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Sepp Forcher versteht die Berge. Jeder Berg, so sagt er, erzählt ihm etwas anderes. Man muss ihnen nur zuhören und ihre Sprache verstehen. Nun hat Forcher die Geschichten seiner alpinen Lebensbegleiter aufgeschrieben, denn von ihnen zu lernen ist eine Bereicherung. Das Leben des 90-jährigen Sepp Forcher war ein einziges Gipfelerlebnis, allerdings oftmals mit einem mühsamen Aufstieg verbunden. Sein erstes Geld verdiente er als Lastenträger am Großglockner, wo er seine Frau Helli kennenlernte. Den höchsten Berg Österreichs nennt Forcher folgerichtig seinen Lebensberg. Doch die Zahl der Gipfel, die er in seinem Leben bestiegen hat, geht in die Hunderte. Jeder Berg, jeder Schritt in Höhen und Tiefen hat die Persönlichkeit des Autors geformt, geprägt, geschliffen. Forcher, der wichtigste Repräsentant kitsch- und klischeefreier Volkskultur, legt mit seinem neuesten Buch eine philosophische Wegbeschreibung durch die West- und Ostalpen vor. Ihm auf diesem Weg zu folgen bereichert und beglückt.
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Seitenzahl: 102
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Unter Mitarbeitvon Mario Trantura
Aus dem Inhalt …
Edelweiß
Drei Mal Glockner
Mont Blanc
Hund und Katz
Watzmann-Ostwand
Die Hohe Tatra
La Meije
Tagesgipfel
Piz Bernina
108 Quellen
Edelweiß
Tauernkogel
Die Höhlenwelt
Nachsuche
Die Eiswand
Drei Mal Glockner
Dolomiten
Bergkristalle
Mont Blanc
Mons Claudianus
Hüttengespräche
Hund und Katz
Watzmann-Ostwand
Merci
Matterhorn
Die Langsamkeit
Die Hohe Tatra
Die Pyrenäen
Adamello – Presanella
Monte Disgrazia
Die Feuerspeier
La Meije
Mont Aiguille
Der Zahn des Riesen
Der Große Belchen
Tagesgipfel
Horizonte
Der Hochschwab
Die Hausberge
Piz Bernina
Triglav – Fermeda
Alpenverein
Großvenediger
108 Quellen
Die letzte Klettertour
Meine ersten Berggefühle entwickelten sich recht langsam. Obwohl Hüttenwirt, Bergführer und Schilehrer, erachtete es mein Vater als nicht unbedingt notwendig, mich im Klettern und Schifahren zu unterweisen. Auf diese Art erzeugten die Alten früherer Zeit Abhängigkeit und das Gefühl der Minderwertigkeit. Die Folge war, dass ich lange Zeit ein schlecht ausgerüsteter, miserabler Schifahrer gewesen bin und für das Klettern überhaupt kein Interesse aufbrachte.
Hie und da wurde mir die Ehre zuteil, dass mich ältere Hüttengäste als Begleiter duldeten, wenn sie einen der vielen Gipfel des Tennengebirges ersteigen wollten. Tiefere Spuren hinterließen diese Unternehmungen bei mir Zehn- bis Zwölfjährigem jedoch nicht.
Stattdessen befasste ich mich intensiv mit der Welt der Bergblumen. Ein Geschenk der Natur, das nur mäßiger Anstrengung und wenig Wagemut bedarf. „Es ist zum Niederknien“ – dieser Ausspruch muss heutzutage für alles herhalten, ist zu einem sinnentleerten Sager geworden. Für mich war es schlichte Notwendigkeit, mich hinzuknien, wenn ich im Frühling die ersten Schneerosen und Soldanellen, die Eisglöckchen oder auch Troddelblümchen bewundern wollte. Dann kamen der Seidelbast, das unvergleichliche Blau der Enzianblüten, der herbe Duft der Alpenrosen und in den schwerer zugänglichen Schrofen die Goldprimel oder, wie wir dazu sagen, das Gamsbleaml oder Petergstamm.
Als Krönung erschien im steilen Felsgelände das alpine Löwenpfötchen, im Latein der Botaniker Leontopodium nivale subsp. alpinum genannt und Innbegriff der Bergromantik: das Edelweiß. Für unsere Nachbarn, die Bauern, die Almleute, die Sennerinnen, das einzige Symbol, das sie im Zusammenhang mit dem in ihren Augen nutzlosen Bergsteigen gelten ließen. Folglich wurde das Suchen, Finden und Pflücken schöner Edelweißsterne zu einer frühen Leidenschaft für mich, die sich allmählich steigernd in Freude am Klettern verwandelte.
