Die Betrogenen zweiter Teil - Blühende Landschaften -  - E-Book

Die Betrogenen zweiter Teil - Blühende Landschaften E-Book

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Beschreibung

Das Buch ist eine Fortsetzung des Buches - die Betrogenen - die Handlung spielt Mitte der Neunziger Jahre. Die alten Protagonisten treten auf. Zwei stehen im Mittelpunkt: Franziska Schönlebe und Franz Malef. Sie streben nach Erfolg und Anerkennung in der neuen Republik, nach ihrem kleinen Stückchen Glück in den gepriesenen Blühenden Landschaften. Es misslingt. Zumindest vorerst. Malef, arbeitslos, zunächst in einer ABM, später biete ihm ein alter Kumpel einen Job in seiner neu gegründeten Firma an. Er fängt ein Techtelmechtel mit dessen Tochter an. Malef wird entlassen, aber er hat Pläne. Franziska hat Psychologie studiert, mithilfe eines alten Liebhabers eröffnet sie ein Praxis für Psychotherapie. Dann erkrankt sie an einer bipolaren Störung. Sie hat Ängste, fühlt sich verfolgt. Auf einem Bahnhof treffen die beiden Protagonisten aufeinander. Malef verliebt sich. Was wird aus ihnen?

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 1

DIE VERDÄCHTIGUNG

Als sie erwachen, Franz und Eva, ein Ehepaar von Anfang Fünfzig, da können sie sich an den gestrigen Abend und sein Ende nur noch vage besinnen. Ja, es werde schon gut für sie weitergehen, nach Franz` Kündigung und der bevorstehenden Pleite der Firma. Ja, ja. Denn bisher ist es schließlich immer gutgegangen. Sowas hatten sie beide am Abend noch gedacht und sich Mut angetrunken und die letzte Flasche „Balkanfeuer“, die sie noch aus alten DDR-Beständen besaßen, aus dem Keller geholt und leer gemacht. Franz vier Gläser, Eva zwei…

Als Franz das mit dem Rotwein zur Sprache gebracht und Eva im lindgrünen, schon etwas abgetragenen Strickkleid, das sie, von einer gewissen Vorfreude getrieben, schnell noch übergezogen hatte, in den Keller gelaufen war, mit nackten Beinen und niedergetretenen, hellblauen Hausschlappen, als sie also diese letzte Flasche heraufholte, da war in Eva die kleine Hoffnung gekeimt, es könne doch noch ein Abend werden wie es früher viele gegeben habe.

Aber leider, es war kein solcher Abend geworden, ein Abend zwar, der alte Vertrautheit und sogar ein wenig Zärtlichkeit gebracht, aber der längst nicht das geworden war, was früher ihre Lust aufeinander ausmachte.

Also ging man am Ende noch vor Mitternacht zu Bett und jeder schlief mit seinen eigenen Träumen ein. Man küsste sich nochmal zur Nacht, indes beide waren schließlich froh, dass alles halbwegs harmonisch geblieben und nicht wie in der letzten Zeit häufig in unsäglichen Streit ausgeartet war.

Jetzt nun aber, im neuen Tag, in der Helle des Morgens gegen Sieben, da scheint es, als ob alles, was gestern noch friedlich gewesen und ungesagt geblieben war, nicht mehr zurückgehalten werden könne - das gemeine Tageslicht hat die Nacht verjagt und mit ihr alle Romantik, hat ungenau Durchdachtes und jeden Mut weggewischt.

Und so entlässt Eva aus ihrem Mund, statt eines liebevollen Morgengrußes den folgenschweren Satz:

Das haste de nu´ von dein´ m Honecker.

Franz schrickt hoch, er ist plötzlich hellwach.

Was? Wie? Was hab ich vom Honecker? Du spinnst ja wohl. Der hat mit all dem doch nichts mehr zu tun. Der alte, kranke und verfallene Mann, der sitzt in Chile, an der Seite seiner Margot und ist froh, den Tribunalen entronnen zu sein. Bei dem geht es jetzt nur noch ums Überleben, der hat nicht mehr viel von allem, wahrscheinlich nicht mal mehr von politischen Überlegungen, der Honecker mit seiner Krebserkrankung… Und wieso, verflixt, ist er „mein Honecker“? Der war nie wirklich - „mein Honecker“ und das weißt du. Also, warum provozierst Du mich? Wirklich, ich staune, denn der Wahrheit die Ehre – du warst ja schließlich auch in der Partei und du bist es ja auch gewesen, die mich in diese Scheiß-Kreisleitung gedrängt hat. Ich höre noch deine Stimme: Mach es doch, Franz, haste mir abends im Bett gepredigt, denk ein Mal an deine Familie, ein einziges Mal. Ja, das haste andauernd gemahnt - denk an uns. Und gemeint haste dich und die Kinder, nicht etwa mich, deinen Mann. Mensch Franz, 400 Mark mehr, hast de gejammert. Wir können´s brauchen…

Aber nein, entgegnet Eva, so war´s nich, und sie streicht sich mit zwei Fingern eine dunkle Strähnen aus dem Gesicht, ich weiß noch, der gute Genosse denkt an sich selbst zuletzt! Das hast du immer gesagt, ich solle doch nicht so bürgerlich sein, vorneweg marschiere der Sozialismus und das Politbüro und der Erich… – ja, ja und wie war´s am Ende, du bist hinterher marschiert und alle haben mehr als wir. Also, quatsch´ner jetzt net su, redet Eva weiter, fällt in ihren heimatlichen, erzgebirgischen Dialekt und dreht sich zu ihrem Mann um, sieht ihm voll ins Gesicht, giftet: Die Wahrheit ist doch: Hättest du nicht diesen Schritt getan und wärst du nicht in Honeckers Scheiß-Partei eingetreten, dann wäre alles andere auch net gekommen, du wärest nicht in die Kreisleitung berufen worden, wir wären jetzt ganz normale, unbescholtene Leute ohne diesen Makel der Staatstreue… aber nein, der Herr wollte ja nach ganz oben. Ich hab´s noch in den Ohren wie du getönt hast: Weißt du Evchen, hast du damals geprahlt, weißt du wie schön die Macht ist. Es ist wie eine Droge. Und die Partei hat nun mal die Macht. Und sie hat immer Recht, wie es in dem Lied heißt, und das stimmt ja auch: Sie müssen alle tanzen wie wir pfeifen… ja, ja, so haste geredt, wie enner off´n ganz huh´n Ross. Und was wolltest Du nicht alles werd´n? Leiter der Kreisparteischule, Vorsitzender des Rates des Kreises, Chef der ABI und so weiter… und was ist draus geworden?? Nackter Arsch im Mondenschein – wie sie in dem Film von der Olsenbande immer sagen. Jetzt sitzt du da und hast das Kainsmal auf der Stirn… Na? Was macht denn dein Genosse Malef, der große Parteikader, was macht der jetze? hat mir die Schlitzke, Hannelore kürzlich von der Nachbarkasse in der Kaufhalle zugerufen, du weißt, Schlitzke, ihr Oller, der war mal in eurer Baubrigade der Chef, immer ´ne Kiste Bier auf´m Rücksitz von sei´m Skoda und jetzt betreibt er ´n Hausmeisterservice, fährt drei Autos, gibt an wie ´n Lackaffe und seine Hannelore, die aufgedonnerte Ziege, grüßt mich nicht mehr, wo sie mir früher die Türen aufgehalten hat… Ja, wenn du wenigstens in der Wendezeit mal zu so einer Montagsdemo mitgegangen wärst oder wenn du, nur um das symbolisch zu zeigen, dass du auf der richtigen Seite stehst, einen Demo-Set, will sagen ´ne Kerze, ´ne Packung Streichhölzer und einen Protestwimpel gekauft oder wenn du die Fahne rausgehangen hättet mit dem rausgeschnitt´nem Emblem. Aber nein, dazu war der Genosse Klassenkämpfer ja zu feige gewesen… der hat lieber hinter der Gardine gestanden und mir die politische Weltlage erklärt.

