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Drei Jungen werden erhängt in der stillgelegten Tulip Fabrik bei Brabrand aufgefunden. Die erste Vermutung ist, dass es sich dabei um weitere Selbstmorde der Welle handelt, die Aarhus schon seit längerer Zeit heimsucht, jedoch liegt etwas Merkwürdiges über diesen Suiziden. Einer der Jungen wurde von einem Projektil getroffen, was naheliegenderweise mit einem Schuss in Verbindung gebracht wird, den ein Beamter der Polizei von Ostjütland auf Diebe abfeuerte, die aus einem Sportladen in der Innenstadt flohen – ein Fall, in dem die DUP, die Dänische Unabhängige Polizeibeschwerdestelle ermittelt. Zur gleichen Zeit wird ein Häftling aus der Strafanstalt Ostjütlands entlassen. Dieser strebt nun nach Rache und sein Rausch führt ihn in eine Unterwelt, die alles überschattet, was er je erlebt hat. Wer ist nun der Richter und wer der Henker?"Nach und nach nimmt der Krimi Gestalt an und formt sich zu einer Geschichte aus moralischen und ethischen Dilemmas. Kann man Selbstjustiz in manchen Fällen verantworten? Das Buch wird von interessanten Themen, Figuren und Milieus geleitet – ein ernstzunehmender und leicht lesbarer Krimi ..."DBC – das Dänische Bibliothekszentrum"In Richter und Henker – dem achten Band mit dem italienischstämmigen Kriminalkommissar Roland Benito – gelingt es Inger Gammelgaard Madsen erneut, Fiktion aus der Wirklichkeit zu schaffen (Jugendkriminalität, Polizeigewalt, Selbstjustiz). Der außergewöhnliche Drive der Erzählung könnte sie zur nächsten großen, internationalen Krimiautorin aus Dänemark machen."Media I Morron I Dag, Schweden"Toller, actiongeladener Krimi ... Seien Sie jedoch gewarnt: Sie werden auch die vorhergehenden Bände lesen wollen."Føtex Mood Magazin"Tip top gediegene Unterhaltung von der ersten bis zu letzten Seite."Krimi-Cirklen-
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Seitenzahl: 552
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Inger Gammelgaard Madsen
SAGA Egmont
Richter und Henker
Aus dem Dänischem von Julia Pfeiffer nach
Dommer og bøddel
Copyright © 2015, 2018 Inger Gammelgaard Madsen und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711739655
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Auge um Auge – und die ganze Welt wird erblinden.
Mahatma Gandhi
„Was zur Hölle ist los mit dir, Alter! Her mit dem Joint!“
„Hört ihr das etwa nicht? Da ist doch jemand!“
Maltes Stimme bebte – das tat sie immer, wenn sein Adrenalinpegel in die Höhe schoss. Er zupfte nervös an seiner grobgestrickten olivgrünen Mütze herum. Seine schiefe Nase lief. Sein Nasenbein hatte er sich einmal bei einem Skateboardunfall gebrochen, doch darauf war er stolz, denn seither ähnelte er Nikolai Valuev, wie er selbst fand. Rune wusste nicht einmal, wer das war. Er war kein besonders großer Fan des Boxsports. Doch er hatte die Poster in Maltes Zimmer gesehen und meinte auch, dass sowohl Nase als auch Augen des Boxers ihm zum Verwechseln gleichsahen.
„Entspann dich, Mann. Hier ist niemand“, antwortete Christoffer ruhig, ohne von dem Geldstapel aufzusehen, den er gerade zählte.
Rune öffnete ein Dosenbier und reichte es Malte.
„Komm mal mit den Nerven runter, okay?“
Geistesabwesend griff Malte nach dem Bier und tauschte es gegen den Joint. Er saß unruhig da, als schmerzte sein Gesäß auf dem harten Boden. Sie hatten ein kleines Feuer aus leeren Pizzakartons und anderem brennbaren Material angezündet, das trocken genug war, um von der Flamme aus Christoffers Feuerzeug entfacht zu werden.
„Da ist doch jemand. Irgendwas knirscht. Könnt ihr das echt nicht hören? Das sind doch die in dem Auto da, die uns gefolgt sind.“
„Ich hab’s dir schon zigtausendmal gesagt – niemand ist uns gefolgt, Malte!“, sagte Christoffer, sah diesmal aber auf und spähte in die Dunkelheit. Seine Augen blitzten unter dem Schatten seiner Baseballmütze hervor. Die Kapuze seines Sweaters, den er unter der Jacke trug, war darüber gezogen. Er sah wie ein Hip-Hopper aus. Rune konnte das Knistern der fettigen Pizzakartons im Feuer hören und trotzdem legte sich die Furcht wie eine kalte, klamme Hand auf seinen Rücken. Er nahm einen großen Zug vom Joint, um es zu vertuschen, und reichte ihn weiter an Christoffer.
„Was ist mit diesem Severinsen …?“
„Wer?“
„Der eine, dem du das Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hast. Was, wenn der jetzt …“, stammelte Malte weiter.
„Der hat sich vor lauter Schmerzen zusammengerollt, hast du doch gesehen, oder? Der sieht jetzt keinen Scheiß mehr“, sagte Christoffer, gefolgt von einem unsicheren Lachen. „Freu dich lieber über die neuen Sneakers und hör auf zu flennen. Passen sie?“
Alle drei hatten sie neue, teure Sneakers bekommen. Runes waren ihm ein wenig zu groß, denn es hatte keine Zeit zum Anprobieren gegeben.
Christoffer sah Malte an, während er, den Joint im Mundwinkel, ein Gummiband um einen der Geldstapel wickelte. Ein heller Flaum zierte seine Oberlippe. Er war der Einzige von ihnen, der schon einen hatte – auch auf der Brust, was er ihnen stolz unter die Nase gerieben hatte. Immer wieder hatte er betont, dass er der Männlichste unter ihnen war. Doch er war schon immer der Anführer gewesen, daher änderte das nichts.
„Wie viel Geld haben wir?“, fragte Rune, als Malte nicht antwortete und nervös in die Dunkelheit starrte. Im Schein des Feuers ähnelte er einem wilden Tier, das nachts vom Licht eines Autoscheinwerfers auf einer Landstraße getroffen wurde. Er hatte diesen Blick schon einmal zuvor an einem Fuchs gesehen, den sie beinahe überfahren hatten, als sie betrunken von einer Party auf dem Land nach Hause gefahren waren.
„Nicht übermäßig viel. Heutzutage bezahlen wohl nur noch Rentner in bar. Und wie viele davon kaufen in so einem Laden ein? Aber genug, um am Samstag noch mal richtig Gas zu geben. Und die Sportsachen können wir immer noch für ein bisschen extra Cash verkaufen.“
„Und der Bulle? Was ist mit dem?“, fuhr Malte mit so heiserer und leiser Stimme fort, dass sie ihn kaum hören konnten.
„Das weiß ich doch nicht. Der hätte mich fast umgebracht. Ich bin verdammt noch mal derjenige, um den du dich sorgen müsstest!“
Christoffer deutete verärgert auf seinen Arm, um welchen Rune hinten auf dem Autositz seinen Wollschal gebunden hatte, während Mads wie ein Wahnsinniger in dem gestohlenen Opel Corsa durch die Stadt gebrettert war und sich verfolgt gefühlt hatte.
„Das war doch nur ein Kratzer“, sagte Rune, um die Wogen zu glätten.
„Das ist mir scheißegal. Er hat auf uns geschossen, dieses dumme Schwein! Dafür soll er gefeuert werden. Wir waren unbewaffnet. Die hätten sich da raushalten sollen, diese beschissenen Bullenschweine!“
„Ich finde jedenfalls, wir sollten uns jetzt aus dem Staub machen! Ich hab gesehen, wie sich da etwas bewegt hat“, stammelte Malte und machte Anstalten, aufzustehen.
„Ach, halt doch die Fresse, Mann, du bist ja total paranoid. Du glaubst doch nicht, dass die herausgefunden haben, dass du es warst – ihre eigene Putze!“
„Das werden sie nicht, Malte. Du hast dich im Hintergrund gehalten und dein Schal war die ganze Zeit um dein Gesicht gewickelt“, pflichtete Rune grinsend bei, als wäre das der Gedanke, der Malte an diesem Abend so nervös machte. Er hatte erst vor einigen Tagen diesen Job im Sportladen bekommen und es war seine Schwärmerei von den geilen Klamotten gewesen, die Christoffer auf die Idee mit dem Diebstahl gebracht hatte.
„Aber wer macht diese Geräusche dann?“
„Sind wohl ein paar Penner, die hier wohnen, oder die Kids hier im Viertel“, antwortete Christoffer ungeduldig.
„Doch nicht so spät nachts …“
„Dann ist es sicher nur Arne.“
„Ich hab sein Mofa gar nicht gehört.“
„Das kannst du hier drinnen gar nicht hören. Wo bleibt er eigentlich?“, sagte Rune und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Er ist wohl nach Hause gefahren“, meinte Christoffer mürrisch.
„Nein, es war abgemacht, dass er hierherkommt. Er will bestimmt seinen Anteil“, antwortete Rune.
Tief drinnen hoffte er, dass Arne nicht mehr auftauchen würde. Er zerstörte immer die Stimmung und er mochte ihn nicht, er war einfach nicht wie die anderen. Nicht ganz normal und daher nicht vertrauenswürdig. Er brüstete sich damit, dass er schon jede Menge Häuser angezündet und fast eine gestörte Journalistin umgebracht hätte, dass ihm die Polizei aber nichts nachweisen konnte. Das fanden die anderen cool, darum war er ein Teil der Gang. Er hatte es nicht mehr zum Auto geschafft und sollte auf dem Mofa selbst herfahren. Vielleicht bereute er das Ganze, nach dem dramatischen Erlebnis im Sportladen, in dem es anders gelaufen war als geplant.
