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Die Beschleunigung der Schrift E-Book

Wolf-Rüdiger Wagner

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Beschreibung

Eisenbahn und Telegrafie stehen im 19. Jahrhundert für die Beschleunigung und Ausweitung gesellschaftlicher Beziehungen. Wie Wolf-Rüdiger Wagner zeigt, entsprach die im deutschsprachigen Raum übliche Kurrentschrift nicht mehr den Anforderungen an schriftliche Kommunikation. Als »Beschleunigungsmittel des Gedankenverkehrs« bot sich die Stenografie an. Ihre Nutzung als Verkehrsschrift setzte jedoch eine Einheitskurzschrift voraus. Zu deren Einführung kam es aber erst 1924 nach langwierigen Verhandlungen auf Druck der Reichsregierung. Anhand von Presseberichten und Archivtexten bietet der Band einen Einblick in die vielschichtigen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklungen sowie den Veränderungen im Bereich der Kommunikation.

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Seitenzahl: 380

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Wolf-Rüdiger Wagner

Die Beschleunigung der Schrift

Geschichte der Stenografie im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld

© Wolf-Rüdiger Wagner

Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld

Umschlagabbildung: Von pholidito / Adobe Stock

Print-ISBN: 978-3-8376-7155-1

PDF-ISBN: 978-3-8394-7155-5

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7155-1

Buchreihen-ISSN: 2569-2240

Buchreihen-eISSN: 2702-8984

Inhalt

 

Die Stenografie als »Bundesgenossin von Dampf und Elektrizität«

Von der Redezeichenkunst zur Verkehrsschrift

»Zeit ist Geld«

Die private Nutzung der Stenografie als Alternative zur Kurrentschrift

Öffentlichkeit im Zeichen der Stenografie

Die Stenografie als »Brückentechnologie«

Die Erfindung der Stenografie und die Rolle der Schreibmaterialien

Ein königl. Secretär und geheimer Kanzellist wird zum Vater der deutschen Redezeichenkunst

»Das Werkzeug des Stenographen ist in der Regel Bleistift, glattes Papier oder Pergament«

Um »Gemeingut des Deutschen Volkes« zu werden, muss die Stenografie auf der Buchdruck-Schnellpresse gedruckt werden

Die Stenografie als Bundesgenossin einer besonnenen Rechtschreibreform

Die »Beschleunigungsmittel des Gedankenverkehrs«

Schnellschreibmaschinen

Wird die »erprobte Handfertigkeit des Stenographen« durch Stenografiermaschinen ersetzt?

Die Stenografie und die Suche nach einem phonetischen Universalalphabet

Stenografie und Telegrafie

Die Stenotelegrafie als Kombination aus mechanischer Stenografie und Telegrafie

Die Stenografie ist ebenso unentbehrlich für das Telefon wie die Telegrafie für die Eisenbahn

Die Stenografie und die »funktelephonische Uebermittlung von Zeitungsnachrichten aller Art«

Sprechmaschinen statt Stenografie – Die Ergänzung des Telefons durch Sprachaufzeichnungen

»Diese Diktiermaschine ist die jüngste Errungenschaft des auf praktische Ziele gerichteten Fortschrittes«

Die Diktiermaschine als »mechanisch arbeitender Schreibknecht« verändert Arbeitsabläufe und Anforderungen an die Büroarbeit

Poulsens Telephonograph als »unentbehrliche Vervollkommnung des Fernsprechwesens«

»Notiermaschinen« zur Mitschrift musikalischer Improvisationen

»Die Stenographie ist ein Kind der Politik«

Die Stenografie als »Waffe des Parlamentarismus«

Gabelsberger und die Einführung der Stenografie in Sachsen

In Österreich hielt man die Festanstellung der Stenografen im Reichsrat für nicht zweckmäßig

Die Organisation der stenografischen Büros

Stenografische Berichte aus der Nationalversammlung in der Paulskirche

Die Stenografie und die Öffentlichkeit in Gerichtsverfahren

Das Verlangen nach Öffentlichkeit

Die Stenografie als Mittel zur »objectiven Feststellung des Thatbestandes«

Öffentliche Gerichtsverhandlungen und die Presse

Der Prozess gegen Benjamin Waldeck wegen des Verdachts an der Beteiligung an revolutionären Umtrieben

Der Prozess gegen Franz Richter, den Direktor der Kreditanstalt

Die Berichterstattung über die Revisionsverhandlung gegen Dreyfus im Le Figaro

Sensationsberichterstattung

Die Stenografie als Bundesgenossin der Kriegskunst

»Nichts braucht dem treulosen Gedächtnisse anvertraut zu werden, kein Irrthum kann obwalten«

Stenografie als Kommunikationsmittel im allgemeinen Dienstverkehr

Der militärische Nutzen der Stenografie als »Engschrift«

Die Stenografie schafft Öffentlichkeit und erleichtert ihre Kontrolle

Bismarck und die Stenografie

Die Stenografie führt dazu, beim Wort genommen zu werden

»Der Kaiser ist los«

Die Stenografie und der »Einmarsch der Frau ins Berufsleben«

»Das Eindringen der erwerbenden Frau in den kaufmännischen Beruf [ist] eine der interessantesten sozialen Erscheinungen unserer Zeit«

Die Handlungsgehilfen und das »Eindringen der Frau in das kaufmännische Gewerbe«

Die Schnellschreibekunst als »Cultur-Errungenschaft«

Wilhelm Stolze, Angestellter der Berlinischen Feuerversicherungsanstalt, erarbeitet eine stenografische »Verkehrsschrift«

Die Stenografie als Antwort auf die Beschleunigung der Lebensverhältnisse

Zeit ist Geld

Die Stenografie als Engschrift

Stenografie ermöglichte die Teilung der Arbeit zwischen dem, der denkt, und dem, der schreibt

»Praktisch ist die Stenographie als Notatenschrift zu verwenden«

»Lesen ohne ein angemessenes Excerpiren bringt wenig Frucht«

»Nachschreiben« von Vorlesungen und das Nachdrucksgesetz

Die Stenografie und der Schutz geistigen Eigentums

Die Stenografie als »geistiges Faulheits-Kissen« für Schüler und Studenten

Über den praktischen Nutzen und den Bildungswert der Stenografie als Unterrichtsfach

Die Stenografie ersetzt die »den Flug des Gedankens hemmende Currentschrift«

Die Leistungen des stenografischen Vereinswesens

Die Erhaltung der Schrifteinheit

Die Bedeutung der stenografischen Zeitschriften für die Erhaltung der Schrifteinheit

Angebot von Stenografiekursen

Öffentlichkeitsarbeit

Förderung des Vereinslebens

Vergleichskämpfe zwischen den stenografischen Schulen

Vom Kampf der Systeme zur Einheitskurzschrift

Die Häufigkeitszahl bildet bei allen stenographisch-wissenschaftlichen Fragen einen Hauptbestandteil

Eingabe der Stenografieschulen zur »Schaffung einer Einheitskurzschrift« an das Reichsamt des Innern

Der »Dreiundzwanzigerausschuß« zur Schaffung der deutschen Einheitskurzschrift

Am 20. September 1924 war »für das deutsche Volk die deutsche Einheitskurzschrift geschaffen«

»Friedensschluß im Stenographenkrieg?«

Die Stenografie als »Brückentechnologie«

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Die Stenografie als »Bundesgenossin von Dampf und Elektrizität«1

Dampf und Elektrizität standen im 19. Jahrhundert für die Überwindung von Raum und Zeit. Im Bereich der Kommunikation waren es die Eisenbahn und die Telegrafie, die für eine nie für möglich gehaltene Beschleunigung und Erweiterung des Personen- und Nachrichtenverkehrs sorgten. Um mit dieser Beschleunigung Schritt zu halten, bot sich die Stenografie als ein zeitsparendes Mittel zum Austausch, zum Sammeln und zum Sichern von Informationen an.