Meine erste Klettertour am Seil eines guten Freundes war die Nordkante des Knallsteins im Tennengebirge. Ich besaß nur Kletterschuhe minderer Qualität und nach der ersten Seillänge waren sie schon unbrauchbar. Den Rest der Tour ging ich barfuß. Das Gipfelgefühl war überschattet von dem Gedanken an den Abstieg über grobes Geröll. Der Freund erbarmte sich und holte vom Einstieg meine festen Schuhe. Damit bewies er mir, dass Bergkameradschaft kein leerer Begriff sein muss.
Was Gipfelglück sein kann, erlebte ich als junger Spund, der einen alten Herrn auf die Bischofsmütze führte. Am Vortag hatten die Filzmooser Kriegsheimkehrer ein großes hölzernes Gipfelkreuz aufgestellt. Der alte Herr und ich waren die ersten Touristen oben beim Kreuz. Die Tränen, die seine alten Wangen benetzten, haben mich tief berührt.
Heute weiß ich, warum es mir immer wichtig war, meinen Seilgefährten das Gipfelglück zu vermitteln.
Auf dem Gipfel des Tauernkogels gedeiht der Blaue Eisenhut. Die schönblättrige Pflanze ist hochgiftig. Ihre blauen Blüten erinnern an die Form eines Eisenhelms, wie ihn vor Jahrhunderten die Ritter trugen. Ihr bevorzugter Nährstofflieferant ist Schafmist. Und solchen gibt es auf dem etwas über 2000 Meter hohen Gipfel genug. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es Schafe waren, die den Kogel als Erste bestiegen. Für mich, damals kaum zehn Jahre alt, war es nicht allzu schwer, es den Schafen gleichzutun, und so wurde der Tauernkogel mein erster 2000er, den ich aus eigenem Antrieb und ohne Führung bestieg.
Sechs Jahre später stand ich wieder einmal oben. Im Winter. Mit meinem Begleiter Othmar Stradner, der mir als ehemaliger Fallschirmjäger ein Vorbild für Kühnheit und Wagemut war. Beides Eigenschaften, die für unser Vorhaben notwendig waren. Denn wir wollten die Ersten sein, die mit Schiern vom Gipfel über die teils sehr steilen Südosthänge zu Tal fuhren. Ein Unternehmen, das nicht ungefährlich und wahrscheinlich aus diesem Grund auch von niemandem vorher versucht worden war. Das leichtfertige Vorhaben gelang wohl auch deshalb, weil sich der Spruch vom Dummen, der das Glück hat, wieder einmal als richtig erwies. Verglichen mit den tollkühnen Steilwandfahrern unserer Tage ist unsere Tat als Kindergartenspiel zu betrachten, weil wir – gleich Kindern – kein Gefühl für die Gefahr aufbrachten.
In der Zeitung konnte man dann von den schneidigen Erstbefahrern lesen, was zu einer kurzzeitigen, sich schnell verflüchtigenden Berühmtheit führte. Geblieben ist die lebenslange Freundschaft mit Othmar.
In den folgenden Jahren ist mir das Tennengebirge mit seinen Gipfeln, Höhlen und dem karstigen Plateau, das in den kurzen Sommern von unzähligen Schafen beweidet wird, so vertraut geworden, dass ich von meiner Bergheimat sprechen kann. Jahrelang war die von meinen Eltern bewirtschaftete Söldenhütte des Österreichischen Alpenvereins mein Daheim. Von meiner Schlafkammer aus konnte ich die ganze Kette der Hohen Tauern überblicken. Dazu noch das mächtige Massiv des Hochkönigs. Diese ganze Pracht zu sehen, wirkte für mich wie eine ständige Herausforderung, eine ewige Wunschliste.
Auf dem Weg zur Söldenhütte im Tennengebirge
Und so nach und nach ging ein Wunsch nach dem anderen in Erfüllung. Hochalmspitze, Ankogel, Schareck, Sonnblick, Glockner, Wiesbachhorn, Hochtenn und Hochkönig. Sie alle konnte ich von meiner Liste streichen und sie alle füllten meinen Erinnerungsrucksack mit schönen, ernsthaften und markanten Erlebnissen.