„Jedenfalls ist es nicht er, den ich höre.“ Malte war panisch. „Ich kann da draußen auch Schatten sehen.“
„Hier, nimm dein Geld. Hilft das ein bisschen?“
Christoffer warf ein Bündel Scheine in Maltes Schoß. Das lenkte ihn ein wenig ab. Der Daumen glitt über die Kanten und ließ die Scheine flattern und rascheln. Er grinste gierig. Doch dann hörten sie ein Geräusch, das so nahe war, dass alle drei zusammenzuckten. Sowohl Malte als auch Christoffer starrten erschrocken auf etwas hinter Runes Rücken. Der Schreck in ihren Augen glich dem, den er in dem Horrorfilm The Ring in Rachels Augen gesehen hatte, den sie sich neulich angeschaut hatten. Seine Nackenhaare sträubten sich. Dieser Ort war schon zuvor ziemlich creepy gewesen. Seine Muskeln versteiften sich so sehr, dass er sich nicht einmal umdrehen konnte.
„Weg hier!“, rief Christoffer und folgte Malte, der schon längst davongerannt war. Rune schaffte es nicht. Er wurde brutal von hinten am Kragen seiner Cowboyjacke mit Lammfellfutter hochgezogen. Er keuchte, als er nach hinten gestoßen wurde und rücklings gegen jemanden prallte, der seinen Hals mit festem Griff umklammerte. Er konnte nicht sehen, wer es war, obwohl er versuchte, seinen Kopf zu drehen und sich wand wie ein Aal. Doch jetzt sah er, wie der Mann, der ihn vom Boden gehoben hatte, hinter Malte und Christoffer herlief. Er schaltete einen mächtigen Baustellenscheinwerfer mit Handgriff an. Schnell fand der Lichtstrahl die beiden, die am anderen Ende des Gebäudes gefangen waren und nicht mehr weiterkonnten. Wieder musste Rune an aufgeschreckte Tiere denken. Es hatte begonnen zu schneien, wie er im Schein der Laterne draußen erkennen konnte. Der, der seinen Brustkorb umklammerte, roch nach ledrigem Schweiß und etwas anderem, vertrauten, starken Geruch. Menthol? Rune konnte sich nicht bewegen und allmählich verließ ihn seine Kraft. Tränen schnürten ihm den Hals zu. Er starrte auf die Szenerie, die sich vor seinen Augen abspielte, wie in einem schlechten Dogma-Film, stets wechselnd zwischen Dunkelheit, Schneeflocken und dem flackernden Schein der enormen Lampe des Mannes. Wer war mit so einer Lampe unterwegs? War das ein schlechter Traum? Ein Albtraum? Konnten es Halluzinationen sein? Wo hatte Christoffer eigentlich das Gras her? Doch der feste, muskulöse Arm um seinen Hals fühlte sich real an. Der Klammergriff schien immer fester und fester zu werden, als würde das, was sich da vor ihnen abspielte, den Mann in einen Zustand versetzen, in dem er völlig vergaß, dass er Rune fast erwürgte, während er schwer und hitzig atmete. Rune rang nach Luft und zog und zerrte an seinen Armen. Die Nägel bohrten sich in das Leder der Jacke, ohne dass sich der Griff lockerte. Im Gegenteil. Hätte er gekonnt, hätte er laut um Hilfe geschrien, die Angreifer angeschrien, ob sie sich im Klaren darüber waren, wer er war und mit wem sie es eigentlich zu tun hatten.
„Verdammter Köter!“
Er hasste ihn. Es war der Hund seiner Frau. Hätte er die Wahl gehabt, hätte er sich sicher nicht für diese Rasse entschieden, sondern für einen großen Hund. Einen, der den Leuten Respekt einflößte, wenn man mit ihm spazieren ging. Kein Kampfhund natürlich. Nicht diese Art von Respekt. Vielleicht ein Schäferhund, oder ein Dobermann – eben einer, der auch im Privatheim Wache halten konnte. Kein Schoßhündchen wie Kvik – allein schon der Name! Er wollte doch nicht mit dem Schweinehändler aus der dänischen TV Serie Matador verwechselt werden, auch wenn so manch einer darauf bestand, dass er Ähnlichkeit mit dem Darsteller Buster Larsen hatte. Kvik war ein dänisch-schwedischer Gaardhund und hätte bestimmt ein guter Wachhund werden können, wenn er von klein auf richtig erzogen worden wäre. Aber wer hatte schon Zeit für so etwas? Das Gassi gehen war jedoch eine gute Möglichkeit, um von zu Hause wegzukommen und bei sich selbst zu sein, in Ruhe seine Zigarette zu rauchen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Deshalb machte er es freiwillig.
Sigurd Karlsson nahm noch einen Zug und hörte die Bahn auf der anderen Seite des Hains vorbeiheulen. Er zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. Er ging fast jeden Tag die gleiche Route auf den Pfaden hinter dem grünen Wohngebiet Helenelyst.
Noch einmal rief er den Hund und versuchte dabei, den Ärger in seiner Stimme zu verbergen. Es war zwecklos; der Hund folgte sowieso nicht. Er hatte sich losgerissen und war abgehauen, während Sigurd beide Hände gebraucht hatte, um, sich eine Zigarette anzustecken, weil er die Flamme vor dem Wind schützen musste. Er schaffte es nicht mehr rechtzeitig, die Leine zu schnappen, die mitsamt Kvik auf dem schneebedeckten Pfad zwischen den Bäumen aus seinen Augen verschwand. Das hatte das Vieh noch nie gemacht. Es war, als würde es von etwas Unwiderstehlichem angezogen. Auf der anderen Seite des Hains stand das verlassene Schlachthaus der Tulip-Fabrik in jämmerlichem Zustand. Wenn nun Kvik dort hineingelaufen war … dort wollte er wirklich keinen Fuß hineinsetzen. Nie wieder. Einst herrschte dort drinnen Leben und Bewegung bei der Produktion von Abendgerichten und Dosenschinken. Rund 190 Mitarbeiter bestritten dort ihre täglichen Arbeitsabläufe – unter ihnen er selbst und seine Frau bis Tulip beschloss, den Schinken von nun an billiger im Ausland zu produzieren.
Es war nicht schwer, der Fährte des Hundes durch den tauenden Schnee zu folgen. Außer dessen frischen Pfotenabdrücken waren keine anderen Spuren zu sehen. Er beruhigte sich selbst damit, dass vor dem Fabrikgebäude ein Stahlzaun angebracht war, sodass der Hund bestimmt nur davorstehen und gaffen würde.
Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die Bäume, schob Zweige zur Seite und erreichte den Weg. Kvik war nicht am Zaun zu sehen, doch als er näherkam, sah er, dass ein großes Loch hineingeschnitten war. Die Spuren führten durch das Loch hindurch, hinein in das Gelände und verschwanden im Wasser, wo der Schnee schon geschmolzen war. Tulip hatte vor Jahren seine Pforten geschlossen, daher konnte es wohl kaum Fleischgeruch sein, der ihn angelockt hatte. Verflucht noch mal! Er hatte Lust, umzudrehen und seiner Frau zu erzählen, dass der Hund abgehauen war und schon seinen Weg nach Hause finden würde, wenn er hungrig wäre. Doch was, wenn er auf dem Weg zu den Bahnschienen war? Er sammelte sich, folgte dem Zaun und blieb längere Zeit höchst verwundert vor der geöffneten Schranke und dem mit Graffitis übermalten Fabrikgebäude stehen. Der Zugang war frei. Zögernd steuerte er auf den nassen, schwarzen Asphalt zu und zog seine karierte Outdoorjacke fester um sich. Seit die Fabrik zugemacht hatte, hatte er sich nie mehr so nahe an sie herangewagt. Er hatte hier nichts mehr zu suchen; niemand hatte das. Nur dubiose Gestalten trieben ihr Unwesen in diesem Gebäude, das gleichzeitig als lebensgefährlicher Spielplatz von den Kindern im Viertel missbraucht wurde. Junge Randalierer stahlen Eisen aus der Ruine und schraubten auf dem Gelände an Autos herum. Obdachlose zogen hierher, um Schutz vor Schnee und Wind zu suchen, und hinterließen abgenutzte Matratzen, leere Konservendosen und anderen Müll. Er hatte auch gehört, dass die Naturschutzvereinigung Pläne zu einem Bauprojekt über rund 400 neue Wohnungen verhindert haben sollte, mit der Begründung, es handle sich hier um ein Naturschutzgebiet. Die Natur in all ihrer Schönheit – genau! Wie konnte man so etwas durchgehen lassen? Warum wurde dieses Gebäude nicht einfach abgerissen? Lieber Ziegeltrümmer als diese gefährliche Ruine! Unter seinen Schuhen knirschte es. Sämtliche Scheiben waren mit Steinen eingeschlagen worden, die inmitten tausender Glassplitter über den Boden verstreut lagen. Einige dieser Steine waren kreisförmig platziert worden, wie eine Art okkultes Symbol. Seine Brille beschlug. Verzweifelt fluchte er erneut und rieb die Gläser am Futter der Jacke.