Ja, sprich dich nur aus, Eva, heute zum frühen Morgen und so dussliges Zeug dazu. Nein meine Liebe, sag, was ist nur in dich gefahren? Hast du schlecht geträumt. In Wahrheit ist es doch ganz anders gewesen… denn dadurch, dass ich in der Partei war, hab ich auch den Posten bei der „Verwertung“ (* „Verwertung“ ist ein Kurzbegriff für die lange Betriebsbezeichnung „Verwertung tierischer Rohstoffe“ – eine Firma in der DDR) bekommen und nur dadurch, weil ich einer von den Bescheidwissern und den Entwicklungskadern war, konnte ich mit dem Wessi Kraatz verhandeln, als der unsern Betrieb von der Treuhand übernahm, nur deshalb konnte mich mit ihm bekannt machen und kriegte prompt den klasse Job als Produktions- und Handelsleiter in der neuen Westfirma. Zweitausendzweihundert West habe ich zuletzt gehabt…

Ha, ha, ha, lacht Eva. Und? Was hast de jetzt davon? Gefeuert ham´se dich, dein lieber Kratz, wie alle anderen auch. Und jetzt stehst Du da und hast bei ´ner Neubewerbungen den Makel des parteitreuen Ostkaders. Wie gesagt, nicht mal im Neuen Forum oder so biste gewesen… Da bin ich mal gespannt, wo sie Dich nun nehmen werden und ob überhaupt. In den Verwaltungen und dem öffentlichen Dienst, wie es jetzt heißt? Nee dort jedenfalls auf keinen Fall. Das kannste vergessen. Dort kommen nur die bewährten Westkader hin. Nee, mein Lieber, du siehst jetzt ganz schön alt aus… und das haste eben dei´m Honecker zu verdanken. Da hab ich schon Recht. Die Pfaffen, ja sogar die Pfaffen, die haben´s jetzt besser – die nehmn´se überall. Selbst in artfremden Jobs oder als Abgeordnete. Oder wie dein alter Studienkumpel Bodo, der lieber in die Bauernpartei gegangen war, un nich in die führende SED. Der lacht unsereinen jetzt aus und hat einen herrlichen Posten in der Landesanstalt bekommen. Dass er das mit der Bauernpartei nur wegen dem Mitgliedsbetrag gemacht hat, interessiert heute keine Sau mehr.

Du redest, erregt sich der Franz und springt aus dem gemeinsamen breiten Hellerauer Ehebett, du redest, als ob es dich selber nicht betreffen würde. Du stehst wiedermal am Rande und machst den Linienrichter: Fahne hoch! Ball ist im Aus! Aber nee, Scheiße, du sitzt mit mir im selben Boot. Da kannst du machen, was willst du...

Verdammt. Nun hat sie ihn doch geärgert, und er regt sich auf, dabei wollte er ganz ruhig bleiben. Ja, es ärgert ihn, vor allem Evas Satz mit „seinem Honecker“ hat ihn mächtig aufgebracht. Oh verdammt, das wurmt ihn, mehr als er zugeben kann. Und es ist ungerecht von Eva, und es stimmt ja auch nicht…

Franz Malef steht auf, stapft ins Bad, zieht die Schultern hoch. Es fröstelt ihn. Er klotzt missmutig in den Spiegel, streckt sich selber die Zunge raus. „Bläh!“ so ein blöder Krach zum frühen Morgen. Und belegt ist die Zunge auch. Er haucht in die hohle Hand, versucht den Atem zu riechen. Wahrscheinlich ist der Magen doch nicht ganz in Ordnung. Es riecht abgestanden und säuerlich. Unter den Augen Tränensäcke, violett schimmernd, das Kinn voller grauer Bartstoppeln. Er winkt ab. Verdammte Scheiße. Man wird alt…

Freilich, seine Eva hat gut reden, überlegt Franz, während er sich umständlich mit seiner Lieblingsbürste, die er fast schon zwei Jahre benutzt, die Zähne putzt. Eva hat - selber seit drei Monaten arbeitslos - blitzplatz ein Umschulungsangebot gekriegt und angenommen. Nun fährt sie jeden Werktag, außer Freitag, da fahren die Dozenten nach Hause in den Westen, hoch auf die Bautzener, wo in der weitläufigen Immobilie der ehemaligen „Stasi“ ein Bildungsunternehmen aus Bad Münstereifel seine Zelte aufgeschlagen hat. Eingemietet für´n Äppel und ´n Ei, fünfundzwanzig Zimmer, drei Etagen mit Konferenzraum und Videovorführraum. Ja, Eva will Sozialarbeiterin werden. Sie hat gemeint, dass dies zu ihrer bisherigen „Kaderleiterkarriere“ passen würde, natürlich ohne Parteibindung. Klar. Ja, es klingt großspurig, dieses Modewort „Sozialarbeiter“, verdammt, das gab´s doch früher nicht… und Arbeitslose hatten wir auch nicht. Es gefiele ihr gut und sie fühle sich wohl, hat Eva gesagt, es wären lauter Frauen in ihrem Alter da, viele von der ehemaligen DDR-Gewerkschaft FdGB, auch Kolleginnen aus ein paar abgewickelten Großbetrieben und der geschlossenen Volksbildungsakademie, ein paar Berufsschullehrerinnen sogar zwei gute, alte Genossinnen vom demokratischen Frauenbund, um die Fünfzig, eine von der DSF, usw. …

Und? Was wird aus mir? denkt Franz. Heute zum Arbeitsamt. Da bin ich mal gespannt, was rauskommt. Bisher hatte er Schwein. Das erste Mal ist er arbeitslos. Noch nie uff´m Amt gewesen.

Au! Jetzt hat er sich geschnitten. Es blutet. Er betupft die Wunde mit einem Gazestreifen, betrachtet das Blutfleckchen darauf…

Nein, er rasiert sich noch ganz traditionell mit ´nem Klingenrasierer, den er von seinem Vater hat – ein Geschenk zu seinem Achtzehnten, so richtig mit Rasierschaum und Alaun-Blutstiller, wenn er sich, wie jetzt, mal geschnitten hat. Nein, er mag die elektrischen Apparate nicht. Mögen sie jetzt auch von Bosch oder Grundig oder Phillips sein. Er nimmt lieber Vaters alten Klingenrasierer, so zum Drehen am goldschimmernden Griff, wo oben der Deckel auseinander klappt und man die Klinge einlegen kann. Sogar Klingen hat er noch von damals. Drei Packungen. Echte, alte DDR-Klingen, „Croma-stabil“ aus Eisfeld. Oh, man duftet nach der Rasur so schön nach Seife und glatt wird das Kinn auch, richtig seidig, ein angenehmes Gefühl. Nein, die elektrischen sind so unpersönlich, so unelegant. Er wird bei der Nassrasur bleiben. Das Blut ist gestillt. Er wäscht sich. Eigentlich soll er sich nicht am Waschbecken waschen, Eva schimpft jedes Mal, er soll in die Wanne steigen und sich duschen. Du machst alles nass wie der Fippsi in seinem Badehäuschen, wäschst dich tatsächlich wie ein Vogel. Fippsi war ein blauer Wellensittich, den sie sich angeschafft hatten, als die Kinder noch klein waren. Als er dann starb, oh Gott, oh Gott, nach acht oder neun Jahren, gab es Tränen und ein Riesentheater. Du bist ein Barbar, hatte Eva geklagt, als Franz den toten Vogel mit zwei Fingern an den Schwanzfedern gepackt und in den Ofen geworfen hatte. Ein richtiger Barbar! Typisch! Ach was, das ist eine Feuerbestattung! hat er geantwortet. Ja, daran erinnert er sich jetzt, als er sich abtrocknet. Später, im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank, überlegt er: Was zieht man an, wenn man ins Arbeitsamt geht? Schlips und Kragen sind ja wohl unangebracht? Oder doch? Oder Arbeitskluft? Nein, das könnten sie als Spott auffassen. Er entscheidet sich für Jeans und einen Alltagspullover, und er wird Sportschuhe anziehen. Nein, nicht die weißen von Salamander, das ist zu protzig, ein paar einfache, mit Streifen. Das macht Eindruck, ein sportlicher Mensch ist immer willkommen. Er läuft vor dem Spiegel hin und her. Ist zufrieden.

Inzwischen ist Eva aufgestanden.

Soll ich dir noch schnell ein Frühstück machen? Ich muss erst um zehn los heute, wir haben ein Kolloquium.

Sie küsst Franz flüchtig, wirkt freundlich und aufgeräumt, so als hätten sie sich nie gestritten. Franz ist irritiert. Er kann nicht so schnell umschalten.

Oh, ein Kolloquium! sagt er und legt ein bisschen Ironie in die Stimme. Na dann… nein, lass nur, ich will heute früh nichts essen. Keinen Hunger. Vielleicht haben die da sowas wie ein Kantine.

Eine Kantine? Nee, haben die nicht, ich weiß das. nimm dir wenigstens ´ne Banane mit.

Eine Banane? Im Arbeitsamt?

„Tschüss!“ Malef geht die Treppe runter. Die Hand am Geländer fällt ihm wieder der Satz seiner Frau ein „Das haste nu von dein´m Honecker!“ und er hat die gleiche Wirkung wie vor einer Stunde. Selbst später im Arbeitsamt werden ihm diese Worte noch ein paar Mal ins Gedächtnis kommen. Stimmt es denn? fragt er sich, ist es vielleicht eine späte Rache für meinen Hochmut? Die Partei, die Partei…

Er tritt aus dem Haus, geht auf sein Auto zu.