Meine Schlafkammer gibt es nicht mehr. Die Söldenhütte ist um- und ausgebaut und in Heinrich- Hackel-Hütte umbenannt worden. Aber unausrottbar wie der Blaue Eisenhut ist meine Zuneigung zur alten Bergheimat geblieben.
Der Lichtbildvortrag, den der Salzburger Höhlenforscher Gustav Abel im Jahr 1942 in meiner Klasse in der Volksschule Mülln hielt, haftet heute noch in meinem Gedächtnis. In leuchtenden Farben und im Großformat wurde uns Kindern der Zauber der Eisriesenwelt nahegebracht. Kurz darauf glückte Abel die Entdeckung der Eiskogelhöhle im Tennengebirge.
Beide Geschehnisse prägten meine Entwicklung über Jahre hinweg, weil sie meine Neugier auf die finstere, lichtlose Welt im Inneren der großen Kalkberge lenkten. Für die Erforschung und Vermessung der Eiskogelhöhle bot sich als idealer Stützpunkt die Söldenhütte an. Vom Bahnhof im damaligen Dorf Werfen, in drei Gehstunden bequem erreichbar, ging man von der Hütte in nur eineinhalb Stunden zum Höhleneingang. Die Arbeit der Forscher war nur an den Wochenenden möglich, und trotz der großen Strapazen trugen alle mit Begeisterung zum Erfolg bei. Riesige Hallen und Gänge, prächtige Eis- und Tropfsteinfiguren und schließlich eine Gesamtlänge von über 6000 Metern lohnten ihr Tun.
Mich berührte das alles nur am Rande, weil ich außer in den Ferien im Schülerheim in Salzburg meine Unterkunft hatte. Die Erzählungen der Forscher und meiner Eltern hielten jedoch meine Neugier wach. In den Ferien war es auch, dass ich die gewaltige Eisriesenwelt besuchen konnte. Der Geruch vom Acetylengas aus der Karbidlampe ist mir seither vertraut. Dann, 1947, wagte ich auf eigene Faust den ersten Erkundungsvorstoß in die Eiskogelhöhle. Karbidlampe und Steigeisen entlieh ich mir aus dem Depot der Forscher in der Söldenhütte, und so machte ich die ersten Schritte auf dem blanken, harten Höhleneis.
Das Gefühl, welches ich dabei empfand, war überwältigend. Wie immer dem des Kenners, des Wissenden, weit überlegen. Neugier, Naivität und grenzenloses Staunen sind die Waffen der Laien. Dass auch ein Quäntchen Dummheit dazugehört, versteht sich von selbst und wurde mir nach stundenlanger Suche peinlich bewusst. In einer kleinen Eishalle fand ich keine Fortsetzung mehr. Also – blamable Umkehr. Aber das Feuer war entfacht.
Gustav Abel nahm mich unter seine Fittiche. 1949 wurde ich Mitglied des Salzburger Höhlenvereins, ein Jahr danach legte ich die Prüfung zum „provisorischen“ Höhlenführer ab, zum „Echten“ fehlte mir die Volljährigkeit. Vielen Menschen konnte ich die Schönheit der Eiskogelhöhle nahebringen, und meine Freude an der Unterwelt führte mich im Lauf der Jahre in unzählige Höhlen in ganz Europa. Mein Vater, der Dolomitenbergführer, konnte das nicht verstehen und sprach gern und oft von den Höhlenwürmern. Vielleicht war das auch ein Zeichen des Respekts …
Heute sind aus den Höhlenforschern Spezialisten geworden. Wissenschaftler, die in bisher unvorstellbare Tiefen vordringen, Experten, die sich mit den Bewegungen des Wassers dort unten befassen, Menschen, deren Abenteuerlust dem Wissen um die Unergründbarkeit vieler Dinge gewichen ist und deren Tun für die Allgemeinheit immens wichtig ist, aber oft wenig geschätzt wird.
Ich bewundere sie alle. Obwohl ich immer noch gerne an den Geruch von Acetylengas, das Fauchen aus dem Brenner der Karbidlampe und ihr helles, weißes Licht denke.
Nachsuche ist ein Wort, das Jäger ungern hören. Wenn ein Wild durch einen Fehlschuss nicht getötet, sondern nur verletzt wird, und daher flüchtig werden kann oder sich versteckt, verkriecht, beginnt die Suche nach ihm.