Stenografische Systeme waren seit der Antike bekannt. Wenn im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum von der »Erfindung« der Stenografie die Rede war, dann bezog sich diese Aussage auf die von Franz Xaver Gabelsberger entwickelte »Redezeichenkunst«. Gabelsberger wird mit Recht als »Vater der deutschen Stenographie«2 bezeichnet, da er nicht nach englischen und französischen Vorbildern geometrische Zeichen verwendete, sondern sein Alphabet aus Teilen der gebräuchlichen Kurrentschrift zusammensetzte. Durch die Reduzierung der beim Schreiben notwendigen Schriftzüge und Handbewegungen strebte Gabelsberger eine möglichst hohe Schreibgeschwindigkeit an. Auf diesem Weg folgten ihm alle anderen »Stenographie-Erfinder von Bedeutung« im deutschsprachigen Raum.3

Bevor die Stenografie zur »Bundesgenossin von Dampf und Elektrizität« werden konnte, war sie als »Redezeichenkunst« zuerst einmal ein »Kind der Politik«. Gabelsberger, ein Kanzlist in bayerischem Staatsdienst, hatte sich aus »Vergnügen in Mussestunden« mit der Idee einer »Schnellschrift« beschäftigt. Als 1819 in Bayern die erste Ständeversammlung einberufen wurde, entstand mit dem notwendigen Protokollieren der Verhandlungen für seine Schnellschrift ein konkretes Anwendungsgebiet. Gabelsberger kamen bei der Ausarbeitung seines stenografischen Systems, wie er selbst hervorhebt, seine »zweckdienlichen Vorkenntnisse« aus verschiedenen Gebieten zugute. Dazu zählte seine Vertrautheit mit dem Dechiffrieren ebenso wie seine Kenntnisse der Kalligrafie und seine praktischen Erfahrungen mit der erst wenige Jahre zuvor erfundenen Lithografie.4

Die stenografischen Protokolle schufen zwar die Voraussetzung, um die Öffentlichkeit umfassend über das parlamentarische Geschehen zu informieren, ohne Schnellpressen und Eisenbahnen hätte jedoch nicht die Möglichkeit bestanden, Zeitungen schnell in hoher Auflage zu drucken und sie zeitnah über den lokalen Bereich hinaus zu verteilen. Die »zweckdienlichen Vorkenntnisse«, die es Gabelsberger ermöglichten, seine Redezeichenkunst zu entwickeln und zu verbreiten, zeigen ebenso wie der Hinweis auf die Voraussetzungen, die gegeben sein mussten, um die Öffentlichkeit mit Hilfe stenografischer Protokolle zeitnahe über parlamentarische Abläufe zu informieren, wie wichtig es ist, das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich die Stenografie entwickelte, in den Blick zu nehmen.

Von der Redezeichenkunst zur Verkehrsschrift

1834 veröffentlichte Gabelsberger sein inzwischen bei der Aufzeichnung parlamentarischer Verhandlungen erprobtes stenografisches System unter dem Titel Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder Stenographie. 1841 erschien ein von Wilhelm Stolze verfasstes Theoretisch-practisches Lehrbuch der deutschen Stenographie. Damit standen zwei stenografische Systeme zur Verfügung. Gabelsbergers System war als »Redeschrift« gedacht, »mit der man die schnellste Rede wortgetreu und sicher lesbar festhalten kann«. Stolzes Ziel war es von Anfang an, eine »Verkehrsschrift« zu entwickeln, »für den gewöhnlichen Gebrauch derer, die durch ihren Beruf genötigt sind, viel mit der Feder zu arbeiten«.5

In den 1840er Jahren gründeten sich die ersten Vereine, in denen sich Anhänger der Stenografieschule Stolze bzw. Anhänger der Redezeichenkunst von Gabelsberger zusammenschlossen. Das ehrenamtliche, im heutigen Sinne »bürgerschaftliche Engagement« der Stenografenvereine sollte in der Folgezeit für die Verbreitung der Stenografie, für ihre Weiterentwicklung und gleichzeitig für die »Erhaltung der Schrifteinheit« innerhalb der verschiedenen Schulen eine zentrale Rolle spielen. Ein Beispiel ist die in den 1890er Jahren von mehr als 1000 freiwilligen Mitarbeitern durchgeführte Untersuchung zur Feststellung der Häufigkeit deutscher Wörter, Silben, Laute und Lautverbindungen, um eine empirische Grundlage zur Optimierung der Stenografie zu schaffen. Hatte sich Gabelsberger an den 4 Bänden von Johann Christoph Adelungs Wörterbuch der hochdeutschen Mundart orientiert, bildeten für die von Friedrich Wilhelm Kaeding initierte Häufigkeitszählung Texte aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen den »Zählstoff«, der letztlich 20 Millionen Silben und 11 Millionen Wörter umfasste.6 Daran wird deutlich, dass die Entwicklung der Stenografie im 19. Jahrhundert einerseits das Ergebnis eines veränderten Blicks auf Sprache war und andererseits dazu beitrug, den Blick auf Sprache zu verändern.

Die Etablierung der Stenografie als Verkehrsschrift, wie sie bald nicht nur von den Stolze’schen Stenografenvereinen angestrebt wurde, setzte die Einigung auf eine Einheitskurzschrift voraus. Nachdem mehrmals Versuche, eine solche Einigung herbeizuführen, an den unüberbrückbaren Unterschieden zwischen den stenografischen Schulen gescheitert waren, traten 1906 die Stenografenverbände an die deutsche Reichsregierung mit der Aufforderung heran, eine Vermittlerrolle in diesem Streit zu übernehmen. Jedoch kam es erst 1924 zur Einführung der »Deutschen Einheitskurzschrift«. Allein der »hohe Wert«7, der der Stenografie übereinstimmend zugesprochen wurde, kann erklären, warum sich die deutsche Reichsregierung von 1906 bis 1924 trotz Weltkrieg und Revolution um die »Herbeiführung einer Deutschen Einheitsstenographie« bemühte.

Die Beschäftigung mit der Stenografie konzentriert sich im Folgenden auf den Zeitraum von 1834, dem Jahr, in dem Gabelsberger seine Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst veröffentlichte, bis zum Jahr 1924, in dem die Entscheidung über die Einführung einer Einheitskurzschrift als stenografischer Verkehrsschrift in Deutschland und Österreich fiel. Es geht nicht darum, den mit »religiösem Eifer« ausgetragenen »Systemkampf« der Stenografieschulen um die Ausgestaltung der Einheitsstenografie nachzuvollziehen.8 Auch der »Ueberproduction«9 immer neuer Stenografiersysteme bzw. von Varianten zu bestehenden Systemen wird nicht nachgegangen.

Vielmehr interessiert die »Erfindung« der Stenografie im 19. Jahrhundert und der Verlauf ihrer gesellschaftlichen Aneignung in den folgenden Jahrzehnten, weil sich daran zeigen lässt, in welche komplexen Netze gesellschaftlicher, technischer und kultureller Entwicklungen Innovationen auf dem Gebiet der Kommunikation eingebunden sind und wie sich im 19. Jahrhundert in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen neue Anforderungen an die Kommunikation entwickelten und ausdifferenzierten. Dabei muss der Konkurrenz bzw. dem Zusammenspiel zwischen der Stenografie und anderen sich gleichzeitig entwickelnden »Beschleunigungsmitteln des Gedankenverkehrs«10 ebenfalls nachgegangen werden – zu denken ist hier vor allem an die Telegrafie und Telefonie. Wobei besonders interessiert, wie diese Entwicklungen in zeitgenössischen Äußerungen eingeordnet und bewertet werden. Dem in diesem Buch verfolgten Interesse an der Stenografie als Kulturtechnik entspricht, anstelle eines chronologischen Vorgehens, der Blick auf Anwendungsbereiche der Stenografie.