Da sieht er dicht bei seinem Wagen, einem FIAT UNO, eine Gestalt in grüner Uniform. Der Mann bückt sich, es scheint, als wolle er die Radkästen inspizieren oder die Reifen. Malef sieht den breiten Uniformhintern. Am liebsten hätte ihm einen Tritt versetzt. Was will der Kerl an meinem Auto? Die Polizei!? Früh um kurz nach acht!? Da erkennt er den Mann. Es ist Ewald Kluge aus seinem Haus, zweite Etage links. Ein Mann, der früher zu Zeiten der verblichenen DDR mal ABV gewesen war und einem schon damals immer auf den Keks gegangen ist, aufdringlich, neugierig, diensteifrig, deutsche Volkspolizei, Bürger, Sie haben da etwas falsch gemacht… aber, er war ja auch in der Partei, der Ewald, und da Franz Malef zeitweise einen höheren Parteiposten inne hatte, ist der Ewald zu ihm immer höflich und zuvorkommend gewesen, hat ihn gegrüßt und einmal hat er ihm sogar einen Stempel aus dem Zulassungsheftchen entfernt, ansonsten weiß er nicht viel von ihm: der Kluge hält sich Warmwasserfische in zwei großen Aquarien, sammelt Briefmarken, hat einen Garten von 250 m2beim VKSK… und jetzt trägt er also wieder Uniform, der Ewald Kluge. Er hat es geschafft, man hat ihn übernommen, trotz Partei, freilich zwei Dienstgrade musste er opfern.

Malef tritt heran.

Morgen, Ewald. Na? Was nicht in Ordnung? Einmal Polizist - immer Polizist, was?

Der Uniformierte fährt hoch. Er ist ein bisschen erschrocken.

Nein. Alles o.k. soweit… w… w… wollte bloß mal gucken, wie ein Fiat so „untenrum“ aussieht. Will mir nämlich auch ´ne neue Karre zulegen. Vielleicht auch ´n FIAT. Sollen ja ganz preiswert sein. Was hat denn deiner gekostet?

Ach, sagt Malef, ich hab´ ihn von einem Bekannten, der hat ´n Automarkt für italienische Autos. Ist bloß ´n Gebrauchter. Aber erst fünftausend Kilometer runter. Hab Achttausendfünfhundert dafür bezahlt… in bar natürlich (er verschweigt, dass davon Viertausend aus seiner ausbezahlten Altersrente der Partei stammten. Mehr als Fünftausend hat er nämlich nicht auf der „hohen Kante“)

So, so, macht der Klugen und starrt vor sich hin. Er murmelt irgendwas. Malef kann es kaum verstehen… es klingt wie: wenn nur die Kilometer stimmen…

Na hör mal. Der Olaf ist ein alter Freund (gemeint ist der Autoverkäufer).

Ich mein´ ja nur so.

Malef schaut auf Kluges Schulterstücke. Tatsächlich bloß zwei grüne Sterne – also Polizeimeister. Früher, bei der VoPo war er Hauptwachmeister, mit einem Silberstern, Silberknöpfen, silbergeflochten Drumherum. Überhaupt, die frühere Uniform sah irgendwie zackiger aus, ja irgendwie deutscher. Jetzt, die neue hat was amerikanisches, besonders die Schirmmütze, wie ein Cop aus New York wirkt der Ewald, natürlich wie ein deutscher Cop, dicklich, behäbig, kleinstädtisch, beschränkt. Reality - da sehen die Amis echt schneidiger aus.

Kluge sieht den Blick, sagt, ein wenig unsicher, zurückhaltend: Na ja, weißt du Franz, man muss eben Kompromisse machen. Mehr als Polizeimeister ist nicht drin gewesen. Ich bin ja so froh, dass sie mich überhaupt übernommen haben, musste drei Jahre warten. Freilich, wenn ich nicht in der Partei gewesen wäre, hätte es vielleicht zum Obermeister gereicht. Sind immerhin achthundert Euro Unterschied. Egal, Hauptsache, man ist drin.

Das stimmt, antwortet Malef, Hauptsache, du bist drin. Und? Verbeamtet?

Nee, natürlich nicht, da bin ich mit meinen Zweiundvierzig schon zu alt. Eigentlich ist ja Vierzig für eine Einstellung die Grenze, aber meine Erfahrungen haben den Ausschlag gegeben. Trotzdem, der Job ist sicher und das ist ja das Wichtigste.

Ja, das ist das Wichtigste heutzutage. Na, da gratuliere ich auch schön.

Danke, Franz.

Malef steigt in seinen FIAT. Früher hätten sie mehr gequatscht. Irgendwie, denkt er, sei die gute, alte Vertrautheit und die Herzlichkeit auf der Strecke geblieben. Als ob eine neue Kaltzeit ausgebrochen wäre. Auch die Frauen reden kaum noch miteinander, wo sie früher gequatscht haben auf Teufelkommraus und zusammen in rhythmische Gymnastik gegangen sind, um hinterher im „Laubenpieper“, einem nahegelegenes Gartenlokal, mal ein Likörchen oder einen Schoppen zu trinken.

Malef startet den Motor. Nanu? Der Anlasser rasselt verdächtig.

Verdammt, denkt Malef, schon das zweite Mal dieses blöde Geräusch. Nicht, dass mir der Olaf Schrott angedreht hat? Ach, hätte ich die Karre nur bei einem richtigen Händler gekauft. Gut, ein paar Tausend wären es dann mehr gewesen. Aber, es wäre wenigstens was Seriöses gewesen, mit Garantien. Immer ist das Scheißgeld daran schuld. Und er sieht den Automarkt seines Freundes Gerlach vor sich, wo er im Frühjahr, gleich nachdem sein guter, alter Trabi den Geist aufgegeben hatte, hingegangen war. Fiats, Alpha-Romeos, Lancias, lauter Italiener standen da, keine neuen Modelle, nein, sondern ältere, aufgemöbelte, gut polierte, Hochglanzfahrzeuge, auf einem Stück Wiese im Süden der Stadt, ringsum flatterten bunte Fähnchen an gespannten Leinen und auch Luftballons, es wurden kleine Werbegeschenke verteilt, Kugelschreiber, Bonbons, Tetrapacks mit Cola, Werbeprospekte und sowas alles.

Er fährt weiter, das neuerrichtete Gebäude des Arbeitsamtes kommt in Sicht. Es ist ein Betonklotz ohne jeden äußerlichen Schmuck, gerade Linien, der rechte Winkel triumphiert. Die große Drehtür am Eingang ist das einzig Besondere. Fast könnte sie symbolisch gemeint sein: Wie du hineingehst, so wirst du wieder hinaus befördert… ein ewiger Kreislauf.

Malef stellt sein Auto ab, betritt das Gebäude. Jetzt am Morgen ist der Besucherverkehr noch nicht auf seinem Höhepunkt, es scheint, die meisten Arbeitslosen wollen ausschlafen. Der Ansturm beginnt erst kurz vor dem Mittag. Malef geht zum Anmeldetresen. Man sagt ihm höflich das Wie und das Was, gibt ihm einen Stapel Prospektmaterial. Malef muss in die zweite Etage.

Dort ist alles dem Namen nach alphabetisch und was die Stadt angeht, gemäß den Stadtbezirken, geordnet. Malef muss zu einem in die Wand eingelassenem Blechkasten, der aussieht wie ein Fahrkartenautomat, dort ist eine Nummer zu ziehen. Sodann muss er vor dem infrage kommendem Zimmer Platz nehmen. Außer ihm sitzen da schon ein paar Leute wartend herum. Sie lesen in den bunten Prospekten oder in mitgebrachten Büchern, manchen beißen auch in belegte Brötchen, einige reden leise miteinander, eine junge Frau stillt in aller Öffentlichkeit ihr Baby, ein nervöser junger Mann, der ausländisch aussieht, läuft fahrig und mit den schlenkernden Armen den blanken Flur auf und ab, am Gangfenster, das einen Spalt geöffnet ist, stehen zwei junge Männer und rauchen, sie scheint nicht zu stören, dass das Rauchen hier verboten ist. Ab und zu erklingt eine Lautsprecherstimme. Sie ruft die nächste Nummer auf, vorher hat ein dreistufiger Gong „kling-klong-klang“ darauf hingewiesen, dass gleich die bewusste Stimme zu hören sein wird. Nachdem die Nummer ausgerufen wurde, erhebt sich der Träger dieser Nummer, zumeist langsam und ohne Eile, und geht nach vorherigem Anklopfen in das betreffende Zimmer. Alle haben diesen Vorgang wie etwas Besonderes beobachtet, sie haben aufgeblickt, die Hälse gereckt, nun atmen sie entspannt aus und fallen wieder in ihre Lethargie oder essen weiter, lesen weiter, unterhalten sich leise weiter. Ansonsten strömt alles hier eine ziemliche Ruhe aus. Wenn die muffige und verbrauchte Luft nicht gewesen wäre, könnte man die Atmosphäre beinahe als angenehm empfunden haben.