In meiner Jugendzeit war ich für meine Kenntnisse der alten, vergessenen Jägersteige und vieler Gamswechsel bekannt. Und wenn die Jäger mein Herumstreunen in ihren Revieren auch mit Misstrauen betrachteten, bei einer Nachsuche war ich für sie sehr oft hilfreich. Mein Antrieb war ein verletztes, leidendes Tier so aufzubringen, dass es der Jäger mit einem gezielten Schuss von seinem Leiden erlösen konnte. Dazu muss gesagt werden, dass Fehlschüsse in der Regel Sache der Jagdgäste und ganz selten der Jäger sind.
Meine erste Nachsuche galt einem von der Jagdherrin angeschossenen Gamsbock, der trotz einer schrecklichen Verletzung seines Hinterlaufs dreibeinig flüchtig geworden war. Die Verfolgung des armen Tieres gestaltete sich schwierig. Ich wurde seiner kaum ansichtig, nur wenige Blutstropfen (in der Jägersprache Schweiß) in dem felsigen Gelände hielten mich gleich einem Hund auf seiner Fährte. Stellen, die ich nur kletternd und daher zeitraubend überwinden konnte, der Gamsbock übersprang sie mit einem Satz. Nach vielen Stunden der Verfolgung konnte er endlich erlegt werden. Es ist ein seltsames Gefühl, das einen beschleicht, wenn man sich über ein totes Tier bückt, dessen schwere Schussverletzung nach menschlichem Ermessen eine Flucht, noch dazu im schwierigen Felsgelände, unmöglich erscheinen lässt. Da werden einem die eigene Schwäche und Plumpheit deutlich bewusst.
Im Herbst, wenn die vielen Schafe von den Höhen in das Tal getrieben werden, kann es vorkommen, dass sich einige Tiere oder kleine Gruppen absondern, sich gewissermaßen dem Herdentrieb verweigern. Sie beginnen allmählich zu verwildern, widerstehen den Lockrufen der Hirten und dem für sie notwendigen Salz. Mit Sicherheit werden sie den Winter nicht überleben. Also heißt es für den Hirten oder den Bauern, der seine Tiere vermisst, nachsuchen! Oft wurde ich gebeten, mitzuhelfen, weil es selten gelingt, sie einzufangen oder überhaupt zu finden.
Eines dieser verwilderten Schafe wurde von einer kleinen Schneelawine mitgerissen, blieb aber unverletzt auf einem kleinen Felsvorsprung in einer senkrechten Wand liegen. Der Schafhirt sah für sich keine Möglichkeit, dem Tier helfen zu können. Aber er wusste von meinen Kletterfähigkeiten und er hoffte auf eine rettende Lösung mit meiner Unterstützung. Die leider nicht gelang. Ich seilte mich etwa 30 Meter zu dem Felsvorsprung, auf dem das Schaf sich befand, ab, und als ich spürte, wie es unruhig wurde, versuchte ich, am Seil ein paar Meter über ihm hängend, es mit leisen Lockrufen zu besänftigen. Anfangs schien es auch so, als ob das Schaf ruhiger würde. Langsam, in kleinen Rucken verkürzte ich den Abstand. Bis sich, von einer Bewegung des Seils verursacht, ein Stein löste. Das Schaf erschrak und sprang in die Tiefe. 60 Meter weiter unten zerplatzte ein Tierleben auf einer Felsplatte.
Der Jäger beobachtete, wie ein Steinadler versuchte, ein junges Reh zu fassen. Das Reh entkam, offenbar verletzt, und verkroch sich in einer Felsspalte. Die Nachsuche war nicht aufwendig. Nur der eine Zeitlang über mir kreisende Adler brachte einige Spannung in das Geschehen. Beim Felsspalt, in dem sich das Reh verkrochen hatte, kamen mir Zweifel. Ich dachte, der Jäger hätte sich getäuscht. So eng, wie der Felsspalt war, schien es unmöglich, dass ein Reh sich darin verschliefen konnte. Doch der Jäger hatte schon richtig gesehen und ich war es, der sich getäuscht hatte. Denn als ich an dem mittlerweile verendeten Wild zu ziehen begann, kam nach und nach der ganze Körper hervor. Wie groß muss die Angst gewesen sein, um sich so klein wie nur möglich zu machen? Der Jäger schenkte mir das Reh und als ich es zerwirkte, sah ich, dass der Adler mit seinen zupackenden Fängen fünf Rippen gebrochen hatte. Mit meiner Nachsuche brachte ich ihn um seine sichere Beute.