»Zeit ist Geld«

Die zunehmende Schreibarbeit in allen gesellschaftlichen Bereichen legte es nahe, sich der Stenografie als »Concept-, Geschäfts- und Correspondenzschrift« zu bedienen. Unter dem Eindruck, die »schwerfällige, gleich einer alten Postkutsche langsam und behäbig dahinholpernde, breitspurige Kurrentschrift« könne mit dem gesellschaftlichen Fortschritt nicht mehr Schritt halten, setzte man auf die fünf Mal schnellere Stenografie.11 Schon 1852 findet sich in der Illustrirten Zeitung folgende Einschätzung:

Den gewaltigen Reformen, welche unsere persönlichen und sachlichen Verkehrsmittel seit einigen Jahrzehnten erfahren haben, wird über lang oder kurz eine gleiche in Bezug auf Vermittlung des Gedankenausdrucks, des schriftlichen Verkehrs folgen müssen. Unser Jahrhundert, welches das Motto ›Zeit ist Geld‹ mit tiefen Zügen an der ehernen Stirne trägt, verlangt gebieterisch eine zweckmäßige Umwandlung der schwerfälligen, eckigen, mühsamen und zeitraubenden Currentschrift in eine leichtere, schreibflüchtigere, in wenig Zügen Vieles prägnant ausdrückende Zeichensprache, welche dem Gedankenfluss des speculativen Philosophen, wie des speculirenden Geschäftsmannes nachzueilen und den Ideen des auf neue Erfindungen sinnenden Technikers, kaum gedacht, Form und Gestalt zu leihen vermag.12

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts tauchte, wenn es um die Stenografie als »Geschwindschrift« ging, das aus Amerika und England übernommene Schlagwort »Zeit ist Geld« auf. Für den studierten Volkswirt Theodor Heuß ordnete sich dieses Streben nach Zeitersparnis in einen größeren Zusammenhang ein. In der parlamentarischen Diskussion über die Einführung der Einheitskurzschrift sprach er davon, dass die Stenografie, »eine Teilerscheinung der ganzen ökonomisch-technischen Rationalisierung [sei], in der unser behördliches und unser kapitalistisch-industrielles Leben steht«.13

Damit nahm er Bezug darauf, dass das Motto »Zeit ist Geld« nicht nur für die Zeitersparnis einzelner Personen Geltung hatte, sondern es insbesondere um die Nutzung der Stenografie in der Büro- und Verwaltungsarbeit ging. Erst die Stenografie machte die Teilung der Arbeit zwischen dem, der denkt, und dem, der schreibt, möglich.14 Eine Arbeitsteilung, die seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch die Einführung der Textverarbeitung und danach durch die Verbreitung von Software zur Erkennung und Verarbeitung von natürlich gesprochener Sprache in vielen Bereichen wieder zurückgenommen wurde. 1924 wurde dem Reichstag eine Denkschrift über den Entstehungsweg der Einheitskurzschrift vorgelegt. In dieser Denkschrift heißt es: »Nachdem die Hindernisse der Schriftzersplitterung gefallen sind, werden nicht nur wie bisher einige Berufe sich der Kurzschrift bedienen, sondern jedermann wird in Zukunft die Kurzschrift beherrschen und verwenden können, die Kurzschrift wird zum Gemeingut des gesamten Volkes werden.«15

Diese Wertschätzung der Stenografie mag aus heutiger Sicht erstaunlich erscheinen. War doch mit der Weiterentwicklung des von Thomas Alva Edison erfundenen Phonographen zum Dictaphon um 1890 eine maschinelle Konkurrenz zur Stenografie entstanden. Zudem hatte der dänische Ingenieur Poulsen um 1900 mit dem Telegraphon ein zukunftsweisendes elektromagnetisches Verfahren zur Aufnahme, Speicherung und Wiedergabe von Tönen aller Art vorgestellt.

Die private Nutzung der Stenografie als Alternative zur Kurrentschrift

Unabhängig von der Stenografie als Redezeichenkunst zur Aufzeichnung parlamentarischer Verhandlungen und den Bestrebungen, die Stenografie als Verkehrsschrift zu etablieren, stand mit den verschiedenen stenografischen Systemen eine Alternative zur Kurrentschrift für die private Nutzung zur Verfügung. Neben dem geringeren Zeitaufwand für Schreibarbeiten ging es um effektivere Möglichkeiten, Informationen festzuhalten und zu sammeln. In einer Zeit, in der ein wiederholter Zugriff auf Dokumente, Bücher oder Zeitschriften im Normalfall nicht ohne Schwierigkeiten möglich war und Kopiertechniken nicht zur Verfügung standen, kam der Stenografie als zeitsparendes Verfahren zum Exzerpieren von wichtigen Passagen aus Texten eine besondere Rolle zu. Der spezifische Nutzen, den das Verfassen stenografischer Exzerpte einzelnen Berufsgruppen bot, wird in Abhandlungen zur Anwendung der Stenografie immer wieder herausgestellt. Selbst Postbeamten wird mit Blick auf ihre Aufstiegsmöglichkeiten das Exzerpieren ausdrücklich empfohlen: »Zweckmäßige Excerpte sichern den Besitz des Gelesenen für die ganze Lebenszeit, sie ersparen oft das zeitraubende, nochmalige Durchlesen ganzer Werke.«16

Neben der Nützlichkeit der Stenografie für das Sammeln und Sichern von Informationen ging es beim Vergleich von Kurrentschrift und Stenografie um die Vorteile der »Geschwindschrift« beim Abfassen von Texten. Von der höheren Schreibgeschwindigkeit erhoffte man sich qualitativ bessere Texte, da die Stenografie es ermögliche, »dem Gange seiner Ideen« unbehinderter zu folgen.17 Dies galt ebenso für die stenografische Aufnahme von Diktaten, da der Diktierende nicht mehr mit Rücksicht auf den Mitschreibenden Pausen einlegen musste.

Das Nachdenken über den Nutzen und die Leistung von Schreibtechniken und Schreibsystemen wird immer dann aktuell, wenn sich Alternativen anbieten. Als sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Stenografie eine Alternative zu der gebräuchlichen Kurrentschrift entwickelte, war eine solche Situation gegeben. Nach dem Eindruck, den man bei der Lektüre der entsprechenden Beiträge in den Zeitungen und Zeitschriften erhält, verliefen die Diskussionen über die Stenografie als einer Alternative zur Kurrentschrift ausgesprochen sachlich. Es finden sich kaum pauschale Aussagen, sondern zumeist wird zwischen verschiedenen Anwendungsweisen und Schreibsituationen unterschieden.

Öffentlichkeit im Zeichen der Stenografie

Die Information der Öffentlichkeit über parlamentarische Debatten und aufsehenerregende Strafprozesse erlangte durch wortgetreue Protokolle eine neue Qualität. Ein herausgehobenes Beispiel hierfür sind die stenografischen Berichte aus der Nationalversammlung in der Paulskirche, deren Veröffentlichung 1848 eine wichtige Rolle im Kampf um die »Informationshoheit« in der öffentlichen Wahrnehmung der parlamentarischen Verhandlungen spielten.