Malef hat die Nummer 1543 gezogen. Er dreht den Papierschnipsel zwischen den Fingern und beobachtet die Leute. Was bedeutet die Ziffer? Ist er wirklich heute der 1543´igste? Oder sind das bloß Nummern ohne jede Bedeutung? Malef sitzt da und schaut sich um. Er tut das ohne sichtbare Erregung, wiewohl er gespannt ist, was ihn erwartet. Wenn einer aus einem der Zimmer kommt, schaut er ihm ins Gesicht und versucht an seiner Miene zu erraten, was ihm da drinnen widerfahren ist. Aber das ist eine mühevolle und unerquickliche Tätigkeit. Nur an wenigen Gesichtern kann man etwas ablesen. Die meisten eilen mit schnellen Schritten der Treppe, dem Lift, dem Ausgang zu, sie wollen offenbar das Gebäude so rasch es geht verlassen.

Neben ihm sitzt ein Endfünfziger, ein Mann mit zerfurchtem Gesicht, müde und schlapp. Mühsam kommt man ins Gespräch. Plötzlich sieht der Mann den Malef prüfend an, fragt:

Sie sind neu hier? Das erste Mal, was?

Ja, tatsächlich. Wie sieht man das?

Nun, Sie schauen so neugierig, so interessiert. Eben wie einer, der irgendwo neu ist. Ihnen fehlt die Gelassenheit, die Gleichgültigkeit.

Die Gleichgültigkeit?

Ja, mit der Zeit wird man hier gleichgültig. Fast wie einer, der zum wiederholten Male in den Knast einfährt. Sie wissen ja, der Mensch fügt sich in alles. Das geht ganz schnell. Sie werden bald merken, dass Sie hier nur eine Nummer sind, ein Posten im System. Im Grunde nimmt man an Ihnen keinen Anteil an Ihnen, auch wenn die hier so tun, als wären Sie eine Persönlichkeit, eine Individualität, um deren Schicksal sich jeder im Hause kümmern müsse. Dabei gibt es für die hiesigen Mitarbeiter Prämien, die diese Illusion nähren. Ein gutes System funktioniert nur, wenn alle dran glauben. Kennen Sie den Eisenschmitt?

Nein. Wer ist das?

Das ist der, zu dem Sie gleich reingehen werden. Nur noch drei sind vor ihnen.

Malef pfeift durch die Zähne, er wundert sich.

Haben Sie etwa mitgezählt?

Nein, nicht wirklich, das kriegt man hier so nebenbei mit.

Donnerwetter! Sie sind wohl schon länger Kunde hier?

Kunde?

Der Mann lässt ein kurzes Lachen hören.

Ja, da haben Sie ins Schwarze getroffen, so nennen die das. Soll den Eindruck von Dienstleistung und Service erwecken. Modern. Und harmlos zugleich. Ein alter Marketingtrick. Also, Sie kennen den Eisenschmitt nicht?

Nein!

Malef schüttelt den Kopf.

Na, dann machen Sie sich auf ein besonderes Exemplar von Mitarbeiter hier im Amt gefasst.

So?

Ja, Eisenschmitt, Jens Holger – so heißt er komplett. Das ist ein Kerl, der ist ein wahrer Meister in der Kunst des Heuchelns, der Verstellung. Fallen Sie ja nicht drauf rein. Alles an dem famosen Herrn ist Fassade, ein echter Schauspieler vor dem Herrn. Und das trifft es! Schauspieler! Und, vor dem Herrn… Er war nämlich, bevor er hierher kam, beim christlichen Sozialwerk, einer evangelischen Anstalt vom Feinsten… da lernt man das Schauspielern und das Heucheln von der Pieke an.

Sie kennen ihn wohl schon länger?

Malef ist echt gespannt. Interessant, was der Alte so von sich gibt. Dabei weiß er noch nicht einmal dessen Namen. Er schaut den Mann neben sich genauer an, aber der lächelt nur, spielt mit seinen Fingern, die rissig, dick und klobig sind. Handwerkerfinger. Arbeiterhände!

Schon länger? Ja, das kann man sagen. Bin schon ein einundeindreiviertel Jahr bei ihm. Er ist sozusagen mein Betreuer. Der Mann lacht kurz auf.

Und? Hat er Ihnen schon richtige Arbeit verschafft? Ist doch immerhin ´ne lange Zeit…

Der denkt gar nicht dran, unterbricht ihn der Mann. Richtige Arbeit? Vonwäschen. Mehr als ´ne ABM-Stelle ist nich drin. Aber, ich sage Ihnen, da gibt es so´ne und solche. Und das ist ja das ganze Geheimnis. Bloß der Eisenschmitt lässt einen betteln, der nutzt seine Macht aus.

Sagen Sie, ABM was is´n das? Ich hab´noch nie sowas mitgemacht, bin ja neu, wie Sie sagen. Ich meine, wie sieht das konkret aus?

Sie haben noch nie ´ne ABM-Stelle gehabt? Wirklich? Gibt es das noch, hier im Osten?

Ja, wirklich, ich bin das erste Mal arbeitslos. Freilich ringsum hab ich davon gehört, hat mich aber noch nie betroffen, selber, wissen Sie… nee, ich kenn das nicht, von innen, mein´ ich.

Hm, macht der Alte, er scheint das nicht recht zu glauben. Er schielt Malef von der Seite an, murmelt: Nich, dass Sie ´n Spitzel sin, vom Innenministerium oder so, der mal gucken soll, wie das hier läuft.

Malef protestiert.

Mann! Was glauben Sie denn? Nee, früher nich und jetze ooch nich.

Er spricht ganz bewusst Mundart. Im Grunde ist er einer von ihnen.

Ich mein´ ja bloß, sagt der Alte, soll´s ja alles geben. Reg´n Sie sich nich auf.

In Ordnung, aber ich gehör jedenfalls nicht dazu, bin nich von der andren Fraktion.

Gut. Also ABM – Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das ist so ´n Instrument, um die Leute von der Straße wegzukriegen. Um sie zu beschäftigen. Nee, richtige Arbeit ist das nicht. Das ist so wie früher der Arbeitsdienst. Daher werden sie´s auch ham. Arbeitsdienst, ja. Nur noch sinnloser und stupider.

Wie meinen Sie das?

Na, Sie dürfen da zum Beispiel Autos zählen, an ´ner Kreuzung, weil sie die Ampeln angeblich neu einstellen wollen, so mit Strichliste und so. Oder auch die Straßenbahnen und die Uhrzeit festhalten. Ob die pünktlich fahren. Oder in orangefarbigen Warnwesten Leuten über die Straße helfen. Oder im Großen Garten Hundehaufen zählen. Oder in Großraumbüros Akten hin und her schleppen. Oder Industriebrachen beräumen. Oder im Herbst Eicheln und Kastanien sammeln oder Laub zusammenrechen oder im Winter Schnee schippen. Egal, was man für eine Qualifikation hat. Da zählt der Diplomingenieur die Autos an einer Kreuzung oder eine ML-Dozentin die Hundehaufen, ein Elektroniker hilft Leuten über die Straße oder irgendein abgewickelter Professor schreddert tagelang Akten usw. usw. Sowas eben…

Und? Was haben Sie gemacht?

Ich hatte Glück, ich hab´ drei ABM`s hintereinander gekriegt, immer was zum Wegräumen oder Ampelstrichlisten führen. Da gab´s stets gutes Geld. Und wenn man den Bogen raushat, da „furzt“ man regelrecht ab, nichts zu tun, nur mal warmen Kaffee für die Leute holen. Oder man macht ein bisschen den Aufpasser… die Festangestellten in so ´ner ABM-Gesellschaft allerdings, die Führungskräfte, der Geschäftsführer, der Prokurist, die Chefsekretärin und noch ein paar. Die geben sich wie die leibhaftigen Wessis, manchmal sind es sogar welche - natürlich mit Traumgehältern. Fahren dicke Autos. Kommt auf die Struktur an. Wenn ´s beispielsweise ´ne AG ist, dann sogar mit Aufsichtsrat, einem Aufsichtsratsvorsitzenden, mit Vorstandsvorsitzenden – alles hauptamtlich… die ganze Skala, nee, ich sage Ihnen, was die uns gebracht haben, die von drüben…

Malef erschrickt beinahe: Mensch, da verblödet man ja. Und? Was sind Sie von Beruf? Oder besser: was waren Sie? Was ham´ se gearbeitet?

Ich?

Ja, Sie. Ach, ich war nix weiter. Nur ´n kleener Meester, Werkzeugmacher… hatte in meinen besten Zeiten ´ ne Brigade von 23 Mann unter mir, mit allem, was dazu gehört.

Und der Eisenschmitt?

