noch heller wirken und die blauen Augen tiefer. Sie erinnerten ihn an die Augen der Schlittenhunde, die er in einer Doku über Finnland gesehen hatte. Sibirische Huskys hießen die. Auf dem Kinn und den Wangen hatte er helle Bartstoppeln, ohne dass es ungepflegt aussah.

Sebastian nahm einen roten Apfel aus der Obstschale und warf ihn mit kleinen, schnellen Bewegungen von einer Hand in die andere, während er sie prüfend ansah. »Es ist schon lange her, dass ich Besuch von der Polizei hatte«, meinte er.

Roland sah das als guten Aufhänger.

»Es geht um Ihre Mutter.«

Sebastian hörte abrupt mit dem Apfelwerfen auf und sah einen Moment ehrlich überrascht aus. »Meine Mutter?« Die Worte kamen wachsam und fast unverständlich, als ob er sie lange nicht ausgesprochen hätte.

Der Kerl tat Roland leid. Der unglückliche Ausdruck, der plötzlich in seine Augen trat, konnte nicht aufgesetzt sein.

»Ich weiß, dass Sie ziemlich klein waren, als Ihre Mutter verschwand. Aber können Sie sich an irgendwas von diesem Tag erinnern?« Seine Frage brachte Sebastian dazu, ihn direkt anzusehen.

»Ich war erst acht. Ich war in der Schule.«

Der Augenkontakt war so intensiv, dass Roland sich unbehaglich fühlte. Es war, als ob Sebastian in seine Seele blicken könnte, und das mochte er nicht. Selten wandte er zuerst den Blick ab.

»Sie wissen also überhaupt nicht, was Ihre Mutter an diesem Tag vorhatte? Sie wohnten in Silkeborg – wollte sie nach Aarhus?«

Sebastian sah Mikkel nach, der still umherging und sich in der Wohnung umsah. Er hatte kein Wort gesagt und Roland hatte nichts dagegen. Mit seiner direkten Art fand er nicht immer die richtigen Worte. Aber nun kam er mit einem Foto in der Hand zu ihnen ins Wohnzimmer.

»Ist das Ihre Mutter?«, fragte er. In seiner Stimme lag Mitgefühl, das Roland dazu zwang, ihn verwundert anzusehen. Sebastian nickte und sah schnell weg. Die Frau auf dem Bild war ungefähr Ende zwanzig. Nur ein paar Jahre jünger als zum Zeitpunkt ihrer Ermordung. Es gab keinen Zweifel, wem der Sohn ähnlichsah. Die besonderen Augen hatte er von ihr.

»Ich wurde damals vernommen, aber wie ich schon sagte, ich war in der Schule und sie hat mir nie erzählt, was sie vorhatte. Sie war oft auf Krankenbesuch – was weiß ich.«

Das Wort Mutter war wieder aus dem Wortschatz des Sohnes verschwunden, jetzt umschrieb er sie als sie auf eine beinahe feindliche Art. Aber es war nur verständlich, dass das Verschwinden der Mutter für einen Achtjährigen einem Versagen gleichzusetzen war. Er kannte ihr Schicksal ja noch nicht.

Sebastian betrachtete den Apfel in seiner Hand, als ob er eine Kristallkugel wäre, die ihm erzählen könnte, warum seine Mutter verschwunden war.

»Sie haben gesagt, sie sei bestimmt mit einem Mann durchgebrannt und ich wäre ihr egal.« Seine Stimme war heiser.

»Wer hat das gesagt, Sebastian?«

»Alle. Auch die Polizei, als etwas Zeit vergangen war und sie sie nicht gefunden hatten.« Der intensive Blick traf ihn erneut, jetzt lag darin auch ein Vorwurf.

»Glauben Sie das auch?«, fragte Mikkel, der sich auf die Tischkante gesetzt hatte. Sebastian schüttelte den Kopf und sah nicht, dass Mikkel seinem Chef vielsagend zunickte. Es war sicher an der Zeit zu erklären, warum sie gekommen waren.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre Mutter gefunden haben. Sie ist tot.«

Von Sebastian kam ein halberstickter Schluchzer. Er ließ den Apfel fallen und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Der Apfel kullerte unter den Tisch.

Kapitel 7

Das Schlafzimmer sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Das Fenster war offen und die weißen Spitzengardinen wellten sich leicht in der Brise. Undeutlich konnte sie die Spitze des Doms wie einen verschleierten Schatten zwischen den dünnen Gardinen sehen. Eine Fliege saß auf dem Fensterrahmen und putzte ihre Flügel. In der Kirche hatte auf der Rückenlehne der Bank vor ihr auch eine Fliege gesessen, als der Pfarrer schöne Worte über ihre Oma sprach, die mit all den Blumen in dem weißen Sarg lag, als ob sie sich nicht trauen würde, den Kopf zu drehen und sie anzusehen. Es war vorher schon schwer genug gewesen, die Tränen zurückzuhalten.