Nach der Erfindung des Telefons kam es im Zusammenspiel mit der Stenografie zu einer bis dahin nicht für möglich gehaltenen Beschleunigung der Berichterstattung. Größere Zeitungsredaktionen beschäftigten »Telephonstenographen«, die längere Berichte von Korrespondenten entgegennehmen konnten, deren telegrafische oder telefonische Übermittlung ansonsten viel zu hohe Kosten verursacht hätte. Jeder musste damit rechnen, beim »Wort genommen zu werden«, sofern seine Äußerungen während eines öffentlichen Auftritts stenografisch mitgeschrieben worden waren. So gaben Formulierungen in Reden von Kaiser Wilhelm II, die über stenografische Mitschriften festgehalten worden waren, mehrfach Anlass zu internationalen und innerdeutschen Kontroversen. Andererseits finden sich Hinweise, dass die stenografische Mitschrift von Vorträgen und Redebeiträgen zur Absicherung gegen eventuelle Anschuldigungen wichtig werden konnte. Vergleiche mit dem Smartphone, das jederzeit audiovisuelle Aufnahmen ermöglicht, drängen sich geradezu auf. Das Medium Stenografie sorgte einerseits für Transparenz, ließ sich andererseits ebenso gut dazu einsetzen, die Öffentlichkeit unter Kontrolle zu halten. Zu diesem Zweck sollten in Preußen die »mit der Ueberwachung von Vereinen beauftragten Schutzbeamten die Stenographie erlernen«.18

Da die Stenografie das »Nachschreiben« öffentlicher Reden und Vorträge ermöglichte, wurde sie in die gesetzlichen Regelungen zum Schutze des geistigen Eigentums einbezogen. So wurden in dem 1837 in Preußen erlassenen Gesetz zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung ausdrücklich »nachgeschriebene« Predigten und Vorträge erwähnt. Daneben stellte sich u.a. die Frage, unter welchen Bedingungen Stenogramme als Urkunden amtlich anzuerkennen waren. Es handelt sich um Fragen, die mit jedem Auftauchen neuer kommunikativer Formate und Medien neu ausgehandelt werden müssen.

Die Stenografie als »Brückentechnologie«

Um die Erfolgsgeschichte der Stenografie im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert nachzuvollziehen, werden vor allem Zeitungen und Zeitschriften herangezogen. Die Suche in digitalen Archiven wird zu einer Zeitreise ins 19. und in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die es möglich macht, etwas über die Einschätzungen und Erwartungen zu erfahren, die von Zeitgenossen angesichts wachsender kommunikativer Anforderungen mit der Stenografie als Schnellschrift verbunden wurden.19

Nicht nur in Meldungen und Berichten tauchte das Thema Stenografie regelmäßig auf, sondern selbst in Tageszeitungen beschäftigten sich immer wieder längere Beiträge mit der Stenografie. Dabei geraten Details in den Blick, die darauf verweisen, in welche gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklungen Innovationen auf dem Gebiet der Kommunikation eingebunden sind. So lange es weder Mikrofone noch Lautsprecher gab, musste an die Stelle der Technik bei Bedarf ein wandelnder Stenograf treten, der sich neben die im Saal sprechenden Redner setzte.20 Anfangs spielte die wörtliche Bedeutung des Begriffs Stenografie als »Engschrift«, also als einer Schrift, die weniger Platz als die Kurrentschrift benötigt, neben der höheren Schreibgeschwindigkeit eine Rolle. Dies änderte sich erst, als die teure Papierherstellung aus »Lumpen« durch den Holzschliff ersetzt bzw. ergänzt wurde. Im Zentrum der Zeitreise steht die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Zeitgenossen, dass die Kurrentschrift mit dem durch »Dampf und Elektrizität« vorgegebenen Tempo nicht mehr Schritt halten konnte. »Beschleunigung« wurde dabei nicht als Bedrohung, sondern als Zeichen für Fortschritt erlebt. In der Stenografie, die der Schrift »Flügel verliehen« hatte21, sah man die »Locomotive des Gedankens und der geistigen Production«.22

Jedoch war die Stenografie als »Handschrift« letztlich von vornherein nicht auf der Höhe einer Zeit, in der das Bestreben in allen Bereichen dahin ging, menschliche Arbeit durch Maschinen und Apparate entbehrlich zu machen. Zeitgleich mit der Entwicklung der Stenografie per Handschrift durch Gabelsberger wurde an der Konstruktion von Stenografiermaschinen gearbeitet und nach Möglichkeiten zur automatischen Aufzeichnung von Sprache gesucht. Seit der Jahrhundertwende boten Edisons Dictaphone und Poulsens Telegraphon hierfür technische Lösungen an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchten dann Meldungen über »Phonoschreibmaschinen«23 oder die »hörende Schreibmaschine« auf, »die mit einer Art Phonograph verbunden, laut gesprochene Wörter selbsttätig niederschreibt und damit die Stenotypistin entbehrlich macht«. Berichtet wird weiterhin – mit »allen amerikanischen Erfindungen gegenüber gebotenen Vorsichtsmaßregeln« – von einer Schreibmaschine, »die mit einem dem menschlichen Auge genau nachgebildeten künstlichen Sehapparat imstande sein soll, Schriftstücke selbsttätig zu lesen und abzuschreiben«.24 Hier wurden technische Entwicklungen vorweggenommen, die erst durch die Digitalisierung und den durch das Internet ermöglichten Datenaustausch realisierbar wurden. Aus heutiger Sicht kam der Stenografie als »Verkehrsschrift« die Funktion einer »Brückentechnologie« zu, die noch einige Jahrzehnte über die Einführung der deutschen Einheitskurzschrift hinaus eine wichtige Rolle spielte. Die Stenografie als »Redeschrift« behauptet bis heute ihre führende Rolle bei der Mitschrift der Verhandlungen in deutschen Parlamenten.25 Die Beschäftigung mit der Geschichte der Stenografie seit ihrer Erfindung durch Gabelsberger liefert so einen Beitrag zum Verständnis der engen Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichem und medialem Wandel.

1Gantter 1904, S. 455

2Die vom Duden empfohlene Schreibweise »Stenografie« wird benutzt, sofern es sich nicht um Zitate bzw. Erwähnung von Eigennamen wie dem »Münchner Stenographen Centralverein« handelt. Dies führt im Text zum häufigen Nebeneinander von »Stenografie« und »Stenographie« und den daraus abgeleiteten Begriffen. Die Übernahme der von der Dudenredaktion akzeptierten alternativen Schreibung »Stenographie« hätte hier keine Klarheit erbracht, da auch in den zitierten Quellen aus dem 19. Jahrhundert und den Anfängen des 20. Jahrhunderts die Schreibweise »Stenografie« auftaucht.

3Vgl. dazu Bunge 1899, S. 11

4Gabelsberger 1834, S. VII f.

5Schmidt 1902, S. 577

6Kaeding 1897, S. 6

7Schulz 1925, S. 1828

8Von einem mit »religiösem Eifer« ausgetragenen »Systemkampf« der Stenografieschulen sprache Theodor Heuß, der spätere Bundespräsident, in der Reichstagsdebatte zur Einheitskurzschrift. Heuß – die Schreibweise »Heuß« entspricht der Schreibweise des Namens in den Reichstagsprotokollen – war in den Jahren 1924 bis 1928 als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei Mitglied des Reichstags.

9Prager Tagblatt vom 20.01.1899, S. 11

10Leipziger Zeitung vom 30.04.1854, S. 35

11Marburger Zeitung vom 27.09.1906, S. 4

12Illustrirte Zeitung vom 29.05.1852, S. 347

13Heuß 1925, S. 1828

14Ansprache des Frankfurter Oberbürgermeisters Johannes Miquel vom 04.03.1883 (Johnen 1924, S. 94)

15Denkschrift 1925, S. 43

16Von einem Postsecretär 1874, S. 360

17Gabelsberger 1834, S. 101

18Bayerischer Eilbote vom 11.02.1851, S. 164

19Mit dieser »Zeitreise« wird der Anspruch erhoben, die Erfolgsgeschichte der Stenografie im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert anhand von Zeitungen und Zeitschriften nachzuzeichnen. Dass hierzu wechselnde Zeitungen und Zeitschriften herangezogen werden, steht zu diesem Anspruch nicht in Widerspruch. Als 1922 über die »funktelephonische Uebermittlung von Zeitungsnachrichten aller Art« nachgedacht wird, heißt es, »abgesehen von den Leitartikeln und vom Feuilleton« seien die meisten anderen Nachrichten »Allgemeingut der gesamten Presse«. (Nesper 1922, S. 1). Dies trifft auch auf die aus dem 19. Jahrhundert und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herangezogenen Meldungen, Berichte und Beiträge zur Stenografie zu. Sie finden sich nicht nur in der jeweils zitierten Zeitung, sondern weitgehend wortgleich auch in anderen Zeitungen. (Die »Trefferquote« hängt bei einer Recherche nicht nur von der Auswahl der digitalisierten Medien, sondern auch von der wechselnden Qualität der eingescannten Vorlagen ab.)