„Kvik, verdammt noch mal, komm her, du dummer Köter!“
Diesmal war seine Wut deutlich hörbar. Die Stimme hallte im leeren Gebäude nach. Plötzlich erblickte er Blut zwischen den Glasscherben. Genug, um ihn erschaudern zu lassen. Weiter vorn war ein deutlicher Abdruck einer blutigen Pfote am Boden zu erkennen. Ein Tier musste sich geschnitten haben. Eine Katze vielleicht. Oder Kvik?
„Kvik, komm schon! Kviiik?“
Seine Stimme hatte ganz automatisch einen sanfteren Ton angenommen, beinahe entschuldigend und tröstend, vielleicht auch ein wenig ängstlich. Er wollte nicht hier drinnen sein, in diesem verlassenen Schlachthaus. Was hatte Kvik bloß hier hineingezogen? Gemischte Gefühle an eine Vergangenheit am Arbeitsmarkt, den er sowohl hasste als auch vermisste, kamen in ihm hoch. Graffitikünstler hatten sich mit bunten Farben an den weißen Fliesen ausgetobt. Vielleicht sollte das schön aussehen, er hatte jedenfalls kein Gespür dafür. Ein seltsamer Kontrast zwischen Verfall und Kunstinstallation. Immer wieder pilgerten Amateurfotografen zu diesem Gebäude, um Bilder zu schießen, wie ihm zu Ohren gekommen war; jetzt verstand er besser, warum.
Er betrat einen großen Raum. Die Schlachthalle. Er stellte sich vor, wie sie damals ausgesehen hatte: die toten Schweine, wie sie an ihren Haken hingen und die Schlachthausmitarbeiter, die fleißig mit ihren scharfen Messern zugange waren; der Geruch von Blut und rohem Fleisch, das Geräusch der Sägen; die Kollegen, die er nie mehr wiedersah. An dieser Stelle am Boden musste kürzlich ein Feuer gebrannt haben. Bestimmt ein paar Obdachlose, die sich warmhalten wollten. Die Decke war hoch. Teile des Stahlrohrsystems waren noch erhalten. Andere Streben waren heruntergebrochen oder hingen wie unbrauchbare Fallrohre von der Decke. Es könnte riskant sein, sich hier aufzuhalten, konnte doch jederzeit mehr davon herunterfallen. Er überlegte, ob er nicht doch umdrehen sollte, vielleicht war es ja gar nicht Kviks Blutspur gewesen, doch dann ließ ein lautes Hundegebell seinen angespannten Körper aufschrecken.
„Kvik, wo bist du? Komm her!“
Er pfiff.
Weiter hinten in der Halle erblickte er ihn endlich. Der Hund kläffte und sprang in die Höhe, als wolle er nach etwas schnappen, das Sigurd wegen des eingestürzten Plafonds von hier aus nicht sehen konnte. Nun erkannte Kvik auch ihn und kam ekstatisch wedelnd angelaufen. Er hatte etwas in der Schnauze. Es war ein Schuh. Ein brandneuer Sneaker in einer Herrengröße. Er nahm einen tiefen Atemzug und folgte dem Hund mit hölzernen Bewegungen.
Der Junge war bestimmt nicht älter als fünfzehn oder sechzehn. Sein Kopf hing schlaff über seiner Brust herab. Die Arme baumelten kraftlos in der Luft. Die Füße waren ein wenig unbeholfen gekrümmt, als stünde er, in Verlegenheit geraten, auf seinen Zehen. Einem der Füße fehlte ein Schuh. Mit diesem fuchtelte Kvik vor seiner Nase herum und wollte spielen, ihn auffordern, den Schuh zu werfen, damit er ihn voller Elan wieder zurückholen konnte. Wie sie es zu Hause mit dem Ball immer machten. Doch er stand wie gelähmt da und starrte den Jungen an. Seine Socke war grauschwarz gestreift, der große Zeh hatte ein Loch durch ihn gebohrt. Er wusste nicht, was er machen sollte. Es war zu spät, das Seil durchzuschneiden. Halb geschmolzener Schnee lag auf den Schultern der nassen Jacke. Er musste die ganze Nacht lang so dort gehangen haben. Der Schnee war wohl durch die eingeschlagenen Scheiben in Deckenhöhe hineingeweht worden. Das Seil hatte sich tief in die weiße Haut des Halses gebohrt. Kvik bellte erneut, sprang nach dem anderen Schuh und stieß den Toten an, sodass der Junge plötzlich aussah, als würde er sich bewegen. Sigurd befürchtete, das Seil würde sich mitten durch den dünnen Hals schneiden.
„Hör auf, Kvik! Lass das! Komm, wir gehen heim.“
Das war sein erster Einfall. Er wollte sich in nichts einmischen. In letzter Zeit hatte es mehrere Selbstmorde in der Stadt gegeben. Die Lokalzeitung schrieb von nichts anderem mehr. Selbstmord war seiner Meinung nach eine zynische und egozentrische Problemlösung und für die, die diesen Ausweg wählten, hatte er nichts übrig. Schon gar nicht für die jungen Leute, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Doch heutzutage waren sie einfach zu verwöhnt und ertrugen keine Misserfolge mehr. Aber bitte, wenn sie nicht mehr leben wollten … Er versuchte, Kviks Halsband zu schnappen, doch der Hund entwischte wieder und lief noch tiefer in das Gebäude, wo er wieder zu bellen begann. Getrieben von – er wusste nicht was – folgte er passiv dem Gebell. Schon wieder sprang Kvik in Richtung Decke. Langsam richtete Sigurd seinen Blick nach oben. Ein Tropfen Schmelzwasser traf ihn im Gesicht, doch der Anblick dessen, was er über sich sah, machte den kalten Schauder bedeutungslos. Sie hingen nebeneinander. Die Pfütze unter ihnen war bestimmt kein Schmelzwasser. Hier stank es nach Pisse. Sowohl Darm als auch Blase entleeren sich, wenn man stirbt, hatte er gehört. Kein angenehmer Gedanke. Mittendrin lag eine gestrickte Mütze. Auf dem Kopf des anderen Jungen saß eine schief über das eine Auge gerutschte Baseballmütze. Handelte es sich hierbei um Massenselbstmord? Davon hatte er schon einmal etwas gelesen, aber das war in den USA gewesen. Wie waren sie da hinaufgekommen und wie hatten sie sich von den Rohren mit den Seilen, an denen sie jetzt hingen, hinuntergestürzt? Sein Hirn versuchte eine logische Lösung für das zu finden, was er sah, doch es fiel ihm keine ein. Letztendlich war Kviks Gebell das Einzige, was er noch verstand.
Die Zuckerschale prallte mit einem lauteren Knall auf dem Tisch auf, als es Vizepolizeidirektor Kurt Olsen erwartet hätte. Vielleicht auch nur deshalb, weil es so still war. Alle betrachteten schweigend den Mann, dem er das Wort übergeben hatte, der jedoch das Talent hatte, die berühmt-berüchtigte Pause einzuhalten, die seine Zuhörer in einen Zustand stummer Erwartung versetzte. War es Neugier? Oder waren sie wie gelähmt? Erfolglos versuchte er am Ausdruck ihrer Gesichter einzuschätzen, was in ihnen vorging. Ihm selbst war nicht ganz wohl dabei, anstelle Roland Benitos einen anderen auf dessen Platz am Tischende zu sehen. Er hatte immer gehofft, Benito wäre derjenige geworden, der seinen Platz übernehmen würde, wenn er in Pension ginge, doch so war es leider nicht gekommen.
„Zuerst möchte ich mich bei Vizepolizeidirektor Kurt Olsen für den freundlichen Empfang bedanken“, eröffnete der neue Polizeikommissar Anker Dahl seine Rede lächelnd.
Er hatte sich erhoben, obwohl er eigentlich auch im Sitzen schon groß genug war. Größer als Kurt jedenfalls – Niels Nyborgs imponierende Größe von zwei Metern übertraf jedoch auch er nicht. Pat & Patachon hatte der ältere Teil des Teams Nyborg und Benito stets liebevoll genannt, wenn sie zusammen unterwegs waren. Olsen seufzte innerlich.
Anker Dahl versuchte, ihre Blicke zu aufzufangen. Manche von ihnen erwiderten den seinen neugierig, andere schauten weg oder starrten auf den Tisch.
„Mir ist natürlich bekannt, dass die Mordkommission eine beliebte, engagierte Person verloren hat, und ich werde versuchen, mich an seinem Image zu orientieren, sodass wir die Effektivität der Abteilung aufrechterhalten.“
Einige von ihnen räusperten sich, doch mehr kam nicht.
Wir. Kurt Olsen spürte, wie sich ein klammes Gefühl in ihm ausbreitete. Nicht wegen des Ruhestands – den hatte er sich vollkommen verdient –, jedoch wegen des Ausfalls aus der Gemeinschaft. Der Neue sah sich bereits als Teil davon. Und was blieb ihm selbst? Eves sonderbarer Freundeskreis? Seine 43-jährige Dienstzeit, die er nun schon bald hinter sich haben sollte, hatte ihm keine Möglichkeit gelassen, sich eigene Privatbeziehungen und Freundschaften aufzubauen oder gar ein Hobby zu finden, in das er sich hätte hineinstürzen können. Aber vielleicht würde er ja noch etwas für sich entdecken. Golf zum Beispiel. War das nicht, was alle anderen machten? Oder Angeln. Stille durchbrach Kurt Olsens Gedanken.
Anker Dahl machte erneut eine Pause, als würde er darauf warten, dass jemand etwas sagte. Doch da nun die meisten auf den Tisch oder ihre Kaffeetassen starrten, fuhr er fort.