Tja der tut so, als ob er Wohltaten zu vergeben hätte und man müsse ihm dankbar sein. Einer aus ´nem typischen Pfaffenstall. Zuerst redet er um den heißen Brei, testet einen aus, ist scheißfreundlich, verspricht sonst was. Zum Schluss ist´s aber immer nur ´ne ABM-Stelle gewesen. Nur ganz Wenigen ist mal ein richtiger Job vermittelt worden. Die meisten haben sich selber gekümmert. Doch, die ABM-Posten werden knapper und knapper, sind jetzt sogar ziemlich begehrt, es wird darum regelrecht geschachert. Beziehungen braucht man, wie überall… Man hört sogar, der Eisenschmitt ließe sich für ´ne ABM-Stelle „beschenken“, mit Pralinen, mit Wein und sowas. Richtig bestechen, das weiß ich nicht. Na ja, Sie werden ja sehen…

Die Männer schwiegen. Jeder dachte für sich nach.

Da! Das dreistufige Glockenzeichen ertönte. Plötzlich wurde Malefs Nummer aufgerufen. Er erhob sich, nicht zu schnell, nicht zu hastig, er machte dem Werkmeister ein „Danke“-Zeichen, ging auf die Tür zu, las neben der Tür das Schild: Referent Kollege Eisenschmitt, Jens Holger - Sozialarbeiter. Malef klopft, wartet. Von drinnen erklingt ein aufgeräumtes „Herein!“. Malef tritt ein…

Eisenschmitt sitzt hinter einem ausladenden Schreibtisch, links der PC, hinter ihm ein Drucker, auf der Schreibtischplatte jede Menge Prospekte, Flyer, Werbematerial.

Eisenschnitt lächelt den Eintretenden an. Aber, es ist kein echtes, sondern ein gestelltes Lächeln, so wie der Fotograf hinter seiner Kamera beim Passbildfoto bittet: „Lieber Herr, sagen Sie doch mal Cheese!“ und der Fotografierte verzieht prompt die Lippen und lächelt in die Linse. So ein Lächeln lächelt der Referent Eisenschmitt…

Er ist ein zur Fülle neigender Mittvierziger von durchschnittlicher Größe. Das dünne, braunrote Haar trägt er in pomadisierten Strähnen wie angeklebt und nach hinten gebürstet. Dadurch liegen die Ohren frei und schimmern vom Sonnenlicht hinterrücks angestrahlt wie rosa Pergament. Dickliche Finger presst er zu einem Rombus, sie sind rötlich behaart, die Unterarme liegen auf der Schreibtischplatte, sie wirken hölzern und untätig. Der Alte draußen hat Malef erzählt, der Eisenschmitt trüge hinten ein Zöpfchen. Er beugt sich ein wenig zur Seite. Nein, er kann das Eisenschmitt-Zöpfchen nicht entdecken, vielleicht hat er sich das Zöpfchen abgeschnitten. Der Chef des Amtes soll Eisenschmitt wegen dieses Zöpfchens gerügt haben, aber der Eisenschmitt habe gekontert, man müsse mit der Zeit gehen. Wer weiß, draußen der alte hat sicher nicht immer die Wahrheit gesagt.

Der Referent Eisenschmitt wölbt seine wulstigen, blass rötlichen Lippen vor, sagt freundlich: Da sind Sie also, Herr Malef. Ich grüße Sie… hab Sie mir allerdings ein wenig anders vorgestellt.

So? sagt Malef, und statt einer Begrüßung fügt er an: Wie haben Sie sich denn einen Mann wie mich vorgestellt? Wie einen aus Ihren Prospekten? Fotogen lächelnd, schlank, sportlich, dynamisch?

Oh nein, nichts Bestimmtes, nur eben anders, vielleicht ein wenig größer, kräftiger. Aber andererseits bestätigen Ihre gereizt und beleidigt klingenden Worte Ihr Bild ganz vortrefflich.

So? Beleidigt wirke ich? entgegnet Malef, welches Bild hat man denn von mir, hier in Ihrem Hause?

Nun, sagt Eisenschmitt und tippt seine Fingerspitzen aneinander, nun wir haben da einen Vorgang, will sagen eine Einschätzung Ihres Arbeitgebers, einen Schriftsatz, der von großem Selbstbewusstsein Ihrerseits und von einer gewissen Renitenz kündet…

So? Von einer Renitenz? sagt Malef, was hat der Herr denn über mich geschrieben, der ehrenwerte Münchner Unternehmer Tankred Kraatz?

Eisenschmitt blättert in seinen Unterlagen, zieht eine schmale Akte hervor, er hüstelt.

Sie sollen, sagt er dann nach einer kleinen Pause, Sie sollen Ihren Arbeitgeber, Sie sollen ihm gedroht haben… hm, ja, wieder blättert Eisenschmitt, legt dann seine Fingerspitzen aneinander, tippt sie an, ja, redet mit ausnehmend freundlicher und weicher Stimme, sagt, Sie drohten ihm, Ihrem Arbeitgeber, er habe Fördermittel des Staates missbräuchlich verwendet, und Sie wollten das öffentlich machen… wissen Sie, sagt Eisenschmitt wieder nach einer kleinen Pause, seine Stimme klingt jetzt beinahe betörend sanft wie die eines Priesters, wissen Sie, mein lieber Herr Malef, sowas macht man einfach nicht - seinem Arbeitgeber drohen. Haben Sie eine Vorstellung, wie sehr Sie sich damit selber geschadet haben? Nein? Sowas macht man einfach nicht… Sie haben ja gar nicht die Mittel, Sie bedauernswerter Mensch, Ihren Worten ernsthafte Taten folgen zu lassen, nein, das ist Selbstzerstörung, mein liebster, bester Herr Malef…

Wie? Wie kamen Sie denn dazu? Bitte, wir sind hier allein, niemand hört uns, es ist wie in einem Beichtstuhl, bitte sagen Sie mir, wie Sie zu einer so ungeheuerlichen Behauptung kommen, ich will Ihnen helfen, wirklich, bester Herr Malef, ich will Ihnen helfen, Sie retten, denn dieser Fakt der Drohung, einem Arbeitgeber gegenüber, noch dazu einem, der größten Einfluss im hiesigen Staatsministerium hat, der mit dem Staatssekretär persönlich bekannt ist, der mit ihm verkehrt, nicht nur im örtlichen Schützenverein, nein, der sogar sein Intimfreund ist, schon seit den gemeinsamen Zeiten in Bayern… Mann Gottes Herr Malef, bitte, besinnen Sie sich, erklären Sie mir alles, schütten Sie mir Ihr Herz aus… ich bitte Sie, bitte Sie aus tiefster, christlicher Überzeugung.

Malef wird rot. Doch nicht aus Scham, sondern vor Wut. Er presst die Lippen aufeinander, stößt erregt hervor:

Soll das hier ein Verhör werden? Wessen Interessen vertreten Sie eigentlich?

Aber, aber, mein lieber Herr Malef, wir wollen uns doch hier nicht aufregen, sagt der gütige Herr Eisenschmitt mit der Miene eines erschrockenen Priesters.

Doch, verehrter Herr Eisenschmitt, da reg´ ich mich auf. Sie hätten prüfen müssen, ob mein Vorwurf zu Recht besteht, schließlich verteilen Sie ja hier staatliches Geld, und wenn einer damit Schindluder treibt, und es wird Ihnen bekannt, so sollten Sie dem nachgehen. Was Sie hier betreiben, das ist ja gewissermaßen Schuldumkehr, vielleicht sogar Vertuschung.

Aber, lieber Herr Malef, Ihre Kanonen werden ja immer größer, die Sie hier auffahren… da muss ich gleich mal… und der liebe Herr Eisenschmitt wählt eine Nummer auf seinem Diensttelefon.

Kurz darauf klopft es und einer Dame tritt herein. Mutmaßliches Alter Ende Dreißig, dunkles Haar, nach hinten zu einem sogenannten Dutt gebunden, mit einem Perlmuttsteckkamm festgesteckt, lila Designer-Brille, Pumps mit hohem Absatz, silberne Schuhspitzen.

Das ist Frau Heckert, sagt der Referent Eisenschmitt, unsere Hauspsychologin. Mir scheint, wir sollten sie an unserem Gespräch teilnehmen lassen.

Das wird ja immer besser, protestiert Malef, und seine Stimme ist um zwei Grad angestiegen, das war nicht ausgemacht, Herr Eisenschmitt. Wieso brauchen wir eine Psychologin? Schicken Sie die Dame bitte wieder hinaus, wir haben hier vertrauliche Personalfragen zu besprechen. Da verbietet sich die Anwesenheit von Dritten oder einer Dame, auch wenn sie sich „Psychologin“ schimpft.

Nein. Nein, Herr Malef. Und überhaupt, bitte achten Sie auf Ihre Sprache

Doch, ich bestehe darauf, die Dame soll gehen.

Nein.