20Innsbrucker Nachrichten vom 01.06.1867, S. 88

21Deutsche Stenographen-Zeitung 1904, S. 455

22Purtscher 1869, S. 77

23Phonographische Zeitschrift Nr. 23/1901, S. 315

24Grazer Mittags-Zeitung vom 03.01.1917, S. 3

25Im Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika werden die Wortbeiräge an Stenografiermaschinen mitgeschrieben und u.a. kommt auch im Landtag von Sachsen-Anhalt neben der handschriftlichen Stenografie eine Stenografiermaschine zum Einsatz.

Die Erfindung der Stenografie und die Rolle der Schreibmaterialien

Wenn im deutschsprachigen Raum von der »Erfindung« der Stenografie die Rede ist, dann bezieht sich diese Aussage auf das von Franz Xaver Gabelsberger entwickelte Kurzschriftsystem. Gabelsberger wurde 1789 in München geboren und starb dort 1849. Nach dem frühen Tod seines Vaters kam Gabelsberger in eine Klosterschule. Dort blieb er bis »zur Zeit der allgemeinen Klostersäkularisation«, besuchte danach für einige Jahre »das Schullehrerseminar, und dann das Gymnasium zu München«. Bevor er, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, als Kanzlist in den bayerischen Staatsdienst eintrat, lernte er Senefelder den Erfinder der Lithografie kennen. Von »großem Einfluß auf sein nachmaliges Schaffen« war, dass Gabelsberger von diesem in die Kunst des Lithografierens eingeführt wurde.1

Gabelsberger war der erste, der nicht nach englischem und französischem Muster geometrische Zeichen verwendete, sondern aus Theilen unserer gewöhnlichen Currentschrift sein Alphabet zusammensetzte. Alle anderen Stenographie-Erfinder von Bedeutung sind ihm hierin gefolgt, so daß Gabelsbergers Idee grundlegend für die ganze deutsche Stenographie gewirkt hat; ihm allein gebürt der Ehrentitel ›Vater der deutschen Stenographie‹.2

Zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche die Voraussetzung für das »Aufblühen der Stenographie« schafften, zählten nach Einschätzung der Zeitgenossen »ein reges öffentliches Leben, namentlich Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens und eine Landesvertretung […]; denn nicht eher sehen wir tüchtige Systeme erstehen, als wenn hinreichend Gelegenheit zur practischen Anwendung geboten ist«.3 In diesem Sinne war die von Maximilian I. Joseph erlassene bayerische Verfassung von 1818 das »allerbeste Förderungsmittel« für Gabelsbergers Arbeit an einer »Schnellschrift«.

Das Ziel, mündliche Vorträge aufzuzeichnen, ließ sich mit der gängigen Kurrentschrift so gut wie nicht erreichen. In England und Frankreich wurden zur Bildung der stenografischer Zeichen »die in der Geometrie üblichen Formen des Punktes, Striches, Kreises und Ovals in verschiedenen Richtungen (Neigungen zur Grundlinie) zur Darstellung der Konsonanten verwendet, während die Vokale durch danebengesetzte Zeichen angedeutet werden«. Im Gegensatz dazu führte Gabelsberger in Deutschland »das graphische Prinzip« ein. Er wich

bei Festsetzung der Buchstaben von dem Gedanken ab, der dem in England bereits bestehenden Systeme zugrunde lag; daß nämlich die kürzesten Zeichen die gerade Linie in ihren verschiedenen Richtungen und einfache Theile des Kreises seien. Ihm schwebte vielmehr der Gedanke vor: um möglichste Kürze zu erzielen, benöthigen die einzelnen stenographischen Zeichen der Verbindungsfähigkeit, und ihre Züge dürfen von dem gewöhnlichen Laufe der Hand nicht viel abweichen, Diesen beiden Bedingungen konnte er aber am einfachsten dadurch gerecht werden, daß er seine Zeichen aus Theilzügen der deutschen Schreibalphabete bildete.4

Dieses von Gabelsberger eingeführte »graphische Prinzip« entsprach den Anforderungen an eine »Geschwindschrift« besser als das »geometrische Prinzip«, bei dem die Formen »fast gezeichnet, also sehr langsam hergestellt werden müssen«.5

Nach Gabelsbergers Vorbilde sind die sämtlichen deutschen Systeme graphisch, sie gebrauchen auch im ganzen dasselbe Zeichenmaterial, aber nicht dieselben Zeichen für dieselben Laute und Lautverbindungen. Die verwendeten Zeichenformen sind: die gerade Linie, der Kreis, der nach oben oder unten offene Halbkreis, das nach links oder rechts geöffnete Oval, der Punkt und die stehende oder liegende Wellenlinie. Der Strich kann am Kopfe oder am Fuße oder an beiden Stellen zugleich gewölbt sein und dann je nachdem mit Kopf- oder Fußschleife versehen sein, kann endlich auch geknickt oder aufwärts oder abwärts gewellt sein. Alle diese Zeichen sind in verschiedenen Größen verwendet, […].6

Selbst wenn man nicht weiter in die Details der »Redezeichenkunst« einsteigt, ist es nach diesen Ausführungen verständlich, dass zur Vermittlung und Verbreitung dieses Zeichensystems das seit Gutenberg übliche Druckverfahren mit beweglichen Lettern nicht ohne weiteres Anwendung finden konnte. Hier bot sich das von Alois Senefelder entwickelte Verfahren des Steindrucks an.7 Gabelsberger hatte vor seinem Eintritt in den bayerischen Staatsdienst bei Alois Senefelder das Lithografieren gelernt. Er selbst zählte seine Kenntnisse im Bereich der Kalligrafie und Lithografie zu den »zweckdienlichen Vorkenntnissen«, mit denen er zur »Ausbildung seines Systems« ausgerüstet war.8

Gabelsberger war der erste, der in seinem 1834 erschienenen Werke Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst die Lithographie anwendete. Gabelsberger, ein tüchtiger Kalligraph, dessen currentschriftliche Schreibhefte lange Zeit in den Münchner Schulen als Unterrichtsmittel verwendet wurden, hatte bei Senefelder die Lithographie erlernt, und schrieb die Seiten seines Lehrbuchs selbst auf Stein.9

Gabelsbergers Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst enthielt neben 24 Druckbogen 49 Bogen Lithografie. Eine andere Möglichkeit, ein Lehrbuch mit praktischen Anleitungen zur Stenografie zu veröffentlichen, hätte in dieser Zeit nicht bestanden. Lese- und Schreibübungen über Holz- oder Kupferstich zu verbreiten, wäre zu zeitaufwendig und zu kostspielig gewesen.