Die Tür zu dem angrenzenden Wohnzimmer war geschlossen, aber die leisen Stimmen drangen trotzdem hindurch, manchmal ein lautes Lachen, das ihr unpassend und anstößig erschien. Sie knüllte das Taschentuch in ihren Händen fest zusammen. Es war unbenutzt. Als ob keine Tränen mehr übrig wären. Sie hatte jede Nacht geweint, seit sie die Todesnachricht erhalten hatte. Unbemerkt und lautlos, damit Peter es nicht hörte. Er würde nur glauben, dass sie sich immer noch nicht eingewöhnt hätte.

Sie ließ den Blick über die wohlbekannten Dinge im Schlafzimmer schweifen. Jedes Einzelne rief Erinnerungen hervor. In der Wohnung war die Zeit stehengeblieben. Nichts hatte sich verändert, seit sie als Kind alle ihre Ferien hier verbracht hatte. Die Hand glitt wie abwesend über die Bettdecke, die ihre Oma aus weißer Baumwolle gehäkelt hatte. Sie hatte lange an dieser Decke gearbeitet. Und im Bett nebenan – Opas Bett – hatte sie geborgen neben ihrer Oma geschlafen nach langen, spannenden Märchen, die sie in eine Traumwelt mit guten Feen und Prinzessinnen versetzten. Das Foto ihres Großvaters stand auf dem Nachttisch in einem Silberrahmen. Er sah sie milde an, aber sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Er starb, als sie erst zwei war. Aber Oma hatte ihr so viel über ihn erzählt, dass er in ihren Gedanken leibhaftig vor ihr stand. Ihre Brille lag ebenfalls auf dem Nachttisch, als ob sie irgendwann zurückkommen und sie holen würde. Aber Tatsache war, sie würde sie nie wieder brauchen und nie mehr zurückkommen. Ihr Gesicht lächelte hinter dem Glas in einem Rahmen an der Wand beim Fenster. Die alten, klugen Augen sahen sie beinahe entschuldigend an, als ob es ihr leidtäte, sie verlassen zu haben. Sie spürte wieder einen Kloß im Hals. Natürlich hatte Peter Recht damit, dass Elina eine alte Dame geworden war, die in ihrem langen Leben viel erlebt hatte. Aber sie vermisste sie deswegen nicht weniger. Selbst wenn sie in letzter Zeit nicht so oft nach ihr gesehen hatte, nachdem sie mit Peter nach Italien gezogen war, hatte ihr das Wissen, dass sie zu Hause in Dänemark war und sie sie anrufen und mit ihr über alles reden konnte, eine Sicherheit – ein Netz – gegeben, das nun verschwunden war. Als ob ein Band gekappt worden wäre. Ein Band, das etwas bedeutete. Ein Band, das sie auch mit ihrer Mutter verband.

Ihr Blick blieb an einem anderen kleinen Bild auf dem Nachttisch hängen. Sie nahm es und ließ einen Finger über das Gesicht hinter dem Glas gleiten. Außer durch dieses Foto und wenige andere, die es gab, erinnerte sie sich nicht an sie. Jetzt, da sie erwachsen war, konnte sie die Ähnlichkeit mit sich selbst sehen, über die alle anderen sprachen. Das dunkle Haar wellte sich um ein schmales Gesicht und die braunen Augen lächelten. Das Foto war gemacht worden, bevor ihre Mutter krank geworden war. Als der Krebs von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, war es schnell gegangen. Sie war im Dezember gestorben. In diesem Jahr hatten sie Weihnachten nicht zusammen erlebt. Während sie das Foto betrachtete, schien es ihr, als ob sie sich erinnern könnte. Sich erinnern, wie etwas Wichtiges aus ihrem Leben verschwunden war und an die Einsamkeit, die sie zum ersten Mal erlebt hatte. Dass nichts mehr dasselbe war. Sie stellte das Foto gerade zurück auf den Nachttisch, als sie hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer aufging.

»Ach hier steckst du, Sabrina! Sie sind alle gegangen. Jetzt konntest du dich nicht verabschieden.« Ihr Vater setzte sich schwer auf das Bett neben sie, sodass sie gegen ihn fiel, als die Matratze unter seinem Gewicht nachgab. Er legte einen Arm um ihre Schulter und rieb ungeschickt ihren Arm. Sein Blick verweilte kurz auf dem Foto seiner Schwiegermutter an der Wand, aber es lag keine Liebe darin. Sabrina betrachtete sein gequältes Gesicht, die Augen waren nun auf den Boden gerichtet. Es sah aus, als ob er jede einzelne Schlinge in dem bunten, alten Flickenteppich zählte.

»Was ist zwischen dir und Oma passiert?«, fragte sie vorsichtig. »Warum habt ihr euch gehasst? Hat das etwas mit Mama zu tun?«