„Nun, da das heute ja mein erster Tag hier ist, werde ich mich selbstverständlich gleich an die liegengebliebenen Dinge machen, und nach einer Runde auf dem Polizeigelände würde ich gerne mit jedem von euch einzeln sprechen, um zu hören, welche Visionen ihr für die Mordkommission habt.“
Neue Brötchen für die Suppe, dachte Kurt Olsen ein wenig verschämt und pulte mit dem Nagel seines kleinen Fingers einen Mohnsamen aus seinen Zähnen. Er musste sich selbst eingestehen, dass er das vergangene Jahr über müde gewesen war, und wenn er ehrlich mit sich war, merkte er auch, dass er nur mehr darauf wartete, dass die Zeit bis zu seiner Verabschiedungsfeier schnell verging. Die Dankesrede hatte er bereits verfasst. Jetzt musste sie natürlich umgeschrieben werden. Das, was er über Roland Benito geschrieben hatte, musste verworfen werden. Er nahm einen Schluck seines allzu süßen Kaffees, um das Unbehagen hinunterzuschlucken, und betrachtete seinen Nachfolger über den Tassenrand. Zweifelsohne hatte der Polizeipräsident Anker Dahl mit voller Absicht eingestellt, selbst wenn er es nicht direkt gesagt hatte. Anker Dahl war eine Leitfigur, die es bei der Polizei noch zu viel bringen konnte, das sah man ihm an. Jedenfalls wusste er bestimmt mehr über Mitarbeiterführung als er selbst – trotz der vielen Kurse über dieses Thema. Es war nicht leicht, einem alten Hund neue Tricks beizubringen. Anker Dahl war in der Hierarchie schneller aufgestiegen als so manch anderer. Einschließlich Benito, der immer auf die Bremse drückte, wenn es darum ging, mehr Einfluss zu haben, auch dann, wenn ihn Kurt Olsen dazu gedrängt hatte. Er war sein bester Mann gewesen, das stand außer Frage. Wenn er ihm eine Ermittlung überließ, brauchte er sich nicht mehr darum zu kümmern. Das stand unter anderem in seiner Rede. Aber hatte er sich diese Tatsache zu sehr zu Nutzen gemacht? Hatte er Roland zu viel zugemutet? Tja, jetzt war es jedenfalls zu spät, darüber nachzudenken, jetzt konnte man nichts mehr daran ändern. Er sollte sich lieber darüber freuen, dass der Polizeipräsident jemanden ausgesucht hatte, der ihn schnell ersetzen konnte. Nun konnte es vielleicht früher als geplant vonstattengehen.
Das Wachdienstpersonal hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in fast alle ihrer Konferenzen zu platzen, selten jedoch ohne Grund. Heute war es keine Ausnahme. Doch anstatt an der Tür zu klopfen und hineinzustürmen, läutete Kurt Olsens Handy – bestimmt, um den neuen Angestellten nicht beim ersten Treffen mit seiner Abteilung zu stören.
Kurt Olsen lauschte, während es um ihn herum wieder ganz still wurde.
„Selbstmorde? Kann das denn nicht warten?“, fragte er ein wenig gereizt und warf Anker Dahl, der seinen Krawattenknoten zurechtmachte und eine Augenbraue hob, einen verstohlenen Blick zu. Dort wo er herkam war es bestimmt nicht üblich, unterbrochen zu werden, daran würde er sich wohl noch gewöhnen müssen. Kurt Olsen konnte es selbst nicht leiden, doch darauf wurde selten Rücksicht genommen.
„Okay, also die Leichenschau ist bereits im Gange? Okay, danke.“
Er legte auf. Aus einer alten Gewohnheit heraus richtete er seinen Blick auf das Tischende und traf Anker Dahls Blick. Er war nicht barsch, dunkel und mild zugleich wie Roland Benitos – es war ein wasserblauer, kühler Blick, dazu fähig, sich in jegliches schlechte Gewissen einer unehrlichen Person zu bohren.
„Noch ein Selbstmord?“, fragte Mikkel Jensen mit brüchiger Stimme vom gegenüberliegenden Ende des Tisches. Er war derjenige, den die Veränderungen der letzten Zeit am meisten berührten. Er war auch über viele Jahre hinweg Rolands treuer Arbeitspartner gewesen, daher behandelten ihn alle mit Mitgefühl und Verständnis.
„Sieht so aus. Drei junge Burschen haben sich in der Schlachthalle in der alten Tulip-Ruine bei Brabrand erhängt. Die Rechtsmedizinerin meint aber, dass wir einen genaueren Blick darauf werfen sollten. Einer der Jungen hat eine Wunde am Arm, die ihrer Meinung nach von einem Projektil stammen könnte.“
„Hat man Schusswaffe, Patronenhülsen oder Projektile am Tatort gefunden?“ Anker Dahl war schnell bereit, sich in den Kampf zu stürzen.
„Nicht, soweit ich weiß. Die Untersuchungen sind bestimmt noch am Laufen.“
„Kann ein Zusammenhang mit der Schießerei im Sportladen gestern Abend bestehen?“, fragte Isabella Munch. „Andere gab es wohl nicht, oder?“
„Niemand kann jetzt schon sagen, ob es eine Dienstwaffe war, die …“
„Eine Dienstwaffe?“, unterbrach Dahl und blickte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
Kurt Olsen räusperte sich. Es war mehr als nur Roland Benitos überraschender Rücktritt, der die Stimmung im Präsidium beeinflusste. Was hielt der neue Kommissar bloß von seinem neuen Arbeitsplatz? An Anker Dahls Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass er ihm die Geschichte erklären musste.
„Gestern Abend gab es einen Einbruch in einem Sportgeschäft am Telefonplatz. Gegen die Angestellten wurde Pfefferspray eingesetzt. Ein lungenkranker Verkaufsassistent mittleren Alters hat leider nicht überlebt. Die Polizei wurde gleich gerufen und der nächste erreichbare Streifenwagen war auch rasch zur Stelle. Einer der Polizeibeamten hat die Täter verfolgt, die durch den Bustunnel Richtung Åboulevard geflohen sind. Zeugen haben ausgesagt, dass es sich um vier junge Männer handelte. Der Polizist hat ihnen nachgerufen. Einer von ihnen hat sich umgedreht und etwas auf ihn gerichtet, das er für eine Pistole hielt. Zu dem Zeitpunkt wusste er aber noch nicht, wie der Mann im Laden umgekommen war. Er hat also einen Warnschuss abgefeuert, war aber selbst nicht der Meinung, etwas oder jemanden getroffen zu haben, weil er absichtlich weit daneben gezielt hatte. Man hat jedoch Blutspuren an dieser Stelle gefunden. Die Diebe sind mit einem gestohlenen Wagen verschwunden.“
„Ist die Angelegenheit mit dem Polizeibeamten gemeldet worden?“, fragte Anker Dahl.
Kurt Olsen nickte und sah die anderen mit gerunzelter Stirn an. „Und diese Geschichte soll nun etwas mit den erhängten Jungen zu tun haben?“, fragte Dahl weiter und bemerkte offensichtlich nicht, dass die Stimmung gedrückter war denn je.
„Das ist das, was wir untersuchen sollen. Es sieht ja nicht gerade nach Selbstmord aus, wenn …“
„Und davon gab es mehrere, wie ich höre?“
„Ja, die Zahl ist in der dunklen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr auf mehr als das Übliche gestiegen.“
„Um wie viele handelt es sich?“
„Fünf, im Abstand von mehreren Wochen. Vier haben sich erhängt – alles Männer – und eine Frau, die anscheinend nach der Einnahme von Gift umgekommen ist.“
„Hmm. Aber sonst nichts Auffälliges?“
„Die Rechtsmedizinerin konnte in keinem der Fälle ein Verbrechen nachweisen, daher sind sie als Selbstmorde archiviert worden.“
„Wer hat die Jungen gefunden?“, fragte Mikkel Jensen.
Er war offenbar darauf erpicht, sich durch Arbeit von all den anderen Unglücksfällen abzulenken, die das Präsidium einstecken musste.
„Ein Hundebesitzer, dessen Hund heute Vormittag abgehauen und in die Schlachthalle gelaufen ist. Dort hat er die Jungen entdeckt.“
„Sind sie schon identifiziert worden?“
„Noch nicht. Sie hatten nichts bei sich, weder Handys noch Geldbeutel oder irgendetwas anderes, was an sich schon verwunderlich ist. Ich kontaktiere die Rechtsmedizin und sehe mir an, worum sich die Mordkommission kümmern könnte.“
Anker Dahl nickte.
„Wir werden uns den Fall noch mal ansehen, wenn wir mehr wissen.“
Dahl fing die Blicke der Gruppe ein, als würde er ihnen eine Zustimmung abverlangen, doch sie saßen stiller und stummer vor ihm, als sie es sonst zu tun pflegten, was er natürlich nicht wissen konnte.
Mit einem Gefühl der Erleichterung lehnte sich Kurt Olsen zurück in seinen Bürostuhl. Da war es wieder, dieses wir. Zwei Mal sogar. Der neue Mann schien dasselbe Feuer in der Seele zu haben wie Roland Benito. Vielleicht würde seine letzte Zeit hier auf dem Präsidium doch nicht so belastend werden, auch wenn Benito nicht mehr da war.
Schneehaufen, Eis und Schmelzwasser vermischten sich in der Sonne auf den dem Winter trotzenden Feldern mit grau verdorrtem Gras. Der Himmel war klar und blau, die Luft rau und mit einem Hauch Frost versetzt, der die ländlichen Gerüche verharmloste, von denen er wusste, dass sie da waren.