Ein königl. Secretär und geheimer Kanzellist wird zum Vater der deutschen Redezeichenkunst10

Seit 1817 beschäftigte Gabelsberger sich mit der Idee zu einer »Schnellschrift«. Dazu schreibt Gabelsberger selbst im Vorwort seiner Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst:

Als ich im J. 1817 aus freyer Idee mit Ermittlung einer Schnellschrift mich zu befassen anfing, hatte ich dabey keine andere Absicht, als etwa einem höheren Staatsbeamten zur Erleichterung seiner Geschäfte in der Art dienlich zu werden, dass ich vermittels solcher Schrift entweder einzelne Elaborate desselben gleich vom Munde aufnehmen, oder – mir bey minder bedeutenden Gegenständen nur schnell das Wesentlichste seiner Ansichten notiren, das Uebrige aber selbst ausarbeiten könnte.11

Obwohl Gabelsberger mit seiner Idee »damals keinen Anklang« fand, gab er seine »vorläufig gefasste Idee« darum nicht gleich auf, sondern verfolgte sie zu seinem »Vergnügen in Mussestunden« weiter. Dann trat jedoch im Mai 1818 die »bayerische Staats-Verfassung in’s Leben«, und im Jahr 1819 wurde »zur Einberufung der ersten Ständeversammlung geschritten«. »Da ging mir«, so Gabelsberger,

nun der Gedanke auf, dass ich mich durch meine bisher ohne nähere Bestimmung gepflegte Kunst vielleicht nützlich machen könnte, nachdem ich aus den Zeitung wusste, dass in England und Frankreich eigene Schnellschreiber zur Aufnahme der ständischen Verhandlungen verwendet wurden. – Nun fing ich an, die Sache auch ernster zu betreiben.12

In den Folgejahren protokollierte Gabelsberger als Kanzlist im bayerischen Staatsdienst die in regelmäßigen Abständen einberufenen Sitzungen der Ständeversammlung mit Hilfe seiner Schnellschreibmethode, die er dabei fortwährend verbesserte. 1829 wurde sein System »auf allerhöchstem Auftrage von der königl. Akademie der Wissenschaften einer Prüfung unterzogen«. In dem Gutachten wurde Gabelsberger bescheinigt, dass sein System bezogen »auf die Natur des deutschen Alphabetes und auf die Eigenthümlichkeit der Formen und Wortbildung« dem englischen Stenografiesystem überlegen sei.13

Das besondere Gutachten eines der Referenten der königlichen Akademie lautete dahin, ›dass Gabelsberger’s stenografisches Sistem handgerechter und flüchtiger, gefälliger, bei größerer Zahl von Zeichen zugänglicher, also lesbarer und dennoch durch seine innere Konsequenz einfacher und in jeder Beziehung origineller und deutscher sei, als die bisherigen Versuche, die englische Stenografie auf unseren Boden zu verpflanzen.‹Zufolge dieser Gutachten wurde Gabelsberger in den Stand gesetzt, sein Sistem ausführlich zu veröffentlichen, er wartete jedoch noch den Landtag 1831 ab, bei welchem er mit 10 seiner Schüler während der langen Dauer dieser Versammlungen einen glänzenden Beweis der vorzüglichen Befähigung seines Sistems zur Schnellschrift erhielt. Nachdem er auf so gewissenhafte Art und Weise seine Schöpfung vielfach geprüft und erprobt gefunden hatte, schritt er endlich an die Veröffentlichung seiner ›Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder Stenographie. 1834‹.14

Abb. 1: Konstitutionssäule15

Historisches Lexikon Bayerns

Als Gabelsbergers »großes Verdienst« wird in dem Gutachten hervorgehoben, dass er nicht »einfach eines der schon lange bestehenden englischen oder französischen Stenographiesysteme« übernommen und angepasst hatte,

sondern ganz selbständig ein völlig neues System aufstellt. Dadurch war er in der Lage, unabhängig von jedem Vorbild, bloß der Bedürfnisse entsprechend, solche Zeichen für seine Schrift auszuwählen, die einerseits schreibflüchtig und leicht unterscheidbar waren, andrerseits aber auch dem Häufigkeitsverhältnisse in der Weise entsprachen, daß je öfter ein Buchstabe in der deutschen Sprache vorkommt, ein um so einfacheres und rascher zu schreibendes Zeichen gewählt wurde. Das zu diesem Zweck von Gabelsberger angelegte dreibändige Silbenlexikon ist ein deutliches Zeichen seines gründlichen Studiums.16

Johann Paul Posener, der sofort nach dem Erscheinen von Gabelsbergers Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst zu einem »Vorkämpfer der Stenographie« geworden war,17 hebt in einem Nachruf die »zweckdienlichen Vorkenntnisse« hervor, mit denen Gabelsberger zur »Ausbildung seines Systems« ausgerüstet war. Es handelte sich dabei um Kenntnisse im Bereich der »Dechiffrirkunst«, der Kalligrafie und der Lithografie.18 Hierbei bezieht Posener sich auf Äußerungen von Gabelsberger, der im Vorwort zu seiner Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst auf die Vorkenntnisse eingeht, die ihm bei der Entwicklung seines stenografischen Systems zugutekamen.

Ich fühlte mich in mancher Beziehung mit zweckdienlichen Vorkenntnissen ausgerüstet. – Ich hatte mich in meinen Jünglings-Jahren viel mit Unterricht in Sprachgegenständen und in der Kalligraphie abgegeben, ich habe schon im Jahre 1809 die Gelegenheit benützt, mich zum Lithographen auszubilden, wobey mir die Zeichnung und Anschauung der Schrift auch im verkehrten Bilde Gelegenheit bot, die für die Hand am bequemsten laufenden Theilzüge in’s Auge zu fassen; Mnemonik und Pasigraphie, Kryptographie und Dechiffrirkunst waren mir längst Gegenstände geworden, zu denen ich besondere Neigung fühlte, und namentlich in letzterer hatte ich mir eine nicht ganz unbedeutende Fertigkeit erworben. Ich hatte also Sprache und Schrift in ihrem Wesen, wie in ihren Bestandteilen bereits von Gesichtspunkten aus betrachten gelernt, welche mir in mancher Beziehung zum Leitsterne in der Behandlung meiner Aufgabe dienen konnten. – So gab mir z.B. die Dechiffrirkunst schon die wichtigsten Anhaltspunkte zur Erkenntniss der Postulate eines geschwindschriftlichen Alphabetes in Rücksicht auf das Iterations-Verhältniss der Buchstaben; denn ich dachte mir: Was der Dechiffreur am Ersten sucht und findet, muss in der Geschwindschrift so kurz und flüchtig bezeichnet seyn, dass es für das Auge beynahe gar nicht mehr vorhanden ist.19

Aus der »Kryptographie und Dechiffrirkunst« war Gabelsberger das Prinzip vertraut, nach der Häufigkeit von Buchstaben und Buchstabenkombinationen in einer Sprache zu suchen. Dieses Prinzip konnte für ihn zum wichtigsten Anhaltspunkt für die Entwicklung seines »geschwindschriftlichen Alphabetes« werden, weil er sich auf das erste und für seine Zeit maßgebliche wissenschaftliche Wörterbuch der deutschen Sprache, das von Johann Christoph Adelung herausgegebene Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, stützen konnte.20

So hat Gabelsberger unter andern mühsamen Forschungen das große Wörterbuch von Adelung, in 4 starken Quartbänden, Seite für Seite durchgesehen, daraus alle Stammsylben mit ihren Umlautungen herausgehoben, diese blos nach dem Zusammentreffen der Consonanten lexikalisch geordnet, die Vocale hingegen durchlaufend behandelt. Dadurch verschaffte er sich die haltbarsten und ergiebigsten Hilfsmittel, für jedes einzelne Schriftzeichen die Qualification zu ermitteln, die gegenseitigen Verhältnisse zwischen Laut-Iteration und Combination, als die beiden Hauptfactoren der stenographischen Schriftkürzungen anzugeben, und ein Alphabet zu begründen, das alle Eigenschaften einer Vervollkommnung in sich trägt, von der man früher keine Ahnung hatte.21

Als »Kalligraph vom Fach« übertrug Gabelsberger »die Principien und Regeln der Kalligraphie auf seine stenographische Schrift«.22