Gut. Dann holen Sie jetzt bitte Ihren zuständigen Leiter oder den Direktor des Amtes. Ich muss eine Aussage machen. Zufällig kenne ich die Dienstanweisung für die Führung von Kundengesprächen, namentlich die von Erstkunden. Wenn ich nicht irre, ist es die DA-Erf/Ku-Gespr II AI/ 98/5…

Aber lieber Herr Malef, mein Bester, so beruhigen Sie sich doch. Ich bitte Sie

Und zu der Dame sagt Eisenschmitt: Bitte, Frau Heckert, lassen Sie uns allein. Ich melde mich dann bei Ihnen. Vielen Dank.

Die Dame sagt: In Ordnung, Herr Referent, sie nickt mir zu, nicht freundlich, mit eisigem Blick. Aber sie verlässt den Raum. Die Tür wird etwas härter ins Schloss gezogen.

Das war aber nicht schön, Herr Malef, das muss ich schon sagen. Das wird im Hause Gerede geben. Also gut, erledigen wir erst einmal das Formelle. Sie heißen?

Franz Malef.

Ist das alles? Gibt es da nicht noch einen zweiten Vornamen?

Nein.

Hier steht aber, Eisenschmitt klopft mit dem Finger auf die Akte, hier steht, Sie heißen: Franz Frederic Malef.

Ja, das ist der Vorname meines Vaters. Ich nutze ihn nicht.

Das ist gleichgültig, ob Sie ihn benutzen, er ist Bestandteil Ihres Namens, so steht er auch in Ihrer polizeilichen Anmeldung.

Mein Vater hieß Frederic Paul Reinhard, und Lebenslang wurde er nur Frederic, oder auch Fritz genannt.

Verstehen Sie nicht, Herr Malef? Sie haben zwei Vornamen, einer davon ist der gebräuchliche Rufname, Franz, aber Frederic ist ebenso gleichberechtigt Ihr zweiter Vorname.

Bürokratischer Humbug, Malef spürt wie er wieder böse wird.

Nein, kein Humbug, Herr Malef, so heißen Sie nun einmal: Franz Frederic Malef… Sie sind in Dresden geboren?

Ja.

Und an welchem Tag, bitte schön?

Menschenskind Herr Eisenschmitt, das steht doch in der Akte, die vor Ihnen liegt. Wollen Sie mich durch solche Fragen fertig machen?

Was heißt fertig machen!? Ich frage Sie lediglich nach Ihren Personalien. Das werden Sie überall gefragt. Ihr ganzes Leben. Bei Gericht. Bei allen Personenstandsfragen. Immer.

Auch im Todesfall?

Eisenschmitt blickt verwirrt auf, dann seufzt er tief, schweigt.

Jaaa, gut, fragen Sie nur weiter, sagt Malef.

Also, wann geboren?

Lesen Sie doch bitte einfach aus meiner Akte vor, ich bestätige es Ihnen oder widerspreche. Je nach dem.

Nein, sagt Eisenschmitt und der Ärger ist ihm anzusehen, nein, es ist Vorschrift, dass ich Sie frage und Sie haben mir zu antworten.

Nein, widerspricht Malef, diese Pflicht gibt es nicht. Wie ist es denn mit Taubstummen oder Leuten, die nicht sprechen können?

Hören Sie auf mit Ihren Spitzfindigkeiten.

Eisenschmitts Tonlage ist bedrohlich angestiegen.

Los jetzt, wann sind Sie geboren und wo war das?

Meinetwegen, Malef lacht sein dreckigstes Lachen. Ich bin am 23. Mai im Jahre 1950 geboren, und zwar in Dresden.

Dann stehen Sie also jetzt im 45. Lebensjahr.

So könnte man es auch sagen.

Gut. Welchen Beruf darf ich bei Ihnen eintragen?

Wirklich, Sie regen mich auf, Herr Eisenschmitt. Sie haben das alles vorliegen.

Ich weiß, Eisenschmitt kocht, trotzdem, Sie sollen es mir sagen. Sie dürfen auch Ergänzungen machen.

Also, ganz langsam, sagt Malef, nach dem Abitur habe ich in der Landwirtschaft gelernt, das war damals nur 1 Jahr, dann hab´ ich Agrarwissenschaften studiert, danach habe ich als Assistent in einem Landwirtschaftsbetrieb und zwar hier in Dresden gearbeitet, bin dort bis zum Abteilungsleiter, schließlich bis zum stellvertretenden Direktor aufgestiegen, dann kam die Wende, ich sattelte um, ging in einen Betrieb, der für die Lederindustrie tierische Rohstoffe aufarbeitet und damit handelt, stieg dort auch auf, wurde Handelsleiter, jetzt nun ging der Betrieb Pleite – ich sage, es war eine inszenierte Pleite und man musste die eingesackten Fördermittel nicht zurückgeben – egal, ich flog, nicht „übers Kuckucksnest“ sondern wie die meisten anderen auch einfach raus, und nun sitze ich vor Ihnen, Herr Eisenschmitt, und erwarte Ihre Angebote…

Angebote? Nun machen Sie´s mal halblang, Herr Malef. Ich höre Angebote? So schnell geht das hier nicht. Da müssen Sie schon noch ´ne Weile brummen. Und so spezielle Angebote wie Sie bräuchten, Herr Malef, haben wir hier sowieso nicht, da müsste ich schon suchen… sind Sie denn bereit, bundesweite Angebote anzunehmen? Sind Sie flexibel?

Was für eine Frage! Das kommt auf das Angebot an.

Gut, Herr Malef. Sie verstehen, es würde ein wenig dauern. Was ich Ihnen indes sofort anbieten könnte, wäre eine Stelle in einer sogenannten Arbeits-, Ausbildungs- und Qualifizierungsgesellschaft, einer richtigen GmbH. Sie könnten, je nach Eignung dort sogar intern aufsteigen, sozusagen im Management, brauchten den Zyklus der einfachen Tätigkeiten nur im Kurzdurchlauf absolvieren, sozusagen, um sie kennenzulernen. Wie gesagt, je nach Eignung, aber Sie sind ja ein versierter Kader, der in Leitungstätigkeit erfahren ist. Ich schreibe Ihnen hier mal die Adresse und den Namen des Geschäftsführers. Melden Sie sich dort an, so schnell Sie können. Ich werde Herrn Dr. Groschwitz – so heißt der Geschäftsführer – informieren. Einverstanden?

Malef nickt. Gut, in Ordnung, das kann ich ja mal machen.

Und, Herr Malef, Eisenschmitt beugt sich vertraulich lächelnd über seinen Schreibtisch, Malef kann sein Deo-Spray riechen, es ist nicht „Hugo-Boss“, nein, es ist was Billigeres. Und, fährt der Eisenschnitt fort, er hat seinen Tonfall zum Pianissimo abgesenkt, den kleinen Vorfall mit unserer Psychologin vergessen wir einfach. Ja?

In Ordnung, Herr Eisenschmitt, ich neige ohnehin zu verordneter Vergesslichkeit. Das hab´ ich schon früher gelernt, als wir noch andere Bilder an den Wänden hängen hatten. Malef deutet auf das Bild mit dem Bundespräsidenten, der hinter dem Referenten Eisenschmitt aus seinem Rahmen gütig herab lächelt…

* * *

Die von Herrn Eisenschmitt empfohlene Firma nannte sich „A.BuQua GmbH“. Ausbildungs- und Qualifizierungsgesellschaft mit beschränkter Haftung. Sie hatte ihren Sitz am nördlichen Stadtrand in der Königsbrücker Straße und zwar in dem stillgelegten Fabrikgelände eines einstigen DDR-Großbetriebes, welcher Druckmaschinen für die ganze Welt, natürlich vornehmlich für die sozialistischen Bruderländer, wohl auch für eine Handvoll Kunden in Afrika und Südamerika, hergestellt hatte. Am großen Werkstor, einer ursprünglich hellblauen, inzwischen angerosteten Stahl-Gitterkonstruktion, konnte man noch die Reste der Initialen des vormaligen Großbetriebes erkennen. Er hatte „VEB DEUDRUMA AG“ geheißen, was „Volkseigener Betrieb Deutsche Druckmaschinen AG“ bedeutete. Es war also eine Aktiengesellschaft gewesen. Wer weiß, wer die Aktionäre waren, vielleicht ein paar Russen wie bei der Wismut, der Uranfördergesellschaft im Erzgebirge, denn der Hauptteil der Lieferungen dieser Druckmaschinenfirma ging in die große SU (im Volke und bei den Werksangehörigen wurde tatsächlich Su in einem Wort gesagt und nicht S und U für Sowjetunion).

Das Werkstor war weit geöffnet und im baufälligen Pförtnerhäuschen saßen keine uniformierten Wächter mehr. Außen an den Scheiben klebten noch die halbzerflederten Reste der Werbeplakate der letzten Wahlen, darunter noch andere Reste von weiter zurück. Alles ziemlich desolat wie auch das ganze Werksgelände auf den ersten Blick von Ruin und Verfall kündete.

Malef, der sein Auto draußen auf der Straße geparkt hat, schlendert langsam in das alte Werksgelände hinein, er schaut sich nach dem Verwaltungsgebäude der neuen Firma um.