Benjamin Trolle kniff die Augen zusammen, denn er wollte nicht nach seiner Sonnenbrille suchen, die sich irgendwo in seiner Tasche befand. Mit resolutem Schritt marschierte er vorwärts, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, und plötzlich überkam ihn das enttäuschende Gefühl, dass es nicht so war, wie er es sich all die Jahre lang vorgestellt hatte. Er hatte den festen Entschluss gefasst, sich, wenn der Tag einst käme, nicht mehr umzudrehen. Er wollte nicht zurückschauen. Doch der Drang war zu groß; noch bevor er den Parkplatz verlassen hatte, hatte er es getan, hatte sich umgedreht und die topmodernen Gebäude angesehen, die gar nicht mehr dem glichen, was sie einmal gewesen waren. Rechteckige, gelbe Backsteinfassaden und an die ländliche Umgebung angepasste Zinkdächer. Nur die sechs Meter hohe, beidseitig mit Stacheldraht versehene Ringmauer, die Masten mit den Kameras und die mit Sensoren ausgestatteten Kabel, die an den Zaun aus Jurassic Park erinnerten und jeglichen Gedanken an Flucht lächerlich machten, verrieten, dass es sich hierbei nicht um einen modernen Kurort, ein Krankenhaus oder etwa einen hübschen neuen Wohnkomplex handelte, sondern dass hier wilde Tiere eingesperrt waren. Monster, die nicht das Recht hatten, gemeinsam mit normalen, rechtschaffenen Menschen zusammenzuleben, die einer sicheren Umgebung bedurften. Vor hier aus sah die Strafanstalt Ostjütlands leer und verlassen aus, doch er wusste nur zu gut, dass sich hinter den Mauern viel mehr abspielte, als sich in der prächtigen Fassade widerspiegelte.
Vögel erhoben sich von der Umzäunung und flogen gen Himmel. Er dachte an die Schwalben im Sommer. Sie wirkten immer so unbeschwert und sorgenfrei, wenn sie fröhlich am Himmel tanzten. Jeden Morgen hatte er sie durch die Gitterstäbe des Balkons beobachtet und beneidet, wie sie über den kleinen See mit seinen Schwänen und Enten und über den fein säuberlich getrimmten Rasen zwischen den Gebäuden schwebten. Noch mehr sogar, wenn sie im Herbst dann Richtung Süden zogen. Wie ein Verrückter hatte er sich nach dieser Freiheit gesehnt. Doch die Vögel kamen ihm noch immer viel freier vor als er sich selbst, obwohl er jetzt direkt unter ihnen stand und den Wind in seine Haut beißen spürte. Er war aus seiner Zelle freigelassen worden und trotzdem fühlte es sich nicht wie Freiheit an. Das, was passiert war, würde ihn weiterhin gefangen halten, bis er ausgleichende Gerechtigkeit bekam. Die gleiche Gerechtigkeit, die denjenigen, die ihn hier hineingebracht hatten, ihrer Ansicht nach zuteil geworden war. Oder war es Rache, was er sich herbeiwünschte? Was war eigentlich der Unterschied?
Er drehte dem Gebäude wieder seinen Rücken zu und versuchte, in den Rhythmus desselben entschlossenen Schrittes wie früher zu kommen, doch plötzlich waren seine Schritte zögerlich geworden. War er dafür bereit? Hatte ihn der Zustand der letzten vier Jahre so sehr verändert, dass er nicht einmal einen gewöhnlichen Tag, ohne ums Überleben kämpfen zu müssen, genießen konnte? Wie Soldaten, die nach ihrer Heimkehr wieder ihr normales Leben aufnehmen sollten. Hatte er es geschafft, sich ausreichend zu verbessern?
Die Tasche war schwer und der Riemen schnitt in seine Schulter. Die Haltestelle des Busses Nr. 110 lag an der Frodesdalstraße, ein Stück weit von den zwei „Unbefugten ist der Zutritt untersagt“-Schildern entfernt, die an beiden Seiten des Weges angebracht waren. Erst nach diesen Schildern fühlt man die Freiheit, hatte ein Häftling einmal gesagt, einer, der kurze Zeit nach der Entlassung wieder in die Falle getappt und zurückgekommen war. Er musste diesen knappen Kilometer hinuntergehen und er hatte genug Zeit. Der Bus fuhr nach Horsens, wo er den Zug nach Aarhus nehmen sollte. Der Schlüssel zu ihrem Reihenhaus befand sich in seiner Manteltasche. Sie hatte ihn ihm diskret zugesteckt, als ihm seine Sachen und das Geld, das er sich bei der Arbeit in der Werkstatt verdient hatte, übergeben wurden. Niemand hatte es gesehen. Zuerst ließ sie ihn auf den Boden fallen und tat, als wäre es sein Schlüssel, als sie ihn aufhob und ihm überreichte. Eine listige Füchsin war sie. Aber das musste man sein, wenn man an so einem Ort arbeitete. Besonders als Frau.
Er trippelte mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen auf der Stelle hin und her, um sich warm zu halten, während er nach dem Bus Ausschau hielt. Hier gab es keinen Schutz vor dem Wind, der die Frostgrade noch kälter wirken ließ. Wohin man auch sah, hier gab es nur offene Felder. Unfruchtbarkeit und Tod warteten hier auf bessere Zeiten, genau wie er selbst. Mit gefrorenen Fingern wühlte er nach der Zigarettenschachtel in seiner Manteltasche. Mit dem ersten Zug unter freiem Himmel fühlte er sich endlich wieder lebendig. Vor vier Jahren war es ihm gelungen, mit dem Rauchen aufzuhören und ein halbes Jahr lang nach seiner Verhaftung hatte er keine Zigarette angerührt, doch im Gefängnis war es unvermeidbar. Ohne sie hätte er es nicht ausgehalten.
Endlich kam der Bus. Schnell ließ er die Zigarette auf den Boden fallen, obwohl sie erst zur Hälfte abgebrannt war, trat die Glut auf dem Asphalt aus, rückte die Tasche zurecht und betrat die Stufen, die zum Busfahrer führten. Er trug eine moderne Brille in seinem fetten Gesicht und hatte sein Haar über die Glatze gekämmt. Verachtung schimmerte in seinen blassen Augen, als er das Geld entgegennahm. Er wusste ohne Zweifel, dass es mit Gefängnisarbeit verdient war, wie es auf die meisten zutraf, die an dieser Haltestelle zustiegen. Nicht viele Leute waren im Bus. Es roch nach Leberwurst und Banane, als hätte jemand gerade einen Snack verdrückt. Vielleicht der Fahrer in seiner Pause. Benjamin Trolle setzte sich auf den hintersten Sitz. Der Bus fuhr an. Er fühlte den Blick des Fahrers oben im Spiegel, wusste, dass der gerade überlegte, wofür er gesessen hatte. Der Fette hörte ein Wunschkonzert im Radio. Ungesunder Job, zu viele Zigaretten, Alkohol und zu wenig Bewegung, schätzte er. Willkommen zurück in den Trivialitäten des Alltags. Ausgelaugt ließ er den Kopf in den Sitz sinken und schloss die Augen. Diesmal drehte er sich nicht um.
Der Hauptbahnhof von Aarhus war einer größeren Renovierung unterzogen worden, seit er das letzte Mal dort gewesen war. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, dass die Verstrebungen über den Gleisen rot gewesen wären. Auch die Anzeigetafeln waren neu und die Beleuchtung anders. In vier Jahren hatte sich viel getan. Der Verkehr war jedoch derselbe. Lange blieb er auf der Treppe stehen und schaute sich um, wie ein Krieger, der nach einem Marsch ins Feindesland in die Heimat zurückkehrte. Jedoch ohne Siegesgefühl. Im Gegenteil. Was macht man am ersten Tag in Freiheit? Er umklammerte ihren Schlüssel fest in der Manteltasche; das Metall war kalt und bohrte sich in seine Handfläche. Der Schmerz tat gut. Er lenkte ihn von dem Schmerz in seinem Inneren ab. Dann fasste er einen Entschluss, warf sich die Tasche über die Schulter und machte sich auf den wohlbekannten Weg ins Dr. Watson, von dem er hoffte, dass es noch existierte. Dort konnte er sich in der Dunkelheit und dem Geruch der Kneipe verbergen, bis er nach Hause kam.
Erneut blieb er stehen und nahm alle Eindrücke auf. Betrachtete eine ganze Weile lang die Fassade und den Fries mit den hüpfenden Melonen über den Fenstern – oder waren es Ufos? Darüber hatten er und seine Kumpels oft gewitzelt, wenn sie betrunken von hier aus nach Hause gegangen waren. Das war lange her. Eine Ära. So kam es ihm vor.