Die Gabelsberger’sche Stenographie ist so wie unsere Currentschrift eine Buchstabenschrift, d.h. es besteht nicht etwa für jeden der so und so viele tausend Begriffe unserer Sprache ein besonderes willkürlich ersonnenes Zeichen, sondern das stenographische Wortbild setzt sich aus den Zeichen für die einzelnen Laute zusammen – ganz so wie in der von unseren Urahnen überkommenen Schrift. Aber welch’ verblüffende Genialität entwickelte Gabelsberger schon bei der Aufstellung der Lautzeichen, welche das Fundament des ganzen Gebäudes bilden! Er nahm nicht irgendwelche willkürliche geometrische Figuren und decretirte: ›Dies soll das b sein und dies das m und jenes das z.‹ Er studirte vielmehr die Natur eines jeden Lautes, erforschte dessen physiologische Beschaffenheit, untersuchte, ob der Laut öfter oder seltener vorkomme, betrachtete dessen Verwandschaft mit anderen Lauten – kurz er suchte die ganze Individualität jedes einzelnen Lautes in ihren zahllosen Beziehungen klar zu legen und dann erst schuf er das Zeichen für den Laut. Es galt z.B. das Zeichen für den Laut ›n‹ festzustellen. Da sagte sich Gabelsberger zunächst, daß das ›n‹ zu den am häufigsten vorkommenden Consonanten gehört, daß es daher eine möglichst flüchtige Bezeichnung erfordert, welche am besten aus einem einzigen Zuge bestehen und vorzüglich geeignet sein soll, mit den vorhergehenden und nachfolgenden Buchstaben sich zu verbinden. Weiter aber sah er, daß dieses ›n‹ der Typus der sogenannten liquiden, flüssigen Laute ist und daher aus diesem und den früher erwähnten Gründen am treffendsten und practischesten durch die liegende Wellenlinie ausgedrückt wird.23

Abb. 2: Schriftmuster und ihre Übersetzung

Gabelsberger 1834, S. 151

Als »nothwendige Bedingung zur Bildung von Silben und Worten«, sind Gabelsbergers Buchstaben »kürzer und leicht mit einander verschmelzbar«.24 Hinzu kommen seine Regeln für die »Schriftkürzung«, wonach »Alles grammatisch Nothwendige (welches der Verstand ergänzt)« und »Alles logisch Nothwendige« wegzulassen ist.25

Berichte über nächtliche Kutschfahrten durch München, auf denen Gabelsberger die Diktate des »rastlos thätigen Ministers von Oettingen-Wallerstein« stenografisch aufnehmen musste, dienten als Nachweis für die besondere Leistungsfähigkeit des von Gabelsberger entwickelten Stenografiesystems – und machen gleichzeitig deutlich, welchen Anforderungen in dieser Zeit die Stenografie genügen musste.

Ein auffallender Beweis von der selbst durch zufällige Entstaltung und Verzerrung nicht leicht zu störenden Leserlichkeit dieser stenographischen Schriftzüge mag aus der vollkommen verbürgten Thatsache entnommen werden, daß Gabelsberger geraume Zeit der Aufgabe genügte, über Land und durch die Straßen von München zu Wagen fahrend Alles stenographisch aufzunehmen, was ihm der rastlos thätige Minister von Oettingen-Wallerstein diktirte oder zur Notirung auftrug. Weder die Erschütterung des Wagens, noch die bisweilen schon eingetretene völlige Dunkelheit der Nacht hatten auf die, wenn auch ganz unsicher gemachte Gestaltung der Züge so nachtheilig einwirken können, daß er später nicht Alles wieder ohne Anstand und zwar oft Verschiedenes zweien oder dreien Kanzelisten zugleich zur weitern Expedition ausführlich hätte in die Feder diktiren können; eine Leistung, welche nach der vieleckigen, auf Einhaltung bestimmter Winkel berechneten englisch-französischen Stenographie wohl kaum erreichbar sein möchte, die aber wegen ihrer Benützung auf Reisen die vollste Beachtung verdient, zumal da Gabelsberger sowohl, als einige seiner Schüler, die sich auch hierin schon versuchten, die Versicherung geben, daß die mechanische Schwierigkeit viel geringer sei, zu Wagen fahrend in ihren stenographischen Zeichen zu schreiben, als in gewöhnlicher Currentschrift, weil bei der erstern mit jedem Handzuge schon ein Wort oder doch eine Sylbe vollendet ist und daher die schneller auf einander folgenden Absätze zwischen den Worten benützt werden können, um momentanen Schwankungen und Stößen für einen Augenblick auszuweichen.26

Gabelsbergers »zweckdienliche Vorkenntnisse« beeinflussten nicht nur entscheidend die Erfindung der Stenografie, sondern erleichterten ebenso deren Vermittlung und Verbreitung.27

»Das Werkzeug des Stenographen ist in der Regel Bleistift, glattes Papier oder Pergament«28

Die von Gabelsberger entwickelte »Redezeichenkunst« erforderte »möglichst geeignetes Schreibmaterial«. In seiner Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst führt Gabelsberger dazu aus, dass er »in solcher Beziehung eine Menge von Proben angestellt hat« und daher »glaubt auch hierüber noch seine Erfahrung aussprechen zu sollen«, denn

in einem Geschäfte, in welchem selbst die Sekunde Zeit sorgfältig in Anschlag gebracht werden muss, verdient die Frage: welches Material den günstigsten Vorsprung gewähre, allerdings, und zwar in mehrfacher Rücksicht eine ernste Erwägung. […] Es gibt hundert Kleinigkeiten, welche in ihrer Zusammenwirkung unglaublich viel zur vollkommensten Ausübung einer Kunst beytragen, und dieses ist gerade bey der Redezeichenkunst in einem besonderen Grade der Fall.29

Vom »Schnellschreiben mit der Feder« rät Gabelsberger ab, da die Federn nicht lange scharf bleiben und die Schrift dadurch unleserlich wird. Hinzu kommt, dass sich Tinte und Feder nicht für das Stenografieren empfehlen, »weil der ewige Weg vom und zum Tintenfaß viel zu viel Zeit wegnimmt, auch ein unglücklicher Klex leicht ein Wort, ja einen halben Satz der so gedrängten Schrift verdecken könnte«.30

Am empfehlenswertesten sind für Gabelsberger Bleistifte aus reinem Grafit. Gegen die Anwendung von Bleistiften, so Gabelsberger, ließe sich »Verschiedenes einwenden«, doch »diese Nachtheile mindern sich bis auf ein sehr Unbedeutendes, wenn man den Kosten nicht scheut, sich ganz vorzügliche Bleystifte anzuschaffen«. Hier empfiehlt Gabelsberger »die echt englischen aus der Fabrik Brookman und Langdon in London H.H., oder, wenn es z.B. in langen Reden, auf noch größere Haltbarkeit ankömmt, mit H.H.H«.

Diese Stifte lassen sich spitzen so fein wie eine Nadel, ohne dass derjenige, der eine leichte Hand schreibt und den Bleystift einmal gehörig zu führen weiss, (nämlich unter beynahe senkrechter Haltung der keilförmig zugeschnittenen Spitze, die Fläche nur leicht berührend) zu befürchten hat, dass ihm die Spitze abbreche; sie dauert unter zeitweiser Wendung, wobey sie sich immer wieder selbst schärft, ½ – ¾ Stunden aus, bevor sie stumpft wird; man verspürt nichts von einer Reibung auf der Fläche und ihr Strich hat einen Glanz und eine Schwärze, die, wenn man das Licht etwas schief auf die Schreibfläche abwärts fallen lässt, beynahe der Tintenschwärze gleichkömmt. – Auch verwischt sich die Zeichnung dieser Stifte nicht leicht. – Es gibt allerdings auch einheimische Bleystifte, welche den ebengenannten an Härte und Schwärze wenig nachgeben; aber sie greifen entweder die Schreibfläche zu scharf an, oder sie stumpfen sich nach wenigen Minuten schon ab, und zeigen nicht den reinen metallischen Glanz, dessen Schwärze dem Auge so viele Erleichterung gewährt.31

Um das Stenografieren zu erleichtern, wurden am Bleistift Veränderungen vorgenommen. Während normale Bleistifte einen sechseckigen Schaft haben, erhielten die Stenografiebleistifte einen runden Schaft. Der Stenostift liegt, wie noch heute die Werbung der Firma Faber Castell verspricht, dank seines runden Querschnitts bequem in der Hand.