Aha, dort hinten muss es sein. Er entdeckt ein flaches, gelbliches Gebäude, mit Asbestwelltafeln gedeckt, eine Art Baracke. Rote, große Pfeile auf Pappschildern weisen den Weg.

Vor der Verwaltungsbaracke stehen Leute, alltägliche Leute, Leute wie man sie jeden Tag in der Straßenbahn, in den Kaufhallen und auf der Straße sieht. Wer allerdings ein genaues Auge hat, der entdeckt an ihnen viel Gewöhnlichkeit, abgetragene Kleidung, kaum Klamotten vom teuren Label, auch kaum die seit der Wende aufgetauchten Designerbrillen, ihre Frisuren sind gewöhnlich, nichts von einem Modefriseur. Die Leute rauchen und unterhalten sich, sie scheinen einer Weiterbildungsgruppe anzugehören. Den herankommenden Malef beachten sie nicht weiter, er sieht ja auch fast aus wie einer von ihnen, wahrscheinlich ist er einer, der sich hier beworben hat, Schlips, hellbrauner Sakko und das weiße Hemd weisen darauf hin. Oder ist er einer von oben, von den Behörden, abkommandiert zur Kontrolle?

Malef nickt flüchtig, geht auf einen der Raucher zu, fragt nach dem Geschäftsführer, nennt den Namen Dr. Groschwitz. Sofort wird der Angesprochene förmlich, mustert den Ankömmling misstrauisch, knickt seine Zigarette im Kugelascher und gibt Bescheid:

Die dritte Tür auf der linken Seite, mein Herr. Wo Geschäftsführung dran steht.

Malef bedankt sich und tritt in die Baracke ein. Ein Geruch nach Abgestandenem, der vielen, alten Gebäuden anhaftet, empfängt ihn. Der Mittelgang ist mit stumpfem Linoleum belegt, vor den Türen liegen Trittmatten, die Türen sind beschildert. Sekretariat Geschäftsführung. Archiv. Schulungsraum 1. Schulungsraum 2 und so weiter. Allgemeines Sekretariat. Kaffeeküche. Kopierraum. Links, tatsächlich die dritte Tür – Geschäftsführung Dr. Groschwitz…

Malef will klopfen. Im letzten Moment sieht er das kleine Schild: Anmeldung Geschäftsführer nur über Sekretariat, Zimmer 1. Malef geht die paar Schritte zurück, klopft, wartet, tritt ein. Drinnen riecht es nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Die Chefsekretärin, Frau Gerlinde Rosentritt, hantiert am Drucker. Sie wendet den Kopf. Malef sieht in ein halbwegs hübsches Brillengesicht, kastanienrote Haare, dunkles Kostüm, vollschlank, das Kostüm spannt über Brust und Po, unter dem Rock schauen stämmige Beine hervor, die Dame ist geschminkt, nicht mehr jung, vielleicht Vierzig.

Guten Tag. Sie wünschen?

Guten Tag. Mein Name ist Franz Malef.

Ja und?

Ich denke, ich bin angemeldet. Herr Eisenschmitt vom Arbeitsamt…

Ah ja, der Herr Eisenschmitt… ich weiß. Moment bitte. Ich will sehen, ob der Doktor jetzt Zeit hat. Moment… sie lächelt und verschwindet im Chefzimmer. Malef fällt auf, sie hat nicht angeklopft, ist einfach reingegangen. Aha, denkt er, so ist das also.

Es dauert nicht sehr lange, da erscheint die Frau Rosentritt wieder. Wieder fällt dem Malef etwas auf: Die Dame zieht ihren Kostümrock glatt, die andere Hand fährt zu ihrer Frisur. Sie stöckelt zu ihrem Drucker. Im Gehen sagt sie: Ja, der Herr Dr. Groschwitz hat jetzt Zeit für Sie. Gehen sie nur hinein…

Malef klopft, öffnet die Tür. Doch im Hineingehen erschrickt er, bleibt wie angewurzelt stehen. Drinnen, hinter seinem Schreibtisch sitzt ein alter Bekannter. Das Erschrecken ist beidseitig.

Malef stößt hervor: Manfred?! Du?!

Und der andere ruft: Menschenskind Franz, Du?

Der Geschäftsführer Dr. Groschwitz ist ein guter, alter Bekannter von Malef – nämlich der ehemalige Abteilungsleiter Maschinenbau im ehemaligen Bezirksvorstand des ebenso ehemaligen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes mit Sitz im Zentrum der Stadt, unweit der Bezirksleitung der ehedem so allmächtigen SED.

Beide hatten sie in früheren Zeiten miteinander zu tun, Groschwitz von Gewerkschaftsseite und Malef von Seiten der Kreisleitung, sie saßen in Sitzungen, Konferenzen, Tagungen, Bezirks-und Kreisparteitagen sogar mal nebeneinander, sie hatten viele Tassen Kaffee, manchmal sogar Tagungssekt getrunken und viele Schnittchen und Tagungsbrötchen verschlungen. Hatten Protokolle voneinander abgeschrieben, Briefe verfasst und manchmal sogar gelesen, hatten den anderen, weil sie nicht weit voneinander wohnten, im Dienstwagen mitgenommen. Oh ja, sie kannten sich gut und nicht nur von ihren Heldentaten, nein, sie hatten auch gelegentlich die eine oder andere Schweinerei gemeinsam unter den Teppich gekehrt. Klar, man musste sich helfen, bei vielen Gelegenheiten, denn der Erfolg hat bekanntlich zahllose Väter, der Misserfolg aber stets nur einen Schuldigen… und dagegen sollte man gewappnet sein, dass es nicht immer denselben trifft.

Wo kommst denn du her, Franz? Komm. Nimm Platz, dort in der Sesselgruppe. Was willst du trinken?

Trinken? Ach Manfred, lassen wir´s für heute beim Kaffee.

O.k.

Groschwitz ruft seine Sekretärin. Klar, jetzt ist er beim strammen Sie.

Frau Rosentritt, bringen Sie uns doch bitte zwei Kaffee, aber den guten, Sie wissen schon.

Zu Malef gewandt, flüstert er augenzwinkernd, beim „guten Kaffee“ sind immer zwei Kognaks dabei. Ha, ha…

Beide lachen.

Der Kaffee kommt, die Kognaks auch. Man redet, man lacht, man klopft sich auf die Schulter. Groschwitz will von Malef das Wie und Was und Warum wissen. Und der erfährt die Nachwendekarriere seines alten Kumpels Manfred Groschwitz.

Also, du hast ein Glück, mein lieber Franz, sagt Groschwitz, gerade haben sie mir vom Ministerium einen Assistenten für die Geschäftsführung bewilligt. Du kommst wie gerufen. Natürlich, das Ganze mit Einarbeitungszeit und allem PiPaPo. Du machst erst einmal die Runde durch alle Projekte, die wir so haben und durch die Qualifizierungsmaßnahmen. Das dauert ein halbes Jahr und dann sehen wir weiter. Gehalt? Was hattest du bei deinem Wessi? Viereinhalb zum Anfang? Einverstanden. Du wirst staunen, was du hier für Leute triffst. Aber bitte – Groschwitz droht lächelnd mit dem Zeigefinger – keine Schadenfreude. Wir haben hier jede Menge ehemalige Führungskräfte aus den großen Kombinaten, angefangen bei Robotron usw. auch von der Technischen Universität ein paar Doktoren, zwei Professoren, -zig Abteilungsleiter usw. Weißt du wie klein die geworden sind, als ich sie zu den Verkehrszählern eingeteilt habe. So klein! Und Groschwitz zeigt mit Daumen und Zeigefinger wie klein. Einige kenne ich, obwohl die mich früher kaum gegrüßt haben, mich mit meinem Polskifiat und die mit ihrem Volvo oder Peugeot. Tja, Gottes Wege… aber du weißt ja, der liebe Gott, lässt unsereinen nicht im Stich.

Wieder lachen sie, die beiden alten Freunde, prosten sich zu. Ihre Gesichter sind gerötet, die Augen tränen – ach ist das eine Freude.

Weißt du, Franz, ich hab´ mir´s überlegt, ich schlage vor, fang´ doch morgen früh gleich bei den Verkehrszählern an… und Groschwitz erklärt, was Verkehrszähler sind und was sie zu tun haben.

Die beiden Freunde reden und schwadronieren noch eine ganze Stunde. Dem einen Gläschen folgen noch mindestens zwei weitere. Frau Rosentritt hat sich verabschiedet, sie hat einen Friseurtermin…

Auch Malef ist aufgestanden, er will gehen, steht am Fenster, starrt auf den grasüberwucherten Hof der Fabrikanlage. Da kommt Groschwitz heran, fasst seinen alten Kumpel am Arm, sagt, ich hab´ da noch was…

Ja? Fragt Malef, willst mir wohl ´n Geheimtipp geben.