Das Personal war natürlich nicht mehr dasselbe. Die Jukebox schwieg, funktionierte bestimmt nicht mehr, doch der Fernseher lief mit leisem Ton, der sich mit dem Geräusch aus einem der drei Spielautomaten vermischte. Er bestellte einen „Aarhuser Satz“, denn da wusste er, was er bekam – das gängige Lokalbier Ceres Top und einen Schluck Arnbitter. Seine Augen klebten am Bildschirm, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie sahen. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er die Person am Spielautomaten. War das etwa Skipper? Selbstverständlich würde er jetzt schon hier auf einen von ihnen stoßen. Nicht gerade das, was er jetzt brauchte. Er hatte gehofft, es wäre noch zu früh am Tag gewesen. Oder dass sie diese schlechten Angewohnheiten hinter sich gelassen hatten. In ihrem Leben weitergekommen waren. Es war ihm zu früh, jetzt schon zur Rechenschaft gezogen zu werden. Seine erste Überlegung war, aufzustehen, zu bezahlen und sich aus dem Staub zu machen, doch dann entdeckte ihn Skipper ebenfalls. Seine Augen wurden groß und rund und sein Mund öffnete sich halb, als hätte er ein Gespenst gesehen. Einen Moment lang war auch er versucht, wegzulaufen, das war ihm anzusehen, oder zumindest so zu tun, als würde er ihn nicht erkennen. Vielleicht tat er das wirklich nicht, nach all den Jahren. Trolle hatte keine Ahnung, wie sehr er sich über die Jahre eigentlich verändert hatte. Doch dann erhob sich der große Mann doch noch, holte sein zur Hälfte geleertes Glas aus der Ecke des Schanktisches und wankte auf ihn zu. Es war nicht sein erstes Glas. Er musste sich auf dem Weg zu ihm an der Theke abstützen.
„Was zur Hölle, Trolle! Bist du abgehauen?“
„Natürlich nicht, niemand kommt da raus, Mann.“
Er betrachtete seinen alten Freund. Der Lauf der Zeit hatte eine Veränderung mit sich gebracht, jedoch bestimmt keine Renovierung. Der Bierbauch war größer geworden, die Haare auf dem Kopf spärlicher und die Augenringe dunkler. Seine Kapitänsmütze, die ihm den Namen Skipper verlieh, hatte er jedoch immer noch auf. Er zog sich den Stuhl neben Trolle zurecht und setzte sich.
„Stimmt, das habe ich in einer Fernsehserie auf TV2 über euch gesehen. Die Gefangenen.“ Er sprach das Wort aus, als wäre es der Titel eines Horrorfilms. „Heutzutage sagt man anscheinend ,Hotel‘ zum Gefängnis. Ihr werdet da ja zu richtigen TV-Stars, da werd’ ich ganz neidisch. Warum hat man nichts von dir gesehen?“
Trolle zuckte mit den Schultern.
„Wir sind gefragt worden, ob wir mitmachen wollen.“
„Und für’s Rampenlicht hattest du noch nie was übrig, was, Trolle? Aber wie ich sehe, hast du eine Tätowierung gekriegt. Gehört wohl dazu, oder?“
Trolle zog unwillkürlich seinen Ärmel weiter nach unten.
„Das ist eine längere Geschichte“, murmelte er.
Ja, es gehörte dazu, um in dieser Welt zu bestehen. Es war schwer, das zu erklären, denn was wusste Skipper schon? Er hätte an so einem Ort nicht lange durchgehalten.
Auch Skipper richtete seinen Blick auf den Bildschirm. Trolle sah flüchtig, dass der Ehering an seiner Hand, die sich um das Bierglas klammerte und an eine zu groß geratene Babyhand erinnerte, fehlte. Vielleicht passte er ihm einfach nicht mehr, so sehr, wie er zugelegt hatte.
„Und, fühlt es sich gut an, ein freier Mann zu sein?“, fragte Skipper schließlich, ohne ihn dabei anzusehen, und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, als wollte er seine Gedanken verbergen oder sich in Gegenwart eines Ex-Häftlings unsichtbar machen.
Trolle zuckte erneut mit den Schultern.
„Ist schwer, das jetzt schon zu sagen. Es ist mein erster Tag heute.“
Er leerte sein Glas Arnbitter und betrachtete Skippers Profil. Es umgab ihn etwas Abweisendes. Er wollte ihm ganz offensichtlich nicht in die Augen sehen.
„Wie geht’s dir sonst so, Skipper? Warum bist du nicht auf der Arbeit?“
Skipper schnaubte und wischte sich mit dem Ärmel die Oberlippe ab.
„Bin im Herbst gefeuert worden.“
„Dann arbeitest du nicht mehr am Hafen?“
Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem TV-Reporter am Bildschirm abzuwenden. Ein alter, routinierter Journalist berichtete enthusiastisch von der bevorstehenden Wahl in Italien, auch wenn die meisten Dänen damit nichts am Hut hatten. Danach kamen die Lokalnachrichten, deren Absicht es war, das Interesse der Zuschauer durch die Meldung zu wecken, dass ein Polizeibeamter einen Schuss gegen Zivilisten ausgelöst hatte und drei erhängte Jungen gefunden worden waren, die Selbstmord begangen hatten. Die Welt hier draußen war auch nicht besser geworden.
„Wie geht es Vibe?“, fragte er.
„Wir haben uns scheiden lassen.“
„Das tut mir leid. Und was ist mit – den Kindern?“
Er hätte gerne ihre Namen gesagt, konnte sich aber plötzlich nicht mehr an sie erinnern.
Skipper betrachtete ihn wachsam aus dem Augenwinkel.
„Die hat sie natürlich. Warum willst du das wissen?“
„Bin nur neugierig, ich kenn’ doch deine Mädels. Wie alt sind sie denn jetzt?“
Skipper schaute wieder zum Fernseher. Seine Mundwinkel zuckten und fiebrig nahm er einen Schluck Bier, ohne zu antworten. Plötzlich richtete er seinen Blick auf den Grund des Glases und stammelte.
„Zum … Teufel, Trolle. Ich habe dich … verteidigt. Bis zum Schluss … bis …“ Ungeschickt ließ er seine Hand über das rote Gesicht gleiten.
„Aber Skipper. Du glaubst doch nicht, dass …“
Zum ersten Mal sah er ihn richtig an. Seine Augen waren rot, wässrig und brauchten eine Weile, bis sie fest blickten. Der Ausdruck in ihnen war voller Wut und Verachtung.
„Vibe hat dir von Anfang an nicht getraut. Sie hat mir ständig gesagt, dass … aber ich hab dich verdammt noch mal immer verteidigt. Wir haben uns die ganze Zeit gestritten, wir …“
„Tut mir leid, wenn es meine Schuld war“, murmelte er.
„Deine Schuld! Vibe und Cecilie sind Busenfreundinnen, unzertrennlich – und das weißt du …“
„Siehst du sie noch? Und Lærke?“
Die Wörter purzelten ihm aus dem Mund, bevor er darüber nachdenken konnte.
„Natürlich nicht. Seit Vibe abgehauen ist, gucken sie mich an, als hätte ich die Pest! Wenn sie mich überhaupt beachten.“
Trolle zupfte am Etikett der Bierflasche herum – er hatte schon das ganze Kronenmotiv abgepult, bis er seine Sprache wiederfand.
„Das … das tut mir leid, Skipper. Aber es hat sich anders abgespielt, als du offenbar glaubst.“
„Warum bist du dann verurteilt worden, Trolle?“
„Sowas passiert – dass Unschuldige verurteilt werden.“
„Du bestehst also immer noch darauf, dass du es nicht getan hast?“
„Natürlich habe ich es nicht getan. Wie kannst du das überhaupt glauben! Wir kennen einander ein Leben lang, Skipper. Natürlich bin ich unschuldig! Ich könnte doch nie …“
„Und was ist mit Lærke? Wie kannst du das erklären?“
Skipper stand auf, schwenkte sein Glas und leerte es im Stehen, während er sich am Barhocker festhielt. Ein Teil des Biers lief ihm am Kinn herab und landete auf dem Manchester-United-Logo seines Shirts. Das Mädchen hinter der Bar warf ihm einen besorgten Blick zu, schüttelte stillschweigend den Kopf und drehte sich wieder um. Es war wohl nicht das erste Mal, dass sie ihn in diesem Zustand sah. Er nahm seine Jacke.
„Ihr sagt alle, dass ihr unschuldig seid, aber man wird nicht einfach für vier Jahre eingebuchtet, wenn man das auch wirklich ist, oder, Trolle?“
Er schaffte es nicht mehr zu antworten. Skipper war bereits gegangen. Durch das Fenster sah er, wie er sich an der Mauer draußen abstützte und beinahe ein Schild hinter einem abgestellten Fahrrad umstieß. Dann war er weg.
Benjamin Trolle stieg in ein Taxi vor dem Bahnhof. Der Fahrer war ein freundlich lächelnder Mann mit indischem Aussehen und Akzent. Er half ihm, seine Tasche in den Kofferraum zu werfen und schwatzte heiter über Wind und Wetter, obwohl sich Trolle absichtlich auf den Rücksitz setzte, um jegliche Form von Kommunikation zu vermeiden. Glücklicherweise wurde das dem Inder bald klar, also drehte er das Radio lauter und konzentrierte sich stattdessen auf die Fahrt durch den Aarhuser Hauptverkehr.
Der Mercedes holperte über die Bremsschwellen des St. Bilchers Wegs, bis der Chauffeur plötzlich anhielt. Trolle sah aus dem Fenster. Jetzt verstand er es. Warum hatte er dem Fahrer diese Adresse gegeben? Vielleicht aus einer alten Gewohnheit heraus? Das Haus sah aus wie immer. Nichts hatte sich verändert. Nicht einmal das Grünzeug in den Gartentöpfen. Der vereiste Bürgersteig benötigte eine kräftige Portion Salz. Das war immer seine Aufgabe gewesen. Ein bitteres Gefühl machte sich in seiner Brust breit, als er das rosarote Fahrrad erblickte, das auf seinem Ständer neben dem offenen Carport stand. Es war kein Dreirad mehr. Es war ein richtiges Mädchenfahrrad. Lærke war im Dezember neun Jahre alt geworden. Er hatte ihr ein Geschenk und eine Karte geschickt, aber keine Antwort zurückbekommen. Nur das Paket.