Abb. 3: Instrument zum Schneiden, Schärfen und Spitzen der Bleystifte

Wiener Zeitung vom 05.06.1835, S. 707

Wilhelm Stolze empfahl für das Erlernen der von ihm entwickelten »Verkehrsschrift« seinerseits »gute Stahlfedern […], deren Eigenschaft man nach seiner Handschrift auswählen kann, doch müssen sie etwas spitzer sein als für die gewöhnliche«. Häufig findet sich in Beiträgen über die Stolzesche Stenografie die Einschätzung, hierbei handele es sich um »eine Feder- und Tintenschrift, da die oft vorkommenden Schattenstriche die Benutzung des Pergaments mit Bleistift fast völlig ausschließen«.32

Neben dem Schreibwerkzeug spielt die Schreibfläche beim Stenografieren eine Rolle. Für Gabelsberger hatten sich »weiss lakirte Pergamenttafeln« für das Schreiben mit Bleistiften als »zweckmässigste Schreibfläche« bewährt.33

Allerdings setzt dieses Schreiben auf Pergament-Tafeln auch einige Uebung voraus; der Anfänger glaubt auf Eis zu gehen; die Hand gleitet aus, die Züge gestalten sich unsicher, und ehe er es sich versieht, ist die Spitze des Stiftes abgedrückt. […] wer übrigens einmal einige Uebung im Schreiben auf Pergament-Tafeln erlangt hat, wird sich gewiss nicht mehr angezogen fühlen, zur Federschrift zurückzukehren, zumal, wenn es sich darum handelt, einen mündlichen Vortrag in höchster Schnelligkeit aufzunehmen.

Als einen besonderen Vorzug der Schreibtafeln führt Gabelsberger an, »dass man die Schrift mit einigen Tropfen Reps- oder Mohnöl sogleich wieder auslöschen und so hundertmal dieselben wieder benützen kann«.34 Hier vertritt einige Jahrzehnte später Leopold Conn, der für die Organisation des stenografischen Dienstes im kaiserlich-königlichen Reichsrat verantwortliche Direktor des Stenografenbüros, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der damit verbundenen Kosten, eine andere Position.

Ueber die Wahl des Materials machen sich unter den praktischen Stenographen verschiedene Ansichten geltend. Nach dem Beispiele Gabelsbergers bedienen sich die Stenographen in München und Dresden der Pergamenttafeln und der englischen Bleistifte, während den österreichischen Stenographen ein weisses, starkes, nicht zu glattes Papier bei guter Unterlage und Faber’sche Bleistifte Nr. 1 oder 2 stets die besten Dienste geleistet haben.Nach den in Oesterreich gemachten zahlreichen praktischen Erfahrungen dürfte auch das bisher hier übliche Material in mannigfachen Beziehungen vorzuziehen sein; Pergament und englische Bleistifte verursachen eine bedeutende Kostenerhöhung in der Anschaffung, und legen dem Anfänger den unangenehmen Zwang auf, sich erst eine eigene Uebung, auf Pergament zu schreiben, eigen zu machen. Die Aufbewahrung der stenographischen Aufzeichnungen, welche in Oesterreich bei den meisten staatlichen Arbeiten, ja selbst bei Privatarbeiten verlangt wird, (und der praktische, die weitere Verbreitung der Stenographie fördernde Nutzen dieser Massregel der Aufbewahrung kann wohl nicht in Abrede gestellt werden) würde durch Anlegung eines solchen Pergamentarchivs zu einer sehr kostpieligen, ja in manchen Fällen zu einer die Anwendung der stenographischen Kunst wesentlich beeinträchtigen Auflage sich gestalten, und die Verwendung derselben in Advokatskanzleien und die in Aussicht stehende Einführung in weitern Kreisen würde durch diesen ganz überflüssigen Kostenpunkt zur Unmöglichkeit gemacht. Selbst wenn die Weglöschung der stenographischen Niederschriften gestattet wäre, so kann dies doch nur durch Manipulationen geschehen, die weder dem Reinlichkeits- noch dem Geruchssinne besonders zusagen. Die Anschaffung des Papiers hingegen, selbst des feinsten, verursacht wenig Kosten, es lässt sich aufbewahren, und ersetzt, wie oben bemerkt, vollkommen das Pergament, ohne die erwähnten Nachtheile im Gefolge zu haben.35

Um ein optimales Ergebnis zu erreichen, spielt für Conn das Format des verwendeten Papiers ebenfalls eine Rolle. So geht er in seinem Lehrbuch der Kammerstenographie davon aus, »dass sich ein mässiges Oktav-Format als das zweckmässigste herausstellen dürfte, weil es bequem zum Schreiben ist, während ein größeres Format durch die Länge der Zeilen ein Hin- und Herfahren mit der Hand bedingt, welches die Schnelligkeit des Schreibens beeinträchtigt«.36

Wie man dem Amberger Tagblatt entnehmen konnte, war man außerdem auf der Suche nach einem preiswerten Papier, welches den Anforderungen der Stenografen entgegenkam.

Bei der gestrigen Generalversammlung des hiesigen Gabelsberger Stenographen-Centralvereins hatten die anwesenden Mitglieder Gelegenheit, einige Proben Maisstroh- oder vielmehr Maisfasern-Papiers, welche der Director der k. k. Staatsdruckerei in Wien, v. Auer, dem Vereine zu übersenden die Gefälligkeit hatte, in Augenschein zu nehmen. Das Papier ist aus den Fasern gefertigt, welche aus dem Deckblatte des Maiskolbens, dem nach mannigfachen anderen Versuchen zur Papierfabrikation am geeignetsten befundenen Theile der Maispflanze, gewonnen worden. Unter den verschiedenen Sorten dieses Papiers, welche circulieren, ist eine besonders für die stenographische Welt von Bedeutung. Dieselbe dürfte nämlich vermöge ihrer pergamentischen Stärke und Glätte berufen sein, jenes Material zu ersetzen, welches bisher als das vorzüglichste zu stenographischer Aufnahme freier Vorträge galt, nämlich das Pergament selbst, und würde damit ein dem letzteren eigener Nachtheil vermeiden, welcher darin besteht, daß um das kostspielige Pergament öfter benützen zu können, die Stenogramme auf demselben nach jedesmaligem Gebrauch wieder abgewischt werden können. Stenogramme auf Papier, welche aufbewahrt werden, bieten, was namentlich bei Kammerverhandlungen von Wichtigkeit ist, dieselbe Controlle über die Richtigkeit der stenographischen Berichte, wie die von den Telegraphen-Apparaten abgenommenen Papierstreifen über die richtige Aufnahme und Ausfertigung der Telegramme.37

Um »Gemeingut des Deutschen Volkes« zu werden, muss die Stenografie auf der Buchdruck-Schnellpresse gedruckt werden38

Die Forderung, »die Stenographie in Druckform zu bringen«, wird bereits in den Statuten des »Gabelsberger-Stenographen-Central-Vereines in München vom 8. Jänner 1850« im Abschnitt über »Zweck und Wirksamkeit des Vereins im Allgemeinen« erhoben.39 Gabelsberger selbst hatte schon an der Verwirklichung dieser Idee gearbeitet und für eine Leipziger Gießerei Zeichnungen angefertigt. Dieses Vorhaben wurde jedoch aufgegeben.