Ja. So ähnlich. Hör zu, es gibt ja in jeder Truppe so ´n paar Stänkerer und Störenfriede. Das weißt du ja. Wenn du also morgen zu den Verkehrszählern gehst, da pass auf, da gibt es ein paar von dieser Sorte. Der Gefährlichste ist der Dr. Sommerer. Der war bei Robotron Entwicklungsingenieur, war Auslandskader, Nomenklatur- und Nachfolgekandidat für den Kombinatsdirektor. Der kennt natürlich meine Vergangenheit und die von ein paar anderen noch, wahrscheinlich weiß er auch, wer du bist. Er hat überallhin Kontakte, zum Beispiel zur Yellow-Press, der Morgenpost, und der versucht mir nun, seit er hier ist, einen Strick zu drehen. Bis jetzt hab ich ihn immer abwehren können… also sei vorsichtig. Ein weiterer ist der Professor Arnold Gunzenbauer von der TU, der hatte dort den Lehrstuhl Marxismus-Leninismus und Geschichte der Arbeiterbewegung, hat –zig Abwicklungen überstanden. Nun ist aber definitiv Schluss. Ende Fahnenstange. Der bildet sich auf seine österreichische Herkunft etwas ein und weiß alles besser, so ein Typ von der Sorte Schlauberger, weißt du. Dann gibt es noch die Frau Dr. Brigitte Schlimpf, auch die von der TU und ebenfalls vom Fach Marxismus. Eine üble Person, stänkert und hetzt ununterbrochen, hat ein Schandmaul. Der kommt man nur bei, wenn man ihr beweist, dass sie das Einfachste nicht beherrscht, nicht rechnen kann, keine Zusammenhänge weiß usw. Schließlich gibt es noch einen zweiten Professor, der hat Sozialpsychologie an der TU unterrichtet. Nach der dritten Abwicklung musste er gehen. Im Grunde ein guter Kerl, aber er ist dem Gunzenbauer hörig, läuft ihm hinterher wie ein Hündchen und quasselt dessen Parolen nach… die anderen in der Gruppe sind ruhig und verträglich. Halt! Einen gibt es noch, auch ein Promovierter, ein Dr. Quaas, Vorname Fürchtegott, Fachgebiet – Fragezeichen, oh Gott, ich weiß nicht mehr, irgendwas Verrücktes, du kriegst es raus. Also pass auf, dass diese Burschen dich nicht provozieren oder irgendwelche Bolzen drehen. Sei vorsichtig und bitte nicht weich werden… - wieder droht Groschwitz mit dem Zeigefinger… aber, du wirst sie ja morgen zum Projekttag am Albertplatz alle versammelt sehen.

Groschwitz geht zu einem Rollschrank, nimmt einen Stapel Hefter heraus.

Hier! und er übergibt Malef die Mappen, das sind die Unterlagen für die Verkehrszählung am Albertplatz, die du in den nächsten 3 Tagen dort leiten wirst. Treffpunkt ist das Frederic-Schiller-Denkmal an der Königstraße. Erklär den Leuten die Aufgabe. Nimm dir dafür Zeit. Lies Dich ein, da wirst du die halbe Nacht für brauchen und du wirst sehen, solch ein Projekt ist eine komplizierte Sache, toll ausgedacht, beinahe ein Kunstwerk… und bitte, sieh dich vor.

Ja, ja beruhige dich, entgegnet Malef. Wer mich leimen will, muss früh aufstehen…

Malef nimmt die Akten an sich, verstaut sie in einem Beutel, Groschwitz zieht die Brauen hoch: Morgen solltest du die Akten aus einer Ledermappe ziehen, nicht etwa aus so ´nem Plastikbeutel. Er erklärt noch ein bisschen, aber nicht zu viel. Na denn…

Als Malef dann zu Hause die Unterlagen sichtet, sieht er gleich – dies wird eine schwierige Kiste. Oh, dieser Groschwitz, sagt er sich, wiedermal hab ich mich von dem blenden lassen, von seiner kumpelhaften Art und der gespielten Loyalität, er will mich von Anfang an testen, will sehen, ob ich es schaffe, und die angeblich komplizierten Leute hat er nur zu meiner Ablenkung genannt, die Schwierigkeiten liegen ganz woanders. Er vertieft sich, braucht tatsächlich bis fast um halb Zwei morgens, studiert den Stadtplan…

Acht Leute für die Kreuzung Königsbrücker – Bautzener, nochmal mindestens 16 Leute für die Einmündungen zum Kreisverkehr am Albertplatz, Carolinenstraße, Theresienstraße, Königstraße, für den Fußweg Hauptstraße, dann Hospitalstraße, für die Gegenseite zur Carolinenstraße, Albertstraße. Das macht insgesamt 24 Zähler, die Gruppe ist 30 Mann stark, also hat er noch Reserven, aber vielleicht sind auch welche krank oder fehlen unentschuldigt, kommen einfach nicht. Soll´s ja geben. Mit dem Stift malt er kleine rote Kreuze in die Karte, die im Ordner abgeheftet war. Dort werden die Leute also stehen. Stehen? Hm. Können die überhaupt so lange stehen? Gibt es Klappstühle? Daran hat er nicht gedacht. Er geht zum Telefon, ruft den Groschwitz an. Weißt du wie spät es ist? brummt der. Nein. Es ist halb eins, Menschenskind. Malef fragt: Habt ihr Klappstühle oder sowas? Ja, haben wir. Es gibt für solche Projekte einen „Stuhlwart“, der bringt die Stühle mit dem Auto zum Treffpunkt, kriegt dafür ein paar Spesen. Mach dir keine Platte, Franz! Im Grunde ist alles geordnet. Aber toll, ich merke schon, wie du dich kümmerst. Hast schon ein Fleißpünktchen extra! Gute Nacht!

Gute Nacht.

Am Morgen, früh um halb Sieben muss Malef aus dem Haus. Spätestens um halb Acht hat er vor Ort zu sein. Hundert Gedanken: Wo parkt er sein Auto? Braucht er vielleicht nicht doch mehr Leute als die paar zugeteilten für morgen. Verdammt, wann ist er das letzte Mal so zeitig aufgestanden? Nein, er ist es nicht mehr gewöhnt, muss lange her sein, kaum, dass er die Augen aufkriegt. Als er noch bei Kraatz war, da hatte er Gleitzeit. Meist erschien er erst nach 9 Uhr in der Firma. Heute aber muss er saufrüh hoch. Um halb sechs Uhr hat der Wecker geklingelt. Er hat ja seinen ersten Projekttermin. Treffpunkt: Die große Kreuzung am ehemaligen Platz der Einheit, jetzt Albertplatz. Schillerdenkmal! Eine Verkehrszählung! Wahnsinnig kompliziert durch die zahllosen Einmündungen und Fußgängerampeln dort. Als Ganzes extrem unübersichtlich. Hoffentlich regnet es nicht. Sein Misstrauen sagt ihm: Will der Groschwitz, dieser Fuchs, ihn scheitern sehen? Aber warum? Nein, das kann nicht stimmen.

Noch den letzten Bissen im Mund, das halbe Maul voll Kaffee, hastet er los

Heute Abend erzähl´ ich dir alles, Ev´chen, alles, wie´s war.

Schon ist er an der Tür, entriegelt, öffnet sie.

Sie verabschieden sich. Man spürt die Zugluft vom Hausflur.

Küsschen. Tschüss!

* * *

Je näher Malef dem Albertplatz kommt, je mehr er sich dem Projekttreffpunkt nähert, desto schneller geht sein Puls. Als echter Hypochonder, der er manchmal ist, fühlt er seinen Puls, sogar während der Fahrt, zählt die Schläge. Fünfundachtzig – achtundachtzig. Ja, er gesteht sich ein, dass er aufgeregt ist. Hoffentlich trifft er nicht so viele alte Bekannte aus der Parteizeit. Davor fürchtet er sich. Obwohl er ja im Grunde ein reines Gewissen haben kann. Schließlich ist er noch vor der Wende aus der Partei ausgetreten, gut, es war ein knapper Monat vorher. Aber immerhin hat man ihm noch ein Parteiverfahren angehängt, als Abschiedsgeschenk gewissermaßen. So ein Parteiverfahren kehrt sich ja jetzt in sein Gegenteil. Es könnte ihm nützen. Nein, ein Widerständler ist er nicht gewesen. Nein. Aber er ist wenigstens aus freiem Entschluss gegangen, wo andere noch auf ein Wunder gehofft haben. Es gab sogar Selbstmorde damals. Zwei hat er persönlich gekannt. Mit der Dienstpistole, als sie die noch zu Hause im Stahlschrank liegen hatten. Einer war der Jens Dittrich, Abteilungsleiter in der Kreisleitung, der andere hieß Olaf Weiß. Nein, daran hat er nie gedacht… sich selber… nein, wofür denn? Für diese ganze Scheiße? Jeder