Es war nicht Cecilies Auto, das dort im Carport stand. Es war ein schwarzer Opel Insignia. Sie war also immer noch mit ihm zusammen. Das Gefühl in seiner Brust veränderte sich. Noch nie zuvor hatte er eine stärkere Rachsucht in sich verspürt, die nun in seinen Adern pochte. Es fühlte sich gut an. Er lebte, trotz allem. Der Inder musterte ihn prüfend im Rückspiegel, offenbar hatte er seinen Preis schon gesagt und wartete nun auf sein Geld.
„Soll ich Ihnen mit der Tasche helfen?“, fragte er und wollte bereitwillig die Autotür öffnen.
„Nein danke. Können Sie mich wieder zurückfahren? In die Bushøj-Straße.“
„Welche Nummer?“, fragte der Chauffeur verdutzt und fuhr los, während seine kohlrabenschwarzen Augen den merkwürdigen Passagier noch immer überwachten.
Benjamin Trolle suchte nach dem Zettel in seiner Tasche. Er fand ihn, las ihre hübsche Handschrift und gab dem Fahrer die Adresse. Bald würde sie zu Hause sein. Durch Heckscheibe warf er einen letzten Blick auf das Haus. Stand da nicht jemand am Küchenfenster und guckte verwundert dem Taxi nach? Lærke? War das Lærke? Das Haus verschwand hinter den Bäumen. Sein Herz hämmerte und er bekam Atemnot.
Er musste sich merken, niemals mehr zurückzuschauen.
Anne Larsen räusperte sich kräftig und hielt ihr zerzaustes Haar fest, das wie eine schwarze Wolke im eiskalten Wind hochwirbelte. Sie hatte das Haargummi von ihrem Pferdeschwanz gezogen, nachdem sie der Kameramann Mikael Flasher, genannt Flash, gebeten hatte, ein wenig seriöser und mehr wie eine Moderatorin auszusehen. Er hatte sie sogar gebeten, Make-up aufzulegen, was sie abgelehnt hatte, bis er ihr entschlossen einen Spiegel und die Kosmetiktasche entgegenstreckte. Da gab es nichts zu diskutieren. Normalerweise benutzte sie Schminke nur, wenn sie zu einer Party wollte, meist nicht einmal dann, doch das Spiegelbild zeigte ein bleicheres Gesicht als gewöhnlich, wie erfroren, auch die Lippen waren spröde und die Nase rot. Sie war es nicht gewohnt, auf diese Weise vor der Kamera zu stehen und das war eigentlich auch gar nicht der Plan gewesen, doch als Neue musste sie ein wenig Einsatz zeigen, wenn Not am Mann war. Und das war jetzt der Fall. Die Journalistin Jytte Thomson, die die Neuigkeiten mit ihrer langjährigen Erfahrung und nicht zuletzt ihrem geeigneteren Gesicht als Annes ankündigen sollte, hatte angerufen, um abzusagen. Ihr Kind war im Hort von einem Baum gefallen und hatte sich das Bein gebrochen.
„Bist du bereit?“, fragte der Kameramann.
Anne nickte und räusperte sich erneut. Sie rieb ein paarmal ihre Lippen aneinander, um den Lippenstift zu verteilen und nahm das orangefarbene Mikrofon mit dem TV2-Logo, das er ihr reichte. Sie standen vor der stillgelegten Tulip-Schlachtanlage in Brabrand, die mit dem Sperrband der Polizei abgezäunt war. Die Leichen der drei Jungen waren bereits abgeholt worden, nur die Kriminaltechniker waren noch an der Arbeit im Gebäude, doch viel mehr war nicht dran an der Story. In letzter Zeit hatten sich die Selbstmorde gehäuft, sodass die Leute schon fast abgestumpft wirkten, aber das Gerücht darüber, dass es möglicherweise der Schuss aus der Dienstwaffe eines Polizisten war, der einen der erhängten Jungen verletzt haben könnte, bot großen Sensationswert. Niemand aus dem Polizeipräsidium Aarhus wollte sich dazu äußern, was die ganze Sache noch suspekter machte.
Der Kameramann nickte ihr ein Startzeichen zu und sie hörte die Stimme des Moderators in ihrem In-Ear-Kopfhörer. Sie hatte eine schnelle Zusammenfassung dessen bekommen, was gefragt werden würde, doch für die Vorbereitung der Antworten war nicht viel Zeit geblieben. Jetzt war sie auf Sendung. Live. Das rote Licht an der Kamera leuchtete. Ein Lächeln eignete sich nicht für diese Situation, daher setzte sie eine ernste Miene auf und verstellte ihren Tonfall, sodass sie ein wenig wie Jytte klang, der sie schon einige Male zugehört hatte.
„Nein, wir haben noch keine Informationen darüber, wer die drei Jungen sind und ob es tatsächlich die Diebe waren, auf die die Polizei gestern Abend nach dem Einbruch im Sportladen am Telefonplatz geschossen hat“, antwortete sie auf die Frage des Moderators im Studio und blickte direkt in die Kamera, justierte den Kopfhörer, der dabei war, ihr aus dem Ohr zu gleiten, zurück auf seinen Platz und lauschte. „Nein, es wurde noch nicht bestätigt, dass das Projektil, von dem eines der Opfer getroffen wurde, aus der Dienstwaffe stammt. Soweit ich informiert bin, wurde das Projektil noch nicht gefunden.“ Sie lauschte erneut der Stimme aus dem Kopfhörer und nickte, um zu zeigen, dass sie ihn hörte und verstand. Der Moderator konnte im Studio dasselbe sehen, was auf den Bildschirmen in den Wohnzimmern all jener zu sehen war, die jetzt TV2 Ostjütland schauten.
„Gibt es Neuigkeiten über den Polizisten, der schoss?“, fragte der Moderator.
Anne schüttelte den Kopf.
„Die DUP, die Dänische Unabhängige Polizeibeschwerdestelle, wird auf den Fall angesetzt. Selbstverständlich bleiben wir dran.“
Sie wusste, dass sie zuvor einen Filmclip von der Schießerei gezeigt hatten, der von einem Zeugen mit seinem Smartphone aufgenommen und auf YouTube gestellt worden war. Es war jedoch dunkel und die Bilder unscharf und verwackelt, sodass schwer zu erkennen war, wer schoss und worauf geschossen wurde. Deshalb konnten die Täter anhand der Bilder nicht identifiziert werden. Der Moderator bedankte sich bei der Journalistin Anne Larsen und versprach, um 19.30 Uhr mit weiteren Neuigkeiten zurück zu sein. Die Verbindung brach ab. Anne zog den Stöpsel aus dem Ohr und bemerkte erst jetzt, dass ihr Herz chaotisch galoppierte.
„Gut gemacht, Anne! Fast schon professionell. Super für das erste Mal jedenfalls“, sagte der Kameramann und stupste ihr mit der Faust kameradschaftlich gegen die Schulter. „Außerdem siehst du verdammt gut aus, wenn du so zurechtgemacht bist.“ Er zwinkerte ihr schmeichelnd zu.
Annes dankbares Lächeln zitterte in den Mundwinkeln; jetzt brauchte sie eine Zigarette. Als sich der Geschmack einer weißen Kings in Mundhöhle und Kehle breitmachte, erlebte sie eine Reaktion wie nach einer geglückten Sportleistung – glaubte sie jedenfalls, denn besonders viele solcher Art hatte sie nicht gemacht. Jedenfalls hatte sie es nicht vermasselt oder irgendeinen Fehler gemacht, keine peinlichen Pausen gehalten oder sich nervös an ihrer Spucke verschluckt; ihr Mund war trocken gewesen, aber das hatte man nicht hören können, hoffte sie. Es war ein richtig tolles Gefühl, etwas mündlich anstatt schriftlich zu vermitteln. Irgendwie mächtiger.
„Bereit für die nächste Show?“, fragte der Kameramann.
Anne zog an ihrer Zigarette und nickte eifrig. Sie würde das hier noch zu schätzen wissen, auch wenn sie ihre Bedenken gehabt hatte, als sie sich wieder dazu entschlossen hatte, Freelance-Journalistin zu werden und sich TV2 Ostjütland dann auch noch völlig unerwartet mit einer Aufgabe für sie gemeldet hatte. Sie hatten wohl ihren Diskussionsbeitrag in der dänischen Tageszeitung Politiken gelesen, diese Kritik an der Berichterstattung im Media House Denmark, die ihr Kündigungsschreiben endgültig besiegelt hatte und von dem Anne zuerst befürchtet hatte, sie hätte sich dadurch alle Aussichten verbaut. Es hätte jedoch auch so gedeutet werden können, dass sie eine ehrliche Journalistin war, die die Informationen, die die Bevölkerung bekommen sollte, egal worum es sich dabei drehte, nicht zensieren wollte, und das passte gut mit den Vorstellungen des kleinen TV-Senders zusammen. Aber das Fernsehen – war das etwas für sie? So viele Jahre lang waren Printmedien ihr täglich Brot gewesen und sie hatte Bedenken gehabt, ob sie sich auf das neue Medium würde einstellen können. Doch die Arbeit als Journalistin war ja im Grunde genommen die gleiche, und als TV2 Ostjütland später fragte, ob sie sich vorstellen könnte, ein Praktikum als Journalistin in der Nachrichtenredaktion zu machen, gab es nicht viel zu überlegen. Sie war jedoch immer noch in der Ausbildung und hätte sich nie vorstellen können, so schnell selbst als Reporterin vor der Kamera zu stehen und im Live-TV zu berichten.
Ein schwarz-weißer Gaardhund schnüffelte an ihrem Hosenbein und holte sie zurück auf die Erde. Vor langer Zeit hatte sie der Hund ihrer Großeltern, die gleiche Rasse gewesen sein Rasse, gebissen, sodass sie in die Notaufnahme musste. Obwohl sie damals noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie das nicht vergessen. Die Narben an ihrem Knöchel waren noch zu sehen, seither hatte sie Angst vor Hunden, besonders vor den kleinen.
„Sigurd Karlsson“, stellte sich der Mann vor, der den Hund stramm an der Leine hielt. „Sie wollten mit mir sprechen?“
Das musste der Mann gewesen sein, der die drei Jungen gefunden hatte. Genauer gesagt, hatte der Hund sie gefunden. Sie betrachtete das Tier skeptisch und schüttelte die Hand, die ihr Sigurd Karlsson entgegenstreckte.
„Genau, danke, dass Sie gekommen sind“, sagte sie und lächelte.
Es war Jytte Thomson gewesen, die die Verabredung getroffen hatte, doch Anne hatte den Mann ausfindig gemacht.
„Was möchten Sie gerne wissen?“ Mit einem kräftigen Ruck an der Leine zog Sigurd Karlsson den Hund von ihr weg; er winselte leise.
„Können Sie uns erzählen, wie Sie die Jungen gefunden haben?“
„Wird das gefilmt?“, fragte er und folgte dem Kameramann mit den Augen, als dieser sich mit der schweren Kamera auf der Schulter näherte.
„Natürlich wird das aufgenommen!“ Jytte kam ganz außer Puste in hochhackigen Stiefeln über den matschigen Asphalt angelaufen.
„Tut mir leid, ich bin zu spät. Mein Sohn hatte einen Unfall. Wir filmen natürlich nicht, wenn Sie das nicht wollen“, fügte sie hinzu und streckte ihm die Hand, schon lange bevor sie angekommen war, zum Gruß entgegen.
Sigurd nickte nur. „Es macht mir nichts aus. Wie ich höre, war es vielleicht gar kein Selbstmord“, sagte er besorgt.
„Woher wissen Sie das?“ platzte es aus Anne heraus, obwohl es sonnenklar war. Twitter und Facebook waren schneller mit den Neuigkeiten draußen, als die Journalisten damit fertig sein konnten.
„Meine Frau hat das gesagt. Hat ihr bestimmt meine Tochter erzählt …“
„Sollen wir in das Gebäude gehen, wo Sie die Jungen gefunden haben?“
„Das dürfen wir nicht. Die Kriminaltechniker sind noch immer an der Arbeit“, sagte Anne und konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht ganz verbergen. Jetzt hatte sie sich schon auf noch einen Kick vor der Kamera gefreut und nun war Jytte gekommen.
„Shit. Na gut, dann müssen wir es hier draußen machen. Stellen Sie sich hierhin.“
Jytte bugsierte den Mann mit dem Hund näher an das Gebäude.
„Das Bonbonband von der Polizei soll mit ins Bild“, kommandierte sie den Kameramann herum.
Der Countdown lief. Anne hielt sich brav im Hintergrund und half Flash mit einer reflektierenden Folie, die das Licht fangen und zurück auf die Hauptpersonen werfen sollte. Dunkle Wolken waren aufgezogen und ein neuer, heftiger Schneeschauer schien im Anmarsch zu sein. Sie mussten sich beeilen.
Jytte leitete mit Informationen über das Erlebnis des Hundebesitzers ein, der die drei erhängten Jungen in der stillgelegten Schlachtanlage in Brabrand gefunden hatte.
„Und nun steht Sigurd Karlsson neben mir.“ Sie wandte sich ihm zu. „Was ging in Ihnen vor, als sie die Jungen entdeckten?“
Der Kameramann richtete die Kamera auf Sigurd und zoomte hinaus auf den Hund, der an der Leine zerrte, um unter dem rotweißen Plastikband der Polizei durchzukommen.
Sigurd zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, rückte die Brille zurecht und holte den Hund erneut mit einem unsanften Ruck an der Leine zurück.
„Zuerst habe ich den einen Jungen gesehen. Er … er hat nicht bei den anderen gehangen. Dann bin ich noch weiter in die Schlachthalle gegangen, wo Kvik, also der Hund, dann bellte. Dort haben die anderen, wie der erste, mit einem Strick um den Hals gehangen. Erst dachte ich, dass es wohl Selbstmord gewesen sein muss, doch jetzt höre ich, dass die Jungen vielleicht umgebracht wurden …“
„Cut! Cut!“, rief Jytte und streckte die Arme in die Höhe. „Das schneiden wir beim Redigieren heraus“, sagte sie zum Kameramann und wandte sich wieder Sigurd zu, der verwirrt aussah. „Von Mord dürfen wir nichts sagen, okay? Dafür gibt es keine Beweise und ich möchte jetzt nichts am Hals haben, was ich dann wieder dementieren muss. Nun gut, beginnen wir von vorne.“ Erneut stellte sie sich mit ihrem professionellen Blick vor die Kamera und fragte genau dasselbe. Sigurd Karlsson gab auch dieselbe Antwort, nur diesmal etwas zögerlicher, und sparte die Aussage mit dem Mord ganz aus.
„Wohnen Sie hier in der Nähe?“
„Ja, gleich ums Eck hier in Helenelyst.“
„Gehen Sie jeden Tag mit dem Hund spazieren?“
„Ja, fast.“
„Und Sie haben die Jungen noch nie gesehen? Oder kannten Sie sie?“
„Nein. Die sind bestimmt nicht aus diesem Viertel …“
„Aber es war Ihr Hund, der den Fund gemacht hat?“
Sigurd nickte und wollte noch etwas sagen, wurde aber von einem Streifenwagen unterbrochen, der nun vor dem Gebäude vorfuhr und anhielt. Zwei Beamte in Uniform und einer in Zivil stiegen aus dem Wagen. Im Nu verlor Jytte das Interesse an dem Hund und seinem Besitzer.
„Just in diesem Moment trifft der neue Polizeikommissar der Polizei von Ostjütland, Anker Dahl, ein. Wir versuchen, eine Aussage von ihm zu bekommen“, sagte sie eifrig ins Mikrofon, während der Kameramann hinter ihr herhastete, als sie den großen Mann einholte.
„Gibt es Neuigkeiten in diesem Fall?“, fragte Jytte und streckte das Mikrofon dem zusammengekniffenen Mund des Kommissars entgegen.
Er blieb stehen und sah die emsige, lockige, etwa dreißigjährige Frau in ihrem Pelzimitat mit einem langen, kalten Blick an, danach sah er auf die Kamera und das TV2-Logo, als ihm aufging, dass er im Fernsehen und somit gezwungen war, sich von seiner zuvorkommenden Seite zu zeigen. Anne lächelte, hier war es nicht so einfach auszuweichen, wie wenn man mit einem Journalisten sprach, der nur Notizen von einem Interview machte. Die Kamera hatte Macht.
„Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich keinen Kommentar zum Stand unserer Untersuchungen“, antwortete er.
„Es gibt also eine Untersuchung? Ist Selbstmord ausgeschlossen?“
„Wie gesagt, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft geben.“
„Was ist mit dem Polizisten, der den Schuss ausgelöst hat?“
„Die Ermittlungen sind an die Polizeibeschwerdestelle übergeben worden. Nur sie dürfen in dieser Angelegenheit eine Verlautbarung abgeben, also kann ich hier leider auch nicht weiterhelfen.“
Er warf ihr ein kurzes, abweisendes Lächeln zu, das sein leider nicht bestätigte, duckte sich unter der Absperrung, die einer der Beamten für ihn anhob, hindurch und verschwand in seinem knielangen Wollmantel im Gebäude. Jytte wandte sich mit einem bedauernden Gesichtsausdruck ihren Zuschauern zu.
„Selbstverständlich bleiben wir an diesem Fall dran“, sagte sie abschließend.
Als die Kamera ausgeschaltet war, seufzte sie laut.
„Shit, da fällt ein Haufen Arbeit beim Redigieren an. Na gut, sollen wir weiter zur DUP? Die Redaktion wünscht sich einen Beitrag dazu in den Nachrichten. Außerdem brauchen wir die neuesten Infos zum Einbruch in diesem Sportladen, also wird’s jetzt ein bisschen stressig.“
Die DUP lag am Bahnhofsplatz und wurde 2012 gegründet, nachdem mehrere Einwände seitens der Bürger und Politiker gekommen waren, weil die Polizei die gegen ihr eigenes Personal eingereichten Beschwerden selbst behandelte, sodass die Sachbearbeitung weder glaubwürdig noch objektiv wirkte. Der Beratungsleiter Martin Dalum willigte in ein Interview vor dem Gebäude ein, machte jedoch darauf aufmerksam, dass es noch nichts Neues gab.
„Unsere Ermittler müssen den Fall erst untersuchen, wir müssen den Polizisten vernehmen und mit den Zeugen sprechen.“
„Aber es gibt doch eine Videoaufnahme, reicht das nicht?“, fragte der Moderator.
„Die Bilder sind zu undeutlich. Wenn also jemand den Vorfall gestern Abend um 21 Uhr am Telefonplatz beobachtet oder etwas Verdächtiges bemerkt hat, würden wir gerne von ihnen hören.“